Hunger von Luca-Seraphin ================================================================================ Kapitel 2: 23.12.1916 --------------------- Heinrich fror, als er sich in der Küche fertig machte und rasierte. Nebenan schlief sein Vater – endlich. Er hatte in der Nacht kein Wort gesprochen, nur geweint. Heinrich war keine Hilfe gewesen. Er hatte seinen Vater nur gehalten und gewiegt. Jetzt fühlte er sich erschöpft, übernächtigt und zittrig. Aus der Speisekammer nahm er sich einen Zwieback und schob ihn sich zwischen die Zähne, während er Mantel, Schal und Hut nahm, um die Treppen hinabzueilen. Augenblicklich war er froh, dass Konrad nicht vorbeigekommen war. Aber nun mussten sie zur Gendarmerie gehen. Die Intensität, mit der sein Vater ihn dazu beschworen hatte, hallte nach und löste ein ungutes Gefühl aus. Sein Vater verhielt sich eigenartig, aber in seinem momentanen Zustand würde Heinrich ihn nicht fragen können. Er verschob die Grübelei auf einen anderen Zeitpunkt. Konrad und seine Freunde warteten. „Konrad ist zur Musterung gegangen.“ Heinrich fühlte sich, als habe jemand Eiswasser über seinem Kopf ausgegossen. Unter seinen Füßen wankte der Boden. Das war doch unmöglich. So feige konnte Konrad nicht sein! Gestern Nacht hatte er versprochen mit zur Gendarmerie zu gehen. Heinrich starrte in das graue, erschöpfte Gesicht von Frau Löb. Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. „Ich weiß, das kannst du so wenig verstehen wie ich, Heinrich.“ Sie schüttelte erschöpft den Kopf. Mit trockenem Mund murmelte er: „Warum, hat er das getan?“ „Gestern gab es zwischen Konrad und meinem Mann einen fürchterlichen Streit.“ Heinrich zuckte zusammen. „Streit?“, wiederholte er unsicher. Hoffentlich hatte Konrad im Lauf des Gesprächs nicht verraten, wie sie zueinander standen. Kalte Schauder rannen durch seinen Körper. Dann war es nicht Konrads Wahl sondern die Strafe seines Vaters. Er presste die Lippen aufeinander und räusperte sich. „Wenn Konrad zurückkommt, richten Sie ihm bitte aus, dass ich mit Hector, Peter und Ludwig zur Gendarmerie gegangen bin?“ Entsetzt fuhr sie zusammen. „Wohin?“ Heinrich fing ihren Blick auf. Sie wusste nichts. Aber es stand auch nicht zu erwarten. Konrad und sein Vater redeten nie mit ihr. Er räusperte sich. Besser er sagte es ihr. „Fräulein Driesen ist gestern tot aufgefunden worden und ich glaube, dass wir fünf die Letzten waren, die mit ihr gesprochen haben.“ Sie klammerte ihre Hand um den Knauf der Wohnungstür. „Dann war das auch der Grund für ihren Streit“, flüsterte sie. „Mein Mann will keine Scherereien mit der Gendarmerie haben.“ Dessen war Heinrich sich sicher. Schließlich arbeitete der alte Löb wie die meisten anderen schwarz. „Vielen Dank, Frau Löb. Ich werde nach der Gendarmerie vielleicht noch mal hierher kommen. Hoffentlich ist Konrad dann da …“ Er brach ab. Schwere Schritte kamen die Stufen hinauf. Das metallene Nachhallen wurde vom Ächzen eines atemlosen Mannes überlagert. „Mein Mann kommt“, sagte Frau Löb leise. „Geh jetzt lieber, Heinrich.“ Mit dem Kinn wies sie auf den Treppenlauf in die nächsthöhere Etage. „Ich glaube es ist nicht gut, wenn er dich hier sieht.“ Heinrich bewegte sich nicht. Wenn zutraf, dass Konrad etwas über sie beide verraten hatte, würde es gleich sehr unschön und laut werden. Die innere Stärke, der Widerstand, der sich aufbaute, entstammte wahrscheinlich reinem Trotz, der überhaupt keine Basis hatte. Vermutlich würde Konrads Vater über ihn herfallen und ihn beschimpfen. Als Löb den Podest zwischen der dritten und vierten Etage erreicht hatte, verfinsterte sich sein gerötetes Gesicht. Aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen starrte er Heinrich an und ging langsam weiter. Seine ganze Haltung entsprach einer unausgesprochenen Drohung. Heinrich schob seine Hände in die Manteltaschen. Mit jeder Stufe, die Löb ihm näher kam, glaubte er, dass sich ihm die Kehle zuschnürte. „Du …“, Löb fletschte die Zähne. Speichel rann über seine rotvioletten Lippen. Aus allen Poren drang ihm der Schweiß. Unter seiner groben Wolljacke hatten sich am Kragenansatz dunkle Flecken gebildet. Er stank nach Tabak, Knoblauch und Alkohol. Seine Finger waren schwarz von Ruß und Maschinenöl. In seiner Tasche steckte noch ein Teil seines Werkzeugs. Es klirrte bei jedem Schritt gegeneinander. Instinktiv rechnete Heinrich damit, dass Löb danach greifen und ihm hier den Schädel einschlagen würde. Er tat es nicht. Das erstickende Gefühl ließ nach. Mutiger geworden wartete Heinrich ab. Obwohl der alte Löb größer und massiger war, empfand er kaum noch Angst vor ihm. Irreal. Dicht vor ihm blieb der Mann stehen und packte ihn am Kragen. Heinrich spürte, wie wenig er ihm entgegenzusetzen hatte, trotzdem schlug er seine Hand weg. „Was werfen Sie mir vor?