Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 27: Der Weg, auf dem unangenehme Fragen gestellt wurden --------------------------------------------------------------- Wendys Nasenflügel blähten sich, als die Drachenreiterin mit geschlossenen Augen versuchte, eine Duftnote zu erhaschen. Gemeinsam mit Gajeel hielt Romeo sich in ihrem Windschatten, um ihr die Aufgabe nicht noch schwerer zu machen. Vier Tage waren sie stetig nach Südwesten gefahren auf genau jenes Gebiet zu, in welches Yukino laut Libras Erzählung aufgebrochen war. Libra hatte dank ihrer Magie drei Tage von Jadestadt bis nach Sabertooth gebraucht, danach hatte es drei Tage gedauert, bis der Suchtrupp losgefahren war. Die Spuren, die Wendy jetzt in dieser für sie noch so ungewohnten Umgebung suchte, waren also etwa zehn Tage alt. Das waren alles andere als ideale Bedingungen. „Immer noch nichts“, seufzte Wendy und ihre Schultern senkten sich enttäuscht. Romeo blickte auf die Karte hinunter, die er von Rogue erhalten hatte, und legte einen Finger an ihre derzeitige Position. Sie waren einen Tagesmarsch südlich von Jadestadt, aber Gajeel hatte bereits erklärt, dass man in der Wüste für diese Strecke mindestens die doppelte Zeit brauchte, wenn man kein Reittier oder einen Sandschlitten hatte. Und Yukino hatte unterwegs sicher Wurzeln suchen müssen, um an Wasser und Nahrung zu kommen. Wenn sie also davon ausgehen könnten, dass Yukino schnurgerade nach Süden geflohen war, wäre es ein Leichtes, sie zu finden. Minerva hatte sie allerdings davor gewarnt, dass es wahrscheinlich niemanden gab, der dieses Gebiet so gut kannte wie Yukino. Sie war bei den Wüstennomaden aufgewachsen und sie hatte davor zwei Zyklen lang alleine in der Wüste überlebt. Es war Romeo schleierhaft, wie eine damals Achtjährige es geschafft hatte, so lange alleine in der Wüste durch zu kommen. So gut Mest ihn auch von Anfang an gedrillt hatte, er hätte das niemals geschafft. Dahinter steckte irgendein Geheimnis, dessen war Romeo sich sicher, aber er hatte die Fürstin nicht danach gefragt. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es einen guten Grund hatte, etwas zu verschweigen – und dabei dachte er nicht einmal an den Umstand, dass die Drachenreiter nichts von seiner Beziehung mit Wendy wussten. „Wenn wir noch ein kleines Stück nach Südwesten fahren, erreichen wir eine kleine Felsansammlung. Mit den Sandschlitten brauchen wir nicht lange“, erklärte er und hielt die Karte so, dass auch Gajeel und Wendy den Punkt sehen konnten, auf den er deutete. „Dort können wir die Nacht verbringen.“ An der Art, wie sich Wendys Lippen minimal aufeinander pressten, erkannte Romeo sofort ihren Unwillen, aber er sagte nichts dazu. So sehr er sich auch wünschte, Stings und Rogues – und anscheinend auch Lucys und Lokes – Freundin lebendig zu finden, er musste doch vernünftig bleiben. Er war die hohen Temperaturen und die Trockenheit der Wüste noch nicht gewohnt und Wendy ging es da nicht anders. Ihre Körper konnten sich nicht so schnell auf dieses so fremdartige Klima umstellen. Vor solchen Gefahren hatte Mest sie während ihrer Ausbildung mehrfach und eindringlich gewarnt. Sie stiegen wieder auf ihre Sandschlitten und fuhren in die von Romeo gewiesene Richtung. Gajeel übernahm wieder die Führung. Auch wenn ihn die Hitze der Wüste nicht unberührt ließ, war er sie als Bosco bei weitem besser gewohnt und konnte sie auch besser verkraften. Das machte ihn zum verlässlichsten Führer und Kämpfer in ihrer Gruppe. Der Drachenreiter war ein sehr schweigsamer Reisegefährte. Romeo hatte den Eindruck, dass Gajeel über vieles grübelte, was ihm zu schaffen machte. Ob er Juvia vermisste? Bei den bisherigen Treffen der Drachenreiter hatte Gajeel die Wassermagierin immer mitgebracht, soweit Romeo es von Wendy und Natsu wusste – er selbst war ja erst beim letzten Treffen vor sieben Zyklen das erste Mal mit dabei gewesen, als Sting und Rogue in die Gemeinschaft der Drachenreiter aufgenommen worden waren. Weder Natsu noch Wendy hatten Romeo viel über Gajeel erzählen können. Der Eisenmagier hatte sich schon immer bedeckt gehalten und ihnen noch nicht einmal verraten, wo er sich niedergelassen hatte, nachdem er mit Juvia Bosco verlassen hatte. Nach einer Weile erreichten sie die Felsen. Die größten waren vielleicht fünf Mannslängen hoch und die gesamte Insel maß an der längsten Stelle höchstens zehn Schrittlängen in der Breite. Von Wind und Sand waren die Felsen beinahe perfekt glatt geschliffen worden, sodass sie nun abstrakte, runde Formen bildeten. Der höchste Felsfinger im Zentrum erinnerte entfernt an ein Kamel und daher hatte dieses Fleckchen hier wohl auch seinen auf der Karte verzeichneten Namen: Kamelrast. Romeo und die Anderen