shaping fate von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 7: Von Kieseln und Lawinen ---------------------------------- „Sprich.“ Es war dieses eine Wort. Nur ein Wort, das ertönte. Gewiss, mancher – so ziemlich jeder andere als er selbst – hätte auf mehr als nur das gehofft. Auf Anerkennung, Verwirrung, Anweisung, irgendetwas. Irgendetwas, das weniger neutral war. Irgendetwas, das hilfreicher war. Doch es fiel ihm schwer, die für ihr Wesen so eigentümliche Gleichgültigkeit zu erkennen, die auch ihrer Stimme anhaftete wie ein schlechter Nachgeschmack, den man partout nicht los werden konnte, ganz gleich, womit man das Getränk mischte. Er wusste einfach, dass sie verwirrt war. Wusste, dass sie ihn anerkannte – allein, indem sie auch nur dieses eine Wort an ihn richtete. Sie sprang hier und jetzt über ihren Schatten und das in einem nicht zu verachtenden Ausmaß. Er wusste das und respektierte sie umso mehr dafür. Konnte die Leistung anerkennen, die sie gerade vollbrachte. Er hatte tagelang hier gesessen, reflektiert, gewartet. Gebetet. Es war, gelinde gesagt, befremdlich gewesen. Ein wenig erniedrigend gleich noch dazu. Mit etwas Glück war ihr ebenso peinlich und unangenehm, hier zu sein und mit ihm zu reden wie es ihm peinlich und unangenehm war. Mit etwas Glück. In diesen Tagen hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Hatte reflektiert. Allem voran über die Natur von Gestein. Das mochte auf den ersten Blick nicht allzu erquicklich wirken, aber es half, die Nervosität zu bekämpfen. Und sich nicht schwer und oft genug einzureden, dass das alles hier Irrsinn war und er sich gefälligst davonmachen und diesen Wahn ziehen lassen sollte. Also hatte er über ein Sprichwort nachgedacht. Er konnte sich an den exakten Wortlaut nicht einmal mehr erinnern. Irgendetwas über Lawinen, rollende Steine, Stein des Anstoßes, etwas in der Richtung. Aber die Analogie dahinter passte so wunderbar ins Bild. Hier war er. Eine Urgewalt in dieser Welt. Fähig, Nationen niederzureißen. Fähig, Schöpfer zu spielen und völlig neue Wesenheiten zu einem Bestandteil dieser Welt zu machen. Fähig, so vieles zu tun, zu leisten, zu vermitteln. Er war die Lawine? Nein. Nein, ganz gewiss nicht. Er war… ein Teil davon. Ein Zwischenstand. Der Umstand, dass er hier war und betete und nun redete, war nicht die Lawine selbst. Aber falls alles gut lief? Dann würde die Lawine ihm dichtauf folgen. Und er, er würde fürchterlich eilen müssen. Zusehen, dass er nicht aus Versehen selbst von dem begraben werden würde, was er auslöste. Denn obgleich er ein Teil der Lawine war, ein Stadium davon, so war er doch gewissermaßen auch – ein Stück weit zumindest – Anstoß derer gewesen, oder nicht? Letztlich kam alles runter zu der Frage: Wer war eigentlich schuldig? Auf seinem Weg bis hierher hatte ihn schließlich nichts dazu gezwungen, so zu entscheiden, wie er es getan hatte. Aber ebenso wenig waren andere gezwungen worden, die hieran Anteil trugen. Wem also die Hauptlast aufbürden? Wem den möglicherweise gefährlichsten Titel seit Zeitaltern geben: Kiesel? Dabei hatte doch alles, wie so viele Geschichten, so simpel und bescheiden begonnen…   Viele, viele Jahre zuvor. Es war später Abend. Andernorts hieß das: Fensterläden geschlossen, Lichter gelöscht, Türen verriegelt. Das Haus war still, die Betten warm, der Kamin glühte und glimmte vielleicht noch ein klein wenig vor sich hin, keine wirkliche Brandgefahr. Die Bewohner ruhten brav in ihren Bettchen, warm in die hübschen, dicken Federdecken eingekuschelt, und schliefen den sanftmütigen Schlaf der Gerechten. Oder Ahnungslosen. Oder Ignoranten. Hier in der Taverne hieß das dagegen: Die Lichter brannten hell, ein warmes Feuer prasselte lautstark im Kamin gegen den geradezu ohrenbetäubenden Lärm des Schankraums an. Witze wurden erzählt und mit kehligem Lachen quittiert. Karten wurden gespielt und Mitspieler brüllend des Betrugs beschuldigt. Tische wurden umgeworfen, Krüge aneinander gestoßen, Messer schabten über Teller, gefüllt mit fettem Braten in dicken, dunklen Soßen ertränkt, zusammen mit Erbsen und kleinen Möhrenstückchen, gut gewürzt und fein geschnitten, Rettung auf den größeren Kartoffelscheiben suchend. In Öl angebraten. Und gespeist wurde mit solcher Wonne, als wäre es die erste und letzte Mahlzeit eines Lebens. Botenreiter, die breitbeinig auf ihren Stühlen saßen, weil ihnen die Hüften schlimmer schmerzten als es nach einem vollen Tag im Hurenhaus der Fall wäre. Abenteurer, die bei all dem, was ihre Abenteuer an Erfahrungen und Anblicken boten, schon vor Jahren perfekte Kontrolle über ihr Hungergefühl und ihren Würgereiz erlangt hatten und genau wussten, dass sie die Stärkung gut gebrauchen könnten, ehe sie wieder dort hinaus ziehen und ihren Hals für ein paar Münzen in Form von Relikten oder der mageren Belohnung eines Dorfes für die Bezwingung irgendeiner dahergelaufenen Bestie riskieren würden. Einfache Feldarbeiter, die das Ende ihres harten Arbeitstages mit einem schweren, umfangreichen Mal beendeten, da niemand zuhause auf sie wartete, mit liebevollem Lächeln, einer warmen Umarmung, kein Gelächter der eigenen Kinder. Nur ein Haus, kalt, dunkel, leer – in weiser Voraussicht und grausamer Fehlplanung groß genug errichtet, um eben jene fehlende Familie spürbar zu machen, die allseitige Leere nochmals richtig vor Augen zu führen. Die Luft war dick und schwer. Roch nach dem Tabak, der an manchem Tisch in Pfeifen gestopft wurde. Roch nach der schweren, öligen Soße. Roch nach Schweiß. Roch nach Holz und Kohle und Rauch. Es war ein eigenwilliges Bouquet. Eines, das sich von Taverne zu Taverne, von Gasthaus zu Gasthaus und Schenke zu Schenke unterschied. In feinsten Nuancen. Aber doch immer erkennbar war als der Geruch solcher Häuser, generell gesprochen. Kein anderer Ort hatte diese eigenwillige, berauschende Zusammenstellung. An seinem kleinen Rundtisch in der Ecke des Raumes sitzend, hatte er verhältnismäßige Ruhe. Er bereute diesen Umstand ein wenig. Mittendrin zu sein, zu spielen, zu feiern, zu lachen, zu scherzen, es war so viel verlockender als hier zu sitzen und zu warten. Doch ein paar unwillige, nachtragende Blicke streiften ihn dann und wann. Mahnten ihn, warum er eigentlich hier war und das nicht jeder alles auf sich bewenden ließ oder vergaß, nur weil er ihnen ein Freibier ausgab. Mahnten ihn, dass nicht jeder bereits heimgekehrt war, den er vorhin noch mit großen Tönen herausgefordert – und dann auch tatsächlich über den Tisch gezogen hatte. Ein paar Abenteurer hatten den Anfang gemacht. Mit Messern gespielt. Die Hand auf den Tisch, die Finger gespreizt – wie schnell traute man sich, dazwischen zu stechen? Wie viele Runden, bis man sich schnitt? Für ihn war es ein langweiliges Spiel gewesen, aber ein guter Einstieg. Er konnte regelrecht sehen, wie das Adrenalin in den Adern der anderen in jede Ecke ihres Leibes jagte, als sie zusahen. Seine Reflexe waren gut. Nicht perfekt, aber gut. Der Trick war schlicht… nun, er blutete nicht. Er spürte keinen Schmerz. Und was vermutlich noch wichtiger war: Statt mit seinem rasanten Tempo Eindruck schinden zu wollen, blieb er gemäßigter und absolvierte dafür mehr Runden. Das irritierte seine Gegenspieler zwar, war aber keineswegs regelwidrig. Und damit hatte er die ersten paar Münzen des Abends gewonnen. Weiter ging es beim Würfeln und Kartenspiel. Er hatte Glück, dann und wann. Manchmal Pech. Aber keiner – nicht ein einziger hier! – war fähig, seine Bluffs zu durchschauen. Das garantierte keinen Gewinn, aber es verbesserte seine Chancen auf einen maßgeblich. Und nachdem er auch dabei ein paar Münzen gewonnen hatte, widmete