“, fragte er leise. Das erwartete Zittern seiner Stimme blieb aus. Löb schob seinen Unterkiefer vor und zog die Brauen zusammen. „Ich war bei deinem Vater und habe ihm alles gesagt.“ Speichel spritzte von seinen Lippen. Heinrich fror plötzlich. Die ausgebliebene Angst erwachte und explodierte in ihm. „Nun weiß er, dass du ein Sodomit bist, ein Hinterlader! Du …“ Löb suchte scheinbar nach Worten, „Du mit deinem Mädchengesicht und deinen Mädchenhänden hast meinen Konrad verführt.“ „Das stimmt nicht“, flüsterte Heinrich atemlos. Ein scharfer heller Schmerz schoss durch seine Schläfen. Er spürte, dass Löbs Worte noch nicht in aller Konsequenz angekommen waren. „Ich habe ihn nicht verführt, wir sind nur …“ Der Schlag traf ihn nicht unvorbereitet, aber er wehrte sich nicht, wich nicht aus. Auge und Wange brannten. Ängstlich sog Löbs Frau die Luft ein. Der Alte stieß ihn von sich gegen die Wohnungstür. Mit dem Hinterkopf schlug Heinrich Glas kaputt. Die Bleifugen drückten sich unter seinem Gewicht nach innen. Sein Herz schlug plötzlich rasend schnell. Seine Eingeweide zogen sich zusammen. Heinrichs Gedanken überschlugen sich. Was tat er eigentlich? Wollte er Konrad seine Offenheit und Liebe beweisen? Damit machte Heinrich es nur schlimmer für Konrad. Und was würde sein Vater über ihn denken, nachdem Löb ihm von Heinrichs Homosexualität erzählt hatte? Sie waren immer offen zueinander gewesen. Heinrich befreite sich aus Löbs Griff, richtete Mantel und Schal. Er sah in das ungläubige, scheue Gesicht von Konrads Mutter, die ihre Hand nach ihm ausstreckte, dann in das ihres Mannes, der zwischen Abscheu und brennender Wut keinen Halt fand. „Ich gehe jetzt wegen dem was Konrad und ich gesehen haben, zur Gendarmerie. Er soll nachkommen, wenn er kann.“ Weder Peter noch Ludwig traf er zu Hause an, aber Hector. Heinrichs Freund wirkte nicht weniger blass als Frau Löb, nachdem er seine Zusammenfassung über den gestrigen Abend beendet hatte. Dennoch zog Hector sich kommentarlos Mantel und Schuhe an. Im Hinausgehen gab er seiner Mutter und Schwester noch einen Kuss auf die Wange, die zusammen auf dem Kanapee saßen und Uniform, Unterzeug und Socken von Hectors älterem Bruder flickten. Die beiden Damen hatten sich durch Heinrichs Erscheinen offenbar überhaupt nicht von ihrer Unterhaltung und Arbeit abbringen lassen, lediglich zu einer Begrüßung und der Frage nach einem Tee hatte sich Frau Oppermann hinreißen lassen. Im Gegensatz zu seinem Freund ignorierten beide Heinrichs anschwellende Wange. Als Hector Hut und Schirm nahm und Heinrich den Vortritt aus der Wohnung ließ, fühlte es sich befreiend an, die spitzenüberladene, helle und freundliche Wohnung zu verlassen. Das ganze Flair störte sich mit Heinrichs aufkeimenden Ängsten. In ihm bohrte mehr als der Tod der alten Dame, die Furcht vor seinem Vater und die Möglichkeit, dass er Konrad geschadet hatte. Obwohl sie grundverschiedene Lebensweisen und Ansichten hatten, liebte Heinrich seinen Freund. Nicht umsonst teilten sie ihre Gefühle, ihre Leidenschaft und Zärtlichkeit. „Unfassbar“, murmelte Hector, als sie auf die Mathildenstraße traten. Er spannte den Schirm gegen den Schnee auf und hakte sich bei Heinrich unter. „Warum warst du nicht schon gestern Nacht bei mir? Ich wäre sofort mit dir zur Gendarmerie gegangen.“ Überrascht musterte Heinrich seinen Freund. „Wirklich?“ Hector zog die Oberlippe zurück knurrte leise: „Als Müller und ich auf dich und Löb gewartet haben, hatte ich einen Moment Zeit, um mir über dieses seltsame Gefühl klar zu werden, was mich bei Fräulein Driesen überfallen hat.“ „Kam es dir auch vor belauert zu werden?