Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 22: Der Fluss, der ein großes Geheimnis offenbarte ---------------------------------------------------------- Etwa zwei Tage vor ihrer angekündigten Ankunft in Sabertooth passierten sie die ersten Dörfer des Fürstentums. Kleine Ansammlungen einfacher Lehmhütten mit Schilf- oder Papyrusdächern, von denen lange Stege in den breiten, ruhigen Fluss hinein ragten, während im Hinterland Felder mit Hafer und Sommergerste und in den meist nur sporadisch abgesteckten Gärten Oliven- und Dattelbäume zu erkennen waren. Lastkähne tummelten sich hier auf dem Schlangenfluss, alle voll beladen mit Vorräten, alle auf dem Weg nach Süden. Die Mienen der Insassen waren grimmig und entschlossen, während sie ihre kleineren Segel beständig nach dem Wind ausrichteten oder aber sich mit Rudern abplagten. Sting und Rogue, denen es dank Wendys Heiltee endlich besser ging, standen mit steinernen Mienen und steifen Schultern an der Reling und beobachteten das Treiben. Wenn die Menschen sie erkannten – und das taten sie fast immer – beeilten sie sich, ihre Kähne aus dem Weg der Pyxis zu bekommen. Viele bedachten die weithin bekannten Klauen ihrer Fürstin mit ehrfürchtigen, beinahe verehrungsvollen Blicken. An Bord der Pyxis herrschte eine angespannte Stimmung. Levy fiel es dabei schwer, sich noch auf die Unterlagen zu konzentrieren, die sie in Crocus und Malba zusammen getragen und in Heartfilia zu ordnen begonnen hatte. Meistens beobachtete sie jetzt ihre Reisegefährten. Natsu und Lucy standen bei Sting und Rogue, letztere hielt die Reling mit zitternden Fingern umfasst und griff oft nach ihrem Rapier. Romeo und Gajeel pflegten und überprüften wieder einmal ihre Ausrüstungen, letzterer offensichtlich ungerührt, während Romeo seine Nervosität nicht ganz verbergen konnte. Neben ihnen saß Wendy und verarbeitete mit betroffen gesenktem Blick ihre Kräuter, tatkräftig unterstützt von Juvia, die immer wieder um sich blickte. Im Schatten des Achterkastells lehnte Loke an der Wand, eine Hand auf das Schwert in seinem Schoß gelegt, und schien zu versuchen zu dösen, verriet sich jedoch dadurch, dass er immer wieder zu Lucy hinüber blickte. Meredy war nicht anzusehen, was sie dachte, während sie mit ihren Wurfmessern übte, als wäre alles in bester Ordnung. Lyons und Grays Gesichter waren bleich, ihre Mienen krampfhaft ausdruckslos. Sie mieden jeden Blick auf die Bewohner von Sabertooth und versuchten, so zu tun, als würden sie sich auf ihre Aufgaben konzentrieren. Lyon zog den Wetzstein über sein Breitschwert, sein jüngerer Bruder überprüfte die Schnallen und Riemen seines ledernen Brustpanzers. Unbehaglich rieb Levy sich die Hände. Während der ersten Tage der Reise hatte die Gruppe langsam zueinander gefunden. Sie hatten miteinander trainiert, Karten und Schach gespielt, gemeinsam gegessen und gemeinsam an Deck geschlafen. Aber seit sie das Kargland hinter sich gelassen hatten, waren Sting und Rogue zu angespannt, um sich noch ablenken zu lassen. Sie hatten Lector und Frosch wieder nach Sabertooth geschickt, als der Kapitän verkündet hatte, dass sie bald da wären. Während ihres Studiums und auch schon lange davor hatte Levy von unzähligen Schlachten und Kriegen gelesen. Allein die vielen Konflikte hier in der Stillen Wüste füllten in der Universitätsbibliothek mehrere Regalreihen. Doch keines dieser Bücher hatte je richtig eingefangen, was Levy jetzt beobachten konnte. Die Menschen auf den Lastkähnen und am Ufer spiegelten ein breites Gefühlsspektrum wieder: Angst und Unsicherheit, Wut