Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 39: Die Wege, die zurück nach Sabertooth führten -------------------------------------------------------- Es war erst drei Tage her, seit Gajeel mit den Bälgern in der Zuflucht angekommen war, aber er hatte die Schnauze jetzt schon gestrichen voll. Die Wüstennomaden waren definitiv kein Volk, bei dem er leben würde, und wenn er ehrlich war, hatte er sie sich nach allem, was er bereits von Sting wusste, auch anders vorgestellt. Sie waren zäh und absolut nicht zimperlich. Als sie die Leichname der Dämonen außerhalb der Zuflucht verbrannt hatten, hatten sie nicht einmal mit einer Wimper gezuckt und keiner von ihnen hatte sich vor der Bergung der Toten und den Aufräumarbeiten gedrückt. Den Beweis für ihre Aufopferungsbereitschaft hatte Gajeel vor drei Tagen ja bereits gesehen… Aber da hörten die Ähnlichkeiten mit Sting in Gajeels Augen eigentlich auch schon wieder auf. Auf eine sehr skurrile Art war dieses Volk unglaublich verbohrt und konservativ. Geradezu krampfhaft versuchten sie, in ihren alten Trott hinein zu finden. Reiter machten sich mit ihren Lehrlingen wieder auf den Weg, um Basilisken zu melken. Die Sammler rückten wieder aus. Die Lehrer nahmen ihren Unterricht wieder auf. Es wurde nicht über die Verluste gesprochen, die sie erlitten haben. Die Schäden im Gestein der Zuflucht wurden nicht beachtet. Und die Fremdlinge in ihrer Mitte ignorierten sie einfach. Von Sting ausgehend hätte Gajeel das sogenannte Freie Volk für sehr viel neugieriger gehalten und die Aussicht auf lauter Fragen nach seinen Erlebnissen im Rest von Fiore hatte ihn eigentlich schon genervt. Doch: Nichts. Keine einzige Frage. Sie gaben ihm und den Kindern Essen und Trinken und stellten ihnen eine Schlafhöhle zur Verfügung, sie ließen zu, dass Wendy ihre Verwundeten verpflegte, aber ansonsten kümmerten sie sich nicht um ihre Retter. Vielleicht wollten sie sich selbst gegenüber nicht eingestehen, dass sie ohne Hilfe von außen wahrscheinlich ausgelöscht worden wären. Vielleicht war ihnen die Magie von Wendy und Gajeel suspekt. Oder womöglich war dieser ganze Krampf hier nur ein kollektiver Versuch, das ganze Trauma des Dämonenangriffs zu verwinden. Im Grunde war es Gajeel egal. Gerade er sollte da wohl nicht mit Steinen werfen. Aber etwas an den Blicken, die sie ihm und den Anderen zuwarfen, störte ihn. Wurde Rogue von denen auch immer so angestarrt? So verstohlen missbilligend, fast schon feindselig? Und warum wurden selbst Aki und Toraan so angesehen? Gehörten die Quälgeister nicht eigentlich zu ihnen? Wobei Gajeel nicht den Eindruck hatte, als würden die beiden Dämonenkinder sich hier tatsächlich heimisch fühlen. Eigentlich interagierten sie fast nur mit Yukino, Mummy und dem alten Knacker mit dem langen Bart, der hier alle Nase lang Meister genannt wurde. Von den übrigen Wüstennomaden hielten sie sich fern. Anscheinend gab es hier immer noch Vorurteile gegen Dämonen. „Hast du etwas dagegen, wenn ich mich dazu setze?