Psycho in my Mind von Sakami-Mx ================================================================================ Prolog: The Future lies in the Past ----------------------------------- The Future lies in the Past Eigentlich hatte ich mir gewünscht, ein ganz normales Leben führen zu können. Ich wollte meine Vergangenheit hinter mir lassen, doch ich wusste, dass mir dieser Wunsch verwehrt bleiben sollte. Das Grauen, welches mich vor gut sechs Jahren verlassen hatte, sollte mich doch bald wieder einholen. Ungemein war ich die bessere Hälfte von uns beiden, doch mit ihm zusammen, sollte mein Untergang bestimmt sein. Er würde mich in seinen Bann ziehen, mich zu Sachen zwingen, die ich selbst nie machen wollen würde. Warum war ich so abhängig von ihm? Lag es daran, dass wir ein und dieselbe Person waren? „Verdammt, Seger! Jetzt hast du schon wieder deine Chance verpasst!“, rief ein dunkelhäutiger, Junge mit einem blonden Sidecut einem Jungen mit mittellangen, schwarzen Haaren und klaren, blauen Augen zu. „Tut mir leid!“, antwortete dieser verlegen und trottete dem Ball hinterher. Die beiden Jungen befanden sich in einer großen Turnhalle und übten ihre Aufschläge beim Volleyball. Der Blondhaarige mit den dunkelblauen Augen welcher ein kleines Muttermal unter dem Rechten trug, stemmte nachdenklich eine Hand in die Seite. „Was ist denn heute mit dir los? Du bist schon den ganzen Tag so abwesend?!“ Der Schwarzhaarige, welcher sich den Ball geschnappt hatte, nahm wieder auf seinem Posten Stellung und warf den Volleyball in die Luft, nur um ihn gleich wieder zu verfehlen. „Shit“, fluchte er und kickte den Ball unter dem Netzt hindurch. „Volleyball wird mit den Händen gespielt!“, rief der Couch zu den beiden herüber. „Sorry“, rief der Volleyballspieler, der den Aufschlag verpatzt hatte, entschuldigend zurück. Gerade, als sein Spielpartner einen Aufschlag machen wollte, ertönte die Trillerpfeife des Trainers. Das Training war für heute vorbei und die Jungen in der Turnhalle machten sich auf zu den Duschen. „Hey, Felix, was ist denn mit dir los? Du bist ja echt total neben der Spur“, lies der Dunkelhäutige den Schwarzhaarigen, welcher auf den Namen Felix Seger hörte, seine Beobachtungen seinem Kumpel wissen. „Ich weiß auch nicht. Ich habe das ungute Gefühl, dass heute irgendwas passieren wird. Ich fühl mich irgendwie nicht gut…“, meinte Felix etwas heiser und schnappte sich sein Handtuch und seine Duschsachen aus der Sporttasche und steuerte auf die Gemeinschaftsduschen zu. „Vielleicht wirst du ja krank“, überlegte der Blondhaarige laut und folgte Felix. „Quatsch, ich werd nicht von jetzt auf gleich krank“, wehrte der Blauäugige gekonnt ab. „Na wenn du meinst.“ Der Dunkelhäutige mit dem Muttermal unter dem rechten Auge würdigte seinen Kumpel daraufhin keines Blickes mehr und begann sich zu Duschen. Felix schloss erschöpft die Augen. Der ganze Tag war schon anstrengend genug für ihn gewesen, da brauchte er jetzt nicht noch jemanden, der sich um seinen Zustand sorgen machte. Er war einfach nur etwas fertig, war er doch gestern Nacht etwas zu lang aufgeblieben um GTA zu spielen. Das Spiel zog ihn wirklich in seinen Bann, seit er es gekauft hatte. Der Volleyballspieler hatte das Game bestimmt schon vier oder fünf Mal durchgespielt und konnte einfach nicht genug davon bekommen. Gleich nachdem er sich fertig geduscht, abgetrocknet und angezogen hatte, war er auf dem schleunigstem Weg zu seinem Auto geeilt und nach Hause gefahren. Dort hatte er noch nicht mal seine Familie begrüßt, sondern war schnurstracks in sein Zimmer gegangen, hatte sich in voller Montur in sein Bett geschmissen und die Augen geschlossen. Und so lag er da, fertig mit der Welt und wollte einfach schlafen, doch dieser Wunsch blieb ihm verwehrt. Zaghaft klopfte jemand an seine Tür und öffnete sie einen spaltbreit. „Felix? Mama hat gesagt du sollst runterkommen“, leitete seine jüngste Schwester die Mitteilung an ihren großen Bruder weiter. Das Mädchen mit den honigblonden Haaren und den fast schwarzen Augen wartete geduldig auf eine Antwort. „Hm… was gibt’s denn so Dringendes?