Arbitrium von Istyar ================================================================================ Kapitel 3: Ein dunkler Schatten ------------------------------- Besorgt sah Enya zum Himmel. Seit dem Mittag war er immer dunkler geworden, dunkelgrau und schwer hingen die Wolken am Himmel. Und nun zog auch die Dämmerung herauf. Enya sah sich um. Zurück zum Dorf würde sie Stunden brauchen, doch hier gab es nur Felsen und ein paar verkrüppelte Bäume, nichts, dass ihr Schutz bieten würde, sollte tatsächlich ein Unwetter losbrechen. Seufzend wickelte sie ihren Umhang fester um sich, doch der aufkommende Wind fuhr ihr unter die Kleider. Langsam begann es zu regnen, feiner, dünner Sprühregen, der sie zusätzlich durchnässte. In der Ferne grollte plötzlich Donner. Es schien, als bliebe Enya nichts anderes übrig, als zum Dorf zurück zu kehren, wollte sie dem Unwetter nicht hier draußen ausgesetzt sein. Doch mit jeder Minute, mit jedem Schritt, den sie näher zum Dorf ging, wurde es schlimmer. Der Wind wuchs zu einem regelrechten Sturm, wütend zerrte er an ihren Haaren und ihrer Kleidung, wehte tote Blätter über den Weg. Der Sprühregen war einem Platzregen gewichen, der wirkte, als wolle er die Welt selbst ertränken. Mühsam stapfte Enya vorwärts, auch wenn sie kaum drei Meter weit sehen konnte. Es war immer dunkler geworden, schwer und schwarz hingen die Wolken am Himmel. Der Donner war näher gekommen, in unregelmäßigen Abständen erhellten Blitze den Himmel. Plötzlich stolperte sie, verlor das Gleichgewicht und schlug hart auf dem felsigen Boden auf. Brennender Schmerz fuhr durch ihre Hände und stieß bis hinauf in ihre Schultern, Blut sickerte aus ihren aufgerissenen Handballen. Ein leiser Schrei entwich ihren Lippen. Einen Moment blieb sie liegen, sammelte sich. Dann hob sie den Kopf und keuchte erschrocken auf. Vor ihren Augen bildete sich auf dem Boden ein winziger Tornado. Doch er wuchs blitzschnell, die wirbelnden Luftströme kreiselten immer schneller. Hektisch richtete sich Enya erst auf Hände und Knie auf, stand dann auf und taumelte rückwärts, bis sie gegen einen dürren Baumstamm stieß. Der Tornado wuchs immer weiter in die Höhe, stieß wie ein spindeldürrer Finger in den Himmel. Enya wollte sich umdrehen, weglaufen, sich in Sicherheit bringen, doch sie konnte nicht. Irgend etwas hielt sie fest, lähmte sie. Dunkelheit schien in den Tornado gesaugt zu werden, stoffliche, beinahe greifbare Dunkelheit, die in Schwaden zwischen den wenigen Bäumen hervor kam. Doch deshalb wurde die Umgebung nicht heller, das Gegenteil war der Fall. Die Dunkelheit legte sich über ihre Augen, panisch schrie sie, schlug um sich, doch die Schwaden erstickten unbarmherzig ihr Sehvermögen. Sie hörte ein Brausen, das langsam vom Rauschen ihres eigenen Blutes übertönt wurde. Als sich die Dunkelheit verzog und sie wieder sehen konnte, war der Tornado verschwunden. Die Wolken waren wieder grau, nicht schwarz, auch der Regen war nun wieder ein feiner Sprühregen. Nur der Wind pfiff mit unverminderter Schärfe über den felsigen Boden. Doch einige Schritte entfernt, dort, wo eben noch der Tornado aus dem Boden gewachsen war, lag jemand. Eilig stolperte Enya zu dem Körper und hielt dann verwundert inne. Vor ihr lag ein Junge, nackt, schmächtig, der nicht älter als Acht oder Neun sein konnte. Seine Haut schien in dem Zwielicht zu schimmern, denn sie war nicht blau, sondern schneeweiß, sein Haar hob sich in leuchtendem Orange dagegen ab. Vorsichtig berührte Enya ihn am Arm. Der Junge stöhnte, seine Lider flatterten, aber er wachte nicht auf. Aber Enya konnte ihn nicht hier liegen lassen. Also zog sie sich den Umhang von den Schultern, kniete sich hin und wickelte ihn