“ Grimmig hob Gajeel den Blick. Vor ihm stand der Wüstenweise, der sich schwer auf einen mannshohen Stock stützte, an welchem unsinnig viel Krimskrams hing. Eigentlich hatte Gajeel gedacht, er hätte hier in einer abgeschiedenen, schattigen Ecke des Inneren Kreises seine Ruhe, aber da hatte er sich wohl geirrt. Zur Antwort gab er nur ein Brummen von sich, was dem Alten aber zu genügen schien. Schwerfällig ließ er sich neben ihm nieder und ließ seinen Blick durch den Inneren Kreis schweifen, sagte jedoch nichts, weshalb Gajeel sich erlaubte, wieder seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Yukino war zwar immer noch etwas wackelig, aber wieder auf den Beinen. Also hatte er sein Versprechen gegenüber Sting und Rogue erfüllt. Mehr hatte er in der Stillen Wüste nicht zu schaffen. Er wollte zurück nach Sabertooth, dort würde er sich Juvia schnappen, sich kurz von Levy verabschieden und dann verschwinden. Wenn die anderen Dämonen von Sabertooth so stark waren wie die Drei, die hier für Ärger gesorgt hatten, sollten Natsu und die Anderen ja wohl keine Schwierigkeiten mit ihnen haben. Selbst wenn doch – das alles hier war weder Gajeels noch Juvias Problem. Sie hatten sich nur um diese lästige Leviathan-Geschichte kümmern wollen und die wurde jetzt von Metallicana, Weißlogia und Skiadrum erforscht. Gajeel konnte sich mit Juvia wieder ein ruhiges Plätzchen suchen. Irgendwann würde sicher auch Pantherlily wieder dazu stoßen. Dann konnten sie zurück in ihr altes ruhiges Leben. Fernab von irgendwelchem Ärger… „Ich weiß nicht, ob einer der Anderen es ordentlich getan hat, aber ich wollte mich bei dir und deinen Kameraden bedanken“, durchbrach der Alte die Stille. Als Gajeel sich ihm zuwandte, bemerkte er einen ungewöhnlichen Ernst im Blick des betagten Mannes. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es hier um sehr viel mehr als um einen bloßen Dank ging. Zur Antwort zuckte er jedoch nur mit den Schultern. „Hab’s nicht für euch gemacht.“ „Darüber bin ich im Bilde“, erwiderte der Wüstenweise und neigte kurz das Haupt. Im veränderten Lichteinfall bemerkte Gajeel die tiefen Falten im Gesicht des Mannes und die kranken Schatten unter den Augen. Doch dann richtete Gran Doma sich wieder auf und war wieder der stolze, aufrechte Prediger mit diesem scharfen Blick, der Gajeel Unbehagen bereitete. „Dennoch haben du und deine Kameraden für die Wüstennomaden eure Leben riskiert.“ Gajeel schnaubte abfällig. „Dieser Wasserdämon ist keine Gefahr für mich gewesen!“ Gran Doma antwortete darauf nichts, musterte ihn nur scharf, als suchte er nach einem Beweis für die Worte. Aber Gajeel würde sich lieber beide Hände abhacken lassen, als darüber zu reden, dass er sich vor drei Tagen tatsächlich Sorgen gemacht hatte, als er die Windmagie in der Zuflucht bemerkt hatte. Das war etwas, worüber er nicht einmal nachdenken wollte. Entgegen dem, was Gran Doma gesagt hatte, waren Romeo und Wendy nicht seine Kameraden. Wendy war zufällig zur selben Zeit wie er eine Drachenreiterin und Romeo war ihr Anhang, aber das machte sie nicht zu Vertrauten oder dergleichen. Und die Dämonenbälger erst recht nicht. Zu Gajeels Erleichterung vertiefte Gran Doma das Thema nicht weiter, sondern ließ seinen Blick wieder über den Inneren Kreis schweifen. Als Gajeel dem Hinweis folgte, erkannte er nichts Außergewöhnliches. Ein alter Mann mit Giftnarben gab einer Kinderschar Unterricht im Umgang mit dem Säbel, einige Männer und Frauen kochten und hüteten gleichzeitig die Säuglinge. Kleinkinder kletterten unbeaufsichtigt herum und in einer Nische wurde eine junge Frau von einem Mann leidenschaftlich gegen die Wand gedrückt. Ohne sich um seine Umgebung zu kümmern, ließ der Mann seine Hand unter der Tunika seiner Partnerin verschwinden. Das zumindest passte wieder gut zu Sting, stellte Gajeel fest. Nicht das mit der Frau – oder überhaupt mit einer, Sting schien ja nur Augen und Ohren für einen gewissen Schattenmagier zu haben –, aber das mit der Schamlosigkeit. Doch während er diesen Charakterzug bei Sting ganz witzig fand, konnte Gajeel der Szene, die sich hier gerade vor seinen Augen abspielte, nichts abgewinnen. Es entlockte ihm nur wieder ein abfälliges Schnauben. „Du scheinst die Wüstennomaden nicht zu schätzen.