und Hass, Trauer und Verzweiflung, Entschlossenheit und Hoffnung. Die Blicke, die auf Sting und Rogue lasteten, waren hoffnungs- und erwartungsvoll. Die beiden Drachenreiter waren die Helden der Stillen Wüste, die Befreier von Sabertooth, die sagenumwobenen Klauen, Drachenreiter, im Grunde lebende Legenden. Die Verantwortung, die ihnen damit aufgebürdet wurde, war unbeschreiblich. Sie ließen wieder ein Dorf hinter sich und begegneten nur noch vereinzelten Kähnen und Booten. Lucy legte Sting und Rogue kurz die Hände auf die Schultern und wandte sich dann dem Kapitän zu. Über das Schweigen der Anwesenden hinweg war ihre Stimme klar und deutlich auf dem gesamten Deck zu vernehmen. „Lasst die Männer an die Ruder gehen. Wir müssen endlich Sabertooth erreichen.“ „Herrin, damit gewinnen wir höchstens einen halben Tag und dieser Abschnitt des Schlangenflusses ist besonders in der Nacht sehr heikel“, erklärte der Kapitän und nestelte an seiner Weste herum. „Wir könnten auf einer der Sandbänke auflaufen.“ „Wie oft seid Ihr diese Strecke bereits mit diesem Schiff gefahren? In den Hafenbüchern ist die Pyxis allein für den vergangenen Frühling dreimal für die Strecke Heartfilia-Sabertooth-Hargeon eingetragen. Oder irre ich mich?“, fragte Lucy mit herrischer Stimme. „N-nein, Herrin, Euer Gedächtnis ist ausgezeichnet. Ich wusste nicht, dass Ihr die Hafenbücher-“ „Die Wahl für die Passage nach Sabertooth fiel nicht von ungefähr auf die Pyxis“, unterbrach Lucy den Mann schroff. „Ihr kennt die Strecke, Ihr kennt die Sandbänke und die Strömungen. Welche Schäden auch immer trotz Eures Könnens entstehen sollten, Heartfilia wird sie zehnfach begleichen. Wenn wir allerdings bei Morgengrauen in den Hafen von Sabertooth einlaufen, erhaltet Ihr eine Frachtladung Lacrima samt Zertifikat zur freien Verfügung.“ Levy schnappte nach Luft und sogar Sting und Rogue hatten sich überrascht zu Lucy herum gedreht. Alle blickten von ihrer Beschäftigung auf und beobachteten das Mienenspiel des Kapitäns. Der schien wirklich zu versuchen, sich seine Gier nicht anmerken zu lassen, aber er scheiterte angesichts des ungeheuren Reichtums, der ihm winkte. Mit einer Frachtladung zertifizierter Lacrima würde er sich einen Palast errichten lassen oder eine Handelsflotte aus dem Boden stampfen oder sogar eine kleine Insel kaufen können. Tief verbeugte er sich vor Lucy und hastete dann unter Deck, um jeden verfügbaren Mann an die Ruderbänke zu schicken. „Das ist zu viel“, sagte Rogue missbilligend. „Das wird Sabertooth nicht zahlen können. Und Heartfilia sollte das auch nicht.“ Von ihrer Position aus konnte Levy das Gesicht ihrer Freundin nicht sehen, aber sie erkannte die Steifheit in Lucys Haltung und hörte einen gepressten Unterton heraus, als sie dem Schattenmagier antwortete: „Mein Vater kam aus einer Kaufmannsfamilie, die Generationen zurück reichte, aber er war der Alleinerbe. Bevor er meine Mutter geheiratet hat, hatte er ein ganzes Handelsimperium unter sich. Mit seiner Heirat hat er das gesamte Vermögen Heartfilia überschrieben. Das sind Handelskontakte in ganz Ishgar und sogar bis nach Alvarez. Die Einnahmen spülen jedes Jahr enorme Reichtümer in Heartfilias Kasse. Damit reichern wir die Renten an, zahlen den Sold, vergeben Stipendien… Dieses Mal können wir damit hoffentlich verhindern, dass es Sabertooth genauso ergeht wie Heartfilia…“ Noch immer schien Rogue mit sich zu hadern, Sting jedoch trat einfach vor, schlug sich mit der rechten Hand auf die Brust und streckte dann die Hand aus, die Innenseite Lucy zugewandt. Levy erinnerte sich an eine entsprechende Beschreibung in Ein Leben im Sand von Myrbus Orland, einer Studie über die Gebräuche und Künste der Wüstennomaden. Diese Geste drückte tief empfundenen Dank und den Wunsch aus, eine Freundschaft wachsen zu lassen. „Das werden wir nicht vergessen, Lucy. Sabertooth steht in deiner Schuld.