Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 20: Der Morgen, an dem sie sich auf dem Weg nach Süden machten ---------------------------------------------------------------------- Der Hafen von Heartfilia nahm sich im Vergleich zu den Häfen, die Gajeel bisher gesehen hatte, eher bescheiden aus. Ein Großteil der Lager befand sich – wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen, da der Hafen nicht so gut befestigt war – in der Stadt. Die Werft bot nur Platz für zwei Schiffe. Einer der Liegeplätze dort wurde für den Bau einer Galeere gebraucht, der andere wurde anscheinend für Reparaturen frei gehalten. Ansonsten gab es nur ein paar Werkstätten, Hütten für die Hafenarbeiter, eine kleine Taverne – die durfte wohl in keinem Hafen fehlen, egal wie winzig er war – und eine Schreibstube für den Hafenmeister, einen grimmig dreinblickenden Alten, der gut zwei Dutzend Hafenarbeiter herum hetzte, um die Arbeiten zur Beladung der wenigen ankernden Schiffe nicht ins Stocken geraten zu lassen. Zwei Koggen und eine Galeere ankerten momentan, ansonsten waren nur kleine Fischerboote und Frachtkähne zu sehen. Alles, was über genügend Laderaum verfügte, wurde nun mit den Kisten und Fässern beladen, die in einem steten Strom von Lastkutschen von der Stadt hierher gefahren wurden. Dafür dass der Hafen so klein war, herrschte hier momentan ganz schön viel Betrieb und die kleine Reisegruppe, die aus den Drachenreitern und ihren Begleitern bestand, musste aufpassen, nicht im Weg herum zu stehen. „Müssen wir wirklich mit dem Schiff reisen?“, fragte Sting ungewohnt kleinlaut. Rogue neben ihm hatte die Lippen zusammen gepresst. „Stimmt, wir könnten auch Kähne nehmen“, schlug Natsu verschlagen grinsend vor. „Die sind schneller und wendiger.“ Das sonst so sonnengebräunte Gesicht des Wüstennomaden wurde bleich. „Wir könnten doch stattdessen reiten.“ „Du kannst das Reiten auf Pferden doch nicht leiden“, feixte Natsu. „Frosch denkt das auch!“, ließ Frosch sich arglos vernehmen, die sich auf Rogues Schulter hielt. „Pferde sind zu langsam und in Heartfilia sind keine Reitkatzen stationiert“, mischte Meredy sich Stirn runzelnd ein. Levy, die nie müde wurde, etwas über Heartfilia zu erzählen, hatte ihnen auf dem kurzen Weg hierher erklärt, dass das Fürstentum trotz seiner zentralen Lage eher abgeschottet war. Im Norden trennten die weit ausgedehnten, kaum passierbaren Sümpfe das Land vom Einflussbereich der Freien Stadt Malba. Im Osten und Süden erstreckte sich das Kargland, das während der Thronkämpfe vor dreihundert Jahren völlig unbeachtet geblieben war. In diesem Land gab es wenig Wald, wenig Weidegrund, wenig Seen, wenig Struktur. Eine unendliche Weite aus Trockengräsern. Strategisch vollkommen nutzlos, wirtschaftlich der reinste Alptraum. Die Wege dorthin waren nicht mehr als Trampelpfade. Im Westen grenzte Heartfilia an das reichhaltige Magnolia, mit dem es seit der Regierungszeit einer Rita-Irgendwie eine tiefe Freundschaft verband. In dieser Richtung waren die Handelswege gut ausgebaut. Allerdings eher zu Land als zu Wasser. Der Namen gebende Verlauf des Schlangenflusses machte eine Schiffreise von Magnolia nach Heartfilia kaum lohnenswert. Die vielen Bögen waren selbst für versierte Flussschiffer eine ernst zu nehmende Herausforderung und zwangen sie beständig, langsam zu fahren. Erst ab Heartfilia strebte der Fluss beinahe schnurgerade durch das Kargland nach Süden und bis nach Sabertooth, ehe er einen scharfen Knick nach Osten machte und nach vielen Tagesreisen schließlich ins Kaiserliche Meer mündete. Stings Mund klappte auf, wieder zu, noch mal auf. Schließlich seufzte der Wüstennomade wehleidig und ließ den Kopf hängen. „Ihr werdet wirklich Beide seekrank?“, wollte Romeo wissen. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch. „Als wir an die Küste gesegelt sind, hat Sting auf Minervas Karte gekotzt und Rogue ist umgekippt“, kicherte Lector. Er und Frosch waren gestern früh wieder in Heartfilia aufgetaucht. Die Wüstenlöwin hatte sie mit der Aufgabe geschickt, Sting und Rogue so schnell wie möglich nach Sabertooth zurück zu bringen. Jadestadt sei von einem unbekannten Feind eingenommen worden. Sabertooth hatte zum Krieg gerüstet. Wendy und Natsu – und mit Wendy natürlich auch Romeo – hatten sofort ihre Hilfsbereitschaft erklärt. Und die beiden Eishirne und ihre Assassinen-Freundin hatten sich auch ganz schnell gemeldet. Als Gray sich für die Expedition gemeldet hatte, hatte Juvia darauf bestanden, ebenfalls helfen zu wollen. Gajeel hatte versucht, dagegen zu argumentieren. Er wollte sich nicht in irgendetwas verstricken lassen, was ihn nichts anging, egal ob er ein Drachenreiter war oder nicht. Er hatte der Allgemeinheit schon genug geopfert und er hatte nicht vor, sich versklaven zu lassen. Als Juvia jedoch allen Ernstes angedroht hatte, auch alleine nach