“, seufzte er in sein Kissen, machte jedoch nicht die Anstalten aufzustehen. „Weiß nicht. Es sollen nur alle ins Wohnzimmer kommen.“ „Wie öde… Hab kein Bock auf das Familygedöns. Ich will meine Ruhe haben und schlafen.“ Die Zehnjährige schloss daraufhin wieder die Tür und verschwand. Kurz drauf wurde jedoch Felix‘ Zimmertür mit einem Ruck aufgerissen und seine ältere Schwester, Joline, stand im Türrahmen. „Ej, Faularsch! Mach, dass du deinen bequemen Hintern nach unten bewegst“, befahl ihm die Dunkelbraunhaarige mit den olivgrünen Augen, doch der Schwarzhaarige rührte sich immer noch nicht. „Man Matschbirne, jetzt komm endlich! Mom und Dad wollen irgendwas von uns und du sollst nach unten kommen!“ „Meine Fresse, was is denn um diese Uhrzeit noch so wichtig? Ich will verdammt nochmal schlafen! Ich bin voll fertig vom Training!“ Joline zögerte nicht lange und zog ihren Bruder am Fuß vom Bett. „Schon gut! Ich komm ja!“, meinte Felix geschlagen und rappelte sich auf. Joline hätte ihn doch tatsächlich fast auf den Boden fallen lassen. Gleichgültig und mit sichtlichem Unmut machte sich der Neunzehnjährige auf den Weg nach unten in das familiäre Wohnzimmer, wo bereits seine Eltern und seine kleineren Schwestern geduldig auf ihn warteten, gefolgt von der Ältesten. Der Schwarzhaarige ließ sich in eine Lücke zwischen seine jüngeren Schwestern fallen und blickte resigniert zu den Eltern, welche vor dem hohen Kamin standen und ihre Kinder geduldig ansahen. „So, schießt los, ich will wieder hoch“, forderte Felix, dass die Versammlung doch endlich anfangen sollte. „Wie fangen wir am besten an?“ Fragend sah die Mutter zu ihrem Ehemann. „Kinder hört zu… Wir haben Post von eurem Bruder bekommen. Um es kurz und knapp zu sagen, er wird wieder hier einziehen“, ließ der Vater die Bombe platzen. „Waaas??“ Felix war hysterisch aufgestanden und fuchtelte wie wild mit den Armen herum. „D-das könnt ihr doch nicht zulassen! Der Typ gehört für ewig weggesperrt!“ „Felix!“, mahnte ihn sein Vater, welcher ihn mit strengem Blick ansah. „Felix hat Recht! Lukas darf nicht wieder hier herkommen! Die können ihn nicht raus lassen!“, unterstütze Joline ihren Bruder. Die beiden jüngeren Schwestern sahen sich verwirrt an. Warum waren ihre älteren Geschwister so negativ zu ihrem Bruder eingestellt? Die Eltern hatten doch gesagt, dass Lukas, ihr älterer Bruder, im Ausland auf ein Internat ging und die nächsten Jahre nicht nach Hause kommen würde. Keynee, die zweitjüngste Schwester konnte sich noch dunkel an das Gesicht ihres Bruder erinnern, sah er doch genauso aus wie Felix. Als Lukas damals wegging, war sie sechs Jahre alt gewesen, jetzt war sie zwölf. Viele Erinnerungen hatte sie daher nicht an ihren Bruder, aber dafür ganz viele mit Felix. Mirina, die jüngste von den Geschwistern war erst vier Jahre alt gewesen. Sie kannte Lukas noch weniger als Keynee. „Mom! Ihr könnten diesen Psycho doch nicht in Mirina‘s und Keynee’s Nähe lassen! Wer weiß, was er mit ihnen machen wird! Er ist zu allem fähig und macht ganz bestimmt nicht vor seinen Geschwistern halt!