stiegen von ihren Schlitten, rafften die Segel und schoben die Gefährte unter einen Überhang, der gerade so genug Platz für sie bot. „Kein Feuer“, brummte Gajeel, als sie ihr Lager aufschlugen. Sie legten trotz der nächtlichen Kälte keinen Widerspruch ein. Zwar hatte Wendy bisher auch keine Dämonen gerochen, aber man konnte ja nie wissen. Zum Glück hatten sie genug warme Decken mitbekommen – und eine Feldflasche mit einem Gebräu namens Sandfeuer. Ein kleiner Schluck davon genügte, um einen von innen heraus zu wärmen, aber wegen des hohen Süßegehalts machte es gleichzeitig auch wach. Nachdem er einmal daran genippt hatte, hatte Romeo für sich entschieden, dass er dieses Zeug nur im äußersten Notfall trinken würde. Wendy hatte sogar nur einmal kurz daran geschnuppert und die Flasche dann schnell wieder weggeben. Schweigend nahmen sie das Pökelfleisch und die Trockenfrüchte zu sich und tranken den Saft, den Gajeel aus den Wurzeln gepresst hatte, welche sie heute Morgen dank Wendys Nase gefunden hatten. Es war eine Kunst für sich, in all dem Sand die dicken Knollen zu finden, die optisch nur anhand von dünnen, hellbraunen Stielen zu erkennen waren, welche ein bis zwei Handlängen in die Höhe ragten. Die dicke, harte Schale zu zerschneiden und das zähe Fruchtfleisch auszupressen, war ebenso ein harter Akt. Die handliche Presse, die sie in Sabertooth dafür bekommen hatten, machte das zum Glück erheblich einfacher. Der daraus gewonnene Saft war ziemlich bitter, aber er versorgte die Reisenden mit ausreichend Flüssigkeit. „Wie gut kannst du eigentlich kämpfen?“, durchbrach Gajeel das Schweigen nach einer Weile und musterte Wendy abschätzig. „Das muss sie nicht“, mischte Romeo sich sofort mit finsterer Miene ein. Jetzt ruhte der Blick des Eisenmagiers auf ihm. „Bist du auf einmal ein Magier geworden?“ Damit traf Gajeel genau Romeos wunden Punkt. Die Sorge, wie er seine Freundin vor Magiern beschützen sollte, umtrieb den jungen Krieger schon seit langer Zeit. Er hatte mit Mest dafür einige Strategien entwickelt. Dennoch war ihm bewusst, dass ihm dabei Grenzen gesetzt waren. „Romeo hat härter geübt als irgendjemand sonst“, sagte Wendy und ergriff Romeos Hand. Überrascht betrachtete er sie von der Seite. Ihre Miene war entschlossen, beinahe grimmig. „Er ist im Umgang mit zig Waffen gedrillt worden und er musste mehr Dinge lernen, als man sich überhaupt vorstellen kann. Du hast kein Recht, ihn gering zu schätzen, nur weil er kein Magier ist.“ Zuerst sah Gajeel die Jüngere einfach nur überrascht an, doch dann breitete sich ein Grinsen auf seinen Zügen aus. Es war eine Spur weniger gehässig, als Romeo es bisher bei ihm gesehen hatte. „Wenn du das sagst…“ Sein Grinsen hatte nun beinahe etwas Anzügliches und Romeo schoss die Hitze ins Gesicht. Er ließ Wendys Hand wieder los und nestelte an einer seiner Gürteltaschen herum, den Blick vehement gesenkt. Er hatte lange genug – und viele freundschaftliche Schubse – gebraucht, um sich einzugestehen, dass Wendy mehr für ihn war als eine Freundin und Schutzbefohlene. In Gegenwart Anderer fühlte er sich noch immer gehemmt deswegen. Aus diesem Grund hatte er ja auch Levy daran gehindert, den Drachenreitern etwas zu verraten. Die würden sich nur über ihn lustig machen. Immerhin waren er und Wendy die Jüngsten in der Runde, da waren sie geradezu prädestiniert dafür. „Aber das beantwortet immer noch nicht meine Frage“, durchbrach Gajeel das peinliche Schweigen wieder. „Wie gut kannst du kämpfen? Beherrscht du dein Drachengebrüll?“ Bedrückt senkte Wendy den Kopf. Romeos Verlegenheit verflog und er griff wieder nach der Hand seiner Freundin, um diese tröstend zu drücken. „Grandine sagt, dass nur wenige ihrer Reiter jemals das Gebrüll beherrscht haben“, erklärte Wendy kleinlaut. „Und warum gehörst du nicht dazu?“ „Weil ich mich nie daran versucht habe“, war das gewisperte Geständnis. „Wendy ist keine Kämpferin. Sie ist eine Heilerin und Ärztin“, ging Romeo erneut dazwischen. „Und wenn sie mal kämpfen muss? Was ist, wenn du verletzt oder einfach nicht da bist?“ „Ich werde immer da sein“, erwiderte Romeo wild entschlossen und drückte behutsam die hand seiner Freundin. „Wendy und ich sind ein Team. Wir kriegen das hin, ohne dass Wendy sich verbiegen muss. Die kleinen, zierlichen Finger zuckten zaghaft, ehe sie den Griff erwiderten. Romeo schenkte seiner Freundin ein zuversichtliches Lächeln, aber er musste sich eingestehen, dass Gajeels bohrender Blick ein ungutes Gefühl bei ihm hinterließ. „Sagt mir, dass ihr nur Witze macht!