“ Das war keine Frage seiten Gran Domas, sondern eine Feststellung. Gajeel gab sich keine Mühe, mit seiner Meinung hinterm Berg zu halten. „Hätte gedacht, dass die Wüstennomaden mehr so wie Sting sind.“ „Sting…“ Für den Bruchteil eines Herzschlages glaubte Gajeel, einen besonderen Unterton in diesem geseufzten Wort heraus zu hören, aber er konnte nicht definieren, welcher Art er war. Dann klang der Alte auch schon wieder normal. „In gewisser Weise ist Sting wahrscheinlich der einzig wahre Wüstennomade.“ „Hä?“ Verwirrt wandte Gajeel sich wieder dem Wüstenweisen zu, doch der blickte immer noch aufmerksam auf das Treiben im Inneren Kreis. „Die Wüstennomaden haben eine sehr turbulente Vergangenheit. Viele Generationen lang waren sie in alle möglichen Kriege verstrickt. Mit Golems und anderen Dämonen. Mit Boscos. Mit den Grünländern. Mit der Wüste selbst, wenn man so will… Sie haben stand gehalten und dazu gelernt, aber dieses Dazulernen hat eine merkwürdige Entwicklung vollzogen. Das Freie Volk ist schon lange nicht mehr so frei, wie es das gerne von sich behauptet.“ „Wenn du damit ihre dummen Regeln meinst, warum änderst du die nicht?“, fragte Gajeel frei heraus und bedachte den Alten mit einem Stirnrunzeln. Endlich wandte der den Blick von seinen Stammesgenossen ab. Wieder änderte sich der Lichteinfall und der alte Mann wirkte auf einmal noch viel älter und sehr, sehr müde, aber dann lehnte er sich gegen den Stein in seinen Rücken und sein Blick wurde wieder stechend scharf. „Wir haben keine Gesetzesrollen, wie sie eure Unsterbliche Kaiserin geschrieben hat. Die Regeln, die in der Gemeinschaft der Wüstennomaden gelten, sind ein Ergebnis des harten Lebens, das sie hier führen mussten. Erfahrungen längst vergangener Generationen, die Dekade um Dekade immer weiter gegeben und angepasst worden sind, ohne dass man jemals direkt darüber gesprochen hätte. Die Regeln der Wüstennomaden sind in ihrem Wesen verankert.“ „Und wieso ist Sting dann nicht so ein Vollidiot wie die da?“, knurrte Gajeel. „Die behandeln die Bälger und mich wie Luft. Sting wäre neugierig gewesen.“ „Das war schon immer Stings größte Stärke, auch wenn sie ihm oft als Schwäche zur Last gelegt worden ist“, sinnierte Gran Doma. „Er hat die Welt um sich herum ungefiltert betrachtet, hat immer nach neuen Erfahrungen gehungert, Fragen gestellt, war offen für Veränderungen, hat sich mehr auf seine Intuition verlassen… So waren vermutlich die allerersten Wüstennomaden, als sie das erste Mal auf Basilisken geritten sind und die Zuflucht nicht mehr als eine Steinansammlung gewesen ist.