“, fuhr der Blauäugige fort. „Felix! Er ist immerhin dein Bruder! Egal was er in der Vergangenheit angestellt hat, er hat sich verändert, sonst würden sie ihn nicht entlassen“, klärte die Mutter ihren Sohn geduldig auf. „Das ist mir scheißegal! Er wird immer ein durchgeknallter Soziopath sein, so wie er es vor sechs Jahren war! Dad, auch wenn er dein Sohn ist, ist dir das Leben deiner übrigen Kinder nichts wert? Er ist genau das, was man einen bösen Zwilling nennt! Skrupellos und wahnsinnig!“ Felix war total verzweifelt. Dieses Monster durfte unmöglich wieder zu ihnen kommen. Er hatte das Leben aller anwesenden zerstört! Sie mussten wegen ihm sogar umziehen, weil die Nachbarn die Familie als Ausgeburt der Hölle bezeichneten und wer weiß was noch alles. Der gesellschaftliche Druck war es gewesen, der die Mutter beinahe in den Wahnsinn getrieben hatte und wären sie nicht so schnell wie möglich woanders hingezogen, hätten sie wohl nie ein neues Leben anfangen können. Felix hatte wahninnige Angst. Würde sein Bruder wieder bei ihnen einziehen, dann würde alles von vorne beginnen. Wenn er im Alter von Dreizehn schon so ein sadistisches Monster gewesen war, wie würde er jetzt mit seinen neunzehn Jahren wohl sein? Kapitel 1: Home sweet Home -------------------------- Home sweet Home „Wenn ihr Lukas wieder hier herholt, dann zieh ich aus!“, meinte der Schwarzhaarige und verschränkte ernst die Arme vor der Brust. „Felix, was soll denn der Schwachsinn schon wieder?“, fragte sein Vater verärgert und setzte sich in einen der zwei großen Sessel vor dem Kamin. „Er ist ein PSYCHO!!“ „Felix!“, fuhr ihn nun auch seine Mutter verstimmt an. „Felix hat Recht. Lukas ist eine tickende Zeitbombe. Mag ja sein, dass jeder denkt, dass er sich geändert hat, aber jemand wie Lukas ändert sich nicht“, meinte die Älteste der Geschwister unterstützend. „Joline, fang du jetzt bitte nicht auch noch so an. Euer Bruder hat sich verändert und wir werden nichts mehr daran änder, dass Lukas hier einzieht. Er bekommt das Gästezimmer!“, verkündete der Vater mit tiefer Stimme, was so viel bedeutete wie, dass für ihn das Gespräch damit zu Ende war. „Ihr werdet schon noch sehen, was ihr damit anrichten werdet. Wir werden wahrscheinlich eh bald wieder umziehen müssen.“ „Warum umziehen?“, wandte sich Mirina an ihren Bruder und sah ihn fragend an. „Weil Lukas gestört ist und…“ „Es reicht jetzt!“, rief der Vater in den Raum und erhob sich. „Felix, geh auf dein Zimmer! Dieses Zusammentreffen war lediglich, damit alle Bescheid wissen. Ich verbiete mir, dass du so gegen deinen Bruder hetzt! Noch zudem gegen deinen eigenen Zwillingsbruder!“ Der Schwarzhaarige stand schnaubend auf. „Ich wollte eh gehen“, waren seine letzten Worte, dann verschwand er mit schweren Schritten hinauf in sein Zimmern. Meinte sein Vater dass wirklich ernst? Sein gestörter Bruder wurde aus der Klapse entlassen und sollte nun wieder bei ihnen einziehen? Wollte sein Vater seine Töchter wirklich diesem sadistischen Arsch ausliefern? Lukas war skrupellos, er hatte nicht einmal mit der Wimpergezuckt, als er Felix‘ Hasen damals bei lebendigem Leib skalpiert hatte. Der arme, geliebte Hase, Schneechen, hatte durch diese Person so viel Leid und Scherz erfahren, dass er letztendlich verblutet war. Vor Felix‘ geistigem Auge erschienen immer wieder die Bilder, des blutüberströmten Hasen. Warum sein Zwilling das gemacht hatte, wusste bis heute niemand. Er war einfach wahnsinnig, hatte Spaß daran, anderen Schmerzen zuzufügen. Sei es physisch oder psychisch, es erfreute ihn so oder so. Er war ein Meister darin, Leute für seine Zwecke zu manipulieren, warum sollte er es jetzt nicht auch geschafft haben, seine Ärzte hinters Licht zu führen und eine Heilung seines geistigen Zustands vorzuspielen? Felix würde ihm wirklich alles zutrauen. Aber jetzt sollte dieses Monster wieder hier einziehen und ein reguläres