Treason von Writing_League ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Regen prasselte gegen die Fensterscheibe des Headquarters, passend zu seiner Stimmung. Er hatte es gerade eben erst erfahren, sich aus der Lagebesprechung verabschiedet, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergeben hatte und war hinaus gestiefelt. Jetzt stand Chūya Nakahara in einem leeren Besprechungsraum irgendwo im Westturm des Hauptquartiers, auf Ebene 34 und starrte in das wolkenverhangene Yokohama hinaus. Nicht, dass der Hafen bei sonnigem Wetter einen hübscheren Anblick geboten hätte. In der hochindustrialisierten Gegend rund um die Hauptstadt Japans merkte man selten etwas von den Jahreszeiten. Vor allem Frühling und Herbst erweckten den Eindruck, die Erfindung einer Parallelwelt zu sein, im Winter war es kalt und verschneit, im Sommer heiß und feucht. Chūya schlug nicht zum ersten Mal an diesem Nachmittag gegen die Fensterscheibe. Direkt, nachdem er das Meeting verlassen und auf den Gang hinausgetreten war, war er zornigen Schrittes zum Treppenhaus gegangen und hatte auf dem Weg dorthin einen großen Blumenkübel über den Haufen getreten. Die hübschen Orchideen und das Substrat hatten sich auf dem hochwertigen Teppich verteilt. Mori würde sicher Einiges zu sagen haben, jedoch nichts, was Nakaharas Wut noch groß beeinflussen würde. Darüber war der Boss der Port Mafia schon hinaus, als er der Runde über Dazais Verschwinden berichtete. „Verdammter Mistkerl!!“, brüllte Chūya und schlug erneut gegen die Fensterscheibe, die daraufhin einen leichten Riss bekam. Wenn er nicht aufpasste, demolierte er sie komplett. Mori würde ihm die Versicherung auf den Hals hetzen. Bis zu einem gewissen Punkt hatte der Anführer der kriminellen Vereinigung Verständnis für Chūyas Benehmen gezeigt. Sowohl für dessen Ausraster beim Meeting, nachdem er über die Hintergründe von Dazais Abgang berichtet hatte, als auch dafür, dass er sich gleich bei der ersten Pause empfohlen hatte und ohne die Erlaubnis von Mori abgezogen war. Dazai trieb ihn in den Wahnsinn. ‚Wieso muss ausgerechnet dieser verfluchte Idiot verschwinden?‘, dachte er. ‚Weiß er denn nicht, wie unabkömmlich er ist?‘ Für wen eigentlich? Für die Port Mafia? Chūya seufzte vernehmlich und ließ die Schultern hängen. Dazais plötzliches Verschwinden riss zwar ein Loch in die Strukturen, aber mit einiger Anstrengung und der Neuvergabe wichtiger Posten würden sie auch gut ohne ihn zurechtkommen. Ein dicker Regentropfen klatschte gegen die Fensterscheibe und lief langsam nach unten. Der junge Mann verfolgte ihn mit seinen Augen, spürte, dass er Ausdruck seines Seelenheils war, das sich ebenfalls gerade auf Talfahrt befand. Warum war er eigentlich so wütend auf Dazai? Wütender, als er es normalerweise war? Oder anders wütend, als üblich? Osamu war sein Partner, warum kehrte er der Port Mafia den Rücken, verriet sie regelrecht an die Gegenseite? Fühlte er rein gar nichts? Kein Unrechtsbewusstsein? ‚Was denkt er sich eigentlich?‘ Osamu Dazai, einer der Großen in der Port Mafia und Chūyas heimliches Vorbild. Öffentlich hatte er es nie zugegeben, aber er bewunderte seinen Partner. Schon, bevor sie sich einander zugeteilt wurden, hatte Nakahara zu ihm aufgesehen und gehofft, auch irgendwann einmal so zu werden wie er. Ihm gelang nahezu alles, er führte jeden Auftrag mit tödlicher Präzision aus und wurde nicht umsonst vom Mafiaboss in den höchsten Tönen gelobt. Trotzdem haftete Dazai keine Grausamkeit an, wie es bei vielen anderen in der Mafia der Fall war. Stattdessen faselte er immer davon, seinem Leben ein Ende bereiten zu wollen. ‚Warum eigentlich?