“ Gajeel konnte nicht behaupten, dass er voll und ganz verstand, was der Alte damit meinte. Vielleicht könnte Levy das, die kannte sich mit solchen Geschichtssachen definitiv besser aus. Klar war nur, dass Gran Doma nicht mit dem einverstanden war, was aus seinem Volk geworden war, aber anscheinend auch nichts ändern wollte. Oder nichts ändern konnte. Seltsam, dass er dann dennoch bei ihnen blieb. Gajeel hätte sich damit nicht abgegeben. Als der Geräuschpegel im Inneren Kreis auf einmal abnahm, schwenkte Gajeels Blick zu den Neuankömmlingen. Yukino war aus dem Eingang getreten, der zu den Schlafhöhlen führte. An ihrem Kordelgürtel trug sie nur den Säbel, den sie auch getragen hatte, als Gajeel und die Kinder sie gefunden hatten, und sie hatte sich den Tagelmust ordentlich gebunden. Noch immer wirkte sie etwas blass, aber sie schritt forsch aus und hielt zielstrebig auf Gran Doma zu. Hinter ihr her kamen die Kinder. Romeo trug seinen Arm immer noch in der Schlinge und Wendy war etwas blass um die Nase, aber genau wie Aki und Toraan waren die Beiden reisefertig, auch wenn ihre Tagelmuste ordentlicher gebunden waren. Für einen Moment musterte Gajeel die Drachenreiterin und ihren Partner. Beide wirkten übernächtigt und Romeo hielt den Blick gesenkt, wirkte beinahe ein wenig verbittert, als würde er etwas in sich hinein fressen. Yukino erreichte die Nische und kniete sich vor Gran Doma in den Sand, strich mit einer Hand über ihre Stirn und bot sie dann ehrerbietig dem Alten an. Soweit Gajeel das bisher gesehen hatte, war es üblich, dass der Wüstenweise diesen Gruß annahm, indem er über die dargebotene Hand strich, doch dieses Mal ergriff er die Hand und drückte sie sachte. „Du willst schon aufbrechen, Yukino?“, fragte er ungewöhnlich sanft. „Ich muss“, erwiderte die Weißhaarige und hob wild entschlossen den Blick. „Ich weiß immer noch nicht genau, was in Jadestadt passiert ist, aber als ich mit Libra und den Anderen geflohen bin, hatte ich eine Art Vision oder so… Ich bin mir sicher, dass die Dämonen es auf Sabertooth abgesehen haben. Würden sie Jadestadt vernichten wollen, hätten sie das schon längst getan.“ In Gajeels Brust regte sich ein unangenehmes Gefühl und seine Gedanken huschten zu Juvia und Levy. Er hatte geglaubt, dass die Beiden in Sabertooth am sichersten waren. Hatte er etwa einen Fehler gemacht? „Du hattest schon immer einen besonderen Instinkt für so etwas“, sagte Gran Doma ruhig. Für ihn schien nicht einmal zur Debatte zu stehen, dass Yukino sich das nur einredete. Anscheinend hielt er nicht nur auf Sting hohe Stücke. Bei seinen nächsten Worten hob der Alte die schwielige Hand und legte sie sanft auf Yukinos Haaren ab, um einmal darüber zu streichen. Die zärtliche Geste schien die junge Frau noch am meisten zu überraschen. „Richte Sting, Minerva und Rogue meine Grüße aus, wenn du sie siehst.“ „Das werde ich“, versprach Yukino leidenschaftlich. „Ganz bestimmt geht es ihnen allen gut! Wenn wir die Dämonen besiegt haben, kommen wir Euch besuchen, Meister, versprochen!“ Zur Antwort lächelte der Wüstenweise nur, ehe er sich an Aki und Toraan wandte. „Ihr wollt mitgehen?“ „Ist ja nicht so, als könnten wir hier großartig helfen“, erwiderte Aki flegelhaft und verschränkte die Arme hinter dem schlampig gebundenen Tagelmust. „Mummy kommt auch ohne uns wieder auf die Beine.“ „Was wir dir zu verdanken haben“, wandte Gran Doma sich an Wendy und nickte der Drachenreiterin respektvoll zu, doch die winkte verlegen ab. „Wenn Romeo und Aki den Berserker nicht aufgehalten hätten, hätte ich für Mummy nicht Erste Hilfe leisten können.“ Die Erwähnung seines Namens ließ Romeo das Gesicht verziehen. Gajeel unterdrückte ein genervtes Schnaufen. Was war denn nun mit dem Bengel los? Immerhin hatte er es mit einem Berserker aufgenommen. Sollten die nicht extrem starke Kämpfer sein? War er damit etwa nicht zufrieden? Na ja, das war nicht Gajeels Problem. „Also, machen wir uns endlich auf den Weg?