“ Bei Lokes scharfem Tonfall zuckte Levy zusammen. Der Feuergeist hatte sich trotz vor Anstrengung zitternden Armen in die Höhe gestemmt und blickte mit weit aufgerissenen, fiebrigen Augen zu ihr und Juvia auf, die neben seinem Bett standen. In beiden Augen waren Adern geplatzt und die Augen lagen tiefer in den Höhlen, als Levy es jemals in einem menschlichen Gesicht für möglich gehalten hätte. Seine Haut war bleich, seine Lippen aufgesprungen, seine Wangen eingefallen. Alles in allem bot Loke einen erschreckenden Anblick. Zumindest besserte sein Zustand sich langsam, seit sie Loke dreimal am Tag den Aufguss des Pulvers einflößten, welches Natsu ihnen gegeben hatte, bevor er gestern mit dem Heer aufgebrochen war. Eine Medizin für magische Vergiftungen, die er von einem alten Freund erhalten hatte, hatte er nur erklärt. Leider würde das Pulver nicht mehr lange reichen. Und die Heilung ging nur sehr langsam vonstatten, weshalb Levy eigentlich gehofft hatte, dass es noch eine Weile dauern würde, bis Loke erwachte und sie ihm sagen musste, wo Lucy war. Oder wenn er wenigstens schon gestern aufgewacht wäre, als Gray und Natsu noch da gewesen waren. Die Beiden könnten Loke sicher besser beruhigen. Immerhin waren sie von Lucys Entscheidung auch nicht begeistert gewesen – schon komisch, dass es tatsächlich etwas gab, worin sie sich einig waren, da sie doch sonst unablässig zankten. „Sagt mir, dass Lucy irgendwo hier in Sabertooth ist und den Nachschub sichert oder Recherchen anstellt, statt nur mit zwei Männern in einer lebensfeindlichen Wüste unterwegs zu sein, um eine Dämonenbruthöhle zu töten!“, krächzte Loke und kämpfte darum, weiterhin in einer sitzenden Position zu bleiben. „Sting und Rogue sind sehr stark und sie werden auch noch Zirkonis um Hilfe bitten. Ich denke nicht, dass Lucy tatsächlich in Gefahr ist. Wahrscheinlich ist sie sogar sicherer als wir hier“, versuchte Levy es vorsichtig. „Die Höhlengebundenen werden riechen, dass Lucy viel Umgang mit Geistern hat“, rief Loke und stemmte sich noch etwas weiter nach vorn. Vor Übelkeit wurde sein Gesicht kalkweiß. „Juvia denkt, dass du Sting und Rogue vertrauen solltest. Die Beiden werden Lucy mit ihrem Leben beschützen.“ Loke warf der Wassermagierin neben Levy, die sich nun das erste Mal zaghaft zu Wort gemeldet hatte, einen so scharfen Blick zu, dass diese zusammen zuckte. „Das ist aber meine Aufgabe! Ich bin Lucys Schild und Schwert!“ Levy brachte es nicht über sich, dem Geist die harschen Worte seiner Fürstin zu übermitteln. Seit der Sache mit Avatar schien etwas zwischen Lucy und Loke zu stehen. Meistens verhielten sie sich dennoch ganz normal, aber Levy kannte sie nun schon seit sechs Zyklen. Für sie war unübersehbar, dass es ein Problem gab. Gerne hätte sie irgendwie vermittelt, aber es war nie die rechte Zeit dafür gewesen. Als Loke Anstalten machte, aus dem Bett zu steigen, sprang Levy an seine Seite und versuchte, ihn zurück aufs Bett zu drücken. Dass ihr das tatsächlich gelang, jagte ihr eine Heidenangst ein. „Loke, sie sind vor vier Tagen aufgebrochen. Selbst wenn du fit wärst, könntest du sie nicht einfach so einholen“, beschwor sie ihn beinahe flehend. „Bitte vertrau’ auf Sting und Rogue.“ Dem Feuergeist entfuhr ein heiseres Krächzen und als er zu Levy aufblickte, erkannte sie hinter dem Fieberglanz eine kaum zu beschreibende Angst. Ihre Kehle fühlte sich auf einmal wie zugeschnürt an und sie musste gegen die Tränen anblinzeln. „Bitte“, flehte sie schwach und drückte ihren Freund in eine liegende Position zurück. „Ich darf sie nicht im Stich lassen“, murmelte Loke schwächlich und mit flackernden Augen. Er versuchte noch einmal, sich auf die Ellenbogen zu stützen, aber die Arme gaben unter seinem Gewicht nach. „Ich habe geschworen… geschworen…“ Die Erschöpfung traf Loke offensichtlich wie ein Hammerschlag. Von einem Moment auf den nächsten wurden seine Worte vollkommen unverständlich und sein gesamter Körper, der sich eben noch für den Versuch verkrampft hatte, wieder aufzustehen, erschlaffte. Die Aufregung hatte den Körper wieder anfälliger für das dämonische Gift gemacht, das sich auch mit der Unterstützung von Natsus Pulver nur quälend langsam abbaute. Levy wartete noch, bis der Feuergeist wieder eingeschlafen war, dann trat sie zurück und ergriff die Flucht. Sie verließ das kleine Gästequartier und stürzte in die Galerie hinaus, vorbei an den leeren Zimmern, die vor wenigen Tagen noch von ihren alten und neuen Freunden bewohnt worden waren, und die Treppe hinunter. Im Sahn kauerte Levy sich zu Boden und drückte die Handballen auf ihre Augen, um sich wieder unter Kontrolle zu kriegen. In was war sie hier nur hinein geraten? Vor zwei Monden hatte sie noch an ihrer Doktorarbeit gesessen und war ihren Pflichten in der Bibliothek nachgegangen. Und nun? Eine irre Sekte hatte versucht, ihre beste Freundin zu töten, deren Heimat angegriffen worden war. Die Drachenartigen in