er sich noch dem Messerwerfen. Ob den Besiegten und Verlierern eigentlich klar war, dass er so gut wie keine Münze des Gewonnenen für sich behielt? Die Mehrheit investierte er tatsächlich sofort wieder in neue Aufträge an den Wirt und seine eilfertigen Mägde, die in hübsch geschnürten Stoffkorsagen herumrannten, die Brüste hochgeschnürt wie die Auslagen beim Fleischer, der Hintern zur Schau gestellt wie das preisgekürte Schwein im Stall. Fleischeslust war eine witzige Sache und ihm gewiss nicht fremd, nur… hatte er für diesen Begriff ein deutlich anderes Verständnis als die Mehrheit der Leute in diesem Raum. Während die ihren Appetit von den Mägden angestachelt sahen – in jedweder Hinsicht – und mancher sich erdreistete, ihnen Geld für die Nacht anzubieten, die mit Geschichten, kurzen Sprüchen oder einem Klaps auf den Hintern einladen oder überzeugen zu wollen, gab er den Verlierern Speisen und Getränke aus. Mal einen Krug, mal einen Teller, mal eine Runde für den ganzen Tisch oder die Tafel. Wenn der Sieg besonders fett war, sogar eine Runde für den ganzen Schankraum. Das hatte die vom Versagen und Verlieren erhitzten Gemüter auch wieder versöhnlich stimmen, herunterkühlen können. Aber eben dummerweise nicht alle. Entsprechend beließ er es dabei, hier zu sitzen, zu warten, zuzuschauen, wie das Leben sich vor ihm entfaltete, in all seiner primitiven, rüden, prächtigen, glorreichen Pracht. Wie sie auf Brüste gafften und dreckige Witze rissen, wie sie über Eroberungen prahlten – Weiber, Männer, Schätze gleichermaßen – und die Größen von Waffen, Genitalien und Fundgut verglichen. Und der Abend sollte noch deutlich besser werden – so hoffte er zumindest – als sich die Tür öffnete. Jene magische Pforte in die tiefe, schwarze und inzwischen offenbar sogar regnerische Nacht hinaus, durch die sie kommen würde. Nur hatte sie ziemlich auf sich warten lassen. Diesmal jedoch wurde er nicht enttäuscht. Die Tür schwang auf und einen kurzen Moment lang wurde es still im Schankraum. Einige Blicke wanderten zum Neuankömmling, so auch der Seine. Eine kleine, zierlich wirkende Gestalt. Helle Haut, hellbraune Haare, spitze Ohren… den Ersten lag zweifellos bereits der eine oder andere Kommentar auf der Zunge. Inzwischen war genug Alkohol im Umlauf – bei Lenikki, vermutlich in der Luft selbst! -, das man frech werden konnte und sich darüber würde entschuldigen können. Doch dann fielen eben die, nun, restlichen Merkmale ins Auge. Wobei Augen ein guter erster Punkt waren. Goldgelb schimmernd und vertikal geschlitzt. Die Rüstung markierte sie – eigentlich – als Abenteurer, interessierte jedoch keinen mehr, als erst einmal die regelmäßige Bewegung ihres Schwanzes deutlich wurde, passend zu den zwei gebogenen Hörnern, die ihrer Stirn entwuchsen. Als Sierra eintrat, gab es eine Hand voll Leute, die sie erkannten. Irgendwelche Abenteurer und ein oder zwei ehemalige Mitglieder der Rebellion, so schätzte er. Die Goldene Gans war zugegeben nicht mehr ganz das, was sie früher mal gewesen war. Einige Zwischenfälle, Unfälle, hatten etwas an ihrem Ruf gekratzt. Aber sie war im Gegenzug besser besucht denn je. Und noch immer ein beliebter Treffpunkt für die einstigen Mitglieder der großen, ruhmreichen Revolution. Thorin Königsend, der tapfer die Axt schwingend den Wald der Tyrannei lichtete. Dergleichen und ähnlich peinliche Motivations- und Rekrutierungsposter hatte er seinerzeit dann und wann an Wänden hängen sehen. Manchmal hatte Sierra ihm sogar ein paar mitgebracht, damit sie sich gemeinsam darüber amüsieren konnten. Relevant war damals letztlich nur der Erfolg gewesen, nicht das artistische Können dahinter. Die Wenigen, die Sierra erkannten, grüßten sie. Verneigten sich oder nickten ihr zumindest zu. Die Mehrheit ignorierte sie und widmete sich wieder ihren Spielen, ihren Geschichten, ihren Wetten und den Mägden und natürlich auch ihren Mahlzeiten. Klöße in Pfeffersoße, angerichtet mit gedünstetem Spargel und Wildschweinfilet. Das war nicht gerade preiswert. Offenbar kämpfte der Wirt dann und wann noch immer – wenn ein Gast den besonderen Wunsch und das besondere Kleingeld mitbrachte – darum, als etwas für die höhere oder zumindest gehobene Gesellschaft anerkannt zu werden. Wildschwein war nicht schwer zu bekommen, aber Spargel? Und Pfeffer war auch nicht gerade Billigware und es roch köstlich! Er konnte regelrecht sehen, wie dem Herrn am Nachbartisch das Wasser im Munde zusammenlief, als er tief den Duft seiner Mahlzeit einsog, aufrichtig strahlenden Lächelns der Magd dankte, die nun ebenfalls etwas ehrlicher lächelte und beschwingter zur Theke zurückkehrte – solange zumindest, bis ihr unterwegs natürlich wieder irgendwer auf den Hintern klatschte. Der erste Bissen musste köstlich gewesen sein. Eine Geschmacksexplosion, der Wirbel aus Schärfe und- … und er hatte völlig verpasst, wie Sierra die Tür geschlossen, den Raum durchquert, eine Minute vor seinem Tisch gestanden, ihn angesprochen, geseufzt und sich schließlich einfach gesetzt hatte. Erst als sie sich nach einem Moment dezent räusperte, konnte er seinen Blick davon losreißen, wie die Kiefermuskulatur des Herrn sich um den ersten Bissen Wildschwein kümmerte, noch immer die Augen genießerisch geschlossen und die Gabel auf halbe Höhe gesenkt. Wahre Leidenschaft. „In all den Jahren, die wir uns jetzt schon kennen… das hat sich nie geändert“, merkte Sierra mit einem milden Grinsen an. Langsam lehnte er sich zurück und bemühte sich, seine nach links abschweifende Aufmerksamkeit auf sie zu fokussieren. „Es liegt eine zutiefst primitive und doch zugleich erhabene Sinnlichkeit darin, findest du nicht?“ Einen Moment betrachtete sie stirnrunzelnd den Nebentisch, sah dann wieder zu ihm und zuckte lächelnd mit den Schultern. „Jedem seins, schätze ich. Tut mir leid wegen der Verzögerung. Politik.“ Er nickte. Dieses eine Wort war Erklärung genug. Sierra war jetzt immerhin Politikerin. Eine wichtige Figur auf dem Schachbrett der Weltbühne. Springer schlägt Turm, Bauer rückt nach D5 vor, Schach. Harpyien, Drow, Tieflinge. Dazu noch ein paar kleine Nester von Goblins und Gnomen, hier und da ein paar halbzivilisierte Orks, ja – sie hatte alle Hände voll zu tun. Wie sie diesen Sack Flöhe davon abhielt, ihr den Verstand zu rauben, Lumiél als Beutegrund zu überfallen oder in wilden Blutbädern einander zu dezimieren, war ihm schleierhaft. Er interessierte sich für viele der Vorgänge und Ereignisse in ihrem Leben und bewunderte viele ihrer Qualitäten, doch… Politik und deren verwobene, verworrene Mechanismen, davon hatte er selbst mehr als genug und sogar bei denen weigerte er sich trotz seiner direkten Beteiligung, sie zu verstehen und dauerhaft zu erlernen. Wer mit Politik in Berührung kam, das war einfach ein gegebener Fakt, der verlor über kurz oder lang jeglichen Spaß am Leben. In den wenigen Minuten darauf orderte er zunächst eine solide, gute Mahlzeit für sie, dazu einen Krug Traubensaft, der ausgezeichnet dazu passen sollte. Um diese Jahreszeit frisch geerntet, wie er sich schon lange vor ihrer Ankunft hatte versichern lassen. Das gab ihm genau das richtige Ausmaß an Säure, um zum Hauptgang zu passen. „Ich muss gestehen, ich weiß unsere kleinen Treffen zu schätzen. Es ist so viel ungezwungener, wenn man sich einfach in einer Taverne zusammensetzt“, philosophierte er ohne rechtes Ziel vor sich hin, während er mit Wonne verfolgte, wie sie sich artig bei ihm und der Magd für den Teller bedankte und zu speisen begann. „Ungezwungener als der Gefangene in einer Taschendimension zu sein, meinst du?