Sabertooth zu gehen, hatte er Zähne knirschend eingewilligt, fürs Erste mit den anderen Drachenreitern mit zu ziehen. Wenn in der Stillen Wüste alles geklärt war, würde er jedoch mit Juvia wieder das Weite suchen, so viel stand für ihn fest! Zuletzt hatte Levy sich ihnen angeschlossen. Keiner von ihnen konnte das befürworten. Die Magistra war mutig und wusste mehr als sie alle zusammen über Geschichte und Sprachen und allen möglichen anderen Kram, aber die Stille Wüste war jetzt ein Kampfgebiet. Das war kein Ort für jemanden, der so unerfahren wie Levy war. Aber sie war genauso stur wie klein und hatte erklärt, dass sie einer Sache auf der Spur sei, die sogar noch weit über die Probleme in der Stillen Wüste hinaus gehen würde. Irgendwann hatte sich ausgerechnet Rogue auf ihre Seite geschlagen mit der Begründung, dass Levy mehr als sie alle über Avatar wusste und daher vielleicht auch bei der Suche nach denjenigen helfen konnte, welche die Stille Wüste unsicher machten. Es gefiel Gajeel ganz und gar nicht, dass Levy sich in Gefahr begab, aber er würde den Teufel tun, das zu zugeben. So war ihre Reisegesellschaft auf elf Personen und zwei Exceed angewachsen und sie hatten so schnell wie möglich alle Vorbereitungen für den Aufbruch getroffen. Von einem Wesensgeist namens Horodingsbums waren sie für die Reise ausgerüstet worden. Wie alle Anderen trug Gajeel jetzt Pluderhosen nach Art der Wüstennomaden und um seinen Hals hing ein langer Schal aus leichtem Stoff – Tagelmust hatte Sting es genannt –, der zu einem Kopftuch mit Schleier gewickelt werden musste, um zum einen vor der sengenden Sonne und zum anderen vor dem Sand in der Luft zu schützen. Nur Sting brauchte als Lichtmagier keinen Schutz vor der Wüstensonne und trug nur ein simples Halstuch, das er sich über Mund und Nase ziehen konnte. „Wir probieren mal aus, ob meine Magentränke bei euch anschlagen“, schlug Wendy mit einem mitleidigen Lächeln an Sting und Rogue gewandt vor. Letzterer nickte steif und setzte sich in Bewegung, als der Kapitän der Pyxis, einer der Koggen, ihnen zuwinkte. Sting zierte sich und schielte verzweifelt zu den Ställen, woraufhin Natsu ihm lachend auf die Schulter schlug und ihn dann nach vorn und den Laufsteg hinauf schob. „Ist es eigentlich Zufall, dass in unserer Gruppe zwei Drachenreiter seekrank sind?“, frage Levy mit diesem Forscherblick, der ihr so zu Eigen war. „Es hängt irgendwie mit der Drachenmagie zusammen“, erklärte Wendy, während sie ihre Sachen in einer ihnen zugewiesenen, ruhigen Ecke im Schatten des Achterkastells abluden und sich auf den dort vertäuten Kisten oder direkt auf den Planken nieder ließen. „Der Wellengang bringt etwas in uns ins Ungleichgewicht und wir werden seekrank. Was genau der Grund dafür ist, konnte Grandine mir allerdings auch nicht erklären. Auf alle Fälle betrifft es jeden Drachenreiter, egal wie seefest er vor dem Knüpfen des Bands war.“ Juvia kicherte leise. „Als Juvia mit Gajeel das erste Mal auf das Kaiserliche Meer gefahren ist, hing Gajeel auch nur über der Reling.“ Angesäuert sah Gajeel seine Ziehschwester an, doch deren Augen funkelten vergnügt. Seit sie mit Natsu und den Anderen zusammen waren, blühte die Wassermagierin immer mehr auf. Insbesondere dann, wenn sie zu Gray blickte. Dabei beachtete der sie kaum und überhaupt war von einem Eishirn eindeutig wenig zu erwarten. Zu Gajeels Leidwesen schien Juvia sich von der beständigen Ignoranz des Schwarzhaarigen nicht abschrecken zu lassen. „Bei unserer ersten Bergflussfahrt bin ich ohnmächtig geworden“, gestand Wendy verlegen. „Mest und ich waren zum Glück durch Meister Roubaul vorgewarnt“, sagte Romeo und warf seiner Schutzbefohlenen einen fürsorglichen Blick zu, der sie erröten ließ. Alle wandten sich fragend an Natsu, der jedoch unbekümmert mit den Schultern zuckte. „Bei meiner ersten Fahrt nach Tenrou habe ich, kaum dass auf Deck war, mein Frühstück wieder hoch gewürgt. Sawyer hat mich alles aufwischen lassen, aber dabei kam mir wegen des Geruchs gleich noch mehr hoch. Es hat einen halben Tag gedauert, alles sauber zu kriegen, aber danach war ich geheilt. Sawyer hat sich allerdings noch einen ganzen Mond lang über den Gestank beschwert.“ „Wo liegt Tenrou?“, fragte Levy verwirrt. „Ich habe noch nie davon gehört.“ „Solltest du auch nicht“, mischte Meredy sich ein und musterte Natsu kritisch. „Sollte keiner hier.“ Genau diese Worte schienen erst recht Levys Neugierde zu wecken. Ihre braunen Augen begannen regelrecht zu leuchten. „Ist das etwa einer der Unsterblichen Orte? So wie der Turm der Ewigkeit?