ganz Fiore spielten verrückt, die Drachenreiter schlossen sich zusammen und nun tauchten auch noch Dämonen wieder auf, die vor mehr als tausend Zyklen alles daran gesetzt hatten, so viele Menschen wie möglich auszuschalten – und sie, eine kleine, unbedeutende Magistra, steckte mittendrin… Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie aufblicken. Juvia hockte vor ihr, ihre großen, blauen Augen voller Verständnis und Sorge. „Juvia denkt, dass du dich ausruhen solltest“, sagte die Wassermagierin sanft. „Bevor man uns Bescheid gesagt hat, dass Loke wach ist, hast du den ganzen Tag in der Bibliothek von Meister Org gearbeitet. Du hattest keine einzige Pause. Juvia musste dich sogar zwingen, wenigstens zwischendurch etwas zu essen und zu trinken.“ Levy schwieg betreten und hob den Blick zum Himmel. Die Sonne hatte den Zenit schon längst überschritten und neigte sich wieder dem Horizont zu. Erst jetzt fiel Levy auf, wie lang die Schatten im Sahn waren. War sie wirklich den ganzen Tag in der Bibliothek gewesen? Sie hatte kein Zeitgefühl mehr, wenn sie sich so richtig in ihre Arbeit stürzte – und die Privatsammlung des ehemaligen Hofmagiers von Sabertooth lud geradezu dazu ein, darin zu versinken. Neben ihren Dämonologie-Recherchen suchte Levy immer noch nach Abhandlungen über den Schwarzen Kometen. Zumindest einen aufschlussreichen Artikel über die Katastrophe in Malba hatte sie gefunden. Darin wurden zahlreiche Thesen logisch widerlegt, die voran gegangene Wissenschaftler aufgestellt hatten. Es konnte keine Krankheit sein, keine Naturkatastrophe, kein dämonischer Einfluss, keine Giftmagie… Vielmehr deutete alles darauf hin, dass Experimente in Bezug auf das Fanal, welches hundert Zyklen zuvor stattgefunden hatte, ausgeführt worden waren. Womöglich hatte jemand nach einer Methode gesucht, das Fanal rückgängig zu machen. Für die Prophezeiung zog der Autor als Erklärung jedoch nur eine magisch induzierte Massenhalluzination heran. Wirklich weiter gebracht hatte diese Lektüre Levy nicht, aber aus irgendeinem Grund war ihr seitdem noch mulmiger zumute. Sie hatte das Gefühl, dass sie etwas Wichtiges übersah, doch sie konnte den Finger nicht darauf legen. Außerdem sollte sie sich lieber auf Tartaros konzentrieren. Meister Orgs Bibliothek hatte einen erstaunlich großen Bestand an Dämonologie-Werken. Neben Klassikern wie Ein Tanz mit Wölfen, Die Kriege der Golems, Dämonen der alten Ära und Kartographie der Dämonenwanderungen gab es auch einige Exemplare, bei denen Levy sich sicher war, sie nie im Inventar der Universitätsbibliothek gesehen zu haben. Und einige sehr alte handschriftliche Aufzeichnungen, von denen manche sogar auf Alt-Bosco geschrieben waren. Aus all dem das heraus zu suchen, was sie wirklich brauchte, kam Levy wie die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen vor. Tartaros wurde so gut wie nie namentlich erwähnt, aber in den Aufzeichnungen über die Golem-Kriege etwa wurde auch der sogenannte Totengolem nochmals erwähnt, weshalb Levy sich gezwungen sah, alles zu den großen Konflikten zusammen zu tragen, an denen Tartaros Eclair zufolge beteiligt gewesen war. Zwischen den Zeilen ließen sich so vielleicht doch Verweise auf Tartaros finden, doch das bedeutete einen schier unendlich großen Berg an Lesearbeit. Im Grunde war das erst recht ein Ansporn für Levy, die für ihr Leben gern Rätsel gelöst hatte, aber die Gewissheit, dass davon wahrscheinlich das Überleben ihrer Freunde – und womöglich sogar das aller Menschen in der Stillen Wüste – abhing, bereitete ihr furchtbare Bauchschmerzen. „Juvia musste Gajeel versprechen, auf dich aufzupassen. Bitte leg’ dich für den Rest des Abends ins Bett.“ Levy Wangen wurden aus irgendeinem Grund heiß. „Gajeel sollte sich lieber um seine eigene Situation Gedanken machen. Ich kann sehr gut auf mich alleine aufpassen.“ Abwägend neigte Juvia den Kopf mal nach links, dann nach rechts. „Gajeel macht sich Sorgen um dich…“ „Warum sollte er? Wir kennen einander doch kaum“, protestierte Levy und wedelte abwehrend mit den Händen. Zur Antwort schenkte Juvia ihr ein Lächeln, das irgendwie an Lucy erinnerte. Ein skurriler Gedanke, da Lucy und Juvia doch so unterschiedlich waren, aber er ließ sich auch nicht verdrängen. Levys Gesicht war nun brennend heiß und ihr fiel auf, dass sie wild mit ihren Händen herum fuchtelte und die Lippen immer wieder öffnete und schloss, ohne ein Wort zustande zu bringen. Sie zwang sich, die Hände sinken zu lassen, und starrte verwirrt zu Boden. Insgeheim war sie heilfroh, dass Lucy und Gray nicht hier waren. Für die Beiden wäre Levy jetzt ein gefundenes Fressen – dabei sollten die mal ganz ruhig sein! Gray, der Juvias schmachtende Blicke nicht bemerkte, und Lucy, die mit