“, erwiderte sie mit einem wissenden Grinsen. „Oh ich hätte mich selbst damals keineswegs als Gefangenen betrachtet oder bezeichnet. Ich war… im Urlaub, gewissermaßen. Aber da wir nun schon gerade von Urlaub sprechen, ich bin zugegeben neugierig. Es ist nicht allzu häufig, dass du dieser Tage noch Zeit  für mich findest. Fast wäre ich ja geneigt, mich ein klein wenig gekränkt zu fühlen. Doch ebenso bin ich überrascht, von dir hierher zitiert worden zu sein. Gebeten, ja, gebeten – schon gut, keine Einwände nötig. Nichtsdestotrotz hast du eine gewisse Eile und Dringlichkeit durchscheinen lassen. Also sei so gut und spanne mich nicht zu lange auf die Folter: Was gibt es so Wichtiges? Du hast mich nie ohne guten Grund kontaktiert…“ Sie nickte, die Miene ernst. Selbst dieses milde, schwache Lächeln, das allzeit ihre Lippen umspielte und ihre Augen ein klein wenig heller strahlen ließ, wenn sie beisammen waren, schwand hinfort. Es war ernst, oh ja. So ernst sogar, dass sie Messer und Gabel bei Seite legte, sich zunächst in ihrem Stuhl zurücklehnte und ihn einen Moment bedachte, betrachtete, sich sammelte und überlegte, ehe sie ihre Worte sprach. „Es… ist nicht das Schicksal der Welt oder Lumiéls, des Drachenvolkes oder Gewebes, das auf dem Spiel steht. Es ist… mir persönlich wichtig“, begann Sierra, als wäre das ein Grund, sofort aufzustehen und enttäuscht den Raum zu verlassen. Stattdessen von der Vorsicht ihres Tonfalls irritiert, nickte er lediglich um ein aufrichtiges Lächeln bemüht und bedeutete ihr, fortzufahren. „Ich werde heiraten, Ithildalin. Die Zeremonie findet in zwei Wochen in der Kreuzwegfeste statt. Ishara wird sie betreuen. Ich… ich hätte dich an diesem Tag gerne dort an meiner Seite.“ Der erste Moment war… war was eigentlich? Es gab ihn nicht. Es gab keinen ersten Moment. Es gab die Leere. Das Nichts. Dann gab es einen zweiten Moment, in dem der komödiantische Teil zutage trat. Die Zunge schneller als der Rest seines Verstandes, wie immer. Nicht, das er tatsächlich etwas sagte – seine Gliedmaßen waren plötzlich bemerkenswert gelähmt, Kehle, Zunge, Lippen eingeschlossen. Aber in seinem Kopf zeigten sich viele Bilder von Ithildalin im hübschen, hellgrün-zartrosa Kleid eines Blumenmädchens oder den prächtigen, schneeweisen Gewändern einer Brautjungfer. Es war… auf die gute Art lächerlich. Es war amüsant-lächerlich. Genauer gesagt: Es war zum Schreien komisch! Sie hätten einander davon erzählen können. Wie er ein Körbchen schwingend und einen Kinderreim trällernd überhaupt nicht gruselig vor dem Paar hinweg hüpfte und Blütenblätter verteilte. Und beide hätten sich darüber köstlich amüsiert und gelacht und einander damit aufgezogen, wie sie es unzählige Male zuvor mit anderen Absurditäten und Kleinigkeiten getan hatten. Es hätte ein heiterer, erleichternder Moment sein können. War es aber nicht. Denn sie meinte das ernst. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, von vorn herein deutlich zu machen, wie ernst es ihr damit war, dass er einfach nicht wagte, es auch nur für den Bruchteil einer bewusst entschiedenen Sekunde nicht ernst zu nehmen. Damit zog, unweigerlich, die unbeschwerte Spanne des zweiten Momentes vorbei und der dritte Moment hielt Einzug. Bilder tot in den Bänken liegender Gesellschaft, in Krämpfen und Agonie verkrampft, blitzten vor seinem inneren Auge auf. Der Priester ausgeweidet, mit seinen Innereien die ehemals hübsche Dekoration ergänzt. Die Braut inmitten all des Horrors, starr, wortlos, unverletzt, ausdruckslos – weil er sich nicht vorstellen konnte, wie ihre Reaktion wäre. Und der Bräutigam? Nicht da. Nicht existent. Nicht in der Vorstellung. Weil sein Verstand nach etwas dürstete, das so boshaft war, so grausam war, so schmerzhaft war, das seine Fantasie daran scheiterte, ihn in angemessen erscheinende Umstände zu platzieren. Mit dem dritten Moment kam so viel Wut und Hass heraufgekrochen, dass es sich unweigerlich durch die perfekte und lange Jahre einstudierte Maske seines makellosen Bluffs hindurch wiederspiegeln musste. Doch Sierra sagte nichts. Sie saß dort. Sie verschränkte nicht ablehnend oder abwehrend die Hände vor der Brust. Sie hatte die Hand nicht an der Waffe. Sie wirkte nicht einmal angespannt. Doch selbst diese Beobachtungen waren nur eine Randnotiz. Nicht weiter wichtig. Der Hass zog ab, machte Bahn für den vierten Moment. Die Verwirrung. Die Entrüstung. Die Verstörung. Die Enttäuschung. Warum beschäftigte ihn das? Warum interessierte es ihn überhaupt? Warum sollte er irgendwem irgendwas antun? Warum nicht einfach zustimmen, ihr diesen Gefallen tun? Warum nicht einfach sie in ihrem Glauben lassen, welcher auch immer das sein mochte? Die Zeremonie ging ihn nichts an. Der Glaube dahinter, die Götter dahinter, ebenso wenig. Aber er könnte da sein. Eine Gelegenheit mehr, sie zu sehen, mit ihr zu reden, an ihrem Leben teilzuhaben. Es war lange, lange her, dass er ihr von seiner Zeit als Herumtreiber mit einer Klampfe erzählt hatte. Später hatte er sein Repertoire erweitert, hatte mit verschiedenen anderen Streichinstrumenten zu spielen gelernt. Er war ein respektabler Abenteurer gewesen! Gut – so respektabel, wie ein Abenteurer eben werden konnte. Während andere mit Schwert, Schild und Axt in den Kampf zogen, bezwang er seine Feinde mit guter Musik – Übung machte den Meister – und geschickten Worten! Zugegeben, später hatte er sich den Umgang mit einem Rapier aneignen müssen, weil es in dieser Welt einfach Idioten gab, die nicht auf noch so hübsche Melodien oder Worte hören wollten. Aber nichtsdestotrotz hatte er eine tiefe Leidenschaft für das Musizieren entwickelt. Deshalb verstand er das Sprichwort, welches ihm in diesem vierten Moment einfiel, auf so viel besserer, anderer, tiefergreifenderer Ebene als andere Leute: Er fühlte sich plötzlich wie die zweite Geige. Das hieße allerdings, dass er Interesse daran hegen würde, selbst im Rampenlicht zu stehen, selbst die besagte erste Geige zu spielen, selbst all ihre Aufmerksamkeit für sich zu horten. Und war es nicht genau das, was er in den letzten Jahren gewissermaßen getan hatte? Sicherlich, da gab es viele andere. Merril, von der Sierra dann und wann erzählt hatte. Doch nach anfänglichen Irrungen und Wirrungen, die beide zueinander standen, zueinander stehen sollten, hatte sich eher eine Art von… schwesterlichem Verhältnis etabliert? Merril war Sierra schlicht und ergreifend nicht gewachsen. Auf keiner Ebene. Und Sierra war unweigerlich in die Falle gelaufen, ihr helfen zu wollen. Sie hatte sie angeleitet. Tat es noch. Keine Idealbedingungen für, nun, irgendwas anderes als das, was vorherrschte. Da waren auch Thorin und Garwinn, Myron, Ishara, Saufkumpane, Freunde, Ersatzfamilie, viele, viele Namen, Leute und Bezeichnungen für ihre jeweiligen Positionen. Aber keiner von denen war ihm jemals gefährlich geworden. Oder erschienen. Keiner von denen hatte, was er hatte. War, was er war. Konnte Sierra bieten, was er ihr bieten konnte. Die Gehörnte und er, sie waren brillant. Sie waren ein Team. Sie waren unschlagbar. Sie stichelten und witzelten, sie spielten einander aus, an die Wand, oder in die Hand. Sie begegneten einander auf Augenhöhe. Sie waren sich ebenbürtig. Sie waren… … gute Partner. Die Erkenntnis schmerzte auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten hatte. Und dieser Schmerz läutete den fünften Moment ein. Er wollte nicht. Er konnte nicht. Das war schlicht und ergreifend nicht richtig. Er hatte keinerlei Interesse an derlei, an ihr, an diesem ganzen Unsinn, konnte nicht haben, sollte nicht haben, durfte nicht haben. So einfach. Nein. Einfach nur… nein! Also raffte er sich zusammen, begegnete ihrem Blick mit neuer Härte und Entschlossenheit. „Eure Götter hassen meinesgleichen. Sie werden für mich keine Ausnahme machen. Und ich habe keinerlei Interesse an euren jämmerlichen, bedeutungslosen Zeremonien.