‘, fragte Chūya sich nicht zum ersten Mal. So gesehen hatte er alles erreicht, was man bei der Port Mafia erreichen konnte. Außer natürlich, man wollte Mori vom Thron stoßen, aber Nakahara hatte nie den Eindruck, dass die Ambitionen seines Partners in diese Richtung gingen. Stattdessen trug er eine Melancholie zur Schau, die ihresgleichen suchte. ‚Verfluchter Idiot...‘ Der Regentropfen war mittlerweile verschwunden, aber viele weitere waren ihm gefolgt. Chūya wusste nicht, ob das schlechte Wetter ein Omen für die Zukunft war. Wenn er sich an das Meeting erinnerte, schauderte es ihn. Nach Moris Eröffnung war es ziemlich heiß hergegangen, Emporkömmlinge versuchten, Dazais Weggang für sich zu nutzen und es brach eine Diskussion darüber vom Zaun, wer am besten geeignet sei, die Lücke zu füllen. Zwischendrin hatten sie eine Pause gemacht und Nakahara hatte sich vom Acker gemacht. Es interessierte ihn relativ wenig, wer einer der fünf Executiven werden würde, die die zweite Führungsebene unter Ougai Mori bildete. Selber in den Kampf um den Posten einzusteigen, dazu fehlte ihm der Elan. Andererseits verstand Nakahara nicht, warum Mori nicht einfach jemanden auswählte, den er für geeignet hielt. ‚Will vielleicht erst mal wissen, wer ambitioniert genug ist...‘ Inzwischen zuckten Blitze über den Himmel. Unmöglich zu sagen, wie spät es war oder wie lange Chūya schon am Fenster stand und hinaus starrte. Er blickte in die Ferne und sah doch nur sein eigenes Spiegelbild in der Glasscheibe. Verschwommen, undeutlich, gesprenkelt mit unendlich vielen Regentropfen, die ihn seltsam löchern wirken ließen. Blitzte es, verschwand er komplett. ‚Ist es das, was ich bin? Eigentlich unsichtbar, nur wahrnehmbar, wenn alles in Ordnung ist?‘ Wollte er deshalb so sein wie Dazai, weil er insgeheim wusste, dass er selbst nicht wahrgenommen wurde, sie seinen Partner aber in Aufmerksamkeit ertränkten? Lag es in Wirklichkeit an Nakahara selbst, weshalb er sich über den Verrat seines Partners so sehr aufregte? Ein Verrat an ihm persönlich, der Chūyas Gefühlswelt aufs Schmerzlichste offenbarte? „Autsch!“ Etwas war gegen seinen Hinterkopf geflogen und hatte den Hut herabgestoßen. Das Accessoire blieb verkehrt herum neben einer Tischlampe auf dem Boden liegen. Das Stromkabel der Lampe war nach etwa der Hälfte abgerissen. Nakahara riss den Kopf zur Seite. Wieder war etwas mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zugeflogen, ein Beamer, dem er gerade noch so hatte ausweichen können und der deshalb gegen die Fensterscheibe krachte. Erst dann realisierte Chūya, dass er Ursache für das neuerliche Tohuwabohu in dem Besprechungsraum war. Anstatt seine Wut in einem Schlag gegen die Fensterscheibe zu kanalisieren, hatte er versucht, sie so lange wie möglich zu unterdrücken. Scheinbar war das Fass nun übergelaufen. Nakahara hob seinen Hut auf und verließ schnellen Schrittes das Zimmer, während die Möbel gefährlich in seine Richtung zuckelten. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete der junge Mann einmal tief ein und wieder aus, um wieder zur Ruhe zu kommen. Es hatte schließlich keinen Sinn, sich weiter darüber aufzuregen. Dazai war weg und wahrscheinlich würde ihn nichts und niemand zur Rückkehr bewegen können. Sinnvoller war es, sich mit seiner eigenen Zukunft in der Port Mafia auseinanderzusetzen, immerhin brauchte er jetzt auch einen neuen Partner. Chūya beschloss, in die Lobby hinab zu fahren, also zurück Richtung Treppenhaus, wo es auch Aufzüge gab. Unten angekommen, verschaffte er sich erst einmal einen Überblick. Es war nicht viel los, wie jedes Jahr im Herbst. Die Port Mafia war gerade dabei, ihre Aktivitäten auf ein Mindestmaß herunter zu fahren. Während dem Winter wollte Mori sich üblicherweise nicht viel mit kriminellen Machenschaften herumschlagen, sondern sich mehr um Elise kümmern, mehr, als er es üblicherweise tat. Der Anführer war so gut wie immer in ihrer Begleitung. ‚Außer, er verliert sie aus den Augen.