Familienmitglied werden? Oh nein, da hatten sie die Rechnung ohne Felix gemacht. Bei diesem heuchlerischen Familienspielchen würde er nicht mitmachen! Niemals! Der nächste Tag brach an und der Schwarzhaarige mit den klaren, blauen Augen fühlte sich grauenvoll. Die ganze Nacht über hatte er sich schlaflos hin und her gewälzt. Sein persönlicher Alptraum würde wieder hier einziehen, gleich in das Zimmer neben ihn. Dann würden sie Tür an Tür wohnen… So wie früher auch. Aber es war nichts mehr wie früher! Das Vertrauen zu seinem einst geliebten Bruder, seinem Seelenverwandten, seinem Spiegelbild war in tausend Scherben zerbrochen und das würde auch so bleiben. Die Bilder des toten Hasen schwirrten noch immer in Felix‘ Kopf herum. Das war wirklich eine Art Trauma für ihn gewesen, da er den Hasen mit dem schneeweißen Fell wirklich über alles geliebt hatte und Lukas hatte ihn einfach getötet. Welcher Dreizehnjährige machte so etwas grauenvolles, wenn er nicht komplett durchgeknallt war? Als Felix’ Eltern von dem Vorfall mitbekommen hatten, stellten sie ihren Sohn natürlich zur Rede, doch der blieb einfach seelenruhig und fragte lediglich, ober er weitermachen dürfe. Der Schwarzhaarige konnte über diese Erinnerungen nur bitterlich den Kopf schütteln. Sie waren Zwillinge, aber doch so verschieden wie Tag und Nacht. Der Junge war froh, dass er nicht so durchgeknallt war, wie sein Bruder. Die Sache mit dem Hasen war ausschlaggebend für die Einweisung in die Nervenheilanstalt gewesen, hatte Lukas doch schon einige Zeit vorher komische Symptome einer geistigen Erkrankung vorgewiesen. Mit elf hatte er mir nichts, dir nichts einen Fünfzehnjährigen angegriffen und ihn krankenhausreif geschlagen. Damals war man noch davon ausgegangen, dass Lukas von dem anderen Jungen provoziert wurde, doch als dieser einige Monate später selbst auf seine Mitschüler losging, ohne dass sie ihm etwas angetan hatten, waren seine Eltern aufmerksam geworden. Die Prügelattacken machten noch nicht einmal vor seinen Mitschülerinnen halt und so kam es, dass er von der Schule verwiesen wurde. Felix‘ Eltern hatten es mit einem Psychologen versucht, dass dieser herausfand, warum Lukas so durchdrehte, schlussendlich jedoch ohne Erfolg. Man hatte den Zwilling des Schwarzhaarigen unter Medikamente gestellt und die Aggressivität ebbte langsam ab, doch irgendwann schien er gegen diese Hemmer immun zu werden und er ließ seine aggressiven Begierden an armen, wehrlosen Tierchen aus. So kam es, dass er den armen Hasen seines Bruders bis zum Tod quälte. Hatte Lukas ein schlechtes Gewissen gehabt? Keinesfalls, dass wusste Felix felsenfest. Müde und mit roten Augen schlug er die Bettdecke zur Seite und stand auf. In einer knappen Stunde musste er in die Schule fahren, also blieb ihm noch Zeit, eine kalte Dusche zu nehmen, um die scheußlichen Gedanken abzuwaschen. Er schnappte sich frische Anziehsachen und schlurfte, einzig in Boxershorts bekleidet, zum Bad. Dort wurde gerade die Tür geöffnet und Joline trat heraus. „Man, zieh dir was an, du Perverser“, fauchte die Vierundzwanzigjährige und verschwand schnell in ihrem Zimmer. Ihr Bruder gähnte nur herzhaft und verdrehte die Augen. Es war doch jeden Morgen das Gleiche… Unter der Dusche lehnte er sich an die geflieste Badwand, schloss die Augen und ließ das kühle Wasser seinen Rücken hinabfließen. Wenn er nach Hause kommen würde, dann würde Lukas wahrscheinlich schon hier sein. Sollte er selbst nicht besser die nächsten Tage bei einem seiner Kumpels übernachten? Vielleicht bei Moritz? Oder doch eher bei Tom? Tom wäre wahrscheinlich die bessere Entscheidung, da sich Moritz beim gestrigen Training schon Sorgen gemacht hatte. Tom hingegen