“, brummte er und stand auf. Merkwürdig schwerfällig folgte Gran Doma seinem Beispiel. „Wir brauchen nur noch genug Proviant“, wandte Romeo ein und straffte wohl in einem Versuch, wie immer zu wirken, die Schultern, obwohl ihm das offensichtlich Schmerzen im verletzten Arm bereitete. „Mit den Sandschlitten brauchen wir vier Tage bis nach Sabertooth.“ „Wir reisen nicht mit den Sandschlitten. Das kostet zu viel Zeit und die hat Sabertooth vielleicht nicht mehr“, erwiderte Yukino grimmig und hob ihre linke Hand. Erst jetzt erkannte Gajeel darin die kleine Flöte, die Rogue damals Romeo gegeben hatte. Ihren Mienen nach konnten Wendy und Romeo mit dieser Geste genauso wenig anfangen wie Gajeel, aber für Gran Doma und die Dämonenkinder schien damit alles klar zu sein. Irgendwie hatte Gajeel ein seltsames Gefühl bei der Sache. Viel schneller, als Sting es überhaupt verfolgen konnte, ließen sie die Trümmersteinberge hinter sich zurück und flogen schon bald über offene Wüste. Sie lag so ruhig da wie eine schwere Decke. Sting war mit Belehrungen über die Gefahren dieser trügerischen Ruhe aufgewachsen, aber nun hatte er doch Schwierigkeiten, dieses Bild mit seinem Wissen um die Gefahr in Einklang zu bringen, die seiner Heimatstadt drohte. Heimatstadt. Wann war Sabertooth zu seinem Zuhause geworden? Dieser riesige Moloch, der ihn damals so überwältigt hatte… Aber es war sein Zuhause und die Vorstellung, was davon noch übrig blieb, wenn die Bruthöhle mit ihm fertig war, ließ Sting vor Verzweiflung nach Weißlogia tasten. Der Lichtdrache war viel zu weit weg, als dass sie einander spüren konnten. Es würde ungeheure Konzentration erfordern, ihn über das Band zu erreichen. Konzentration, die Sting nicht besaß… Eine Berührung an seiner Schulter ließ ihn zurück zu Rogue blicken, der hinter ihm auf Zirkonis’ Rücken saß. In den Augen seines Partners erkannte er dieselben Ängste. Ganz unwillkürlich griff Sting nach der Hand und drückte sie sanft, versuchte, ihnen Beiden damit Trost zu spenden. Er sah, wie Rogue schwer schluckte, ehe er sich ein unsicheres Lächeln abrang und dann den Blick auf Frosch in seinen Armen senkte. Obwohl die Exceed vorher so energisch darum gebettelt hatte, mit Lector oder Happy mit fliegen zu dürfen, kaum dass die Beiden aufgebrochen waren und auch Zirkonis sich mit den drei Menschen auf dem Weg gemacht hatte, war sie doch in Rogues sicheren Griff eingeschlafen. Stings Gedanken glitten zu Lector ab. Sein kleiner Freund hatte ein paar Schlucke Sandfeuer getrunken, um für den für ihn zum Glück nur kurzen Flug nach Jadestadt fit genug zu sein. Im ausgeruhten Zustand bräuchte Lector wohl nur einen halben Tag, aber er würde die Nacht hindurch rasten müssen und erst morgen früh in Jadestadt ankommen. Hoffentlich konnte Minerva sich schnell auf den Weg machen, aber selbst wenn – für eine gesamte Armee gab es nicht genug Sandschlitten in Jadestadt und sowieso war es zu riskant, mit dem gesamten Heer auf Sandschlitten unterwegs zu sein. Nur einer der jüngeren Soldaten müsste sein Segel falsch ausrichten und schon würde das halbe Heer in einer Katastrophe versinken. Mit Pferden und Kamelen war es langsamer, aber sicherer. Das bedeutete, dass Minerva erst in vier Tagen Sabertooth erreichen konnte und das auch nur, wenn sie es in Kauf nahm, die Tiere zu Schanden zu reiten. „Lucy…“ Rogues Stimme klang gespenstisch in der angespannten Stille, die nur vom Rauschen des Flugwindes unterbrochen wurde, und lenkte Stings Aufmerksamkeit automatisch zu Lucy. Die Fürstin saß vor ihm, den Blick stur geradeaus gerichtet, die Schultern steif. Seit Happy ihr Levys Informationen überbracht hatte, war sie im Grunde wie ausgewechselt. „Lucy, was hat es mit diesem Königsmörder auf sich? Woher weißt du, dass er Sabertooth angreifen wird?