“ Wendy und Romeo horchten auf, Juvia jedoch zuckte zusammen. In Gajeels Brust regte sich das altbekannte Monster aus Wut und Verlust. Mit einem Knurren wandte er sich von den Anderen ab und lehnte sich an die Reling, um die letzten Vorbereitungen zu beobachten. Dennoch konnte er seine Ohren nicht vor dem weiteren Gespräch verschließen. „Es ist einfach nur eine Insel mit einem komischen Baum, mehr nicht“, erklärte Natsu ratlos. „Du solltest nicht darüber reden. Als Kaiserlicher Geheimniswahrer bist du zu Stillschweigen verpflichtet“, sagte Meredy angestrengt ruhig. „Das wurde dir doch sicher gesagt.“ „Ach, was ist schon dabei? Ich habe da nichts Besonderes gesehen.“ Meredy schnaubte frustriert. „Lass’ gut sein, Natsu“, mischte Wendy sich versöhnlich ein. „Blödes Gerede über Inseln und Flüsse“, grummelte Sting. Gajeel blickte nach rechts, wo Sting halb über der Reling hing. Rogue hockte neben ihm auf einer Kiste und starrte angestrengt auf die Deckplanken. Lector tänzelte leichtfüßig zu Stings anderer Seite auf der Reling, während Frosch auf Rogues Schoß saß und alles und jeden um sich herum mit staunenden Augen beobachtete. „Blöde Schiffe. Blödes Wasser…“ „Vielleicht solltet ihr ausprobieren, ob ihr auch abgehärtet werden könnt“, schlug Lector vor. „Frosch denkt das auch!“ Stings Gesicht bekam einen Grünstich und Rogue presste die Lippen noch fester aufeinander. Eine Bewegung am Laufsteg lenkte Gajeel ab. Dort standen Lucy, ihr Wachhund und der Ziegen-Schwertmeister. Die ersten Beiden waren in Pluderhosen und Lederrüstung gekleidet und trugen bereits richtig geknotete Kopftücher, deren Schleier in einer leichten Brise flatterten. Nachdem er sie bisher nur in den feinen Fürstenfummeln gesehen hatte, war es Gajeel nicht aufgefallen, aber nun erkannte er in Lucys Bewegungen den Jahre langen Drill einer Schwertkämpferin. Ihr Gang war geschmeidig, ihre Schritte waren zielstrebig, hatten immer eine sichere Verbindung zum Boden. Der Rapier an ihrer Hüfte mochte im Vergleich zu einem Lang- oder Breitschwert mickrig wirken, aber für Lucy war er offensichtlich eine gute Wahl. Ihre Haltung war souverän und selbstsicher. Sie wusste, was sie konnte, und sie war wachsam. Eine Hand strich immer wieder vergewissernd über den Griff ihres Rapiers. In diesem zwitschernden Geisterkauderwelsch wechselte sie einige Worte mit dem Schwertmeister. Ihr Unterton und ihre Miene verrieten Sorge und Zweifel. Der Geist antwortete beruhigend und verneigte sich tief, ehe er sich an Lucys Wachhund wandte. Dieser nahm sofort eine respektvolle Habachtstellung ein. Seine Miene kündete von Entschlossenheit, als er sprach, seine Stimme klang sogar beinahe feierlich. Ein Schwur? Der Schwertmeister nickte zufrieden und die beiden Jüngeren nahmen ihre Reisebündel auf und erklommen den Laufsteg. Gajeel drehte sich um und lehnte sich rücklings an die Reling, um weiter alles beobachten zu können. Zuallererst wurde Lucy vom Kapitän der Pyxis begrüßt. Der Mann war hellauf begeistert von seinem hochgestellten Gast und berichtete stolz, dass sie in einer Stunde ablegen und bei gutem Wind wohl in acht bis zehn Tagen Sabertooth erreichen würden. Als der Mann von ihr abgelassen hatte, wandte Lucy sich an Natsu und die Anderen. Seit dem Ritt auf Igneel schien es der Blonden besser zu gehen. Sie hatte danach mit den Anderen ein verspätetes Abendessen eingenommen und auch an den Tagen danach war sie immer wieder bei ihnen gewesen, wenn sie sich nicht gerade um ihre Pflichten hatte kümmern müssen. Juvia sprang als Erste auf, als sie Lucy bemerkte. Ihre blauen Augen leuchteten vor Freude, während sie zu der Fürstin trat und deren Hände ergriff. „Juvia freut sich, dass du mit uns kommst!“ „Ich mich auch“, gestand Lucy lächelnd. Bei der Krisenbesprechung nach Lectors und Froschs Eintreffen war Lucy unsicher gewesen, ob sie es verantworten konnte, Heartfilia zu verlassen. Sie hatte ihnen versprochen, ein Schiff und Ausrüstung für ihre schnelle Reise nach Sabertooth und obendrein Hilfe für das südliche Fürstentum zur Verfügung zu stellen. Soweit Gajeel es wusste, wurden die zweite Kogge, die Galeere und die größeren Frachtkähne gerade voll beladen mit Proviant für die vielen Flüchtlinge, die Sabertooth hatte aufnehmen müssen. Ob Lucy selbst jedoch mit ihnen kommen würde, war bis eben unklar gewesen. Auch Natsu sprang auf und umarmte die Blonde stürmisch, wofür Loke ihn mit einem finsteren Blick bedachte. Gajeel musste grinsen. Bis auf Rogue und Wendy hatten sich alle an der Wette um Natsu und Lucy beteiligt, aber sie waren sich alle einig, dass sie den Beiden nichts davon verraten würden. Ansonsten könnte das den Ausgang der Wette beeinflussen. Als Natsu von Lucy abgelassen hatte, begrüßten auch die Anderen die Fürstin. Schließlich sah Lucy fragen zu Sting und Rogue hinüber, aber Natsu winkte lachend ab. „Die Beiden sind seekrank. Nicht weiter wild.“ Sting gab ein undefinierbares Grummeln von sich. „Woher wisst ihr, wie man den Tagelmust bindet?“, fragte Wendy Lucy. „Yukino hat es uns beigebracht“, erzählte Lucy bereitwillig. „Sie hat damals bei uns Rast gemacht, bevor sie nach ihrer erfolglosen Suche zurück in die Stille Wüste wollte.