würde es einfach so hinnehmen und keine Fragen stellen. Der Volleyballspieler beschloss, dass er seinen Kumpel im Laufe des Tages mal ansprechen würde und hoffte inständig, dass dieser Platz und Zeit hatte. Felix würde es sehr wahrscheinlich nicht aushalten, wenn er heute schon auf seinen verhassten Zwilling traf. Wie würde es eigentlich mit diesem weiter gehen? Er hatte bestimmt keinen Schulabschluss, also hatte Felix die Chance, sein Abi in Ruhe und ohne Lukas in seiner Nähe zu wissen, abzuschließen. Was würde sein Bruder machen? So ohne Ausbildung und sechs Jahren Klapse im Lebenslauf, würde ihn wahrscheinlich niemand annehmen… Bedeutete das etwa, dass er den lieben langen Tag zu Hause war? Dass er das ‚Haus hütete‘? Oh nein, das hieß ja, dass Lukas zu Hause wäre, wenn Mirina und Keynee zu Hause waren. Seine Eltern würden die drei wahrscheinlich auch noch alleine lassen, da Lukas ja einer der Älteren war und somit auf seine Geschwister aufpassen konnte. Joline musste bis spät in den Nachmittag arbeiten, also kam sie auch später erst nach Hause. Felix durfte das nicht zulassen. Die Kleinen mit dem Psycho unter einem Dach?! Und dann auch noch alleine?? Der Schwarzhaarige wollte sich das niemals ausmalen. Erschöpft fuhr sich der Junge mit der Hand durchs Gesicht und begann nun endlich, sich zu waschen. Würde er noch länger seinen Gedanken nachhängen, würde noch jemand kommen, um nach ihm zu sehen, brauchte er doch sonst nie so lange im Bad. Schnell hatte er sich fertig geduscht, sich abgetrocknet und die Zähne geputzt. Anschließend schlüpfte er noch in seine Klamotten und warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Zuletzt föhnte er die Haare noch schnell und fixierte seine Frisur mit etwas Haargel, danach machte er sich auf den Weg nach unten in die Küche, dort wo schon alle am Frühstückstisch saßen und sich fertig für den Tag machten. „Wann.. kommt er denn?“, fragte der Schwarzhaarige mit gedrückter Stimme, nachdem er alle Anwesenden begrüßt hatte. „Gegen zwei Uhr werden wir ihn am Bahnhof abholen“, meinte seine Mutter mit einem knappen Lächeln und brachte ihrem Sohn eine Tasse Kaffee. „Er kommt alleine mit dem Zug? Haben die nicht Angst, dass er abhauen könnte?“ Seine Mutter warf ihm einen knappen Blick zu, der ihm eindeutig zeigte, dass er seine Zunge zügeln sollte. „Ich will mitkommen!“, meinte Mirina bestimmt und hatte bei ihren Worten den Löffel hoch in die Luft gestreckt. „Ich auch!“, mischte sich Keynee mit ein und sah, genau wie ihre jüngere Schwester, die Eltern erwartungsvoll an. „Ihr seid da noch in der Schule“, entgegnete Joline knapp, erntete dafür nur zwei Schmollmünder. „Wenn ihr unbedingt mitkommen wollt, dann werden wir euch vorher abholen“, entschied die Mutter und lächelte ihre jüngsten Töchter sanft an. Felix musste auf diese Worte hin husten, hatte er sich doch an seinem Kaffee verschluckt. „Felix…“, mahnte sein Vater schon, doch der Blauäugige hob abwehrend die Hände hoch. „Ich hab nichts gesagt“, meinte er und schnappte sich ein Toastbrot. Der Vater musterte ihn noch skeptisch, bevor er wieder an seinem Kaffee nippte und weiter seine Zeitung überflog. Keynee und Mirina jubelten auf ihren Plätzen, da sie die ersten der Geschwister waren, die Lukas wiedersehen konnten. Auf ein Kennenlernen wird das Ganze wohl eher hinauslaufen, dachte sich Felix und knabberte an seinem Marmeladentoast herum. Ihm missfiel es sehr, dass seine Schwestern sich so auf diesen Psycho freuten. Sie gingen noch immer davon aus, dass ihr Bruder in einem Auslandsinternat gewesen war. Diese Enttäuschung, wenn sie feststellen mussten, dass ihr Bruder nichts auf den Kasten hatte, würde wahrscheinlich groß