“ Der… Schlag hatte gesessen. Er konnte es sehen. Wie sie kurz zusammenzuckte. Den Blick senkte. Und noch im gleichen Moment bereute er es, wollte sich entschuldigen. Er! Sich entschuldigen! Freiwillig! Er brachte es nicht fertig, brachte es nicht über sich. „Wofür überhaupt diese Farce? Mir wäre neu, dass du in den letzten zwei Jahren plötzlich jemanden aufgetrieben hättest, der deiner würdig wäre.“ Es dauerte, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. Und Ithildalin brauchte lange, um zu begreifen, wie sehr sie um Fassung kämpfen musste. Mit sich selbst rang. Ihn hierher zu bitten, ihm dies zu sagen, unter seinem Blick und seinen harschen Worten sitzen und zuhören… erst sehr viele Jahre später begriff er vollends, was dieser Moment für sie bedeutet haben musste. „Es ist eine politische Heirat. Prinz Mubarak Ibadah von Ulthwe. Es… wird Lumiéls Anbindung an den Rest der Welt stärken. Es wird den Iustus-Bund stärken. Und er ist ein guter Mann, stolz, aufrecht, gerecht. Habe ich mir sagen lassen.“ Mit jedem weiteren Wort hätte er mehr um sich schlagen wollen. Der Tisch bekam unweigerlich seine Frustration zu spüren, doch das Holz war glücklicherweise schon tot. Viel toter konnte es nicht werden. Mubarak. Lächerlicher Name. Bedeutete ‚gesegnet‘. Das machte es eigentlich nur schlimmer. War er tatsächlich ein Heiliger oder hatte seine gottverfluchte Mutter nur gehofft, er würde ganz zufällig mal einer werden und hatte ihn deshalb so genannt? Und ein Prinz? Was war dieser Titel schon wert! Politik! Noch mehr verdammte Politik! Sie hatte sich mit diesem wertlosen Warmfleisch noch nicht einmal unterhalten, wie es schien! Wusste sie überhaupt, wie er aussah? Wusste sie wenigstens das?! Wen kümmerte Lumiéls Fortbestand! Nationen waren Kartenhäuser im Sand der Zeit, sie kamen und gingen, wurden errichtet und verwitterten wieder. Wen interessierte schon das Schicksal einzelner Nationen! Und genauso dieser verdammte Bund. Iustus. Wer hatte sich diesen dämlichen Namen wieder einfallen lassen?! Ein Bund für die Gerechtigkeit. Pff, Blödsinn! Es gab keine Gerechtigkeit. Schon gar nicht mit der Involvierung diverser Staaten. Das alles war Politik und Politik verdarb alles, womit es in Berührung kam – hatte sie das nur immer noch nicht begriffen?! Hatte sie das immer noch nicht am eigenen Leib zu spüren bekommen? Spürte sie es nicht jetzt, hier, in diesem Moment, in dem Politik einfach schier alles ruinierte, was wirklich von Bedeutung war?! „Nein“, fauchte Ithildalin regelrecht und war selbst überrascht von der Aggressivität in seiner Stimme, „Nein, verdammt nochmal! Ich werde bei diesem Irrsinn ganz sicher nicht dabei sein und zusehen, wie du dein Leben wegwirfst, für irgendeinen dämlichen politischen Vorteil!“ Als er aufstand, geschah es ruckartig. Fast ein wenig zu energisch, hätte er doch beinahe noch den Tisch umgerissen – hätte er sich nicht ohnehin daran festgekrallt. Die Nebentische und ihre Gäste hatten genug Anstand, so zu tun, als hätten sie kein einziges Wort gehört und würden sich auch generell nicht für die Gespräche anderer interessieren – weshalb auch sie kein brauchbares Ziel für den noch immer rasenden Zorn in seinen Adern waren, den er an den Erstbesten mit einer Zielscheibe auf Stirn, Brust oder Rücken zu entladen gedachte. Er hatte sich ganze drei Schritte weit bewegt, als Sierras Stimme erklang. Zittrig, brüchig, schwach und leise. „Ich… habe Schnaps dabei.“ Die Anmerkung war so absurd, dass sie ihn tatsächlich einen Moment aus seiner Raserei herausriss und innehalten ließ. Ihm für die Dauer eines Herzschlages genug Raum und Abstand verschaffte, um wahrzunehmen, zu erkennen, zu begreifen. Er war weit davon entfernt, zu verstehen, was er ihr gerade angetan hatte. Oder mit der konsequenten Umsetzung seiner Entscheidung weiterhin antun würde. Aber er bekam eine Ahnung dessen, was hier gerade geschah, geschehen würde, geschehen könnte. Wenn er ging, würde sie ihn nicht mehr kontaktieren. Nie mehr. Und wenn er Informationen hätte… würde er sie denn noch kontaktieren? Direkt? Mit einem Treffen? Die Treffen waren nie wirklich notwendig gewesen. Er hätte auf sicheren Kanälen andere Nachrichten schicken können. Informationen schicken können. Nachdem sie ihn aus der Taschendimension entlassen hatte, Dinge geklärt und vereinbart worden waren… sie hatten sich getroffen, weil sie es wollten. Weil es eine schöne Tradition geworden war. Angenehm. Und jetzt? Sie würde heiraten. Irgendeinen wie-war-sein-Name-gleich-noch aus woher-auch-immer. Und er hasste ihn. Er hatte seinen Namen schon wieder vergessen, sein Herkunftsland, sein alles, ihn nie gesehen, nie kennengelernt und hoffte inständig, ihm nie zu begegnen. Es würde, ohne jeden Zweifel, die kürzeste Bekanntschaft aller Zeiten werden, beendet von einem vorzeitigen, unschönen Todeserlebnis. Und in jeder Version, die ihm binnen dieses Herzschlages einfiel, stand diese Barriere zwischen ihnen. Die pure, unweigerliche Existenz der Möglichkeit, das sie nicht allein käme, nicht allein war, dass sein Name im Gespräch fiel oder sie sich früher verabschieden musste, um sich um die gemeinsamen Kinder zu kümmern. Egal wie er es drehte und wendete. Diese Missgeburt von einem Warmfleisch würde ihm immer wieder in die Quere kommen. Und er konnte den Gedanken nicht ertragen. Es würde keine Treffen mehr geben, nie mehr. Das wurde ihm schmerzlich bewusst. Er hatte diese Entscheidung getroffen und sie hatte diese Entscheidung getroffen. Und jetzt stand er hier, sie saß neben ihm und bot ihm Schnaps an. Sie musste, musste einfach, mit dem vollen Wissen und Bewusstsein hier hereingekommen sein, wie dieses Gespräch laufen würde. Oder zumindest, wie es laufen konnte. Hatte sie geahnt, wie die Chancen standen? Wie lange hatte sie vor  der Tür im Regen gestanden, gezögert, die Hand an der Klinke, ehe sie sich überwinden konnte? Er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, in welchem Ausmaß ihre Kleidung durchnässt gewesen war, als sie hereinkam. Jetzt wünschte er sich, er könnte kurz zurück, nachschauen, sich vergewissern. Was die Erkenntnis geändert hätte, konnte er nicht sagen. Und dennoch erschien sie ihm so unendlich wichtig. Sie saß hier und wusste, dass das ihr letztes Treffen war. Hatte es vielleicht nicht zu Beginn gewusst, aber zumindest gewusst, dass es möglich wäre. Das dieser Ausgang wahrscheinlich wäre. Nun war es an ihm, eine Entscheidung zu treffen. Eine weitere. Vielleicht eine Letzte in Bezug auf sie beide. Wollte er wirklich, dass es so endete? Er, der ihr all seinen Hass entgegenschleudernd aufsprang und zornig ein Loch in ihr Herz und Leben reißend davonstampfte, in die Nacht hinaus? Sie, die hier saß, um Fassung ringend, vielleicht zusammenbrechend, nachdem er gegangen war? Wünschte er sich das wirklich als das Ende ihrer Bekanntschaft? Er zögerte lange. Sie hob den Kopf nicht, hob den Blick nicht, sprach nicht. Wartete einfach ab. Bis er sich, nach langer Weile, zurück auf seinen Platz begab und sich sinken ließ. Dies, so führte er sich in aller Bitterkeit vor Augen, war ihr letzter gemeinsamer Abend. Nein – er wollte ihn nicht in Streit, Hass und Geschrei enden lassen. Er bezweifelte, dass ein kleines Fässchen Schnaps daran viel ändern konnte, aber er war gewillt, ihrer Weisung zu Folgen. Ihrer Führung zu vertrauen, ein letztes Mal. Es wenigstens zu versuchen. Ihr zuliebe. Sich selbst zuliebe. Um ihrer beider Willen. Zwei frische Krüge waren rasch gebracht und Sierra bemühte sich um ein aufrichtiges Lächeln, als sie den Kopf hob und wieder zu ihm zu blicken wagte. „Danke“, erklärte sie leise. Wofür auch immer sie dankte. Nichts war gerettet, im Gegenteil. Aber vielleicht war dieses Wort sehr viel bescheidener gemeint. Vielleicht dankte sie tatsächlich nur dafür, dass er ein anderes Ende gewählt hatte. Ein Milderes. Ithildalin nickte lediglich und verfolgte, wie sie das Fass öffnete und die Krüge befüllte. Was folgte, war geradezu schmerzhaft. Sierra bemühte sich, unbefangene Themen anzuschneiden, ein Gespräch wieder ins Rollen zu bringen. Doch so sehr er sich bemühte, er konnte sich nicht recht seiner selbst erwehren. Er schnitt sie ab, würgte die Gespräche ab, führte sie auf ihre bevorstehende Trauung zurück. Er versuchte es, gab sich wirklich Mühe, aber es wollte ihm einfach nicht recht gelingen, die Unbeschwertheit wiederherzustellen, von der ihr Umgang miteinander sonst geprägt war. Er hatte seinen Krug nicht angerührt, sie ihren ebenso wenig, als sie nach kurzem Schweigen einen neuen, vielleicht letzten und eindeutig verzweifelten Versuch unternahm. „Was ist los, Häppchen – hast du den Mut verloren?