“ Einige Herzschläge lang sah es so aus, als würde Lucy die Fragen ignorieren, aber dann drehte sie sich herum. Sie biss sich auf die Unterlippe und ihr Blick war unstet, zuckte immer wieder von Rogue zu Sting und schließlich irgendwohin ins Leere, ehe sie die Augen schloss. Ein Zittern bemächtigte sich ihres Körpers, so heftig, dass es trotz der ständigen Erschütterungen durch Zirkonis’ Flügelschläge unübersehbar war, dann straffte sie die Schultern. Als sie die Augen wieder öffnete, wirkte sie etwas ruhiger, aber in ihnen spiegelten sich immer noch mehr Gefühle wieder, als Sting entziffern konnte. „Es ist in mehr als nur einer Hinsicht die dunkelste Stunde in der Geschichte der Geister“, begann Lucy langsam. „Selbst heute noch wirken die Folgen nach. Mard Geer hat an einem einzigen Tag aus einer blühenden Hochkultur ein Volk aus Gejagten und Heimatlosen gemacht. Er hat ein ganzes Land vernichtet… und so falsch es auch gewesen ist, ein Teil der Geister damals hat das vielleicht sogar verdient.“ „Verdient?“, echote Sting verblüfft. Solche Worte ausgerechnet aus Lucys Mund zu hören, die, solange er sie kannte, immer für die Geister eingetreten war, kam ihm beinahe unglaubwürdig vor. „Was ist damals geschehen?“, fragte Rogue, als Lucy nach mehreren Atemzügen immer noch schwieg. „Es war eine verworrene Zeit“, begann Lucy stockend. „Die Menschen hatten weite Teile Ishgars erobert, sie waren mit Hilfe ihrer wenigen Magiebegabten und durch ihre schiere Masse zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung geworden. Insbesondere, da sie heraus gefunden hatten, dass Geister Lacrima herstellen konnten. Die Dämonen gaben sich mindestens genauso viel Mühe, das Land zu verheeren, und die Ersten Drachen ignorierten alles, solange man sie nicht behelligte. „Der König der Geister wollte deswegen neue Wege einschlagen. Nach unzähligen Generationen, die die Menschen im besten Fall nur mit Herablassung betrachtet hatten, wollte er ein Gleichgewicht zwischen den Völkern Fiores schaffen. Und zwar zwischen allen Völkern…“ Wieder stockte Lucy und richtete ihren Blick kurz nach vorn. Blutrot schmiegte sich die Sonne an den Horizont, schuf eine Wüstenszenerie von grausiger Schönheit, die Sting einmal mehr Unbehagen bereitete. Obwohl er keine Verbindung zu ihm hatte, konnte er auch Zirkonis’ Anspannung spüren und er war sich sicher, dass der Jadedrache genauso aufmerksam lauschte. Schließlich zuckte Lucy mit den Schultern. „Es gibt keine Aufzeichnungen aus der Zeit. Es sei denn, wir lassen Eclairs Geister-Kosmos gelten, aber das Werk ist schwierig. Eclair hat in all ihren Werken immer betont, dass sie nur die Bilder gesehen und nie gehört hat, was gesagt wurde, und dass sie die gesehene Bilder auch erst in eine für sie sinnvolle Reihenfolge bringen musste. Deshalb ist der Geister-Kosmos auch eher eine Ansammlung von Szenen und viele davon sind heute noch unklar. Abgesehen davon gibt es nur Legenden, die Generationen lang mündlich weiter gegeben worden sind. „Es gibt jedenfalls langatmige Balladen darüber, dass der König nicht nur aus politischem Kalkül heraus eine Dämonin zur Frau genommen hat, aber das konnte nie bewiesen werden. So oder so, er hat die Ehegelübde in Geistzunge gesprochen und sich an eine Frau gebunden, die von vielen seiner Zeitgenossen als Todfeind betrachtet wurde.