Natsu flirtete, ohne es so richtig zu kapieren! Levy schoss das Blut in die Wangen, als ihr klar wurde, dass sie ihre – vollkommen unromantische – Beziehung mit Gajeel mit denen ihrer Freunde verglichen hatte. Sie war eindeutig übermüdet und halluzinierte bereits, anders ließ sich das nicht erklären. „Ich gehe schlafen“, erklärte sie darum hektisch und sprang auf die Beine. Juvias Kichern verfolgte sie auf dem ganzen Weg die Treppe hinauf und bis zu der Kammer, die sie sich mit Juvia teilte, seit die Blauhaarige sie nach Gajeels Abreise gefragt hatte, ob sie bei ihr schlafen durfte. Seufzend ließ die Magistra sich auf ihre Matratze sinken. Die Berührung mit der bequemen Unterlage rief ihr schlagartig all die grässlichen Verspannungen wieder in Erinnerung, welche die Recherchen in der Bibliothek von Meister Org nach sich gezogen hatten. Sie brachte es gerade so noch zustande, ihre leichten Lederstiefel, die sie in Heartfilia bekommen hatte, abzustreifen, dann drückte die Erschöpfung sie aufs Bett. Ihr letzter Gedanke war, dass sie am nächsten Morgen mit der historischen Abteilung in Meister Orgs Bibliothek anfangen könnte, dann dämmerten ihre Gedanken weg… Wenn Rogue es nicht besser wüsste und wenn er weniger aufmerksam wäre, hätte er allen Grund, sich zu ärgern, denn Sting und Lucy verstanden sich blendend miteinander. Während der Fahrt mit den Sandschlitten hatte Sting der Fürstin die Handhabung des Gefährts beigebracht und die Beiden hatten daran offensichtlich viel Spaß gehabt. Verdächtig viel, hätte ein Unkundiger glauben können. Aber Sting war als Wüstennomade einfach grundsätzlich viel entspannter in solchen Belangen. In der Zuflucht lebte das Freie Volk auf so engem Raum, dass ihre Toleranzgrenze für Berührungen sehr viel höher war als anderswo in Fiore. Manch einer warf ihnen sogar Schamlosigkeit vor – und hatte damit gar nicht so Unrecht. Selbst mit den… delikaten Details ihrer Beziehung war Sting zu Rogues Leidwesen immer sehr freizügig umgegangen. Wenn Sting tatsächlich ein weitergehendes Interesse an Lucy hätte, würde er daraus also auch keinen Hehl machen. Polygamie – obwohl es keine Ehegelübde bei den Wüstennomaden gab – war Gang und Gebe. Monogame Beziehungen waren hingegen eher selten. In dieser Hinsicht brach Sting mit den Gebräuchen seines Volks. Er hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass Rogue mehr als nur ein Bettgenosse für ihn war. Lucy wiederum war offensichtlich begierig darauf, zu lernen, wie man den Sandschlitten handhabte, und brachte dabei eine gewisse Abenteuerlust ein, doch wenn sie Sting berührte, dann nur haltsuchend. Sie lachte vergnügt mit Sting, scherzte und lächelte ohne Scheu, einfach weil sie nicht schüchtern war, aber sie suchte offensichtlich keine vertraulichere Nähe zu Sting. Für Rogue war es ganz ähnlich, als wenn er Sting mit Yukino beobachtete. Vielleicht brauchten Sting und Lucy das Beide, trieb sie doch auch Beide die Sorge um die gemeinsame Freundin um. An den Abenden, wenn es zu riskant wurde, weiter zu fahren, übte Lucy mit ihnen ihr Bosco – sie war verblüffend gut, auch wenn ihre Wortwahl ziemlich steif und ihr Akzent sehr stark war – und trainierte mit ihnen ihren Schwertkampfstil. Zu Rogues Überraschung hatte sie wohl schon mal gegen eine Bosco-Klinge wie die seine gekämpft. Allerdings zehrten die heißen Tage und die lange Fahrt an ihr und sie war es wohl fast nur gewohnt, auf festem Untergrund zu kämpfen. Die ständigen Niederlagen nahm sie jedoch ausgesprochen würdevoll an und fragte immer nach Möglichkeiten zur Verbesserung ihres Stils. Mittlerweile waren sie seit vier Tagen unterwegs und nun kamen die ersten Ausläufer der Trümmersteinberge in Sicht. Scharfkantig ragten sie aus den weichen Linien des Wüstensandes ab, der Stein gelbbraun, selten einmal grau oder gar schwarz. Das Wüstengebirge lag nördlich von Jadestadt und erstreckte sich in der Nord-Süd-Strecke über vier Tagesreisen, in der Ost-West-Strecke über das Fünffache. Ein gewaltiger Wall, der Jadestadt beinahe gänzlich von Clover abschottete, welches jenseits der Weiten Steppe lag, welche sich an die Trümmersteinberge anschloss. Lucy fuhr jetzt beinahe alleine, Sting hielt sich ohne Einmischung hinter ihr und achtete nur darauf, sein Gewicht immer richtig zu verlagern. Rogue fuhr schräg vor ihnen, um Lucy die Richtung anzuzeigen. Wenn die Blonde ihn mal überholte, erkannte er jedes Mal das herausfordernde Grinsen auf Stings Lippen, aber er beantwortete es immer nur mit einem Augenrollen. Feigling, formte Sting mit den Lippen beim nächsten Mal. Spielkind, antwortete Rogue. Als Sting anzüglich mit den Augenbrauen wackelte, verspürte Rogue einerseits den Wunsch, seinem Partner einen ordentlichen Klaps auf den