“ „Noch sind wir nicht da und wissen auch nicht, ob wir überhaupt rechtzeitig sein werden“, widersprach Lucy und echte Sorge schwang in ihrer Stimme mit. „Was zählt, ist der Sand selbst, nicht seine Form, sagen die Wüstennomaden“, sagte Rogue und wiederholte Stings Geste. „Und Hoffnung ist der hellste Stern“, übersetzte Lucy leise ein vielgenutztes Geistersprichwort und legte ihre Hände an die Handflächen der beiden Klauen, während unter Deck eine tiefe Trommel den Rhythmus für die Ruderer zu schlagen begann. Die Trommelschläge hielten die ganze Nacht an, bisweilen von rüden Seemannsliedern begleitet, mit denen die Ruderer sich motivierten, wenn sie gegen besonders starke Strömungen ankämpfen mussten. Das Achterkastell war hell erleuchtet und neben der Gallionsfigur am Bug waren hölzerne Konstruktionen aufgestellt worden, in deren Inneren Lichtlacrima brannten und den voraus liegenden Flussverlauf beleuchteten. Das Schiff wankte leicht in den wechselhaften Strömungen, die durch die vielen Sandbänke verursacht wurden. Das Holz knarrte und ächzte und das Segel knatterte in einer steifen Brise, die bei Sonnenuntergang aufgekommen war. An Schlaf war für Juvia und die Anderen kaum zu denken, auch wenn sie es zumindest versuchten, um bei ihrer Ankunft in Sabertooth auch zu etwas nütze zu sein. Wie in den vorherigen Nächsten hatten sie ihre Decken im Schatten des Achterkastells ausgebreitet, heute auch schon aus dem Grund, weil die Trommeln unter Deck geradezu ohrenbetäubend laut waren. Juvia lag zwischen Lucy und Gajeel. Letzterer hatte sich zur Wand gedreht und schien tatsächlich zu schlafen, Lucy jedoch war wach und hielt Levys Hand. Die Magistra lag neben ihrer Freundin und drehte sich oft herum, brummte immer wieder leise im Schlaf, stöhnte oder wimmerte mitunter sogar. Seit dem Aufbruch von Heartfilia war Levy des Nachts immer so unruhig und Juvia fragte sich, ob das an dem lag, was Levy in Malba und Heartfilia gesehen hatte, oder ob das mit Levys Recherchen zusammen hing. Die Magistra schien wohlbehütet aufgewachsen zu sein, fernab von Kriegen, Versklavung und Raubzügen. Wahrscheinlich hatte sie vor den Kämpfen in Malba noch nicht einmal eine ernsthafte bewaffnete Auseinandersetzung mit angesehen. Warum sie sich dennoch so energisch dafür entschieden hatte, mitten in ein Kriegsgebiet zu ziehen, ging über Juvias Verständnis hinaus. Aber andererseits verstand sie ja nicht einmal genau, warum sie selbst hier auf diesem Schiff lag. Es war ihr einfach so natürlich erschienen, Sting und Rogue dabei helfen zu wollen, ihre Heimat zu verteidigen. Dabei hatte Juvia nicht die leiseste Ahnung davon, was eine Heimat eigentlich war, und gleichzeitig war sie sich nicht einmal sicher, ob sie tatsächlich helfen konnte. Sie war keine Kämpferin und keine Heilerin und besaß auch nicht die geschärften Sinne der Drachenreiter oder Levys und Lucys breit gefächerten Wissensschatz. Sie war einfach nur eine ganz normale Wassermagierin… Sie hörte Levy leise seufzen und dann hörte das beständige Rascheln endlich auf. Irgendwo an Juvias Kopfende hörte sie jemand anderen rascheln, ehe sie Rogues leises Seufzen vernahm: „Sting…“ Im Schatten des Achterkastells erkannte Juvia nur vage Stings breitschultrige Gestalt, die davon