“ „Starkes Stück“, murmelte Sting. Das war, als würde Minerva einen der Sklavenhalter von Bosco heiraten. So sehr das Volk sie verehrte, so etwas würde unter Garantie nicht gut aufgenommen werden. „Der Name der Dämonin ist heute gar nicht mehr bekannt. Letztendlich ist sie sehr zurückhaltend geblieben und relativ kurze Zeit nach dem Schwur im Kindbett gestorben. Keiner hat sich je die Mühe gemacht, mehr über sie und ihre Gesinnung heraus zu finden. Nicht einmal Eclair.“ Verärgert runzelte Lucy die Stirn. Ganz offensichtlich stieß ihr die damalige Ignoranz sauer auf. Da kam wohl die Forscherin in ihr zu Tage. Sie hätte es bei den Wüstennomaden schwer. Die hinterfragten althergebrachte Überlieferungen auch nicht gern. Sting war deshalb als Sandfloh oft angeeckt mit seinen freieren Interpretationen. Heute wusste er, dass der Hauptgrund, warum er nie strenger gemaßregelt worden war, Gran Domas Wohlwollen gewesen war. Der Wüstenweise war es auch gewesen, der sich vehement für die Aufnahme der beiden Dämonenkinder stark gemacht hatte. Ansonsten wären sowohl Aki als auch Toraan wahrscheinlich zum Sterben in der Wüste ausgesetzt worden. „Was wurde aus dem Kind der Verbindung?“, fragte Rogue nach. „Über seine Kindheit ist nichts bekannt. Möglich, dass der Geisterkönig den Jungen in der ersten Zeit abschirmen konnte. Sicher ist nur, dass viele Geister einen Dämonenmischling nicht als ihren zukünftigen König akzeptiert hätten. Die Verachtung der Geister gegenüber den Dämonen war damals quasi omnipräsent. Höchst wahrscheinlich hat der Prinz diese Feindseligkeit irgendwann doch zu spüren bekommen. Aber so unklar die Frage nach den Gefühlen des Geisterkönigs für seine Frau bleibt, dass er seinen Sohn geliebt hat, ist offensichtlich gewesen. Er hat ihn sogar in den Rang eines Heiligen Generals erhoben.“ „Heiliger General?“, hakte Sting nach. „Es war… mehr als nur eine militärische Position… Die Übersetzung des Titels ist schwierig, weil es in Fiore kein richtiges Wort dafür gibt“, erklärte Lucy langsam. „Meine Vorfahrin Anna hat den Titel mit dem Schild und Schwert in gewisser Weise wieder aufleben lassen und euer Status ist dem auch sehr ähnlich. Die Heiligen Generäle waren Berater und Vertraute und Leibgarde in einem. In den Schlachten kämpften sie Seite an Seite mit dem König, bei Beratungen waren sie immer dabei – diese Position erhielt damals wie heute nur jemand, dem der König bedingungslos vertraute.“ „Das muss damals schlecht angekommen sein bei den Geistern, dass ein Dämonenmischling zu einem Heiligen General ernannt wurde“, mutmaßte Rogue. Lucy nickte. „Laut einer der glaubwürdigeren Legenden haben einige hochrangige Geister protestiert. Sogar einer der Generäle soll Bedenken geäußert haben. Aber der Geisterkönig hat darauf beharrt, seinem Sohn zu vertrauen. Und dann hat Mard Geer seinen eigenen Vater ermordet…“ Lucys Blick ging für mehrere Herzschläge ins Leere, aber Sting bemerkte es kaum. Er war zu sehr damit beschäftigt, zu verarbeiten, was sie gerade offenbart hatte. Der Geisterkönig war von seinem eigenen Sohn ermordet worden! Sting hatte seine eigenen Eltern nie kennen gelernt, aber das… Das war ungeheuerlich, unvorstellbar! Der König hatte so viel für sein Kind getan, hatte