ausfallen. Innerlich musste der Volleyballspieler schmunzeln. Den Titel des coolen, großen Bruders würde er wohl oder übel behalten. Nachdem er mit dem Essen und Trinken fertig war, verabschiedete er sich von seiner Familie und schnappte sich seine Autoschlüssel, um in die Schule zu fahren. In den ersten beiden Stunden hatte er Matheunterricht und da konnte er es sich nicht erlauben, schon wieder zu spät zu kommen. Es war sein letztes Jahr, doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass seine Lehrer ihn noch schärfer beobachteten, als die zwei Jahre zuvor. Als chronischer Zuspätkommer hatte er sich unter den Lehrern schon einen gewissen Namen gemacht, daher hatten sie ihm auch gedroht, sollte er weiterhin zu spät kommen, dann würden sie ihn nicht an den Prüfungen teilnehmen lassen. Er durfte sich die Chance nicht vermasseln lassen, daher war er wohl jetzt zur Pünktlichkeit verpflichtet. Er wollte nicht wie ein Loser dastehen, wenn seine Freunde alle das Abitur machen durften und er musste wiederholen. Und das nur wegen so einer peniblen Eigenschaft seinerseits. Auf dem Weg zur Schule geriet er in den allmorgendlichen Stau in der Innenstadt und musste sich doch sehr zusammenreißen, um sich nicht ständig über die anderen Autofahrer aufzuregen. Glücklicherweise war er früh genug losgefahren und so kam es, dass er einen guten Parkplatz erwischte und sogar noch zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn vor der Klasse ankam. Dort begrüßte er seine Kumpels mit einem Handschlag und begann sich gleich in das laufende Gespräch mit einzuklinken. Seine Freunde, welche er gegen Ende der Mittelschulzeit kennengelernt hatte, kannten seinen Bruder nicht, wussten noch nicht einmal, dass Felix einen Bruder, zudem auch noch einen Zwilling, hatte. Der Schwarzhaarige wollte nicht, dass sie von Lukas erfuhren, würden sie vielleicht dann nichts mehr mit Felix zu tun haben wollen, so wie all seine alten Freunde. Jeder von ihnen hatte den Kontakt zu ihm abgebrochen. Sie hatten Angst gehabt, Felix könnte genauso austicken wie sein Bruder, aber auch die Eltern seiner Freunde waren ein großer Faktor gewesen, da sie jeglichen Kontakt zu ihm und seiner Familie verboten hatten. Nach dem Vorfall von Lukas‘ Einweisung war die Familie noch gut ein Vierteljahr in ihrer Heimatgegend geblieben, dann wurde der Vater versetzt und die Familie konnte glücklicherweise umziehen. Felix‘ kleine Schwestern hatten nicht viel von den Vorfällen damals mitbekommen, waren sie noch zu klein gewesen um etwas zu verstehen. Den ganzen Schultag über konnte der Volleyballspieler nicht dem Unterricht folgen. Das Gerede seiner Lehrer drang erst gar nicht zu ihm durch. Er blickte sie interessiert an und tat so, als ob er zuhören würde, doch eigentlich malte er sich die düstere Zukunft von sich und seiner Familie aus. Lukas sollte wieder ganz normal bei ihnen Leben, so als sei nie etwas passiert. Aber konnten seine Eltern das wirklich durchziehen? Zum Glück hatte sich Joline mit ihm verbunden, war sie genauso wenig von dem Gedanken angetan, diesen Psycho bei sich wohnen zu lassen. Der Volleyballspieler blickte auf, es hatte zur letzten Stunde geklingelt. Jetzt hatte er den ganzen Tag nur über seinen Bruder nachgedacht, dass er gar nicht dazu gekommen war, Tom zu fragen, ob Felix ein paar Tage bei ihm schlafen könne. Sein Kumpel war schon vor zwei Stunden mit dem Unterricht fertig gewesen, also konnte er ihn nicht mehr fragen. So ein Mist, dachte sich Felix und stopfte seinen Collegeblock in den Rucksack. Was sollte er jetzt machen? Es war kurz vor drei, also würden seine Eltern bald wieder zu Hause ankommen. Der Schwarzhaarige könnte ja noch in die Stadt fahren und dort etwas Zeit verbummeln und vielleicht fand sich ja noch jemand, der sich ihm anschließen wollte. Auf dem Flur begegnete er ein paar Kumpels, die sich ebenfalls auf den Heimweg machten. „Habt ihr noch was vor?