“, fragte Heinrich. „Ja. Ich hatte den Eindruck von richtiger, greifbarer Gefahr. Aber darüber hinaus hätte ich schwören können, eine Gestalt in den Schatten des Flurs gesehen zu haben, als ich aus ihrem Zimmer gekommen bin.“ Mitten im Schritt hielt Heinrich an und zwang Hector stehen zu bleiben. „Wie gut konntest du diese Person erkennen?“ Seufzend zuckte sein Freund mit den Schultern. „Groß war er, größer als du und Löb, vielleicht so wie Müller, nur nicht dünn sondern massig, wie die Kerle, die wir immer auf die Plakate pinseln.“ Heinrich schauderte. „Keine Gesichtszüge?“ „Nein. Aber ich habe Müller gefragt. Er war sich nicht sicher, nahm an, dass die Bodentür offen stand und durch den Schnee und das Schattenspiel der Eindruck aufkam. Du kennst ihn, er gibt nichts auf unsichere Empfindungen.“ Heinrich löste Hectors Arm von seinem und griff nach der Skizze des Landsers, die er in seiner Innentasche aufbewahrte. „Halt mich für verrückt, aber ich glaube, es geht um diesen Mann.“ Er klappte den kleinen Block auf und reichte ihn Hector. Die Neugier in den Augen seines Freundes wandelte sich in Irritation. Einen Moment später drehte er sich in das schwache Winterlicht und begutachtete die Zeichnung genauer. „Nein“, sagte er mit deutlich belegter Stimme. „Ich halte dich nicht für verrückt, Wolff. Ich habe den Mann auf dem Campus und zuvor schon auf der Alicenbrücke über dem Bahnhof gesehen. Er hat Fräulein Driesen zur Universität begleitet.“ Der kleine Mann, der Heinrich bereits in der Nacht aufgefallen war, betrat durch eine Verbindungstür das unkomfortable Büro. Friedrichs, ein stämmiger, rotwangiger Kriminalassistent in Heinrichs Alter, legte seinen Stift nieder und betrachtete erneut die Zeichnung. Ohne aufzusehen sagte er: „Herr Kriminalsekretär, sehen Sie.“ Heinrich beobachtete ihn, als er an ihnen vorüberging. Der Kriminalsekretär grüßte nicht, sagte nichts, trat nur an den Schreibtisch und zog sich die Zeichnung heran. Nach einer Weile schob er seine Brille auf dem Nasenrücken zurecht und wandte sich an Hector. „Stammt das Bild von Ihnen?“ „Nein von mir“, entgegnete Heinrich, bevor sein Freund antworten konnte. Der Kriminalsekretär machte eine Kopfbewegung zu dem Block. „Wie kommt es, dass Sie ihn zeichnen konnten? Hat er Ihnen den Gefallen getan so lang ruhig zu halten, bis Sie das Bild beendet hatten?“ Der emotionslos kalte Tonfall erschütterte Heinrich beinah so sehr wie die Tatsache, dass der Mann ganz offensichtlich an ihm zweifelte. „Ich habe ihn aus der Erinnerung heraus gezeichnet. Ist das so falsch?“ „Nein.“ Der Kriminalsekretär nahm die Skizze auf und trat damit ans Fenster. „Aber er könnte auch anders ausgesehen haben, nehme ich an. Erinnerungen sind oft schwer greifbare und trügerische Fetzen der Wirklichkeit.“ „Er sah so aus!“, sagte Hector mit Nachdruck. „Ich habe ihn gesehen, als …“ „Das ist mir bewusst, Herr Oppermann. Sie sagten es bereits.“ Der Kriminalsekretär wies auf die Zwischentür zum nächsten Büro. Scheinbar hatte er die Aussage mitgehört. „Fraglich ist nur, warum nicht Sie sondern Ihr Freund Wolff die Zeichnung anfertigen konnte. Er sagte schließlich aus, dass er nur das Gefühl gehabt hätte, beobachtet zu werden.“ Heinrich empfand gar keine Faszination mehr für diesen Mann, im Gegenteil. Der Kerl führte sie vor. Hector krampfte seine Hand um die Krempe seines Hutes und presste die Lippen aufeinander. Beruhigend legte Heinrich ihm die Hand auf den Unterarm. Leider fühlte er sich selbst aufgebracht. Sein Magen hatte sich sein verkrampft. Ihm war schwindelig und schlecht. Vielleicht hatte Konrad nicht unrecht gehabt. Sie gerieten in Verdacht. „Ich habe diesen Mann später, als Sie und ihre Kollegen bereits da waren, in der Menge gesehen und bin einfach …“ „Nach Ihrem Gefühl gegangen“, vollendete der Kriminalsekretär Heinrichs Satz. Leider hatte er recht. Es klang lächerlich und an den Haaren herbei gezogen. Der Kriminalsekretär machte eine Kunstpause, wahrscheinlich um abzuwarten, welche Reaktionen er hervor rief. Heinrich knirschte mit den Zähnen. „Sie glauben uns nicht.“ „Falsch, ich glaube Ihnen beiden, aber ich bin mir auch sicher, dass Sie, mein lieber Herr Wolff, eine ausgeprägte Fantasie besitzen und ihren Freund mit dieser Zeichnung schlicht beeinflusst haben.