“ Einen Moment wurde sie spürbar, sichtbar vorsichtig, als er den Kopf hob, ein bedrohliches, zorniges Funkeln in den Augen. Sie saßen hier, trotz allem, in einem Gasthaus mit dutzenden anderer Menschen, die Leben führten, Familien hatten und die er mit kaum mehr Zeit als einem Wimpernschlag würde töten können. Sie wurde sich im Angesicht dieses Anblickes des Umstandes schmerzlich bewusst. Ithildalin dagegen zögerte. Sie stichelte, wie sie es früher getan hatte. Als wäre nichts passiert. Sie hatte ihn sogar bei jenem Namen genannt. Ein Kosename, den sie sich irgendwann überlegt hatte, um ihn aufzuziehen. Er hatte sein eigentliches Ziel verfehlt, war aber dennoch irgendwie… haften geblieben. Er wog ab, sorgfältig. Er saß noch hier, weil er ihrem Versuch eine Chance hatte geben wollen. Weil er sich hatte bemühen wollen, ein weiteres, letztes Mal auf ihre Führung zu vertrauen. War das Heuchelei gewesen? Oder ehrlich? Denn wenn es ehrlich war… dann würde er das hier ebenso durchziehen müssen. Nach einem Moment holte er Luft – ein nach wie vor seltener und ungewohnter Prozess – und seufzte sie wieder heraus. „Ich fürchte, unsereins ist nicht mit so ausladendem Mut der Dummheit gesegnet, wie ihr und euresgleichen es seid, oh Paladin der Paladine, oh Paragon des Warmfleisches, oh edle Jungfer.“ Trotz der Holprigkeit des Gespräches zuvor, trotz der Holprigkeit dieses Gespräches, ja sogar dieses Satzes, gelang es ihm ein wenig, in seine ‚alte Rolle‘ zurückzufinden und etwas mehr Schauspielkunst hineinzulegen. Es war noch immer kläglich und leicht zu durchschauen, aber… es war ein Anfang. Mehr, als sie den ganzen Abend bisher zustande gebracht hatten. Und auf seine Erwiderung einsteigend, verzog sie das Gesicht. Er hatte sie sehr wohl damit aufziehen können, sie eine edle Jungfer zu nennen – in Anlehnung an eine berühmte Geschichte, in der ein einfaches Mädchen sich zur heiligen Kriegerin aufschwang, um ihre Heimat zu retten. Gesegnet von Mermerus höchstselbst und bewehrt mit Heiligenschein und schneeweißem Pegasus als Reittier. Zumindest Letzteres traf zu und der Heiligenschein fehlte vermutlich auch nur, weil Sierra sich im Zwiegespräch mit ihrer Gottheit sehr, sehr, sehr dagegen gewehrt haben musste. „Komm schon“, meinte sie dann bescheidener, zurückhaltender, „Lass uns trinken. Du erinnerst dich an Reva? Ich habe dir mal von ihr erzählt. Ein paar Mal sogar. Sie ist Alchemistin. Sie hat Zwergenschnaps als Basis genommen und ein wenig herumexperimentiert. Theoretisch… solltest du dieses Zeug trinken können. Du solltest dich sogar damit betrinken können.“ Sie wagte ein vorsichtiges Grinsen, als würde sie mit dem Fuß voran das Eis eines gefrorenen Sees im Spätherbst prüfen. Eine Braue skeptisch gehoben, blickte Ithildalin auf den Krug und dessen Inhalt. Es sah aus wie Schnaps, roch wie Schnaps und schwappte wie Schnaps. Wie gewöhnlicher Schnaps. Nicht wie eine Flüssigkeit, die ein Alchemist in den Händen gehabt hatte. Nun – angesichts des Umstandes, dass es wirklich schwer war, ihn umzubringen… permanent jedenfalls… gab es kein allzu hohes Risiko für irgendwas und damit keinen Grund, seiner Neugier nicht zumindest ein Stück weit nachzugeben. „Fein. Dann lass uns trinken.“ Von diesen wohlgewählten, wohlbedachten Worten an dauerte es kaum zwei Stunden, ehe er mit Sierra Seite an Seite saß, die Stühle herumgerückt, und lachend Geschichten aus alten Zeiten austauschte. Von ihrem ersten Zusammentreffen in der Kreuzwegfeste über den Moment, als Sierra ‚heimkehrte‘ und ihn dabei auffand, wie er neugierig in ihrer Wäsche herumwühlte bis hin zu ihrem ersten Wetttrinken, das immerhin vier Tage andauerte, ehe irgendjemand zu fragen wagte, wer von beiden eigentlich schummelte… ihre gemeinsame Vergangenheit war eine Fundgrube prächtiger Geschichten, die sich mit ein wenig Alkohol und viel Fantasie noch farbenfroher ausschmücken ließen. Entsprechend war es tief in der Nacht, als beide vom Wirt zusammen mit der letzten, kleinen Schar anderer Gäste hinausgekehrt wurden. Besagte Schar zerstob schnell in die vielen unterschiedlichen Richtungen von Samaras Straßen und auch sie beide fanden rasch ihren Weg abseits aller Hauptstraßen und damit fernab auch nur der geringsten Chance, auf nächtliche Gesellschaft zu treffen. Ihr Weg brachte sie ins Armenviertel der Stadt, nach Osten – zurück zu Ithildalins Teleportationspunkt. Dort standen sie einander eine ganze Weile zunächst schweigsam gegenüber, blickten zum leicht bewölkten Sternenhimmel hinauf und kommentierten gelegentlich die Wolkenformen, Wettervoraussichten und sogar eine Sternschnuppe. Keiner von beiden war naiv genug, sich von Letzterer etwas zu wünschen – selbst wenn sie die ihnen angedichteten magischen Fähigkeiten besäßen, so wären sie gewiss nicht die Ersten, die sie zu Gesicht bekämen. Der Abschied zog sich unweigerlich, sie zögerten ihn hinaus, doch konnten ihm ebenso wenig entgehen. Er wandte sich ihr dann zuerst zu. „Du weißt scho‘, das isch bäs-… bess-… guter bin als’n lausiger Prinz, nich?“ Sierra lächelte. Ein warmes, ehrliches, aufrichtiges Lächeln… und es war nur ein klein wenig traurig. „Ich weiß“, erwiderte sie. In sich selbst bestätigt, nickte er kräftig. Na immerhin das wusste sie und erkannte sie an. „Warum dann er?!“, quengelte Ithildalin. Die Traurigkeit in ihrem Lächeln wurde ein klein wenig prägnanter. „Weil du sehr, sehr… untot bist“, erwiderte sie noch leiser als zuvor. Dennoch vernahm er sie ob der völligen Stille der Nacht – und des Armenviertels insbesondere – laut und deutlich. Und quittierte ihre Antwort mit einem frustrierten Schnaufen. „Das’s alles?“, maulte er, seufzte dann jedoch. Er erwartete keine Antwort – und sie gab auch keine. Stattdessen beugte er sich zu ihr herab. Er schwankte zwar einen Moment und Sierra musste heiter auflachen, als er mit der Hand gestikulierend sein Ziel per Daumen anpeilte – wortwörtlich -, doch sie wurde rasch still, als er ihr einen Kuss auf die Wange setzte. Und noch stiller, als er seine kalten Lippen nur kurzzeitig von ihrer warmen Haut löste, um sie, um wenige Millimeter verschoben, wieder aufzusetzen. In drei, vier kleinen Sprüngen, vorsichtigen Hüpfern, tastete er sich zur Mitte vor. Sie stoppte ihn nicht. Sie wich nicht zurück oder aus, drehte den Kopf nicht fort… im Gegenteil. Sein letzter Sprung brachte ihn dazu, ihren Mundwinkel zu küssen und als er diesmal abhob, wandte Sierra sich ihm zu. Der Kuss, den sie teilten, war flüchtig. Kurz und knapp und oberflächlich und… er hätte keinen Sekundenbruchteil davon hergeben wollen. Ihre Lippen schmeckten nach Schnaps und Wärme. Nach Leben. Er wünschte sich, zur Not nachträglich der verdammten Sternschnuppe hinterhergeworfen, dass dieser Augenblick einfach einfrieren könnte. Als Untoter hatte er einige Erfahrung damit, in Situationen stecken zu bleiben und auf die geduldig und langsam arbeitenden Naturkräfte warten zu müssen. Er hätte diese Situation wiederum voll auszukosten gewünscht, doch nach nur kurzen Sekunden löste sich Sierra, hauchte ihm ein zittriges „Leb wohl, Häppchen“ zu und… war fort. Teleportation war nicht fair.   