Hinterkopf zu verpassen, aber andererseits musste er sich eingestehen, dass Stings verruchtes Lächeln eine unglaubliche Anziehungskraft auf ihn ausübte. Fassungslos schüttelte er den Kopf und richtete sein Segel neu aus, um Lucy zu überholen und zum verstecken Gebirgspfad zu dirigieren. Während er jedoch konstant sein Tempo drosselte, ging das bei Lucy eher stockend vonstatten. Als sie kurz das Gleichgewicht verlor, rutschte das Segel wieder in den Wind und der Schlitten schoss regelrecht an Rogue vorbei. Sting unternahm zu Rogues Erleichterung keinen waghalsigen Versuch, das Gefährt wieder unter Kontrolle zu bringen, sondern schlang einen Arm um Lucys Hüfte, den anderen um ihren Kopf und sprang mit ihr ab. Der Sandschlitten krachte gegen den nächsten Felsen und zersplitterte. Rogue hielt neben Sting und Lucy und stieg von seinem eigenen Schlitten, um den Beiden je eine Hand anzubieten. Sie waren zum Glück Beide unverletzt. „Das passiert, wenn man sich so etwas von Sting beibringen lässt“, erklärte er amüsiert. „Hey, Natsu habe ich es auch beigebracht!“, protestierte Sting beleidigt. „Der tickt ja auch genau wie du und versteht deine komischen Erklärungen.“ Während Sting einen Flunsch zog, kicherte Lucy und tätschelte besänftigend seine Schulter. „Lass’ dir nichts einreden, Sting, du bist ein guter Lehrer. Es hat Spaß gemacht. Schade nur um den Sandschlitten.“ „Ach, den brauchen wir sowieso nicht mehr“, erwiderte Sting unbekümmert, der sich offensichtlich über Lucys Lob freute und darüber völlig vergaß, weiterhin den Beleidigten zu mimen. Schmunzelnd kehrte Rogue zu seinem Sandschlitten zurück und lud die darauf verknoteten Rucksäcke ab, ehe er das Segel raffte und einklappte und das Brett im Sand vergrub. Derweil sammelten die anderen Beiden die Trümmer des zweiten Schlittens ein und versteckten sie ebenfalls im Sand. „Bist du schon mal geklettert?“, fragte Sting Lucy, nachdem sie ihre Rucksäcke geschultert hatten. „Nur auf Bäumen. Heartfilia und das Kargland sind allenfalls ein bisschen hügelig. Meister Capricorn hat uns zwar im Mondsteinbruch einige Kletterübungen abhalten lassen, aber er hat uns gewarnt, dass das eigentlich keine richtige Vorbereitung ist“, antwortete die Fürstin, während sie ihren Tagelmust neu band, der während des Absprungs verrutscht war. Wieder war Rogue verblüfft, wie kriegerisch Heartfilia in Wahrheit war. Nicht dass er sich je besonders intensiv mit dem Fürstentum beschäftigt hatte, aber alles, was er je darüber gehört hatte, hatte sich immer nur mit dem dort herrschenden hohen Lebens- und Bildungsstandard befasst. Die Fürsten und Fürstinnen des Heartfilia-Geschlechts wiederum hatten sich oft als Gelehrte unterschiedlicher Fachrichtungen hervor getan, insbesondere in der Astronomie und in der Diplomatie. Auch einige berühmte Künstler stammten aus ihren Reihen, Rogue konnte sich an einen Gedichtband von einer Sarah Heartfilia erinnern, der ihm in der Bibliothek des Sandpalasts mal in die Hände gefallen war. Und um den Reichtum des Landes hatten sich die wildesten Gerüchte gerankt – an denen nach dem, was Lucy offenbart hatte, anscheinend mehr dran war, als Rogue je angenommen hätte. Aber für große Schlachten und Kriege waren die Menschen und Geister Heartfilias nie bekannt gewesen. Ganz offensichtlich war man in Heartfilia auch in der heutigen Zeit darum bemüht, diesen Trumpf immer in der Hinterhand zu behalten. „Das erste Stück, das wir heute noch schaffen können, ist einfach. Pass’ auf, wo Rogue und ich hintreten, und sag’ Bescheid, wenn du eine Pause brauchst“, instruierte Sting ernsthaft. Die Fürstin nickte zustimmend. Sie ging für eine Grünländerin bemerkenswert vernünftig mit den körperlichen Grenzen um, welche ihr die ungewohnten Wüstentemperaturen setzten. Wahrscheinlich ein weiteres Ergebnis ihrer harten Ausbildung. Wie Sting es angekündigt hatte, war das erste Stück sehr einfach. Man konnte es kaum richtiges Klettern nennen. Es ging zwar recht steil nach oben, aber es boten sich für die Füße genug Trittstellen und zwischendrin gab es immer wieder Absätze, die sich für eine Verschnaufpause anboten. Sting, der mit Abstand der beste Kletterer unter ihnen war, gab das Tempo und die genaue Richtung vor, aber Rogue erkannte mühelos, dass sein Partner sich zurückhielt. Würde Sting sich in seinem gewohnten Tempo bewegen, hätte Lucy kaum eine Chance, mit zu halten. Auch so war nach einiger Zeit ihr schwerer Atem zu hören, aber sie hielt in der ganzen Zeit nur zweimal an, um von einem Absatz aus die Stille Wüste zu überblicken und gleichzeitig nach Luft zu schnappen. Jedes Mal nahm sich auch Rogue die Zeit, um den Blick über das schier unendliche Sandmeer gleiten zu lassen. Von den südlichsten Ausläufern der