“ Heinrich fuhr auf. „Sie wollen behaupten, dass ich Hector meine Ideen aufgezwungen habe?!“ „Beruhigen Sie sich!“, schnappte Friedrichs scharf. Er hatte sich hinter dem Schreibtisch hochgestemmt und ragte bedrohlich auf. Der Kriminalsekretär wandte sich vom Fenster ab. Sein Gesicht blieb ein konturloser Schatten. „Ich möchte die Zeichnung trotz allem behalten, Herr Wolff. Das gestatten Sie mir doch?“ Heinrich drängte die Übelkeit und Wut zurück. „Wie Sie wollen.“ Langsam löste sich der Kriminalsekretär und gewann immer mehr an Stofflichkeit, je weiter er in den Schatten des Büros trat. Er rieb sich den Kiefer. „Sie wissen, dass Sie sich mit Ihrer Aussage verdächtig machen, meine Herren?“ Hector nickte grimmig. „Und wenn schon? Wir waren nicht allein. Das steht alles in unserer Aussage. Jürges, Müller und Löb bürgen für uns.“ Kühl lächelte der Kriminalsekretär. „Darf ich mal ein bisschen fantasieren, meine Herren?“ Heinrichs Herzschlag beschleunigte sich. Obwohl es in dem Büro kalt war, bekam er feuchte Finger. Dennoch nickte er. „Bitte, aber im Anschluss drehen Sie es so, dass wir die Mörder sind.“ Darauf ging der Kriminalsekretär nicht ein. Er blieb neben Friedrichs stehen. „Sie sagen, dass Sie zu fünft die alte Dame nach Hause begleitet haben. So weit so gut. Die positiven Absichten will ich Ihnen allen nicht absprechen. Das glaube ich gern. Eine zerbrechliche Dame wie Fräulein Driesen brauchte Schutz.“ Er machte eine Kunstpause, die Heinrich fast erstickte. „Ich denke, als Sie das prächtige Haus sahen, waren Sie von dem Gedanken an Wohlstand überzeugt und dachten an Geld, Schmuck, Nahrungsmittel, aber da war nichts.“ Er hob die Schultern und zog eine Grimasse. „Die alte Dame lebte in ärmlichen Verhältnissen. Doch das fanden Sie erst heraus, nachdem Sie ihr mit einem Schal die Kehle zugeschnürt und alles durchsucht hatten.“ Hector schnappte nach Luft. „Sind Sie des Wahnsinns, Mann?! Wir sind Kunststudenten, keine Raubmörder!“ „Und“, sagte der Kriminalsekretär gleichmütig, „Sie waren zu fünft, ausreichend um die Frau zu töten, gleichzeitig das Zimmer auf den Kopf zu stellen und sie im Anschluss aus Wut oder Enttäuschung zu zerstückeln.“ Heinrichs Sichtfeld verengte sich. In seinen Ohren rauschte Blut. Er spürte seine tauben Finger nicht mehr. Alles um ihn drehte sich. Im gleichen Moment griff jemand nach seinen Schultern. „Friedrichs, Wasser!“ Die Stimme des Kriminalsekretärs klang nicht mehr ruhig sondern schrill und zu dicht neben Heinrichs Ohr. Er blinzelte die Lichtblitze vor seinen Augen fort und versuchte den kräfteraubenden Ton in seinem Kopf zu ignorieren. Es ging nicht. Das Ziehen in seinen Nebenhöhlen nahm zu und der scharfe Schmerz hinter seinen Augen steigerte sich. „Wolff … Heinrich, nicht wieder umkippen!“ Der Brillantinegeruch, den Hector verströmte, durchbrach die aufkommende Ohnmacht. Es dauerte lang, bis er realisierte, dass er an der Schulter seines Freundes lehnte und Hector ihn sacht streichelte. Der Kriminalsekretär saß auf der Tischkante und hielt ihm wortlos ein Glas Wasser hin. Zittrig nahm Heinrich es entgegen und verschüttete die Hälfte. Den Rest trank er in kleinen Schlucken. Er spürte den Blick des Gendarmen auf sich, ähnlich stechend wie den des Landsers, aber bei weitem nicht so abstoßend. Als er aufsah, bemerkte er, dass sich die Mimik des Kriminalsekretärs vollkommen verändert hatte. Der Mann wirkte weicher und menschlicher. Sacht schüttelte er den Kopf. „Meinen Verdacht kann ich leider nicht ad acta legen, weil Sie sich belastet haben, aber meine ganz persönliche Meinung ist, dass Sie beide nicht in der Lage sind, irgendwem zu schaden.“ Er gab Friedrichs einen Wink. „Bringen Sie die beiden jungen Herren nach unten und veranlassen Sie, dass die anderen drei, Jürges, Löb und Müller zur Vernehmung abgeholt werden. Und Friedrich, machen Sie es nicht zu offensichtlich.“ Er klopfte auf die Skizze. „Die werde ich behalten und mir später noch ein bisschen Gedanken dazu machen. Vielleicht fantasiert einer ihrer Freunde in die gleiche Richtung.“ „Glaubt er uns?“, fragte Heinrich und schlug den Mantelkragen hoch. Seine Stimme klang noch immer brüchig und matt. „Nein“, entgegnete Hector, spannte seinen Schirm auf und starrte in den zertretenen Schnee. „Aber ich mache mir Sorgen um dich. Gestern bist du fast umgekippt und eben wieder.