“ Aller Übelkeit zum Trotz war Sting und Rogue bei dieser Erwähnung von Yukino die Sorge deutlich anzusehen. Sie hatten Lector und Frosch bei deren Bericht über Jadestadts Besetzung auch nach dieser Frau gefragt, aber die Exceed hatten leider nichts über deren Verbleib gewusst. Wieder blickte Lucy zu den beiden Klauen, ihre Miene ernst und sorgenvoll, aber auch wild entschlossen. Sie drehte sich zügig um und ging zum Kapitän, um diesen zur Eile anzuspornen. Sie würden in Sabertooth gebraucht. Voller Dankbarkeit blickten die Klauen ihr hinterher. Je schneller sie aufbrachen, desto schneller waren sie in Sabertooth und konnten ihren Freunden dort helfen, so einfach war die Rechnung. „Lucy ist schwer in Ordnung“, lautete Lectors Urteil. Der Militärkomplex von Crocus nahm ein eigenes Stadtviertel ein. Er wurde durch hohe, fugenlose Mauern vom Rest der Stadt abgegrenzt und war nur durch drei Tore im Süden, Osten und Westen zugänglich. Alle fünfzig Schritt stand ein Wehrturm mit einer Balliste, einem Onager oder einer Turmarmbrust. Obwohl sie seit über zweihundert Jahren nicht mehr im Einsatz gewesen waren, sahen sie alle wie neu aus und waren allesamt mit mindestens einem Soldaten bemannt. Chelia wusste, dass diese Waffen regelmäßig gepflegt und je nach Notwendigkeit auch durch neue Geräte ersetzt wurden. In der Kaiserlichen Armee ließ niemand die Zügel schleifen. Das war schon so unter den letzten beiden Generälen gewesen und das war erst recht so, seit Erza Scarlet das Amt des Generals bekleidete. Als Chelia durch das geöffnete Südtor trat, das dem Turm der Ewigkeit am nächsten war und zugleich auch den Haupteingang zum Militärkomplex darstellte, wurde sie von den dort stationierten Wachen mit einem freundlichen Nicken begrüßt. Sie war hier bereits wohl bekannt und musste sich schon lange nicht mehr ausweisen. Es hatte seine Vorteile zu den Kaiserlichen Geheimniswahrern zu zählen und obendrein auch noch mit einer Kommandantin der Kaiserlichen Armee verwandt zu sein. Hinter dem Südtor erstreckte sich der schier riesige Appellplatz, umgeben von Bürogebäuden, Werkstätten und Lagern. Zehn Strafpfähle standen in einem Kreis in der Mitte des Platzes, eine ewige Ermahnung an die Strenge, die noch immer in der Kaiserlichen Armee gepflegt wurde. Heute waren sie verwaist, aber Chelia machte dennoch einen großen Bogen um sie. Mehr als einmal hatte sie dort bereits Diebe oder Trunkenbolde schmoren sehen. Je nach Schwere ihres Vergehens wurden sie nach ihrer Auspeitschung einen oder auch mehrere Tage an den Strafpfählen angekettet und den Unbilden des Wetters ausgesetzt. Für schwere Verbrechen wie Desertion, Vergewaltigung und Mord gab es die Todesstrafe. Der schwere, von Blut geschwärzte Enthauptungsklotz im Zentrum des sogenannten Strafzirkels gemahnte immer daran, wie erbarmungslos auch heute noch von dieser Strafe Gebrauch gemacht wurde, wenn es notwendig war. In einem so großen Verbund wie der Kaiserlichen Armee war es traurige Normalität, dass es immer wieder schwarze Schafe in den Reihen der Soldaten gab. Manche stumpften im Dienst zu sehr ab – insbesondere, wenn sie im Kriegseinsatz gewesen waren – und andere… hatten andere Gründe oder auch gar keine. Um die Disziplin und das Ansehen der auf ganz Ishgar gefürchteten Armee aufrecht zu erhalten, war deshalb eine strenge Hand vonnöten, die sich nicht davor scheute, auch das Blut von Soldaten zu vergießen, die ihren Eid gebrochen hatten. Chelia wusste all das. Sie hatte den Eid gelesen, den jeder Soldat leisten musste, bevor er nach der Abschlussprüfung der Rekrutenzeit die Kaiserliche Rüstung erhielt. Es war notwendig und richtig, so zu verfahren. Dennoch ließ es sie jedes Mal erschaudern, wenn sie den süßlichen Geruch in der Nase hatte, der stets von dem Enthauptungsklotz ausging… Sie beeilte sich, über den Appellplatz zu kommen und winkte nur im Vorbeigehen Alzack und Bisca zu, den Kommandanten der Leichten und der Schweren Artillerie, die gemeinsam einen offensichtlich neuen Onager auf der Ladefläche eines Ochsengespanns unter die Lupe nahmen. An Alzacks Hand hing die gemeinsame Tochter Asuka, die offensichtlich von der akribischen Arbeit ihrer Eltern gelangweilt war. Wahrscheinlich wollte das Paar gleich einen Familienausflug machen. Wären sie im Dienst, würden sie ihre Rüstungen und Umhänge tragen und dann wäre Asuka auch nicht hier. Hinter dem Appellplatz begann der weitläufige Übungs- und Rekrutenkomplex. Kleinere Kampfplätze lösten sich mit Baracken, Hindernisstrecken, Übungsgeräten und Lagern ab. Zur vorherrschenden Mittagsstunde waren nur wenige Soldaten mit freiwilligen Übungen beschäftigt, aber so einige Rekrutengruppen wurden trotz der Hitze von ihren Ausbildern gedrillt. Chelia verzog das Gesicht, als sie sah, wie ein paar junge Burschen von höchstens fünfzehn Sommern einen