Viele Jahre zuvor. Er hatte immer gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Er hatte es gewusst und zu ignorieren versucht. Zu verleugnen versucht. Aber Zeit war unerbittlich. Und wie Sierra vor so vielen Jahren schon selbst treffend gesagt hatte: Er war der Untote… sie die Lebendige. Und es war das Schicksal allen Lebendigen, dem natürlichen Lauf der Dinge bis zu seinem unweigerlichen Ende zu folgen. Deshalb und deshalb allein lag sie auf diesem Bett, an dessen Seite er sich niederließ. Kein Feind hatte sie im Kampf getötet. Kein Gift, von Attentätern in ihr Essen eingebracht, hatte sie letztlich bezwungen. Nein, es war ganz schlicht und ergreifend das Alter gewesen. Das Alter zwang Sierra in die Knie. Oder vielmehr: Auf ihr Sterbebett. „Hey, holde Jungfer“, grüßte er sie. Es kostete Sierra sichtlich Mühe, die Augen zu öffnen. Sie hatte genug Kissen in ihrem Rücken versammelt, um halb sitzen, halb liegen zu können und dennoch schien allein das Aufschlagen ihrer Lider sie viel Mühe zu kosten. Altersflecken zierten ihre helle Haut, ihre Hörner waren noch ein Stück größer geworden, dunkler. Noch immer flackerte Energie in ihren goldenen Katzenaugen, doch sie war gedimmt. Von einem Leben mit Familie und Kindern und Verantwortung und Politik herabgedämpft. Gedimmt bis zum Glühen eines sterbenden letzten Funkens. Sie schnaufte amüsiert. „Hey, Häppchen“, erwiderte sie leise. Ihre Stimme klang rau, angestrengt. Er zog den Tonkrug mit Wasser vom Nachtschrank und gab ihr etwas zu trinken. „Woher wusstest du es?“, hakte sie nach. Nicht anklagend, sondern bemerkenswert… neutral. „Du glaubst doch nicht, das ich dich aus den Augen lassen würde, hm? Irgendwer muss aufpassen, dass du nicht in schlechte Urlaubsgebiete stolperst.“ Sie nickte, lächelte. Unausgesprochener Dank, unausgesprochen ausgeschlagen. „Ich habe etwas für dich“, flüsterte sie leise, „In dem Kasten unter dem Bett.“ Ihrer Anweisung folgend, zog er vorsichtig einen ziemlich eindeutig erkennbaren Instrumentenkasten hervor. Darin befand sich eine Violine, wie er feststellte, als er das Stück auf dem Schoß unter ihrem wachsamen Blick öffnete. „Ich… ich verstehe nicht ganz?“, hakte er nach, obwohl… das natürlich nicht völlig der Wahrheit entsprach, „Du konntest unmöglich wissen-“, hob er an und wurde von ihr jäh unterbrochen. „Du glaubst doch nicht, das ich deine Wachsamkeit nie bemerkt hätte, hm?“, schoss sie unvermittelt zurück. Es entlockte Ithildalin ein Lächeln. Kein selbstgerechtes Grinsen, kein freches Schmunzeln. Ein simples, schlichtes Lächeln. „Ich habe… ich habe gelernt, wie man diese Dinger baut, weißt du? Das da ist… ist die Letzte. Die Beste. Sie hat ein paar Schnitzer hier und da im Holz, wenn ich abgerutscht bin und du müsstest ab und an nachbessern, aber-“ „Sie ist perfekt“, unterbrach Ithildalin sie nunmehr mit einem Kopfschütteln. War es nicht bemerkenswert, wie sich einem die Kehle zuschnüren konnte, obwohl man nicht mal mehr darauf angewiesen war, zu atmen? „Aber ich schwöre dir bei dem Wenigen, das mir heilig ist, hier und jetzt eines: Ich werde sie für dich spielen, und nur für dich. Ich werde auf deinem verkrüppelten kleinen Amateur-Ding spielen, solange du schief und schräg dazu krächzt und es als Gesang zu verkaufen versuchst, hm?“ Sie lachte. Dann hustete sie. Der Übergang war fließend und der Husten hielt sie eine Weile mit Krämpfen gefangen, denen gegenüber er sich machtlos sah. Hilflos. Er musste zusehen, bis sie sich gefangen hatte und mit rasselndem Atem lächelnd den Kopf schüttelte. „Das wäre Verschwendung und schade darum – denn dann wirst du sie nie spielen.“ Ithildalin hingegen schüttelte vehement den Kopf. „Das werden wir ja sehen“, beharrte er eisern. Er blickte erst wieder auf, als ihre Hand sich auf seinen Unterarm legte. Schwach, zittrig, fleckig, faltig. „Mach keine Dummheiten“, bat sie ihn mit bemerkenswert durchdringendem Blick. „Du kennst mich“, erwiderte er schlicht. Sie nickte seufzend. „Eben drum.“ Einen Moment lang herrschte Ruhe. Keiner von ihnen schien wirklich sagen zu können, ob es eine betroffene, oder friedliche Stille war. „Ich wünschte“, begann sie nach einer Weile, „wir hätten einander unter anderen Umständen kennenlernen können. Ich glaube, ich hätte dich wirklich gemocht.“ Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Lüg nicht rum. Natürlich magst du mich. Du liebst mich. Abgöttisch. Du bist noch nie einem so gutaussehenden, charmanten, überwältigend intelligenten, gerissenen, dir ebenbürtigen… Lich begegnet wie mir.“ Wieder lachte sie. Wieder ging das Lachen rasch in Krämpfe und eine von Schmerzen verzogene Miene über. Wieder lächelte sie warm, als sie sich wieder entspannte. „Ja. Ja, das tue ich wohl“, merkte sie an. Und wieder senkte sich eine schwere, betroffene Stille über sie. Diesmal hatte Ithildalin es jedoch leichter, ihre Natur zu durchschauen. Es war die was-hätte-sein-können-Stille. Das gemeinsame Sinnieren über Möglichkeiten und Eventualitäten, die aufgrund der Umstände nie wirklich eine Chance gehabt hatten. Wieder war Sierra es, die das Schweigen nach einer Weile brach. „Du… wirst sie wieder aus der Paralyse befreien, oder?“ Ithildalin folgte ihrem Blick über seine Schulter hinweg zum Eingang des Zimmers. Dort lagen ein paar Hausangestellte. So wie er sie zurückgelassen hatte. So wie alle im Haus. Ohnehin war es vermutlich nur noch eine Frage der Zeit, bis einige sehr wütende und namenhafte Leute hier hereinstürmen würden. Dennoch zuckte er betont gelassen mit den Schultern. „Wenn du drauf bestehst, klar, warum eigentlich nicht.“ Sein Grinsen entlockte ihr ein Lächeln – und ein Kopfschütteln. Danach… schwiegen sie. Ihre Hand ruhte noch immer auf seinem Unterarm, als sie eingeschlafen war. Zwischenzeitlich hatte sie mit dem Daumen über seine Haut gestreichelt, als würde sie ihn beruhigen wollen. Vielleicht eine unbewusste Gestik. Sie spendeten einander Gesellschaft. Ruhe. Und Ithildalin vermutete, dass Sierra abschloss. Mit ihrem Leben. Mit jedem, der vorbei kam, um eine Weile hier an ihrem Sterbebett zu sitzen. Also auch mit ihm. Nur war er nicht bereit, mit ihr abzuschließen. Nicht bereit, nicht fähig, nicht willens. Es war, alles in allem, vielleicht dennoch nur knapp über eine Stunde, die er an ihrer Seite zubrachte, ehe er sich von ihr verabschiedete. Er gab Sierra einen Kuss auf die Stirn und die mühselige Arbeit begann, gut drei Dutzend Hausangestellte von den Folgen seines Eindringens zu befreien… Sierra starb noch in jener Nacht, im Kreise ihrer Familie und engsten Freunde. Und er, er war nicht dabei. Durfte es nicht sein.   Stattdessen kehrte Ithildalin in seine Festung zurück. Zumindest eine seiner Festungen, oder vielmehr: Seiner Laboratorien, die aus Gründen der Erfahrung und des Pragmatismus heraus zufällig mit sehr dicken Wänden und diversen, potenziell irreführenden, weiteren Gebäuden umgeben waren. Aramis, sein aktueller Leibwächter, informierte ihn eine Stunde nach Mitternacht über Sierras Dahinscheiden. „Es ist soweit. Eure Nemesis ist endlich gefallen. Sie hat ihren Dienst als Informantin erfüllt und ist den Weg alles Niederen gegangen. Soll ich Vorbereitungen treffen, damit ihr Ersatz auftreiben könnt?