‘ Was hin und wieder vorkam, wenn sie den Fuß vor die Tür des Headquarters setzten. Nakahara musste schmunzeln. Wenn etwas Ougai Mori in Angst und Schrecken versetzen konnte, dann die Vorstellung, seiner geliebten Elise könnte etwas geschehen. Die Rezeption schien ziemlich verlassen da. Nur die füllige Blondine tat ihren Dienst, Chūya hätte ihren Namen raten müssen. Seltsam war es schon, üblicherweise sollten immer zwei für Besucher da sein. Er wollte sich gerade abwenden, als er wütendes Geschrei von der anderen Seite der Eingangshalle her hörte. Erst dachte er sich, wurde dann aber doch neugierig, als er die aufgebrachte Stimme der zweiten Rezeptionistin hörte. Interessiert trat er ein paar Schritte näher und sah gar nicht, wie die Dicke ihm höflich zunickte. Seine Augen waren auf den Verursacher des Tumults gerichtet. ‚Akutagawa, ich hätte es wissen müssen...‘ Chūya konnte nicht viel mit dem Grünschnabel anfangen. Ryūnosuke war zwar nur zwei Jahre jünger, als er selber, hatte in der Port Mafia aber fast nichts zu sagen. Jetzt stand er an einem der Süßigkeitenautomaten und war offensichtlich gerade dabei, diesen in seine Einzelteile zu zerlegen. Mako, die zweite Rezeptionistin, versuchte indes, ihn davon abzuhalten. Nakahara schlenderte zu den beiden hinüber und legte seine linke Hand auf Akutagawas rechte Schulter. „Kann man dir helfen?“, fragte er neutral. Ryūnosuke drehte sich nicht zu ihm um. „Dieser Scheißkerl...!“, fluchte er stattdessen. Der Automat hatte einige Löcher abbekommen. Chūya schätzte, dass er nicht der Einzige war, der seine Kraft nicht immer im Zaum hatte. Aber, warum ausgerechnet der Automat? Akutagawa griff durch eines der Löcher und fischte sich eine Packung Pockys heraus. Danach drehte er sich um und ging Richtung Ausgang, ohne Nakahara eines Blickes zu würdigen. Die Rezeptionistin lächelte ihn an. „Der Automat funktioniert nicht mehr richtig“, erklärte sie. „Er hat wohl mehrmals Geld reingeworfen, ohne dass was gekommen ist.“ „Ach so...“ Chūya ließ sie stehen, wo sie war. Nicht sein übliches Benehmen. Zu Mako war er sonst immer höflich. Aber er musste sich beeilen. Bei der Eingangstür angekommen, sah Nakahara, dass sich das Wetter bisher nicht gebessert hatte. Das Vordach schützte nicht wirklich vor dem Regenguss und Akutagawa hatte sich in eine Ecke gedrängt, um möglichst trocken zu bleiben. Chūya trat zu ihm hinaus in das Mistwetter. „Scheiß Tag heute“, meinte er, nachdem sie fünf Minuten schweigend in den Regen hinaus gestarrt hatten. „Scheiß Mistkerl, wenn du mich fragst.“ „Wer? Der Automat?“ „Hn? Dazai natürlich! Was fällt ihm eigentlich ein, diesem Idioten?“ Nakahara starrte ihn sprachlos an. Der Grünschnabel schien sich genauso sehr über Dazais Weggang aufzuregen, wie er selbst. Wütend stopfte er sich ein Pocky in den Mund, umrundete Chūya und ging wieder hinein. Letzterer blieb einen Augenblick stehen, wo er war und starrte verwirrt in das herbstliche Yokohama hinaus. Die Port Mafia schien stürmischen Zeiten entgegen zu segeln. Schulterzuckend wandte er sich ebenfalls um und betrat das Hauptquartier wieder. Seine Schritte führten ihn Richtung Weinkeller. ~ FIN ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)