brutalen Hürdenlauf absolvieren mussten. Der Ausbilder brüllte ihnen die ganze Zeit Befehle um die Ohren und ein paar der Jungen weinten vor Erschöpfung. Der Gedanke, dass Romeo diesen Drill während seiner Zeit in Crocus freiwillig mitgemacht hatte, kam Chelia immer noch unfassbar vor. Aber andererseits hatte Romeo seit zwölf Zyklen kaum etwas anderes im Kopf, als stärker zu werden und Wendy zu beschützen. Chelia war von Anfang an dabei gewesen, hatte die vielen Übungen gesehen, durch die Romeo sich gequält hatte, und hatte sich dabei immer gefragt, warum er all das auf sich genommen hatte. Erst als sie in den Turm der Ewigkeit berufen und somit zu einer Kaiserlichen Geheimniswahrerin ernannt worden war, hatte Chelia von ihren Freunden endlich erfahren, was es damit auf sich gehabt hatte, aber selbst dann hatte sie Romeos Verbissenheit kaum begreifen können. Hätte nicht einfach Mest Wendys Beschützer werden können? Warum hatte Romeo so früh mit dem Kriegshandwerk beginnen müssen? Heute verstand Chelia es besser. Seit sie das Ausmaß ihrer Verpflichtung kannte, konnte sie auch Romeos Entschlossenheit besser nachvollziehen, aber obwohl es sie beruhigte, dass ihre beste Freundin in so guten Händen war, fragte sie sich doch manchmal, ob all das wirklich gut für Romeo war. Was würde mit ihm geschehen, wenn er an seine natürlichen Grenzen stieß? Und dass es irgendwann so kommen musste, war unvermeidlich, da war Chelia sich leider sicher… Laute Rufe und ein wütendes Wiehern ließen Chelia aufblicken. Hinter den Übungsanlagen lag das Areal der Kavallerien. Kleinere Ställe für die Pferde in den unterschiedlichen Ausbildungsstadien reihten sich hier aneinander. Verschiedene Reitplätze hielten diverse Übungen bereit und vor den Werkstätten der Hufschmiede und Sattler stauten sich Wartende. Das Spektakel fand jedoch auf einem der großen Reitplätze statt, an dessen Zaun sich zahlreiche Soldaten lehnten und die Reiterin anfeuerten, welche offensichtlich gerade ein neues Pferd einritt. Das pechschwarze Tier war stark und schnell, buckelte und sprang und schlug mit allen Hufen aus. Aber die Reiterin saß unerschütterlich im Sattel, als würde sie all diese Eskapaden gar nicht bemerken. Ihr langer, schwarzer Zopf schlug wild durch die Luft und das leichte Hemd war durchgeschwitzt, doch ihre Miene war hochkonzentriert. „Halt’ durch, Kagura, bald hast du ihn klein gekriegt!“, rief eine junge Frau enthusiastisch, nur wenige Zyklen älter als Chelia und mit hellbraunen, struppigen Haaren. Millianna, die Adjutantin der soeben so formlos angerufenen Kommandantin der Leichten Kavallerie, Kagura Mikazuchi. Der reinweiße, schwarz bordierte Kommandatenumhang lag ordentlich gefaltet über Milliannas linkem Arm. Neben der vorlauten Adjutantin stand Simon Mikazuchi, Kommandant der Schweren Kavallerie, die Arme vor der muskulösen Brust verschränkt, während er aufmerksam jede Bewegung seiner Schwester verfolgte. Während Kagura schlank wie eine Gerte war, war er so breitschultrig, dass er kaum durch eine normale Tür passen konnte, hatte riesige Hände, die an Schaufeln erinnerten, und ein breites, grimmiges Gesicht, doch Chelia kannte ihn bereits und wusste um seine sanfte Natur. Sie hatte bereits gesehen, wie behutsam er mit entwöhnten Jährlingen umgehen konnte und wie geduldig er immer wieder die Haltung von Rekruten bei ihren Reitübungen korrigierte. „Chelia, da bist du ja.“ Die Windmagierin drehte sich um und sah sich einem Mann gegenüber, der gut eine Handbreite kleiner als sie war. Seine blauen Haare waren zu einem langen Zopf geflochten und seine dunkleren, breiten Augenbrauen verliehen seinem Gesicht irrtümlicherweise etwas Verschlagenes. „Yuka“, grüßte Chelia mit einem freundlichen Grinsen. „Du wirst auch nicht mehr größer, oder?“ „Ich habe keine Ahnung, was du meinst“, erwiderte der Ältere gespielt kühl und straffte den Rücken, als könnte er so um ein paar Fingerbreiten wachsen. Kichernd gesellte Chelia sich neben ihn und folgte mit ihm weiter der Hauptstraße zum Nordende des Militärkomplexes. Yuka Suzuki, Adjutant der Kommandanten der Lindwurm-Schwadron, war einer der ersten Soldaten, die Chelia hier in Crocus kennen gelernt hatte. Seine trockene, wenig subtile Art war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen und irgendwie hatte er ein bisschen so etwas wie eine Bruderrolle für sie eingenommen. „Als eure Nachricht mich erreicht hat, bin ich gleich aufgebrochen“, erklärte Chelia, während um sie herum Lager und Werkstätten nun die Straße flankierten. „Hast du dich auch nicht von einem gewissen Runenritter ablenken lassen?“, hakte Yuka mit einem Wackeln seiner breiten Augenbrauen nach. „Ich… habe keine Ahnung, was du meinst“, grummelte Chelia und wünschte sich, sie hätte sich gut genug unter Kontrolle, um die Röte ihrer Wangen unterdrücken zu können. Yuka lachte rau und schlug ihr auf den Rücken, was sie ein paar Schritte nach vorn stolpern ließ. „Warst du mit ihm denn in dieser Taverne, in die er dich eingeladen hat?