“ Aramis war, wie viele Wiedergänger vor ihm, einst ein fähiger Kämpfer gewesen. Taktisch versiert. Kein Stratege, aber ein guter Offizier und ein außergewöhnlicher Krieger. Nicht sonderlich empathisch allerdings, wie sich zeigte. Es kostete Ithildalin kaum mehr als eine Handgeste, um die Existenz des Wiedergängers zu beenden. Der Geist wurde der Rüstung entlassen, die nunmehr unmagischen Metallteile klirrten und klapperten zu Boden und die Kreatur, zu der Aramis verkommen war, wurde Ereshkigal entgegen geschleudert. Ein ungnädiges, undankbares Ende für eine eigentlich loyale Kreatur wie ihn. Vielleicht hätte er nicht ausgerechnet den Titel für Sierra verwenden sollen, den der ach so Hohe Rat der Lich ihr spottend zugedacht hatte, als man erstmals von Ithildalins Gefangennahme erfuhr. Er hatte dafür plädiert, Sierra am Leben zu lassen. Dafür, dass Xarak nicht von diesem misslichen kleinen Zwischenfall erfuhr. Denn immerhin war Sierra in politischen Geschehnissen involviert. Sie war eine aufstrebende Figur der Weltbühne, war eine gute Informationsquelle, war nützlich. Für den Rat hatte das genügt. Aber Sierra war, ohne es zu wissen, diesen Beinamen niemals losgeworden. Sie war die Nemesis Ithildalins. Das Schicksal seines Scheiterns und Versagens. Der Makel auf seiner sonst weißen Weste. Der Fehler im Lauf seiner Existenz. Schlechte Idee, Aramis…   Vor einigen Tagen. Ein schweres Klopfen an den Toren weckte die Aufmerksamkeit von Schwester Brigitte, die bis dahin in Gedanken versunken Unkraut aus dem Hausgarten zupfte und darüber sinnierte, wie dieser verdammte Kinderreim doch gleich ging. Einer der Patienten hatte ihn angestimmt, aber sie konnte sich auf Gedeih und Verderb nicht mehr an die weiteren Verse erinnern – dabei gab es sogar drei ganze Strophen, falls sie sich nicht völlig irrte…! Es gehörte zum Prozedere – der Sicherheit wegen, nur zur Sicherheit -, zunächst das Loch auf Kopfhöhe zu öffnen, um den Bittsteller sehen zu können. Nur für den Fall, das den Schwestern, die auf der Mauer als Spähposten fungierten, eine anrückende und eindeutig feindlich gesinnte Armee oder wilde magische Bestien irgendwie, irgendwie, entgangen waren. Schwester Brigitte war jedoch lange genug im Kloster Ilmwachts tätig, um zu wissen, dass das unnötig war. Die Bewohner des Dorfes waren friedliche Leute und sie lebten in guten, von Wohlstand geprägten Zeiten. Feindliche Armeen so tief im Sumpf… wozu? Und die Dörfler hätten ohnehin in solchem oder ähnlichem Falle längst Alarm geschlagen. Man hätte die Dorfglocke läuten hören, es wären verängstigte Flüchtlinge gekommen, vielleicht auch erste Verletzte. Als sie das Tor einen kleinen Spalt aufzog, noch immer mit kraus gezogener Stirn und einem abwesenden, höflichen Lächeln auf den Lippen, ahnte sie nichts Böses. Dann jedoch schob sich plötzlich rasch ein solide wirkender Stiefel in den Spalt und blockierte eventuelle Versuche, es einfach wieder zuzuziehen. Das vertiefte die Furchen auf ihrer Stirn und lenkte ihre geistigen Kapazitäten rasch und effektiv um. Ihr Blick wanderte an einem Elb herauf, der mit seiner schlichten, hellbraunen Lederrüstung und dem darunter ersichtlichen grünen Blättergewandt eigentlich einen recht hübschen Eindruck machte, wie ein Abenteurer oder- Dann aber ließ er kurzzeitig die Illusion fallen. Und Schwester Brigitte erlitt beinahe einen Herzinfarkt. Kreidebleich und zitternd wich sie sofort ein ganzes Stück von jener grässlich entstellten Kreatur zurück, die sie… für die Dauer eines Herzschlages hatte sehen können. „Schwester“, hob Ithildalin ernsten Tonfalls an, „Ich bin nicht hier, um euch zu verletzen. Versteht ihr das soweit?“ Sie nickte sichtlich verängstigt und entlockte ihm ein schweres Seufzen. Das würde nicht so leicht werden wie erhofft. „Ich könnte euch, eure gesamte Schwesternschaft, jeden Dörfler und sogar einschließlich den Magier in seinem Türmchen da drüben umbringen. Und es würde mich nicht einmal viel Mühe kosten. Versteht ihr das?“ Sie gab ein Wimmern von sich, nickte abermals. „Gut. Aber das will und werde ich nicht tun. Denn dafür bin ich nicht hier. Ich will und ich werde keinem etwas tun, solange mich keiner angreift und ich in Ruhe gelassen werde. Verstanden?“ Wieder ein Wimmern und ein Nicken. Er seufzte, fuhr jedoch fort. „Fein. Ich werde jetzt reinkommen. Ihr werdet mich zu einem eurer Altäre bringen. Oder Schreine. Oder Kultstätten. Oder was immer ihr zu Ereshkigals Gunsten errichtet habt, hm? Und dort werde ich mich hinsetzen und zu eurer Göttin beten. Ich habe etwas mit ihr zu besprechen. Und ich würde mir wirklich wünschen, dieses Gespräch im Privaten führen zu können. Ich wäre im Zuge dessen dankbar, wenn ihr mir eines eurer Gebetsbücher ausleihen könntet und wenn niemand auf die Idee käme, mich mit heiligem Wasser übergießen, anzünden, aufspießen, aufschneiden, zertrümmern, wegbeten oder sonstwie meiner kostbaren Nerven und Geduld berauben zu wollen. Ist das etwas, das ihr zunächst mit eurer Oberin besprechen wollt?“ Völlig verwirrt kombinierte sie zunächst Nicken und Kopfschütteln, einigte sich dann jedoch auf ein weiteres Nicken. „Fein. Dann werde ich hier solange warten, bis ihr zurück seid. Und glaubt mir: Ich habe Geduld.“ Sie nickte abermals… und Ithildalin zog den Stiefel aus dem Tor und drückte es zu. Es vergingen Stunden, ehe das Tor sich wieder öffnete. Oh er hatte Geduld, ja. Dennoch drang ein gequältes „Na endlich!“ leise aus seiner Kehle, als er sich vom kalten Steinboden erhob, sich den Hintern kurz abklopfte und wieder zum Tor trat. Die gesamte Schwesternschaft stand dort im Hof versammelt, mit Wasserkrügen neben sich, hinter Steinsäulen in Deckung, mit Armbrüsten im Anschlag und… das waren die lächerlichsten Rüstungen, die er je gesehen hatte. „Ihr seid die Oberin?“, erkundigte er sich bei der Dame in auffällig anders  geschnittener Robe. Sie nickte ihm kommentarlos zu und wirkte generell sehr… ernst. Nun, wirklich verdenken konnte er es ihr nicht. „Ist euch meine Bitte überbracht worden?“ „Eure Drohung, vielmehr“, schoss sie zurück. „Nein – Bitte. Darauf bestehe ich. Ich bitte euch um ein Gebetsbuch und einen eurer Schreine, an dem ich mich ungestört zurückziehen und mit eurer Herrin Zwiesprache halten kann.“ Es klang so absurd. So lächerlich. So peinlich! Wenn Sierra je davon erführe… doch Sierra war tot. Seit Jahren schon. „Ihr hofft also unser Kloster zu entweihen?“, warf die Oberin ihm prompt vor. So viel Engstirnigkeit war wirklich bemerkenswert – und frustrierend. „Wie ich eurer Schwester schon sagte: Wenn das meine Absicht wäre, hätte ich nicht die Höflichkeit, hier zu klopfen, um Einlass zu bitten, mich euch vorzustellen und dann ein paar Stunden zu warten, um die ganze Prozedur zu wiederholen.“ „Bereut ihr also eure Sünden, eure frevelhafte Existenz und wünscht sie zu beenden?“, stieß die Oberin direkt nach. Das… brachte ihn kurz ins Stocken. Natürlich war es die passiv-aggressive Andeutung, dass sie ihm da mit sehr viel Weihwasser und Bolzen nachhelfen könnten, sie täten es sogar wirklich gerne. Selbstlos, wie sie waren. Doch darum ging es nicht. „Vielleicht. Das wird sich zeigen. Für den Moment nur das, worum ich bat.“ „Und welche Garantie habe ich, das ihr euch nicht-“ „Keine, natürlich!