Trümmersteinberge aus konnte man an guten Tagen Jadestadts Mauern erkennen, aber sie waren mehr als zwei Tagesreisen nordöstlich davon und würden sich diesem Gebiet auch nicht nähern. Zirkonis hatte sich damals anscheinend extra ein abgelegenes und weniger gut zugängliches Areal für seine Schlafhöhle ausgesucht, weitab von den geschäftigen Edelsteinminen und den reichhaltigen Alabaster- und Marmorsteinbrüchen, die von Jadestadts Steinmetzen genutzt wurden. Wenn Rogue von hier aus über die Wüste blickte, sah er nur Sand, Sand und nochmals Sand. Früher hatte ihm das nichts bedeutet. Wenn er als kleiner Junge hinter seinem Vater her über die Mauern von Sabertooth gelaufen war und in die Wüste hinaus geblickt hatte, hatte er sie als eintönig empfunden. Nach seiner ersten Wüstenprüfung war sie ihm zum Feind geworden. Heute brachte er die Wüste immer mit Sting in Verbindung und das verlieh ihr etwas Abenteuerliches und zugleich etwas Heimeliges. Heute war die Wüste seine Heimat. Eine Heimat, die er mit allen Mitteln zu verteidigen gedachte. Als sie vor der erwarteten Zeit einen geeigneten Rastplatz erreichten, ließ Lucy sich keuchend sinken und massierte sich die Waden. Rogue gab ihr eine Feldflasche mit Sandfeuer, einem Dattelschnaps, der genug Zucker enthielt, um Lucys Lebensgeister wieder für eine Weile zu wecken, während Sting die Schlafdecken entrollte. Lucy verzog angewidert das Gesicht, trank jedoch tapfer einen Schluck, ehe sie Rogue die Flasche mit einem Seufzen wieder gab. „Ich habe mich eigentlich für ziemlich fit gehalten.“ „Bist du auch“, versicherte Rogue ihr. „Selbst Natsu hat mehrere Tage gebraucht, um sich an das Wüstenklima zu gewöhnen, und der ist beinahe unverwüstlich.“ Bei der Erwähnung des Feuermagiers trat ein Glitzern in Lucys Augen. Zum Glück bemerkte Sting es nicht, sonst hätte er sich wohl hinreißen lassen, etwas dazu zu sagen. „Wann war Natsu denn hier?“, fragte Lucy verräterisch beiläufig. „Er ist vor viereinhalb Zyklen in Sabertooth aufgetaucht. Fast drei Monde hat er bei uns verbracht, ehe er mit einem Schiff nach Hargeon aufgebrochen ist.“ „Aber warum? Er hat doch in Magnolia sicher Pflichten gehabt.“ Sting zuckte mit den Schultern. „Soweit ich es verstanden habe, ist es nur ein Scheintitel. In Magnolia erwartet wohl keiner, dass Natsu eine militärische oder diplomatische Position einnimmt. Fürst Makarov muss ziemlich nachsichtig sein.“ „Und wieso macht er überhaupt so eine lange Reise?“, hakte Lucy Stirn runzelnd nach. „Natsu ist durch und durch ein Drachenreiter“, erklärte Rogue. Während er weiter sprach, packte er die Vorräte aus. Das Pökelfleisch und die Trockenfrüchte würden sich noch eine Weile halten, daher griff er zuerst nach dem Brot. „Er hat oft betont, dass wir als Drachenreiter mehr Kontakt miteinander haben sollten. Und eines Tages stand er eben vor uns und hat sich von uns die Stille Wüste zeigen lassen. Er hat sogar Zirkonis besucht, um auch den unberittenen Drachen kennen zu lernen. Für ihn war es wichtig, mehr über die anderen Drachenreiter zu erfahren.“ „Ergibt das denn nicht Sinn, dass die Drachenreiter eng zusammenhalten?“, fragte Lucy verwirrt. „Schon, aber das ist nicht so einfach, wie Natsu sich das wohl vorstellt“, erwiderte Rogue, während er das Brot in Scheiben schnitt und diese zwischen ihnen aufteilte. „Jeder von uns hat auch seine Verpflichtungen.“ „Du meinst euren Rang als Klauen der Wüstenlöwin?“ „Wir haben uns aus freien Stücken dafür entschieden, aber es bindet uns an Sabertooth. Wir können die Stille Wüste nicht einfach mal eben so verlassen“, erklärte Sting und riss von seiner Brotscheibe ein Stück ab, um es sich in den Mund zu schieben. „Bereut ihr es?“ So wie Lucy aussah, kaum dass die Frage aus ihr heraus geplatzt war, war sie selbst davon überrascht. Auf ihrer Miene spiegelte sich zuerst Verlegenheit, dann Schuld, dann etwas, das Rogue vage als Selbstzweifel zu erkennen glaubte, ehe es innerhalb eines Herzschlages wieder verschwunden war. „Tut mir Leid, die Frage war dumm. Vergesst sie einfach wieder“, sagte Lucy hastig und wedelte hilflos mit den Händen. „Nein“, antwortete Sting dennoch. „Ich bin gerne ein Wüstennomade und habe es gerne leicht. Die Verantwortung für die Stille Wüste zu tragen, war sicher nicht das, was ich mir als Sandfloh erträumt habe. Aber indem ich tue, was ich tue, kann ich vielen Menschen helfen. Nicht zuletzt auch meiner… ihr Grünländer würdet es wohl Familie nennen.