“, erkundigte sich der Schwarzhaarige und lief mit ihnen aus dem Haupteingang hinaus und steuerte den Raucherplatz an. „Ne, net wirklich“, meinte der größere der bei beiden, Simon. „Bock noch in der Stadt was zu machen?“, fragte er in die Runde. Ihnen hatten sich noch vier weitere Jungen angeschlossen. „Und was?“, wollte Simon wissen und zündete sich derweil seine Zigarette an. „Weiß nicht. Einfach irgendwo rumhängen oder so…“, meinte Felix gelassen und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, die er von seinem Gegenüber, Markus, bekommen hatte. „Was is‘n mit dir los? Sonst gehst du auch immer gleich nach der Schule heim. Hast de Stress zu Hause?“, lachte Simon und blies den grauen Rauch aus. „So in etwa“, murmelte der Blauäugige mit zusammengebissenen Zähnen und nahm einen kräftigen Zug. „Also ich hab heute noch nichts vor“, meinte Markus und aschte in die Mitte der Gruppe. Dem Schwarzhaarigen entlockte das ein erleichtertes Grinsen, musste er jetzt nichts mehr alleine machen. Simon und zwei weitere Jungen, Sascha und Paul, hatten sich ebenfalls angeschlossen und so machten sie einen Treffpunkt im Stadtzentrum aus. Sascha und Simon fuhren mit Felix zusammen hinunter und sie drehten die Musik auf volle Lautstärke. Irgendwie tat das gut, dachte sich Felix und sank ein wenig tiefer in seinen Sitz. Das war jetzt genau das Richtige für sein aufgewühltes Gemüht. Zusammen drehten sie ein paar Runden in der Stadt und aßen gemeinsam in einem Burgerladen zu Mittag. Felix wusste, er musste früher oder später nach Hause… Es würde kein Entrinnen geben. Ein Blick auf sein Handy ließ ihn wissen, dass seine Mutter schon etliche Male versucht hatte ihn anzurufen, genau wie seine ältere Schwester. Was wollten die denn alle von ihm? Nur weil er einmal nicht pünktlich zu Hause aufgekreuzt war? Er beschloss Joline anzurufen und nun doch Bescheid zu geben, dass er wahrscheinlich erst gegen Abend nach Hause kommen würde. Dann, wenn alle schliefen, waren seine Chancen am Größten, Lukas nicht über den Weg zu laufen. Am nächsten Tag würde er einfach sehr früh aufstehen und unterwegs etwas essen. Das konnte er wahrscheinlich ein paar Tage so durchziehen, aber früher oder später würden seine Eltern ihm seine Pläne, Lukas so lang wie möglich aus dem Weg zu gehen, durchkreuzen. Felix wollte einfach Zeit schinden, mehr war es nicht. Das Tuten seines Handys ließ ihn aus seinen Gedanken auftauchen und er konzentrierte sich darauf, dass seine Schwester abhob. „Wo bist du?!“, meldete sich auch sogleich die genervte Stimme seiner Schwester. „Mit ein paar Kumpels in der Stadt. Warum? Was is los?“, fragte er gleichgültig und lehnte sich auf die Tischplatte herunter. „Was los ist?! Du weißt ganz genau, was los ist! Beweg deinen Arsch nach Hause!“, zischte sie in den Hörer. „Vergiss es. Ich komme erst heute Nacht irgendwann. Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich jetzt Lust hab, heim zu kommen…“ Seine Tischnachbarn sahen interessiert auf und unterbrachen ihr Gespräch. Als Felix das bemerkte, flüsterte er ihnen zu, dass er mal schnell eine rauchen würde und dann wiederkommen würde. Sie nickten nur, sahen ihn leicht besorgt an, beließen es jedoch dabei. Draußen steckte sich Felix eine Fluppe in den Mund und zündete sie an. „Hör mal, ich weiß das is egoistisch von mir, aber ich kann Lukas noch nicht über den Weg laufen. Wenn ich ihn sehe, könnte ich ihm am liebsten in die Fresse schlagen.