schlich. Kurz darauf folgte Rogue ihm und Juvia konnte die Beiden nicht mehr sehen, ohne sich aufzurichten. Wahrscheinlich gingen sie wieder zur Reling. Es grenzte sowieso an ein Wunder, dass sie zumindest versucht hatten, einzuschlafen. Als Lucy sich neben ihr auf den Rücken drehte, lenkte Juvia ihre Aufmerksamkeit wieder auf die junge Fürstin. Die Blonde hatte den Blick gen Himmel gerichtet, wo die Sterne nur vereinzelt zwischen den Wolken hervorlugten, die mit dem Sonnenuntergang aufgezogen waren, ohne auch nur einen Regentropfen zu Boden zu schicken. Soweit die Sichtverhältnisse es zuließen, betrachtete Juvia Lucys Profil. Die Gleichaltrige war jene Art Frau, die Juvia gelegentlich in Crocus aus der Ferne gesehen hatte. Diese Frauen, um die sich zahllose Verehrer scharten, weil sie schlicht und einfach perfekt waren. Angefangen von Lucys femininer Figur über ihren leuchtenden goldenen Haaren bis hin zu ihrem wunderschönen Gesicht mit diesen großen, sanften Augen und dem niedlichen Mund und… Nein, Lucy übertraf jede Frau, die Juvia je zuvor gesehen hatte. Denn sie war nicht nur schön, sondern auch noch klug und verantwortungsvoll und stark und unglaublich tapfer. Ja, irgendwie bewunderte Juvia die Blonde und wünschte sich, sie könnte ein bisschen so wie sie sein. Trotz der unbestreitbaren Unterschiede zwischen ihnen, fühlte Juvia sich Lucy jedoch auch unglaublich nahe. So viele Qualitäten und Stärken Lucy auch hatte, sie hatte auch ihre Schwächen und sie versuchte nicht mehr so krampfhaft wie bei ihrer Ankunft in Heartfilia, eben diese zu verbergen. Vielleicht tat sie es auch gar nicht bewusst, aber es gab diese Momente, in denen Lucys Ängste und Schmerzen unverkennbar durch die Schale aus Verantwortungsgefühl durchschimmerten, hinter der Lucy sich leider immer noch gelegentlich verborgen hielt. So wie jetzt. Aufmerksam beobachtete Juvia, wie Lucys Miene sich anspannte, während sie weiter zum Himmel hinauf blickte. Sie zog immer wieder die Augenbrauen leicht zusammen, als hätte sie Schmerzschübe, und sie kaute sich auf der Unterlippe herum, als lägen darauf Worte, die sie aussprechen wollte und doch nicht wollte. Die sonstige Beherrschung bröckelte und dahinter kam eine junge Frau voller Zweifel und Schuldgefühlen zum Vorschein. Irgendwann fiel es Lucy wohl doch auf, dass Juvia sie beobachtete. Sie versteifte sich, ballte sogar die Fäuste, die sie hastig wieder öffnete. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete tief aus, dann drehte sie den Kopf. Jetzt hatte sie ihre Miene wieder besser im Griff, aber zumindest versuchte sie nicht, ihre vorherige Schwäche weg zu lächeln. Im Dunkeln war es nur undeutlich zu erkennen, aber Juvia hatte den Eindruck, dass Lucys Augen müde wirkten. Nicht körperlich müde, sondern seelisch. Sie schienen so viel älter zu sein, als sie eigentlich in Wahrheit waren. Keine Spur mehr von diesem wunderschönen Leuchten, das nach Lucys Übungskampf mit Natsu in ihnen gelegen hatte. „Du trägst keine Schuld an dem, was deinem Land passiert ist, weißt du?“, flüsterte Juvia unwillkürlich. Sofort konnte sie sehen, wie Lucy sich wieder verkrampfte, und für einen Moment befürchtete Juvia, dass die Blonde ihr den Rücken zudrehen würde, aber dann hatte diese sich offensichtlich wieder im Griff, auch wenn ihre Stimme belegt klang, als sie antwortete: „Wie kommst du darauf?