“ Bei seinen letzten Worten blickte Sting direkt in Rogues Augen. Dem Schwarzhaarigen wurde ganz warm und kribbelig zumute und er antwortete unwillkürlich mit einem Lächeln. Sting hatte ihm vor langer Zeit erklärt, was es bedeutete, vom selben Sand zu sein. Dieses Band teilte Sting seit seiner Kindheit mit Minerva und später war auch Yukino in diesen Bund aufgenommen worden – und seit mehr als acht Zyklen gehörte auch Rogue dazu. Für ihn war das neben Stings Liebe und seinem Band mit Skiadrum das Wertvollste, was er sich vorstellen konnte. Für einen Moment ergriff er Stings Hand und drückte diese, um seinen überwältigenden Gefühlen Ausdruck zu verleihen, ehe er sich ernst an Lucy wandte: „Dass wir es nicht bereuen, heißt nicht, dass wir nie Zweifel haben.“ Die junge Fürstin blickte wieder von ihren Händen auf. „Manchmal – so wie jetzt – stehen der Schutz der Stillen Wüste und der Schutz unserer Familie augenscheinlich nicht im Einklang miteinander.“ „Yukino…“, murmelte Lucy und Rogue spürte das Zucken von Stings Hand in seiner. „Sie lebt sicher noch. Sie hat ihre Suche noch nicht beendet, das wird sie nicht aufgeben. Außerdem meinte sie, sie könnte euch Zwei nicht lange alleine lassen“, fügte sie lächelnd hinzu. Sting brummte beleidigt. „Als ob wir kleine Sandflöhe wären! Yukino ist diejenige, die durch halb Fiore gereist ist!“ „Und es hat sie alle drei Male hierher zurück gezogen“, schmunzelte Lucy und in ihren Augen vermeinte Rogue Bewunderung zu erkennen. „Wie gut kennst du Yukino?“, fragte er leise. „Nicht so gut wie ihr, aber wir sind befreundet. Bei ihrer ersten Vorstellung war… Vater sehr verwirrt, als Yukino sich mit dem Reisebrief der berühmtberüchtigten Wüstenlöwin vorstellte.“ Das glaubte Rogue ihr aufs Wort. Damals war Yukino zarte siebzehn Sommer alt gewesen. Kurz nach der Befreiung war sie zu Minerva gegangen und hatte dieser erklärt, dass sie endlich ihre Suche beginnen wollte. Sting hatte lautstark protestiert und ausnahmsweise mal waren er und Orga damit voll und ganz einer Meinung gewesen. Selbst Rufus war skeptisch gewesen und auch Rogue hatte starker Widerwille erfüllt, die neu gewonnene Freundin alleine ziehen zu lassen. Aber Minerva hatte alle Widerworte abgewürgt und Yukino den Reisebrief ausgestellt, der ihr während ihrer Reise die Unterstützung aller Fürsten verschaffen sollte. „Ich fand es wahnsinnig aufregend, endlich aus erster Hand etwas über die Befreiung zu erfahren“, erklärte Lucy. „Fast einen Mond lang war Yukino bei uns, ehe es sie wieder zu euch gezogen hat.“ Den nächsten Teil der Geschichte kannte Rogue: Auf ihrer Reise den Schlangenfluss hinunter hatte Yukino zwei Tagesreisen vor Sabertooth noch mal in einer kleinen Herberge Quartier bezogen, in welcher zufällig auch Hisui, die designierte Fürstin von Jadestadt, gerastet hatte, die auf dem Heimweg nach ihrem Studium in Crocus gewesen war. Als Hisuis Reisegesellschaft von Banditen angegriffen und überwältigt und die Fürstin verschleppt worden war, hatte Yukino die Verfolgung in die Wüste aufgenommen. Sie hatte den Banditen den Garaus gemacht, einen Basilisken gezähmt und mit ihm die Fürstin nach Sabertooth gebracht. Damals waren Sting und Rogue gerade von ihren Drachen erwählt worden und auf einer Übungsreise in der Stillen Wüste unterwegs gewesen, weshalb Minerva Yukino zu Hisuis Eskorte bestimmt hatte. Während dieser Reise nach Jadestadt waren die beiden Frauen Freundinnen geworden und letztendlich hatte Yukino den Titel Säbel und Feder angenommen, den Hisui ihr verliehen hatte. „Während ihres zweiten Besuchs habe ich sie verpasst, weil ich in Crocus war, aber beim dritten Besuch hat sie meine Semesterferien abgepasst und wir hatten wieder einen Mond lang Zeit füreinander. In der Zeit hat sie Aries auch gebeten, das Kostüm für Frosch zu nähen“, erklärte Lucy mit einem wehmütigen Lächeln. „Eigentlich hatte ich Yukino versprochen, nach meiner Inthronisierung auf einen Freundschaftsbesuch vorbei zu kommen. Ich wollte die Stille Wüste immer schon mal kennen lernen…“ Lucys Stimme verklang, als sie den Blick zu den ersten Sternen am dunkelnden Himmel hob. In ihren Augen lag eine undefinierbare Einsamkeit. Der Schmerz des Erlebten und des Verlusts. Rogue fragte sich, ob diese Lucy hier noch die Lucy war, mit der Yukino sich angefreundet hatte. „Du bist ja jetzt in der Stillen Wüste und wir können dir ganz viel über sie erzählen“, durchbrach Sting die Stille und schenkte der Fürstin ein aufmunterndes Grinsen. „Sobald wir die Dämonen erledigt haben, kannst du mal so eine richtige Feier im Wüstenstil erleben!“ Rogue seufzte augenrollend und Lucy kicherte befreit. „Ich freue mich schon darauf.“ Erst als sie sich schlafen legten – Sting hielt mit auf dem Schoß gelegten Säbel Wache – kam Rogue in den Sinn, dass Lucys Frage danach, ob sie ihre Entscheidung bereuten, wohl nicht von ungefähr gekommen war. Hatte Lucy danach absichtlich das Thema auf Yukino gelenkt, um diese Frage zu vertuschen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)