“ Wieder einmal verfluchte Chelia den Umstand, dass Yuka dabei gewesen war, als Eve Tearm, seines Zeichens Adjutant des Kommandanten der Runenritter, sie unverblümt in eine der besten Tavernen des Kaiser-Viertels eingeladen hatte. Zwar hatte er ihr zumindest den Gefallen getan, es nicht weiter zu tratschen – ganz im Gegensatz zu Yuri, der es allen Bewohnern des Turms der Ewigkeit erzählt hatte, weshalb Chelia dort allerlei teils gutmütige, teils stichelnde Kommentare über sich ergehen lassen musste –, aber wenn sie alleine waren, fragte er sie doch jedes Mal deswegen aus. Chelia schwankte immer, ob das aus Neugierde oder aus Sorge heraus geschah. „In letzter Zeit war ich im Turm ziemlich eingespannt“, verneinte Chelia und unterdrückte einen müden Seufzer. Mehr durfte sie Yuka nicht verraten, aber tatsächlich bereitete ihr der Zustand des Miasmas zurzeit Sorgen. Es wurde viel zu schnell wieder verunreinigt und die häufigen Meditationen erschöpften Chelia. Die anderen Wächter waren davon kaum betroffen, weshalb die Unsterbliche Kaiserin die Vermutung geäußert hatte, dass ein Windmagier momentan beständig im Einsatz zu sein schien. Und zwar ein starker und von einer Art, wie Chelia es bisher noch nie im Miasma gespürt hatte. Als sie Yukas Blick spürte, sagte sie nichts und er fragte auch nicht nach. Er wusste und akzeptierte, dass Chelia über ihre Pflichten im Turm der Ewigkeit Stillschweigen bewahren musste. „Es kommen auch wieder ruhigere Tage“, sagte er nur und tätschelte ihre Schulter dieses Mal sanfter. Schließlich betraten sie das Gebiet der Lindwurm-Schwadron. Ähnlich wie die Magier-Einheit, deren Übungsgebiet abseits der Hauptstraße lag, weshalb Chelia es heute nicht durchquert hatte, war auch diese Abteilung der Kaiserlichen Armee wesentlich kleiner als die anderen Abteilungen. Sie zählte nur etwa hundert Männer und Frauen. Genau wie man nicht einfach lernen konnte, ein Magier zu sein, war es auch nicht möglich, aus reinem Willen oder durch Übung zu einem Lindwurmreiter zu werden. Der Lindwurm wählte sich den Reiter, nicht umgekehrt. Dennoch brauchte die Lindwurm-Schwadron unverhältnismäßig viel Platz. Die Ställe der Lindwürmer waren riesige Steinbauten mit hohen Kuppeln, die immer nur für eine Handvoll der Drachenartigen Platz boten. Im Gegensatz zu den meisten anderen Soldaten wohnten die Lindwurmreiter direkt im Militärkomplex, oftmals sogar in Häusern direkt neben den Ställen ihrer jeweiligen Lindwürmer. Die meisten der viel bewunderten Flugschlangen waren sehr eigenwillig und akzeptierten selten einen anderen Pfleger als ihren Reiter. Da war es tatsächlich einfacher, immer in ihrer Nähe zu sein – und soweit Chelia das bei ihren zahlreichen Besuchen beobachtet hatte, gab es keinen einzigen Lindwurmreiter, der damit ein Problem hatte. Die Männer und Frauen hier waren stolz, zu den Auserwählten zu gehören, und kümmerten sich voller Hingabe um die Wesen, die ihnen so zugetan waren. Dementsprechend erinnerte das Gebiet der Lindwurm-Schwadron trotz seiner Weitläufigkeit an ein kleines Dorf. Es gab hier einen eigene Mensa, eine Gärtnerei, eine kleine Schule für die Kinder der Lindwurmreiter, einen eigenen Platz für Schwert- und Bogenübungen und noch so allerhand mehr, was weder in einem kleinen Dorf, noch in einer Kaserne fehlen durfte. Nur eine eigene Taverne war hier nie geduldet worden, weil der Geruch von Alkohol die Lindwürmer zu sehr reizte. Während sie eine der größten Kuppeln anstrebten, fiel Chelia auf, wie ruhig es hier heute war. Normalerweise nutzten die Lindwurmreiter gerade die Mittagshitze aus, um mit den Drachenartigen einige Flugmanöver durch zu führen. Ähnlich wie Leviathane und Basilisken waren Lindwürmer ausgesprochen kälteempfindlich. Ihre dünnen Flughäute wurden steif, wenn sie unterkühlten, und konnten dann sogar reißen. Mit der zunehmenden Sommerhitze dieser Tage hätten die Lindwürmer und ihre Reiter jedoch zufrieden sein müssen. „Seit die Probleme sich häufen, gehen wir lieber keine Risiken mehr ein“, erklärte Yuka auf Chelias Frage hin und runzelte dabei so sehr die Stirn, dass sich seine Augenbrauen beinahe trafen. „Sherry und Ren haben beschlossen, dass die Lindwürmer nur noch für Einsätze ausfliegen dürfen.“ Er sah nicht glücklich mit dieser Entscheidung aus, auch wenn er sie sicherlich nicht anzweifelte. Lindwürmer mochten zu den einzigen Drachenartigen gehören, die relativ ungefährlich beritten werden konnten, aber sie waren dennoch freiheitsliebende Kreaturen, die viele Flugstunden brauchten. Während der Wintermonde mussten die Reiter sich deshalb immer neue Geschicklichkeits- und Denkübungen für die Flugschlangen ausdenken, damit diese ausreichend beschäftigt waren. „Wie ergeht es den Reitern, die in den anderen Städten stationiert sind?