“ Die Wassermagierin nahm sich einige Herzschläge Zeit, um nach den richtigen Worten zu suchen, ehe sie sich für die ehrlichsten entschied. „Juvia hat das Gefühl, dass du immer noch viel in dich hinein frisst…“ Jetzt drehte Lucy doch den Kopf auf die andere Seite und die sichtbare Hand ballte sich zu einer zitternden Faust. Unwillkürlich hielt Juvia die Luft an. War sie zu weit gegangen? Sie verstand so wenig von diesen Dingen. Sie hatte immer nur Gajeel, Totomaru, Pantherlily und Metallicana um sich herum gehabt und keiner von ihnen war besonders gesprächig. Am ehesten noch Metallicana, aber selbst bei ihm hatte Juvia das Gefühl, das es etwas gab, was er sogar vor sich selbst verschloss. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er so lange Zeit unberitten geblieben war. Es konnte unmöglich spurlos an den Drachen vorbei ziehen, wenn sie einen Reiter verloren, und Metallicana mochte sich immer über Gajeel lustig machen, letztendlich hatte er doch eine Schwäche für den Eisenmagier und war auch gegenüber Juvia immer ausgesprochen sanft, beinahe väterlich aufgetreten. Nur hatte er eben nie darüber gesprochen. Das schien der Standard für die kleine Gruppe um Gajeel zu sein, wovon Juvia sich selbst nicht ausschließen konnte. Zwar hatte sie unter diesen Umständen die vielen kleinen Anzeichen dafür zu erkennen gelernt, ob jemand etwas in sich hinein fraß, aber damit umzugehen, war ihr dennoch fremd. Bisher hatte sie diese Herausforderung immer gescheut. Warum sie sie dieses Mal angegangen war, verstand sie selbst nicht so genau, aber sie hatte nicht einfach schweigen können. Sie hatte endlich helfen wollen… „Als Meister Capricorn und die Anderen mich überredet haben, nach Sabertooth aufzubrechen, war ich erleichtert“, durchbrach Lucy das Schweigen schließlich. Ihre Stimme klang gepresst und ihre Hände waren noch immer zu Fäusten geballt. Eine Weile kaute sie sich wieder auf der Unterlippe herum, den Blick wieder gen Himmel gerichtet, ehe sie weiter sprach. „Ich habe mich mein Leben lang auf die Aufgaben einer Fürstin vorbereitet und ich will das auch wirklich schaffen, weil ich mein Land und mein Volk liebe, aber…“ Wieder ein Zögern. Lucy blinzelte nun heftig und schluckte mehrmals. Beinahe bereute Juvia es, die Blonde auf diese Sache angesprochen zu haben. Es schien ihr doch geradezu körperliche Schmerzen zu bereiten, auch nur daran zu denken. „Ich bin damit überfordert“, krächzte Lucy schließlich. „Und jetzt fühle ich mich schuldig, weil ich meine Pflichten einfach abgewälzt habe…“ Die Worte erstarben und dann rann die erste Träne über Lucys Schläfe. Hastig schlug sie die Hände über das Gesicht. Der letzte Satz klang wie ein Würgen, schwach und abgehackt. „Ich will keine Fürstin sein…“ Bestürzt betrachtete Juvia die Gleichaltrige. Sie hatte geahnt, dass die Verantwortung der Fürstenwürde schwer auf Lucys Schultern lasten musste – wie könnte sie das auch nicht in solchen Zeiten? –, aber das war so viel mehr… Es war ein grauenhaftes Geheimnis, ein Eingeständnis von Schwächen und Ängsten, die immer unausgesprochen geblieben waren. Wieso Lucy dieses Geheimnis ausgerechnet mit Juvia teilte, jemandem, den sie noch nicht einmal einen Mond lang kannte und der nicht den Hauch einer Ahnung von all diesen Dingen hatte, war der Blauhaarigen ein Rätsel. Womit hatte sie sich solch ein Vertrauen verdient? Sie hatte doch in der Zeit seit Lucys Rettung nichts für die Blonde tun können. Sie hatte hilflos daneben gestanden, als Lucy vom Tod ihres Vaters erfahren hatte, hatte tatenlos die Bestattung mit angesehen, hatte Lucy in den Tagen danach kaum zu Gesicht bekommen. Bei den wenigen Begegnungen hatte Juvia immer versucht, irgendwie für Lucy da zu sein, aber sie hatte sich dabei immer unzulänglich und nutzlos