für ihn sogar seinem eigenen Volk die Stirn geboten. Und so war es ihm gedankt worden! „Mit dem Tod des Königs fing es im Grunde erst an“, murmelte Lucy. „Mard Geer rief Dämonen nach Sternklang, ließ sie Jagd auf die Geister machen. Er tötete sogar den Heiligen General des Weiten Landes. Womöglich wäre es ihm damals sogar gelungen, das Volk der Geister vollends auszulöschen, wenn nicht die letzten beiden Heiligen Generäle die Flucht eines Teils der Geister ermöglicht hätten. Sie haben dafür mit dem Leben bezahlt. Es gibt sehr viele heroische Lieder darüber. Loke mag sie nicht.“ „Loke? Was hat er denn damit zu tun?“, fragte Sting. „Ist er der Nachfahr eines der Generäle?“, riet Rogue. Lucy nickte langsam. „Das Geschlecht der Sonnenlöwen war bei allen Kämpfen der Geister dabei. Lokes Vorfahr war der Heilige General der Starke Wärme und er hat an Mard Geer und den Geisterkönig geglaubt. Seine Tochter war gerade erst zur Kriegerin gesalbt worden, und dann musste sie die Flüchtlinge durch das Kargland führen. Generationen lang irrten die Geister durch Fiore, immer auf der Flucht vor Dämonen und Menschen. Viele von ihnen wurden versklavt, die Menschen haben mit ihnen gezüchtet wie mit Jagdhunden, haben sie zu Tode geschuftet, missbraucht, gefoltert… Als meine Vorfahrin Anna Heartfilia zufällig in ein Versteck der Geister stolperte, waren es nur noch etwa dreihundert Überlebende. Und wenn man die alte Stadtgrenze von Sternklang abläuft, muss die Stadt so groß wie Sabertooth gewesen sein.“ Sting stieß ein überraschtes Japsen aus. Heartfilia war kein Dorf gewesen, ja, aber im Vergleich zu Sabertooth war es winzig! Es war kaum vorstellbar, dass eine so große Gemeinschaft wie die Sabertooths derartig schrumpfen könnte. „In der Geschichtsüberlieferung ist Mard Geer der Verräter, der Königsmörder, der Todfeind aller Geister“, murmelte Lucy. „Es gibt nichts, womit sich seine Taten entschuldigen lassen. Aber gleichzeitig… ist es eine Lehre gewesen.“ Während sie nach den richtigen Worten suchte, rang Lucy mit den Händen. „Die Geister damals waren hochmütig und rassenfeindlich. Sie haben auf Mard Geer wegen etwas herab geblickt, wofür er gar nichts konnte. Sie waren abscheulich…“ Sting musste an sein eigenes Volk denken. Die Wüstennomaden, in deren Augen alle Dämonen Bestien waren und die sogar darüber gestritten hatten, ob man wirklich wehrlose Dämonensäuglinge aufnehmen oder nicht doch lieber dem Tod überlassen sollte. Aki und Toraan würden niemals Mard Geers Beispiel folgen, da war Sting sich sicher, aber… Wieder war es Rogues fester Griff an seiner Schulter, der Sting aus seinen Grübeleien riss. Er drehte sich und verschränkte seine Finger mit Rogues, suchte nach der wundervollen Ruhe, die der Schwarzhaarige ihm immer zu geben verstand. „Lucy, ist es bei all dem wirklich weise, Heartfilia und die Geister weiter zu involvieren?“, durchbrach Rogue schließlich wieder das Schweigen. „Wie wird Mard Geer reagieren, wenn er bemerkt, dass Geister diejenigen unterstützen, die er vernichten will? Gerät Loke damit nicht in Lebensgefahr?“ „Nicht mehr als ihr“, erwiderte Lucy mit einem Stirnrunzeln. „Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es bei diesem Krieg wirklich um Rassenfeindschaften geht. Es gibt zu viele Ungereimtheiten.“ Als Rogue nachdenklich nickte, blickte Sting verwirrt zwischen den Beiden hin und her. „Was für Ungereimtheiten?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)