“ Heinrich zuckte die Achseln. „Dabei war es nicht der Hunger gewesen, nur die Wut.“ „Wut?“ Hector lachte freundlos auf und machte eine Kopfbewegung in Richtung Straßenbahn. Bei dem Wetter wollte er offenbar nicht quer durch die Neustadt laufen. „Ich war viel zu überrumpelt von dem, was der Kerl gesagt hat. Das war unfasslich. Er stellt uns fünf als Raubmörder hin. Wenn er uns kennen würde …“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Nach unserer Aussage musste der Kriminalsekretär genau das glauben.“ Sacht klopfte Heinrich auf Hectors Rücken. „Schlimmer ist, dass Konrad seinen Schal bei ihr vergessen hat. Das ist ein Indiz gegen uns und es würde mich nicht wundern, wenn sie damit getötet worden wäre.“ Heinrich atmete tief ein. Die klare, kalte Luft klärte seinen Kopf. „Ich glaube fast, Konrad hatte recht. Wir hätten nicht zur Gendarmerie gehen sollen.“ Hector seufzte. „Löb ist feige. Er kann reden und aufschneiden, aber im Grunde ist er feige.“ „Nein, du kennst ihn nicht. Er hat etwas getan, was seinen Vater dazu …“ „Hat er gesagt, dass er dich liebt?“, fragte Hector leise. Heinrich zuckte zusammen. Woher wusste sein Freund davon? „Glaub nicht, dass ihr beide unauffällig seid.“ Er lächelte müde. „Ich weiß davon, seit du dich als Junge das erste Mal verliebt hast und bei Löb, seit er mit dir schläft. Blind und dumm sind Ludwig, Peter und ich nicht.“ Heinrich fing seinen Blick auf. „Ich bedauere nur, dass du uns nicht vertraut hast. Wir sind deine Freunde.“ Das Brennen in Heinrichs Augen war ihm peinlich, ebenso seine mangelnde Sensibilität für seine Umgebung. Er schluckte hart. „Danke, Hector.“ Hector hatte sich verabschiedet, um Konrad, Peter und Ludwig zu informieren. Mit steifgefrorenen Fingern und einem unguten Gefühl im Magen stieg Heinrich die Stufen zur Kupferbergterrasse hoch. Jetzt war er gezwungen sich Gedanken über das zu machen, was zu Hause auf ihn wartete. Erneut kroch Angst unter seine Haut. Es war eines der wenigen Geheimnisse gewesen, das er nicht mit seinem Vater geteilt hatte. Normalerweise gab es nichts, was sein gutmütiger Vater nicht verstand. Aber diese Neigung? Würde sich etwas zwischen ihnen ändern? Sicher, es stand außer Frage. Seine bleiernen Gedanken und die grauenhafte Gewissheit, Konrad an den Krieg zu verlieren, erschwerten ihm jeden Schritt. Er hätte gestern nicht darauf drängen sollen zur Gendarmerie zu gehen. Letzten Endes war es diese Entscheidung, die alle Konsequenzen ausgelöst hatte. Erneut drückten Kopfschmerzen über den Augen gegen seine Stirn. Als er die Wohnung betrat, hatte sich das Gefühl gesteigert. Er konnte sich kaum noch konzentrieren. Alles um ihn drehte sich. Sein Magen revoltierte … In der Küche wurde eine Flasche auf dem Tisch abgesetzt. Es roch nicht nach Brotsuppe, gekochten Rüben oder Kartoffeln und die typisch feuchte Wärme in der Wohnung fehlte. Heinrich schloss die Augen, bis sich die rotierende Welt wieder beruhigt hatte. Erst danach konnte er sich dazu zwingen, wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Vor der angelehnten Küchentür blieb er stehen, die Hand auf der Klinke. „Heinrich, komm rein.“ Sein Vater hatte eine vom Alkohol schwere Zunge. Er trank. Dieses Mal war es schlimmer, als zu der Zeit, als keine Fleischlieferungen und kein Lebendvieh mehr kamen und sein Vater die Metzgerei schließen musste. Schrecklich. Heinrich befeuchtete seine trockenen Lippen und trat ein. Sein Vater saß am Tisch, eine Hand an der gelehrten Kornbrand-Flasche, die andere um den Rahmen einer Fotografie gekrampft. Auf der Platte lagen viele Aufnahmen von Heinrichs Mutter, auch das schöne Bild, auf der sie so unendlich glücklich wirkte. Ihr Hochzeitsschleier und ihr Ring lagen vor ihm. Er trug Frack und Weste, die nicht mit seinem einfachen Hemd harmonierten. Auf den tränennassen Wangen seines Vaters hatte sich die Haut fleckig gerötet. Seine Lippen bebten. „Was ist denn nur los?