gefühlt. Schlimmer noch als bei der Sache mit diesem armen Leviathan. Viel schlimmer. Dennoch lag Lucy hier neben ihr, die Hände aufs Gesicht gepresst, die Schultern zitternd… Und dieses Mal wollte Juvia nicht tatenlos bleiben! Ganz vorsichtig rutschte sie näher an die Andere heran und streckte die Hand aus. Für einen Moment zögerte sie noch, dann strich sie über Lucys Arm. „Juvia versteht nichts von Politik“, begann sie unsicher, ihre Stimme so weit gesenkt, wie sie nur konnte. „Juvia und Gajeel sind immer davor weg gelaufen, aber sie glaubt nicht, dass du ein schlechter Mensch bist, nur weil du Zweifel hast. Diese Aufgabe, für so viele Leben verantwortlich zu sein…“ Sie rang um die richtigen Worte und fand keine. Seufzend strich sie über Lucys Kopf. „Juvia hätte auch Angst davor…“ Es kam ihr falsch vor, Lucy hier und jetzt in den Arm zu nehmen. So sehr sie sich auch wünschte, mit der Blonden Freundschaft zu schließen, sie kannten einander eben doch noch nicht lange genug. Und gleichzeitig war sie sich nicht sicher, was eine Umarmung jetzt ausrichten würde. Ob sie Lucy nicht vielleicht zu sehr aus der Fassung bringen würde. Also blieb sie einfach nur neben Lucy liegen und streichelte ihr seidenes Haar. Eine Weile verharrten sie so, bis Lucys Zittern nachließ. Mehrmals holte sie tief Luft und dann nahm sie die Hände wieder vom Gesicht und ergriff die Hand auf ihrem Kopf, um sie sanft zu drücken. Zaghaft erwiderte Juvia den Druck und lächelte die Andere an, welche die Geste zittrig erwiderte. Wieder verblieben sie so, hielten einander fest und lächelten unsicher und doch voller Zuneigung. Juvia hatte ein wohlig warmes Gefühl in der Brust und legte sich wieder richtig neben die Blonde, ihre Schultern leicht aneinander gedrückt, ihre Blicke nun beiderseits nach oben gerichtet. Mittlerweile waren mehr Sterne zu sehen, aber das tiefe Schwarz des Firmaments schien sich minimal aufgehellt zu haben. Juvia wunderte sich, wie viel Zeit vergangen war, seit sie sich getraut hatte, Lucy anzusprechen. Es war alles irgendwie so schnell gegangen und doch wieder nicht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihre Worte wirklich etwas bewirkt hatten. War sie Lucy bei all dem nicht vielleicht doch zu nahe getreten…? Ein weiterer sanfter Druck an ihrer Hand ließ Juvia aufblicken. Neben ihr richtete Lucy sich langsam auf. „Wir müssten bald da sein, wir werden langsamer“, flüsterte sie zur Erklärung und lächelte beruhigend. Erst jetzt bemerkte Juvia, dass sie die vielen gefährlichen Strömungen tatsächlich hinter sich gelassen hatten und dass sich der Rhythmus der Trommeln verlangsamt hatte. Die Aussicht auf Lucys Belohnung schien den Kapitän und seine Mannschaft ausreichend beflügelt zu haben. Als Lucy mitten in der Bewegung erstarrte, stemmte Juvia sich auf den rechten Arm und drehte sich um, um Lucys Blick zu folgen. Sie erkannte Loke, der sitzend an einer Kiste lehnte, das Schwert wieder auf seinem Schoß, den Blick auf Lucy gerichtet. Hatte er gehört, was Lucy vorhin gesagt hatte? Schon wieder verunsichert blickte Juvia zwischen Loke und Lucy hin und her. In Lucys Gesichtszügen zuckte es verräterisch, aber Lokes Miene blieb vollkommen ruhig. In seinen Augen lagen keine Vorwürfe oder Sorgen. Einfach nur Vertrauen. Gerade noch rechtzeitig sah Juvia, wie Lucy schwer schluckte, ehe sie sich hastig herum drehte und zur Reling ging, die Schultern steif, die Hand um den Griff ihres Rapiers verkrampft, den sie sich beim Aufstehen wieder umgegürtet hatte. Langsam stand auch Juvia auf und blickte wieder zurück zu Loke, der