vorsichtig darin ein. Eisig und scharf schnitt der Wind in ihre bloßen Arme. Noch einmal atmete sie tief durch, dann schob sie ihre Arme unter den Jungen und stemmte sich in die Höhe. Zuerst schwankte sie unter dem Gewicht, dann fing sie sich und wagte die ersten Schritte. Auf dem Weg zurück zum Dorf schossen ihr unzählige Fragen durch den Kopf. Was war das für ein merkwürdiger Vorfall gewesen, den sie erlebt hatte? Wie war der Junge dorthin gekommen, wo sie ihn gefunden hatte? Wer war er? Noch nie hatte sie jemanden wie ihn gesehen. Ihre Ausbildung zur Priesterin der Göttinnen war fast abgeschlossen, doch sie war nicht sicher, ob der Junge nicht von den Göttinnen geschickt worden sein konnte. Wer sonst konnte solche Magie beherrschen? Sie selbst war in der Lage, Magie zu beherrschen, aber so etwas könnte sie nicht vollbringen, da war sie sich sicher. Also kam er von den Göttinnen? Oder von jemand anderem, unvorstellbar mächtigem? Dieser Gedanke machte ihr ein wenig Angst. Aber die Grübelei lenkte sie wenigstens von den Schmerzen ab, die langsam in ihre Arme und Beine krochen, da sie durch das Gewicht des Jungen ermüdete. Als sie endlich in ihrem Dorf ankam wankte sie vor Erschöpfung und schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Mittlerweile war die Nacht herein gebrochen, doch noch immer waren erstaunlich viele Menschen unterwegs. Plötzlich hallte ein Ruf zwischen den Häusern hervor. "Die Priestern ist zurück!" Und gleich darauf kamen die ersten erstaunten Ausrufe, als die Menschen den Jungen sahen. Wie Laubrascheln erhob sich Geflüster. Enya meinte heraus zu hören, dass viele von einem Boten der Göttinnen sprachen. Kein Wunder bei dem Aussehen des Jungen, doch Enya war zu erschöpft, um darauf einzugehen. Stattdessen wankte sie zu einer kleinen Hütte etwas abseits, wo sie mit ihrer Lehrmeisterin wohnte. Die alte Frau stand schon abwartend in der Tür. Sie war eine zerknitterte Erscheinung, voller Falten und etwa halb so groß wie Enya. Mit einem missmutigem trat sie aus dem Türrahmen zurück in die Hütte um Enya durch zu lassen. "Wo hast du den komischen Kauz aufgegabelt?" Enya schüttelte den Kopf und wankt in ihr Zimmer, ihre Arme brannten. Erst später, als der Junge in ihrem Bett lag und sie auf der Bettkante saß, erzählte sie ihrer Meisterin, wie sie den Jungen gefunden hatte. "Meinst du, er könnte derjenige aus der Prophezeiung sein?" fragte sie, als sie geendet hatte. Nachdenklich wiegte die alte Frau den Kopf. "Ich verstehe, dass du es dir wünschst, Kind. Es wäre schön, wenn endlich die helle Person kommt und uns in ein besseres Leben führt. Aber nur, weil der Junge weiße Haut hat, muss er nicht von den Göttinnen kommen." Verwirrt sah Enya ihre Meisterin an. "Woher sollte er denn sonst kommen?" Aber die alte Frau blieb ihr die Antwort schuldig. "Es... gibt viele Wege für das Schicksal." antwortete sie nur vage, dann verließ sie den Raum. Enya schüttelte den Kopf und sah zu dem Jungen. Und schrak zusammen. Stechende gelbe Augen sahen sie an, starrten mit einer Kälte aus dem Kindergesicht, die keinem Achtjährigem zu eigen sein sollte. Er schien schon eine Weile wach zu sein, es war keine Spur von Trübe oder Müdigkeit darin zu erkennen. "D-du bist wach." Einen Moment lang versuchte Enya vergeblich, ihre Fassung wieder zu gewinnen. "Wie fühlst du dich?" Der Junge sah ihr direkt in die Augen, es fühlte sich an, als würde er ihre Seele bloß legen. Sie wollte schon wegsehen, aber dann nickte er. "Ich lebe noch, das wird für den Moment reichen." Es war verwirrend, diese Worte kalt und nüchtern ausgesprochen wahrzunehmen, aber gleichzeitig die helle Kinderstimme zu hören. Aber bevor sie in die Verlegenheit kam, antworten zu