“ Heinrich trat zu ihm und kniete sich neben ihm nieder. Sein Vater schluchzte hart und trocken. Es klang als würde er an seinem Schmerz ersticken. Alles Leid, was dieser Mann erfahren hatte, drückte ihn nieder. Heinrichs Herz zog sich zusammen. Er stand auf und wollte ihn umarmen. Sein Vater kam ihm zuvor. Er ließ die Flasche los und umklammerte ihn mit aller Macht. Fest drängte er seinen Kopf gegen Heinrichs Brust und vergrub das Gesicht in dem Mantel. Heinrich schwieg. Er umschlang den massiven Körper und gab ihm die Möglichkeit allen Druck in Form von Tränen hinauszulassen. Es dauerte lange, bis sein Vater sich ausreichend beruhigte. Heinrichs Gedanken kreisten in der Zeit um das Warum. Waren es Löbs Worte gewesen? Aber warum klammerte sein Vater sich in dem Augenblick an die Vergangenheit? Wieso hielt er sich an ihm fest, anstatt seinen Sohn zu Antworten zu bewegen? Nein, der Grund war ein anderer und er kannte ihn nicht. Als sein Vater ihn losließ um sich die Nase zu putzen und das verquollene Gesicht zu trocknen, nutzte Heinrich den Moment, um sich den Mantel auszuziehen und sich neben ihn zu setzen. „Was ist passiert?“, fragte er noch einmal, auch wenn das nur ein Teil dessen war, was in ihm bohrte. Langsam, träge und zu Tode erschöpft, hob sein Vater das Bild auf und starrte es an. „Ich habe sie so sehr geliebt, aber das hat nicht gereicht.“ Seine Stimme klang nasal. Zärtlich streichelte er über das Glas, auf dem Tränen zerplatzt waren und sich Fingerabdrücke sammelten. Unvermittelt wandte er sich Heinrich zu. „Vor zwanzig Jahren ist Margarete umgebracht worden.“ „Was?!“ Heinrich spürte wie er den Boden unter sich verlor. Er wollte so viel sagen, fragen, anklagen, aber keiner der vorbeirasenden Gedanken blieb lang genug, um sich in Worten fassen zu lassen. Nach einem Moment griff auch er nach einem Bild von ihr. Darauf wirkte seine Mutter ernst, beinah wütend, zugleich aber traurig. Er kannte es nicht. „Ich war ich in einer ähnlichen Situation wie du, mein Junge.“ Heinrich ließ das Bild sinken und starrte seinen Vater an. Noch immer konnte er nichts sagen. „Ich hatte mich auf eines meiner Lehrmädchen eingelassen und Margarete wusste davon. Sie war wütend und verzweifelt, akzeptierte aber zugunsten von dir und dem Namen meines Geschäfts die Bitte bei mir zu bleiben. Froh wurde sie nicht mehr, unternahm immer mehr allein und …“ Er presste die Lippen aufeinander. Er konnte nicht weitersprechen. „Sie hat jemand kennen gelernt, den falschen Mann, oder?“, fragte Heinrich aus einem Verdacht heraus. In seinen Ohren klang es schwach und zittrig. „Er hat sie umgebracht.“ Sein Vater wimmerte wie unter Schmerzen. „Ja“, wisperte er erstickt. „Das Bild gestern und das was du mir von deinem Fräulein erzählt hast, all das passt so entsetzlich gut zu ihrem Mörder.“ Die Worte fuhren wie ein Stromschlag durch Heinrichs Körper. Er sprang auf. „Das sagst du mir erst jetzt?!“ Sein Hals brannte von dem Ausruf. „Warum bist du nicht mit mir zur Gendarmerie gekommen? Warum hast du nicht gesprochen? Jetzt stehen meine Freunde und ich unter Verdacht!“ Seine Verwirrung hatte sich in Wut gewandelt. Heinrich bebte. Das erschrockene, schmerzverzerrte Gesicht seines Vaters glich gestaltgewordener Schuld. Heinrich musste sich beruhigen. Mühsam kämpfte er den kochend heißen Sturm in sich nieder. „Bitte, Vater – wenn du all das schon erlebt und durchgemacht hast, warum schweigst du? Der Mann ist ein Mörder und vielleicht ist er auch hinter Konrad …“ „Nenn mich schwach, aber ich konnte es nicht noch einmal ertragen.“ Sacht umschloss sein Vater Heinrichs Hand und drückte sie. „Deswegen bitte ich dich, bleib die nächsten Tage hier, bei mir.“ „Und Konrad?“, fragte Heinrich bitter. „Er ist zur Musterung gegangen. Ich will ihn nicht verlieren, ich muss ihn wenigstens warnen, wenn ich ihn nicht beschützen kann.“ „Liebst du ihn so sehr?“ Auf diese offene Frage war Heinrich nicht vorbereitet. Mit trockenem Mund starrte er seinen Vater an. Vorsichtig nickte er. „Mehr als du es dir vorstellen kannst.“ „Versprich mir, dass du nichts Dummes tust, bitte, mein Junge. Ich habe nur noch dich.