“, unterbrach er frustriert, „Ihr habt keine Garantie, ihr bekommt keine Garantie und überhaupt ist mein guter Wille alles, was aktuell zwischen euch und einem Scheiterhaufen steht, weil man sich nicht traut, euch in Massengräber zu schaufeln – ihr könntet ja wieder aufstehen! Hört zu: Ich habe etwas mit eurer Herrin zu klären. Ich habe zu ihr zu sprechen versucht, aber oh Wunder: Sie scheint mir irgendwie nicht zuzuhören. Also würde ich es gerne hier mit eurer Unterstützung versuchen. Bis zu diesem Moment sollte euch bewusst geworden sein, das ich nicht unbedingt der gewöhnliche Untote bin, das hier nicht unbedingt gewöhnliches Untoten-Verhalten ist und damit sich vielleicht, aber auch nur vielleicht, die einmalige Chance für euch und eure Schwesternschaft bietet, bei etwas Großem und Gutem teilzuhaben! Lasst ihr mich jetzt wohl gottverdammt nochmal endlich rein, damit ich beten kann?!“ Eine ganze Weile bedachte die Oberin ihn kritisch und sichtlich unbegeistert, ehe sie ein Buch hervorzog und ihm reichte. „Kein Fluchen auf die Götter“, mahnte sie ihn strengen Tones. Und kurz darauf wurde er tatsächlich zu einem Altar begleitet. Von jeder einzelnen Schwester des Klosters, wie es schien. Alle bewaffnet und gerüstet. Ob der gesamte Korridor vor seinem Betraum nun voller Kriegsnonnen war…? Die Vorstellung amüsierte ihn einen Moment. Dann jedoch kniete er sich hin. Glücklicherweise brachte es seine Vorteile mit sich, untot zu sein. Er spürte keine Schmerzen und konnte sich schlecht das Blut abdrücken. Also konnte er knien, so unbequem und lange er nur wollte. Ithildalin schlug das Buch auf und begann zu lesen. Bei diversen Reimen verzog er gehörig das Gesicht und entschied, sie zu überspringen und lieber andere Strophen zu rezitieren. Er wollte sich nicht bekehren lassen oder bekehrt geben. Die Götter hassten ihn, er hasste die Götter, das war alles fein und völlig in Ordnung so. Aber er hasste es noch mehr, ignoriert zu werden. Er wollte verdammt nochmal reden – und sie würde zuhören und sie würde antworten! Er hatte Geduld. Zur Not hatte sie seine Gebete für den Rest der Ewigkeit im Ohr, jawohl!   „Sprich.“ Das Wort war körperlos. Klang gleichgültig, auch wenn es das ganz gewiss nicht war. Und erklang schon wenige Tage, nachdem er zu beten begonnen hatte. Endlich, endlich, endlich hatte sie ihn erhört. Unter einem Seufzen richtete sich Ithildalin auf, klappte das Buch zu und legte es tatsächlich sogar recht behutsam auf dem Schrein ab. „Gut, um eins klarzustellen: Du magst mich nicht, ich mag dich nicht, fein. Aber du wirst mir bei etwas helfen. Genauer gesagt: Du wirst etwas für mich tun.“ Vielleicht war es nicht unbedingt seine beste Idee gewesen, seine Eröffnungsrede damit zu beginnen, das er Forderungen an eine Gottheit stellte, die ein sehr spezielles Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte, wie man so schön sagte. „Sprich“, wiederholte sie dagegen nur. „Du wirst es den aktuellen Anführern des Iustus-Bundes ermöglichen, mit Sierra zu sprechen. Sie haben ein paar talentierte schwarznekromantische Hexer in ihren Reihen, die das schon versuchen, seit sie gestorben ist. Der Bund… er zerfällt nicht, noch nicht. Aber er bekommt gerade ziemlich den Arsch versohlt. Sie brauchen Sierras Führung und Anleitung. Das mag dich nicht sonderlich interessieren, klar, Göttin des Todes, Gleichgültigkeit und so weiter. Aber es interessiert mich. Was wirklich traurig genug ist. Zweitens: Du wirst Sierra zu einem späteren Zeitpunkt wieder zum Leben erwecken. Du holst sie aus dem Totenreich zurück, bastelst ihr irgendwie ihren knackigen, frisch hundertjährigen Körper zurück und steckst ihre Seele da wieder rein! Und drittens: Keine Angst, ich will nicht, dass das für alle Ewigkeit ist. Ich kenne dich und deine Predigten gut genug, um zu wissen, dass du auf alles allergisch reagierst, was das Wort ‚ewig‘ enthält. Also machen wir’s stattdessen so: Du holst Sierra zurück, mit ihrem eigenen Körper, allem drum und dran. Und du belebst mich wieder. Du zerrst meine Seele aus dem Abyss zurück. Du regenerierst meinen Körper ebenso und steckst meine Seele wieder hinein. Und du gibst uns beiden einhundert Jahre, die wir ganz normal leben können. Gut, meinetwegen auch sterben, falls wir uns von Löwen durchkauen lassen oder es für eine gute Idee befinden, in Lavagruben zu springen. Aber kein natürlicher Tod wird eintreten vor der Marke von einhundert Jahren!“ Eine ganze Weile herrschte bemerkenswert gespenstische Stille, ehe Ereshkigals körperlose Stimme sich erneut meldete. „Und warum sollte ich dergleichen tun?“ Mit einem Schlag wuchs ein unerträglich breites, selbstsicheres, vor allem aber selbstzufriedenes Grinsen auf den Lippen des Lichs. Sie hatte angebissen! Der Preis, den er forderte, war vermessen. Regelrecht unverschämt. Ithildalin wusste nicht einmal, ob die Göttin des Todes überhaupt fähig war, eine Seele aus dem Nachleben zurückzubringen. Ob sie fähig war, einen Körper zu formen, wie er schon einmal bestanden hatte. Ob sie fähig war, einen Untoten seiner Preisklasse wieder zurückzubringen, zu regenerieren, Xaraks Einfluss zu entreißen. Er wusste nicht, ob sie zu irgendetwas davon fähig war. Das war natürlich ein Risiko – die Götter waren sich, glaubte man diversen Erzählungen, im Zweifelsfall nicht zu fein, um einfach zu lügen. Aber Absicherungen konnten geschaffen werden. Und hier und jetzt ging es erst einmal nur darum, die Verhandlungen zu beginnen. Und das hatte er offenbar soeben geschafft. Sie hatte angebissen, sie war von der Vermessenheit seiner Forderungen beeindruckt und war nun neugierig, wollte wissen, was er dafür bieten konnte und… oh, nun, Ithildalin war sich sehr sicher, dass das, was er zu bieten hatte, diesen Preis wert war. Diesen Preis und eigentlich noch weit, weit mehr. „König Xaraks Kopf auf einem Silbertablett“, platzte er breit grinsend hervor, ehe er ein nervöses „sprichwörtlich“ nachschob. „Erkläre!“, verlangte Ereshkigal daraufhin sehr viel drängender und weit weniger gleichgültig als zuvor. Oh und wie sie angebissen hatte…! „Ich gehöre vielleicht nicht zum Hohen Rat – aber ich bin der, der die Entwicklungen in seiner Armee maßgeblich vorantreibt. Ich bin die treibende Kraft geworden, die neue Schöpfungen hervorbringt. Ich bin der, an den man mit kritischen Projekten und neuen Anforderungen herantritt. Ich habe meine Konkurrenten ausgemerzt, ausgestochen, übertrumpft und ausgespielt. Ich bin der brillante Verstand hinter zahllosen Neuschöpfungen untoter Kreaturen, die dir und allen anderen auch das Leben so schwer machen. Und gerade weil ich so gut darin bin und meine Schöpfungen euch das Leben so schwer machen, habe ich mir eine unikate Position erarbeiten können. Der Hohe Rat delegiert, er berät, er intrigiert, aber sie können sich nicht gegen Xarak richten – so wenig, wie sie es je versuchen oder auch nur wollen würden. Ich dagegen bin kein Teil des Hohen Rates, aber ich habe eine Vertrauensposition inne. Mein Rat wird nicht nur gehört, er wird erbeten. Ich kann ihn in eine Situation bringen, die es euch ermöglicht, ihm, seiner Existenz, seinem Reich, seiner Armee, einfach jedem Untoten unter seinem Einfluss, ein Ende zu bereiten. Endgültig.“ „Wie?“, verlangte die Göttin natürlich sofort zu wissen. Und das Grinsen wurde breiter. Er hatte seinen Preis so gut wie in der Tasche. Sierra, ich sagte es dir doch: Wir werden sehen! „Oh, hast du schon mal von den Flüsterklippen in Arvum gehört? Bemerkenswerte arkane Eigenschaften. Lass mich dir eine lustige kleine Anekdote dazu erzählen und dann können wir darüber reden, wie sehr ich mich gerade von dir über den Tisch ziehen lasse, weil alles, was ich im Gegenzug fordere, ein paar läppische und ohnehin begrenzte Jahre mit einem einzelnen, obendrein tief respektvollen und gläubigen Tiefling sind…!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)