“ „Man, ich versteh dich ja, aber du kannst mich doch nicht hier alleine lassen! Mom und Dad sitzen mit den Kleinen und Lukas im Wohnzimmer und unterhalten sich die ganze Zeit. Er macht einen recht normalen Eindruck, aber man weiß ja nie, was er gerade denkt.“ Seine Schwester schien etwas beunruhigt und auch nervös zu sein. Hatte sie etwa Angst, dass Lukas schon gleich am ersten Tag was machen würde? Das bezweifelte Felix stark. Lukas war einer der Leute, der seine Umgebung erst einige Zeit manipulierte, bis er zuschlug. Joline atmete tief aus. „Bitte, komm nach Hause und lass mich nicht alleine“, bettelte sie schon beinahe. Der Schwarzhaarige blickte den glimmenden Teil seiner Zigarette wie hypnotisiert an. „Sorry, aber ich pack das nicht. Nicht heute“, meinte er und seine Stimme versagte. „Felix, lass mich bitte nicht-“ Mitten im Satz stockte ihre Stimme. „Joline?“, fragte er verwundert, wollte sie doch gerade etwas sagen, doch es kam keine Antwort. „Joline, was ist los?“, fragte er noch einmal ernster, doch auch diesmal keine Antwort. „Scheiße man, Joline! Hör auf mit dem Mist, ich find das nicht witzig!“, brummte er in den Hörer und war schon leicht panisch. Warum antwortete sie nicht mehr?! Ein dunkles Lachen drang an seine Ohren und er erstarrte sofort. Aus dem Hintergrund hörte er die Stimme seiner Schwester, die rief, dass sie ihr Handy zurück haben wolle. Aber wer war da am Handy? Felix konnte sich diese Frage jedoch sofort selbst beantworten, es gab nur eine Person, die seiner Schwester das Handy in diesem Moment wegnehmen konnte. „Lukas…“ Seine Stimme zitterte. Warum war Lukas bei Joline? Hatte sie nicht eben noch gesagt, dass sein Bruder im Wohnzimmer bei seinen Eltern sitzen würde. „Hallo, Felix. Scheint, als würdest du mir aus dem Weg gehen. Warum das?“, fragte er mit seiner rauen Stimme gerade heraus, was er dachte. Diese Stimme klang so befremdlich… Früher war sie viel weicher gewesen. Der Volleyballspieler lachte verächtlich. „Die Frage kannst du dir doch selbst beantworten. Und jetzt gib Joline ihr Handy zurück, sofort!“, fuhr er seinen Bruder an. „Hey, hey. Du musst ja nicht gleich so sauer werden. Aber lass dir eins gesagt sein, du kannst mir nicht ewig aus dem Weg gehen, Bruder!“ Der Herzschlag des Blauäugigen verdoppelte sich automatisch. Dieser Unterton… Das war keine Feststellung, das war eine Drohung! Es dauerte einen Moment, da ertönte Joline’s Stimme wieder. „Es tut mir leid. Er stand plötzlich hinter mir und-“ „Schon gut“, unterbrach Felix sie, konnte jedoch nichts gegen seinen rauen Unterton unternehmen. „Ich komme nach Hause“, meinte der Schwarzhaarige anschließend, verabschiedete sich von seiner Schwester und legte auf. Anschließend warf er seine Zigarette auf den Boden, trat sie verärgert aus und kehrte zu seinen Freunden zurück. „Was ist los? Du siehst so angepisst aus“, fragte Markus und trank etwas aus seinem Becher. „Ich muss nach Hause. Es gibt ein paar Probleme und ja…“ Im selben Moment nahm er seine Jacke vom Stuhl und kramte in seiner Hosentasche nach den Autoschlüsseln. „Äh, okay? So plötzlich?!“, fragte nun auch Simon verwundert und sah Felix hinterher, der sich schon zum Ausgang bewegte. Er rief ihnen noch ein flüchtiges ‚Sorry‘ zu, dann war er auch schon verschwunden. Sein Heimweg dauerte nicht lange und so kam es, dass er seiner Meinung nach viel zu früh zu Hause ankam. Er blieb noch bestimmt fünf Minuten im Auto sitzen und starrte die vor ich stehende Hauswand an. Felix durchlöcherte sie mit seinem Blick, bis diese wohl mehr einem Sieb, als einer Hausfassade glich, doch es half ja alles nichts. Er musste aussteigen, musste sich seinem Alptraum stellen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)