müssen, klopfte es an der Tür und ihre Meisterin kam herein, gefolgt von Jenny, einer Frau aus dem Dorf, die ein Bündel trug. "Ha-hallo." Jennys Stimme klang dünn, so wie sie immer klang, seit ihr Sohn bei einem Unfall gestorben war. "Ich hab... ich hab etwas Kleidung mitgebracht, sie... sie müsste ihm passen." Schüchtern legte sie das Bündel auf das Bett, der Junge setzte sich auf. "Sie... gehörte meinem Jungen, er... er braucht sie nicht mehr." Er hob das dunkle Oberteil vom Haufen, faltete es auseinander und betrachtete es gründlich. "Es wird gehen." Enya sah, wie Jenny die Tränen in die Augen stiegen und war dankbar, als ihre Meisterin sie am Arm nahm und hinaus führte. Verlegen sah Enya den Jungen an. "Ehm... Entschuldigung, aber... wie heißt du?" Er sah zu ihr auf, wirkte überrascht. "Wie ich heiße? Hm... ich bin geschickt worden, also... nenn mich doch Tenebris." Aus irgend einem Grund schien ihn das zu amüsieren, leise gluckste er. Verwirrt starrte Enya ihn an. "Ja gut, dann... ich..." sie zeigte auf die Tür. Dieser merkwürdige Junge wirkte, als würde sie nicht mit einem Menschen reden, wenn sie mit ihm sprach. "Wenn du mich brauchst, dann... dann ruf einfach oder so." Tenebris grinste. "In Ordnung. Gute Nacht." Enya nickte. "Gute Nacht." Dann verließ sie eilig den Raum. Warmes, oranges Licht kitzelte ihre Nase. Verschlafen öffnete Enya die Augen und räkelte sich. Einen Moment lang fragte sie sich, warum sie so verkrampft war, warum sie auf der Bank lag, doch dann fiel es ihr wieder ein. Eilig setzte sie sich auf, stieß sich fast den Kopf am Tisch, und fragte sich, warum ihre Meisterin sie noch nicht geweckt hatte. Noch leicht schlaftrunken tapste sie zum Fenster und sah, dass es noch später war, als sie zuerst angenommen hatte. Allmählich begann sie, sich Sorgen zu machen. Leise ging sie zu dem Zimmer ihrer Meisterin und klopfte. Doch es kam keine Antwort. Zum ersten mal fiel ihr auf, dass die Hütte, selbst wenn alles still war, Geräusche machte. Ein leises Knarzen im Gebälk, der Wind pfiff um die Hausecken. Irgendwo draußen lachte ein Kind. Enya versuchte, sich zu beruhigen. Es war albern, wie sie sich selbst nervös machte, sicher war nichts. Was sollte schon passiert sein? Trotzdem klopfte ihr Herz bis zum Hals, als sie die Tür langsam öffnete. Die Tür knarrte. Enya räusperte sich. "Hallo?" Gleich darauf ärgerte sie sich über sich selbst. Warum benahm sie sich so albern? Sie wohnte hier. Wie um sich selbst zu beweisen, dass sie sich nicht völlig lächerlich benahm, trat sie mit vorgetäuschter Entschlossenheit in den Raum. Enya runzelte die Stirn. Jemand lag im Bett ihrer Meisterin, eine kleine Gestalt. Wer konnte das sein? Ihre Meisterin war doch sicher schon aufgestanden. Doch als sie näher trat, erkannte Enya, dass sie sich getäuscht hatte. Zerbrechlich lag sie da, das alte Gesicht eingefallen wirkte sie unendlich erschöpft. Enya wusste schon bevor sie nach dem dem Handgelenk griff, dass die Frau, bei der sie so lange gelebt hatte, die ihr so lange eine Lehrerin gewesen war, nicht mehr lebte. Kälte brach in einer riesigen Welle über Enya herein, betäubte sie. Langsam wankte sie rückwärts und sackte gegen die Wand. Alles schien zu erstarren. Plötzlich hörte sie eine Kinderstimme und wandte den Kopf. Tenebris stand in der Tür, dank der dunklen Kleider schienen seine Haare und Augen noch leuchtender, die Haut beinahe weiß wie Papier. Sein Blick wirkte irgendwie abwesend. "Guten Morgen. Es sieht aus, als seihest du nun erste Priesterin. Mir wurde aufgetragen, dir etwas zu sagen. Es geht um das bessere Leben von dir und deinen Leuten. Und den Betrug der Königsfamilie." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)