sich so geschmeidig erhob, als wäre es vollkommen normal für ihn, in sitzender Position zu schlafen – wenn er denn überhaupt geschlafen hatte. Noch immer wirkte er vollkommen entspannt, obwohl seine Fürstin vorhin gestanden hatte, dass sie eigentlich gar keine Fürstin sein wollte. War sein Glaube an Lucy so unerschütterlich? Der Morgen dämmerte und nach und nach richteten sich auch die Anderen auf. Natsu war als Erster auf den Beinen und gesellte sich zu Lucy, Sting und Rogue, deren Konturen sich mittlerweile deutlicher abhoben. Mit einem Brummen drehte Gajeel sich um und richtete sich in eine sitzende Position auf. Sein Blick huschte einen Moment lang zu Levy, die sich erschöpft die Augen rieb. Juvia tat so, als hätte sie nichts bemerkt. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um Gajeel darauf anzusprechen. Schließlich folgte sie den Anderen an die Reling und richtete ihren Blick nach vorn. Sie konnte spüren, wie der Fluss hier ruhig, beinahe schon sanft dahin floss, ehe er mehrere hundert Schrittlängen voraus in einen breiten, künstlichen Kanal geleitet wurde. Dort schoss er wieder schneller dahin und zog an den stabilen Stützpfeilern unzähliger Stege – viel mehr, als Juvia sie in einer Stadt am Rande der Wüste für möglich gehalten hätte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie bisher eigentlich gar keine wirkliche Vorstellung von Sabertooth gehabt hatte. Sie war mit Gajeel eher im Nordwesten Fiores unterwegs gewesen. Nach ihrer Flucht aus Crocus waren sie einige Monde lang durchs Land gezogen, hatten Station in Margaret gemacht, waren wieder auf Wanderschaft gegangen, dann wieder ein paar Monde in Hargeon, ehe sie sich ein Boot gekauft hatten und aufs Kaiserliche Meer hinaus gefahren waren… Vom Rest Fiores hatte Juvia nur wenig erfahren, geschweige denn gesehen. Gespannt folgte sie mit dem Blick dem Fluss, der sich dunkler in einer von Sand dominierten Umgebung abhob. Diese nun so deutlich wahrnehmbare Linie leitete Juvias Blick schließlich zu den Mauern von Sabertooth, die schier unendlich hoch über dem Boden aufragten. Juvia musste sich eingestehen, dass sie zu wenig von Architektur verstand, um näheres dazu sagen zu können. Vage konnte sie jedoch die helle Rotfärbung des Steins und die vollkommen glatte Oberfläche erkennen. Die Zinnen begannen erst fünfzehn oder noch mehr Mannslängen über dem Boden und dazwischen waren immer wieder patrouillierende Soldaten zu erkennen. Zu beiden Seiten des Flusses ragten massive Wehrerker aus den Mauern, die groß genug waren, um Skorpione zu beherbergen – eine klare Warnung an jeden potenziellen Eindringling, der glaubte, auf dem Fluss leichtes Spiel zu haben. Über den Fluss selbst spannte sich von Mauer zu Mauer eine gewaltige, dornenbewehrte Kette, die jedem Schiff Einhalt gebieten konnte. Diese Stadt war es gewohnt, sich verbissen zu verteidigen. An der Reling hob Sting eine Hand mit einer Lichtkugel, die hell genug war, um ihn und Rogue zu beleuchten, und winkte mehrmals in Richtung eines der Erker. Undeutlich konnte Juvia dort Rufe hören, dann konnte sie erkennen, wie Bewegung in die dort stationierten Soldaten kam. Wenig später erklang das quälende Quietschen von riesigen Winden und ganz langsam hing die Kette über dem Fluss durch, bis sie schließlich darin verschwand. Unruhig vergrub Juvia die Finger im Stoff ihrer Pluderhose und schluckte schwer. Sabertooth hieß sie willkommen – und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie hinter diesen Mauern erwarten würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)