“ „In Sabertooth, Heartfilia und Hargeon haben wir zurzeit zum Glück keine Lindwürmer stationiert. Aber Vjeeter aus Magnolia und Bobo auf Galuna haben ganz ähnliche Schwierigkeiten. Die Beiden haben Nachricht geschickt, dass sie ihre Flugschlangen auch in den Kuppeln belassen, bis das Problem gelöst ist“, antwortete Yuka mit nun noch finsterer Miene und öffnete den Menschendurchlass im Eingangstor der Kuppel, welches groß genug für ein Ochsengespann war. Die Kuppel maß etwa dreißig Schritt im Durchmesser. Am Boden waren an der Wand entlang mehrere Schlafnester verteilt, jedes fünf Schritt im Durchmesser und mit frischem Stroh und Heut gefüllt. Im Zentrum der Kuppel befand sich eine steinerne Futterraufe, die lang und breit genug war, dass sich zehn Männer hinein legen könnten. Wenige Schritte vom Tor entfernt erblickte Chelia zwei Männer. Einer war nur wenige Zyklen älter als sie, von schlanker, beinahe schlaksig zu nennender Statur, mit tiefbrauner Haut und blonden Haaren, die der Schwerkraft zu trotzen schienen. Er trug das formelle Livree des Generaladjutanten und hielt die Schultern gestrafft, während er aufmerksam beobachtete, was im Inneren der Kuppel vor sich ging. Der andere Mann war etwas älter, ebenfalls mit brauner Haut, aber mit schwarzen Haaren und edlen Gesichtszügen und etwas breiteren Schultern, die sein stattliches Flair vervollständigten. Wie Yuka trug er eine Rüstung aus gehärtetem und imprägniertem Leder und einen Köcher mit Pfeilen und Bogen an der Hüfte. Auf den Kommandantenumhang hatte er verzichtet Als Yuka die Tür hinter ihnen mit einem leisen Klicken schloss, blickte der Schwarzhaarige über seine Schulter und nickte ihnen mit ernster Miene zu. Normalerweise war Ren Akatsuki, einer der beiden Kommandanten der Lindwurm-Schwadron, ein eloquenter und galanter Geselle, hatte immer ein feinsinniges Lächeln auf den Lippen und besonders für Frauen eine elegante Verbeugung parat. Dass er heute so schweigsam und angespannt war, verriet Chelia noch viel mehr über den Ernst der Lage. Gemeinsam mit Yuka trat sie zu den beiden dunkelhäutigen Männern. Der Jüngere war Sho, der Adjutant von General Erza Scarlet. Obwohl sonst heiter und neugierig, wirkte er heute genauso ernst und bedrückt wie die Anderen. Während Yuka bei Ren und Sho blieb, ging Chelia langsam weiter zur einzigen anderen Person in der Kuppel, die neben der Futterraufe stand. Zierlich, kurvig, mit wallenden, pinken Haaren, porzellanfarbener Haut und einem herzförmigen Gesicht stand Sherry Akatsuki im Zentrum des Gebäudes. Genau wie ihr Mann und Kommandantenkollege Ren trug sie eine Lederrüstung, aber keinen Köcher am Gürtel, wahrscheinlich um die jungen Lindwürmer nicht zu provozieren, die sich auf den Pfählen tummelten, welche in verschiedenen Höhen ins Mauerwerk eingelassen waren, um den Bewohnern der Kuppel Kletter- und Sitzgelegenheiten zu bieten. Chelia gesellte sich neben ihre Base und folgte ihrem Blick nach oben. Es waren insgesamt ein Dutzend Flugschlangen, allesamt gerade einmal so groß wie Ponys, die Körper noch dünn und mickrig im Vergleich zu ihren ausgewachsenen Artgenossen, die Hornwülste am Hinterkopf kaum mehr als harmlose Stummel. Ihre Flügel wirkten noch zu groß für ihre schlanken Körper und ihre braunen, grünen oder schwarzen Schuppen sahen noch weich und geschmeidig aus und hatten wenig mit den panzerartigen, harten Schuppen der Lindwürmer gemein, die in der Schwadron beritten wurden. Chelia wusste, dass diese Kreaturen hier vor zwei Zyklen ausgebrütet worden waren und dass sie noch drei weitere Zyklen brauchen würden, ehe potenzielle Rekruten an sie heran geführt werden konnten. Doch ihre gebleckten, spitzen Zähne und das Grollen und Zischen, das sie in Sherrys Richtung ausstießen, war bereits respekteinflößend. So aggressiv kannte Chelia die sonst so anschmiegsamen Halbwüchsigen gar nicht. Wenn ihre Base sie hierher mitgenommen hatte, hatten die Drachenartigen sie immer mit freudigem Flügelgeflatter und Schnurren begrüßt und sich ausgiebig von ihr streicheln lassen. Solange sie noch nicht geschlechtsreif waren, waren Lindwürmer sehr verspielt und zugänglich. Erst mit der ersten Brunft wurden sie wählerisch, wenn es darum ging, wer sie pflegen durfte, und konnten auch nicht mehr in so großen Gruppen gehalten werden. „Verhalten sich alle Lindwürmer so?“, fragte Chelia mit gedämpfter Stimme, ohne die Flugschlangen aus den Augen zu lassen. „Nicht ganz“, antwortete Sherry ernst. „Die meisten der Alten sind zwar sehr angespannt und übellaunig, aber sie gehorchen den Kommandos noch. Unsere trächtigen Weibchen und die Jünglinge sind das Problem. An die Weibchen kommen nicht einmal mehr ihre Reiter heran…“ „Was ist mit Angelica?