“ Der Tag verstrich nicht ereignislos, aber entmutigend. Ludwig, Peter und Hector besuchten ihn in kurzer Folge aufeinander. Alle drei wollten und mussten reden, besonders Ludwig. Die polizeiliche Befragung hatte ihn getroffen, schockiert und verunsichert. So hilflos kannte Heinrich ihn nicht. Ludwig redete länger und ausgiebiger als je zuvor. Auf eigenartige Weise glaubte Heinrich, dass sein Freund zu begreifen schien, dass er nicht emotionslos durchs Leben gehen konnte. Als sie sich trennten, waren sie einander näher gekommen, denn Heinrich verstand Ludwig, begriff seine Art zu denken und zu leben. Die Person, auf die er am meisten hoffte und wartete, kam nicht. Konrad war vermutlich gar nicht in der Lage dazu. Der alte Löb würde jeden Kontakt unterbinden. Der Gedanke tat weh. Heinrich wollte seinen Vater damit nicht belasten, zumal er sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen hatte. Dass er sich nicht ausruhte, hörte Heinrich. Aus dem Raum drangen krampfhaftes Weinen, unruhige Schritte und wiederkehrende Geräusche von schweren Gegenständen, die über die Dielen gezogen wurden. Einmal sah er nach. Sein Vater hatte alle alten Kleider seiner Mutter um sich ausgebreitet und trug den fellgesäumten Wintermantel von ihr über den Schultern. Er saß auf der Kante des wuchtigen Ehebettes, den alten, defekten Dienstrevolver von Großvater Wolff aus dem Deutsch-Französischen Krieg in den Händen. Er bemerkte Heinrich nicht. Dieser Anblick tat kaum weniger weh. Mit einem mulmigen Gefühl ging Heinrich in die Küche und bereitete das Essen vor. Wie so oft blieb nichts anderes als eine wässrige Brühe aus den wenigen rationalisierten Steckrüben und aufgeweichtem Altbrot. Aber es würde ihre Bäuche füllen. Er setzte den Topf auf, doch schon zu Anfang verlor das Feuer im Herd an Kraft. Heinrich sah in den Kohleneimer und warf nach, was noch da war. Reichen würde es nicht. Er zog sich den Mantel über, griff nach dem Zinkbehälter und nahm den Kellerschlüssel vom Haken. „Ich gehe …“ er brach ab. Sein Vater würde die Worte nicht wahrnehmen. Mit dem unbestimmten Gefühl von Gefahr, ging er die schmalen Stufen bis zum Hinterhof hinab. Tat sich sein Vater vielleicht etwas an? Nein, das würde er nicht. Sie waren immer noch zu zweit. Er schloss die Hoftür auf. Im gleichen Moment überfiel ihn die nackte, vollkommen irreale Angst zu sterben. Er rang nach Luft und zwang sich nicht dem Trieb nachzugeben, herumzufahren und zu flüchten. Heinrich kniff die Augen zu Schlitzen und starrte in die Dunkelheit zwischen den hohen, kargen Wänden. Der Schnee und die beleuchteten Fenster sorgten für schwaches Licht, was nur partiell den Boden erreichte. Stockend atmete Heinrich ein. Seine Brust hatte sich verkrampft. Er suchte jeden Winkel ab, bei dem er die Dunkelheit durchdringen konnte. Nichts. Warum beruhigte ihn diese Erkenntnis nur nicht? Langsam wandte er sich dem Keller zu. Der Schlüssel in seiner Hand blieb nicht ruhig. Heinrich zitterte. Die alte, kindliche Angst vor dem düsteren, kalten, unheimlichen Gewölbe erwachte. Das war der lichtlose Ort, vor dem er sich fürchtete, den auch kein erwachsener Verstand ungefährlich aussehen ließ. Er biss die Zähne aufeinander und sah über die Schulter, sicherte sich ab. Nichts. Sicher? Ein scharfer Stich zog durch seine Brust. Nein, er war nicht sicher! Heinrich ließ den Eimer in den Schnee fallen und wandte sich wieder dem Treppenhaus zu. Im gleichen Augenblick wurde die Kellertür aufgerissen. Ohne hinzusehen, rannte Heinrich los. Die Stufen nach oben fielen unter ihm zurück. Er hörte seine Schritte laut wiederhallen. Hinter ihm kam etwas, jemand der schwerer war, schneller … Heißer Atem streifte seinen Nacken. Unmöglich, so schnell konnte niemand aufholen! Er sah nach oben zum Podest, der Lampe im Hochparterre, die ihr schwaches Licht nach unten sandte. Ein Mann stand dort, bedrohlich, konturlos, im Mantel eines Feldsoldaten. Gewehr mit Bajonett über der Schulter, die Hände in den Taschen verborgen. Der Landser! Heinrich blieb stehen. Sein Herz raste, er konnte kaum Luft holen. Fauliger Atem erstickte den kalten Winterwind. Feuchtwarm streifte ihn der Zug – von hinten. Zwei, es sind zwei!, schoss es ihm durch den Kopf. Er wirbelte herum. Hinter ihm ragte ein zweiter Schatten auf, eine Person im Dunkeln, die genauso groß und massig war. Beinah sanft legte sich eine Hand über Heinrichs Mund, während er mit einem Griff seinen Oberkörper fixierte. Heinrich wehrte sich, versuchte mehr zu erkennen, seine Arme freizubekommen. Der Druck auf seinen Brustkorb nahm zu. Er konnte sich nicht bewegen. Feucht strich eine Zunge über seinen Hals. „Dir wird niemand helfen“, raunte der zweite Soldat. Panik kroch in Heinrich hoch und schnürte ihm die Kehle zu. Sein Sichtfeld schränkte sich ein. Er sah den Mann vor sich. Entsetzlich langsam ging der Landser die Stufen hinunter, bis zu ihm. In seiner Mimik regte sich nichts. Er betrachtete Heinrich. Seine Nähe löste eine Woge nackter Angst aus. Heinrich wollte schreien. Zugleich legte ihm der Landser eine Hand auf die Brust. Die Finger waren selbst durch den Stoff eiskalt, zugleich hinterließen sie eine brennende Spur, die sich in seine Eingeweide fraß. Der Mann zwang ihn, aber zu was? Mit einigem Entsetzen bemerkte Heinrich, dass sein Glied wieder hart wurde. „Warum kann ich dich, in all deiner Verzweiflung, nicht kontrollieren?“, fragte der Landser leise. „Du spürst mich doch, bist jedes Mal voller Lust, wenn du mir begegnest. Warum gewinne ich keine Kontrolle über dich?“ „Weil er nie gelitten hat“, flüsterte der zweite Mann. „Ist das so?“, fragte der Landser. „Dann werden wir es dich lehren.“ Obwohl er wusste, dass er gegen zwei von ihnen keine Chance hatte, brannte noch immer Hoffnung in ihm. Vielleicht konnte er entkommen. Seine Kiefer mahlten wütend. Auf den Lippen des Landsers lag ein furchtbares Lächeln. Er entblößte seine Zähne. Sie waren lang, spitz und unmenschlich. In Heinrich bebte alles. Er biss in die Hand, die ihn hielt, schrie, schrie, schrie … Zähne schlugen sich in sein Fleisch. Heinrich erwachte von dem weißglühenden Schmerz, der mit dem aufsprudelnden Blut über seine Zunge in seine Kehle rann; heiß, kalt, begleitet von dem lähmenden Entsetzen. Heinrich schrie, wehrte sich, versuchte sich gegen den Landser aufzulehnen, schlug – sinnlos! All seine Kraft schien mit dem Beißen und Reißen aus ihm zu fließen. Sein Herz krampfte sich zusammen. Was war das für ein Geschöpf? Er zerbiss ihm die Lippe und schlug seine Zähne in Heinrichs Zunge. Das Gefühl zerriss ihn, steigerte die Impulse, die bis in seine Fingerspitzen zuckten, die Panik, den Gedanken zu fliehen. Er schrie, Speichel und Blut rannen ihm in schaumigen Wogen durch die Kehle. Er verschluckte sich, wurde den Mann nicht los! In dem Moment schlug er erneut seine Zähne in Heinrichs Zunge und biss sie durch. Heißes, metallenes Blut füllte seinen Mund rasend schnell, bis es aus seinen Mundwinkeln quoll. Der Landser trank und schob ihm seine Zunge in den Mund. Dunstige Panik drohte Heinrich zu überrollen. Sein Herz raste. Er glaubte zu ersticken. Zugleich stemmte er sich gegen den schweren Körper, der auf ihm lag. Er wollte leben, nicht unter einer dunklen Treppe sterben! Erneut brüllte er in den Mund des Mannes. Seine Muskeln brannten. Heinrich fühlte, dass sie bis zum Zerreißen gespannt waren. Schweiß rann ihm über den Körper. Im gleichen Moment löste der Landser seine Lippen von ihm, fuhr zurück und lächelte. Blutiger Speichel troff aus seinem halboffenen Mund. Die Zähne waren rot, Fleisch hing in den Zwischenräumen; Heinrichs Fleisch. Die Wangen des Landsers hatten sich schleimig rot verfärbt. Der blanke Wahnsinn funkelte in den wässrig hellen Augen. Schatten zuckten über ihnen … ja, es waren zwei gewesen! Blankes Entsetzen schoss durch Heinrichs Körper. Es löste jede Hemmung. Er fühlte am Rande seines Bewusstseins warme Nässe in seinem Schritt. Wenn er aufgab, würde er hier sterben. Er stemmte sich gegen das Gewicht, mit dem ihn der Landser auf den Boden drückte. Viel zu schwer. Der Körper wog unendlich viel. Heinrich gab nicht auf. Seine Position war ungünstig. Der Mann lag zwischen seinen Beinen … und nutzte es aus. Mit seinem Oberschenkel presste er sich gegen Heinrichs Hoden, bis dieser Schmerz alles andere überwog. Betäubt, halb besinnungslos, sank er zurück. Er hatte keine Chance. Gegen diesen Mann half nichts. Unter seinen gesenkten Lidern nahm er ein unangenehmes Blitzen im Licht der Grubenleuchte wahr. Die Flamme brach sich auf Metall. Der Schreck verlieh ihm neue Kraft. Wenigstens reichte sie aus, um zu sehen, was es war – der zweite Mann hatte ein Rasiermesser. Die Klinge war schartig und verkratzt, aber scharf. Er würde sie zu spüren bekommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)