“ Chelia dachte an das majestätische Lindwurm-Weibchen, das ihre Base vor zehn Zyklen als Reiterin akzeptiert hatte, als Sherry gemeinsam mit zahlreichen anderen Soldaten und Rekruten den neuen Lindwürmern angeboten worden war. Angelica war von seltener hellblauer Farbe und sehr liebevoll – und sie war vor drei Monden gedeckt worden. Anstatt zu antworten, presste Sherry nur die Lippen aufeinander. Die Wächterin der Lüfte richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Lindwürmer. Einige geiferten sogar und ein junges Männchen, das größer als die Anderen war, stieß ein tiefes Grollen aus, die zu langen Flügel weit ausgestreckt und die Krallen der stummelartigen Vorderbeine bedrohlich erhoben, während sich der lange Schwanz zur Unterstützung der Hinterbeine um den Pfahl gewickelt hatte. Die gelben Augen des braunen Tieres waren extrem geweitet und unter den dünnen Gesichtsschuppen pulsierten die Adern an den Schläfen. „Ich hatte gehofft, dass du heraus finden kannst, was ihnen fehlt“, erklärte die Kommandantin schließlich leise. „Dadurch dass auch die Lindwürmer in Magnolia und Galuna betroffen sind, können wir eine Krankheit eigentlich schon ausschließen, aber vielleicht liegt etwas in der Luft?“ „Ich kann es versuchen“, versprach die Jüngere, ohne den Blick von den jungen Flugschlangen abzuwenden. Mit einem tiefen Luftholen konzentrierte Chelia sich auf ihre Magie, um das zu ergründen, was den menschlichen Sinnen verborgen blieb. Sie hörte die viel zu schnell schlagenden Herzen der Flugschlangen, das Rauschen des Blutes in ihren Adern, das Grollen ihrer Mägen, roch Blut und Sekrete, erspürte die Luftwege, das Pumpen der Lungen, das Pulsieren der Luftröhren… Seit drei Jahren war Chelia mit Lindwürmern vertraut, wusste, wie es in einem gesunden Lindwurm klingen musste, konnte anhand der inneren Geräusche die Ursachen für Krankheiten ausmachen, konnte am Fluss des Blutes spüren, wo die Drachenartigen innere Verletzungen davon getragen hatten, aber hier… „Sie sind nicht krank“, flüsterte Chelia und sah verunsichert ihre Base an. „Sie haben… Angst…“ „Wovor?“ Sherrys Frage war kaum mehr als ein Hauchen, aber für die Windmagierin klang es dennoch schmerzhaft laut in den gerade so hypersensiblen Ohren. Mit dieses Mal geschlossenen Augen holte sie tief Luft, schmeckte all die feinen Gerüche, welche auch die Lindwürmer wahrnahmen. Den Schweiß der Menschen, den Staub, den Kot von Menschen, Lindwürmern und Tieren, die Pferde in der Ferne, Vögel auf den Kuppeln, das Essen der Menschen, Gras, Kochfeuer, Blut, Stein, Holz, Metall, Leder, die Kampfhunde im Ostteil des Militärkomplexes, die Katzen auf der Jagd nach ungebetenen Mäusen in den Lagern und Ställen, noch mehr Schweiß, noch mehr Kot, Feuer, Menschen, unendlich viele Menschen und Tiere und so viele weitere Gerüche und dazugehörige Geräusche. Blubbern, Zischen, Knacken, Grollen, Knarren, Quietschen, Lachen, Rufe, Schnarchen, Schreie, Flüstern, Poltern, Klappern… Ein unharmonisches Orchester des Lebens, gespeist von jedem einzelnen Einwohner der gewaltigen Stadt, von jedem einzelnen Tier und Insekt, vom Wasser, von Feuern, von Pflanzen und selbst von Häusern… Nichts davon war anders als sonst. Die Geräusche und Gerüche, die Temperatur und die Windstärke. Alles war so, wie es schon immer gewesen war, seit Chelia das erste Mal einen Fuß über Crocus’ Grenzen gesetzt hatte. Ja, selbst wenn sie Crocus’ Besonderheiten auszublenden versuchte, nahm sie nichts wahr, was sich von dem unterschied, was sie in Cait Shelter und auf der langen, gemütlichen Reise hierher nach Crocus gerochen, gehört und gespürt hatte. Alles war vollkommen normal. Für sie jedenfalls. „Ich weiß es nicht“, presste sie hervor und öffnete die Augen, um schuldbewusst in die Augen ihrer Verwandten zu blicken. „Sie spüren irgendetwas, aber ich kann es nicht spüren…“ Sanft schlang Sherry einen Arm um die Schultern der Jüngeren und führte sie zurück zu den Anderen, den Blick immer wachsam auf die angriffbereiten Lindwürmer gerichtet. Bei jedem Schritt spürte Chelia, wie erschöpft sie auf einmal war. Ihre Windmagie auf diese Weise zu gebrauchen, war aufgrund der hohen Konzentration, die es erforderte, beinahe anstrengender als Kampf- oder Heilmagie. Sie hatte so intensiv nach einer Antwort auf die Frage ihrer Base gesucht, dass ihr gar nicht aufgefallen war, wie sehr sie ihre ohnehin schon angeschlagenen Kräfte strapaziert hatte. „Du hast es versucht“, sagte Sherry beruhigend und rieb behutsam Chelias zitternden Oberarm. „Um mehr konnten wir dich nie bitten…“ „Aber wenn es nichts in der Luft ist, was ist es dann, was die Lindwürmer so in Angst versetzt?“, sprach Sho die Frage aus, die wahrscheinlich ihnen allen auf der Zunge brannte. „Und was bedeutet das alles noch für uns? Steht uns Ärger bevor? Und wenn ja, wie bereiten wir uns darauf vor?“ Keiner hatte eine Antwort für ihn parat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)