shaping fate von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 8: Schutzgeist ---------------------- Der Geruch von Blut lag in der Luft. Immer wieder war es zu hören, das Reißen von Muskelfleisch und Sehnen, das feuchte Schmatzen, wenn wieder ein Brocken herausgetrennt, ein weiteres Organ entnommen wurde. Das Bersten von Knochen, wenn jemand zu ungeduldig war. Es war immer schade um die Knochen – ein schöner Werkstoff, mit dem sich so viel mehr anfangen ließ als ihn einfach nur auf diese banale Weise zu verschwenden. Der Duft war betörend, verlockend, verheißend. Wie der eines Weibchens in seiner paarungsbereiten Phase. Vielleicht… nicht ganz so stark. Denn was die Weibchen taten? Das grenzte im Grunde schon an Magie. An Manipulation des Geistes durch Auftreten, Stimmlage, Bewegung, Geruch. Er musste unweigerlich an Saris‘ Geruch denken. Und damit einhergehend zwangsläufig auch daran, dass er sie niemals haben würde. Niemals nehmen durfte. Es war ihm verboten. So wie ihm verboten war, sich dem geselligen Treiben anzuschließen, selbst zuzulangen, Fleisch zu reißen und die Beute zu fleddern. Er hatte sich an der Jagd beteiligt wie jeder andere des Rudels auch, oder nicht? Es stand ihm zu, verdammt nochmal! Vorsichtig näherte er sich ein paar Schritte. Keine Reaktion. Noch ein paar Schritte. Erste Köpfe hoben sich dann und wann, blickten ungnädig funkelnd in seine Richtung, ehe sie ihn mit der Warnung im Hinterkopf sich selbst überließen und ihre Tätigkeiten fortführten. Aber die Warnung war nicht eindeutig genug gewesen – redete er sich jedenfalls ein. Hier, so nah am Ziel, war der Geruch stärker, der Anblick verführerisch. Wasser lief ihm im Maul zusammen. Es stand ihm zu, flüsterte ein Stimmchen in seinem Hinterkopf unentwegt, er hatte es sich verdient, wie alle anderen – wenn nicht sogar noch mehr als sie! Und war es nicht wahr? Er war der Aussätzige. Er war der Andersartige. Das Rudel mochte ihn aufgenommen haben, gewiss. Sie tolerierten seine Präsenz und in aller Regel versuchte niemand, ihn umzubringen. Doch wirkliche, wahrhaftige Aufnahme, Akzeptanz, sah anders aus. Er musste jedes Mal wieder, egal bei welchen Aufgaben, die anfielen, doppelt und dreifach so viel leisten und arbeiten, um sich den gleichen Anteil zu verdienen wie die anderen. Das war nicht fair. Schritt. Einfach nicht gerecht. Schritt. Er verdiente- Ein Schritt zu viel. Mehrere Mitglieder des Rudels fuhren in fließenden Bewegungen herum und stürzten sich auf ihn. Er war gut in dem was er konnte – und einen Gegner erschöpfen gehörte definitiv dazu. War vielleicht sogar seine ganz persönliche Königsdisziplin. Er war agiler als alle anderen. Geschickter. Wendiger. Einfach rundherum schneller. Ganz zu schweigen davon, dass er im Fall vieler der anwesenden Rudelmitglieder auch schlicht, nun, klüger war. Aber all das konnte ihn nicht davor bewahren, zahlenmäßig unterlegen zu sein. Solange er nicht die Flucht antrat und den Umstand nutzte, schneller als alle anderen zu sein, so lange konnte er diesen Kampf nicht gewinnen. Und er wollte nicht aufgeben. Nicht unterliegen. Nicht einsehen. Nicht schon wieder. Also endete es, wie es enden musste – er eine zerbissene, zerkratzte, blutüberströmte Kreatur am Boden, ein halbes Dutzend seines eigenen Rudels über sich, die ihn gerade kaum rücksichtsvoller behandelten als die Beute, die wenigstens schon tot war. „Genug!“, donnerte eine Stimme. Nur etwa die Hälfte der im Jagdtrieb und Blutrausch befindlichen Rudelmitglieder gehorchte. Entsprechend… folgte ein durch Mark und Bein dringendes Brüllen. Ehrfurchtgebietend. Einschüchternd. Der allumfassende Donner, der Takiffs Stimme war, ließ selbst die tief in ihrem Zorn versunkenen Mitglieder schreckstarr innehalten und zu ihm aufschauen. Der Rudelführer trat zu ihnen herüber. Und innerlich seufzte das gemarterte Opfer bereits. Er wusste, was folgen würde. Und hasste es inbrünstig. „Hast du noch immer nicht gelernt, wo dein Platz ist, Chacham?“, rügte der Takiff beinahe schon nachsichtig. Doch in seinen Augen funkelte eine Drohung von tödlichem Ernst, „Vielleicht sollte ich dich daran erinnern: Am Schluss. Am Ende. Hinten. Als Letzter.“ Er verzog die Schnauze. Ein Auge war zugeschwollen, Blut sickerte hinein. Irgendwo war ihm der Bauch aufgerissen worden. Es war schwierig, den Worten zu folgen, während er sein Blut aus unzähligen Wunden sickern spürte. Und dennoch wollte er sich wehren, als das Oberhaupt seines Rudels an ihn herantrat. Die muskulöse, eindrucksvolle Gestalt, der so viele Weibchen nachlechzten, beugte sich vor, grub die Krallen seiner Pranke in einige Kratzwunden auf seiner Brust. „Erinnere dich deines Platzes – das nächste Mal bin ich vielleicht nicht da, um dich zu retten“, mahnte Takiff eindrücklich. Eine Welle aus Licht und Wärme fuhr durch Chachams Leib. Organe regenerierten, Fleisch fügte sich zusammen, Haut wuchs nach. Alles wurde geheilt. Alle Schäden und Wunden, die seine Rudelmitglieder ihm in ihrer Raserei zugefügt hatten. Alles – außer den Punktierungen, die Takiffs Krallen auf seiner Brust hinterließen. Denn die zog er erst heraus, als er genug Heilmagie gewirkt hatte, um seinen restlichen Körper wieder in einen einsatzfähigen Zustand zu bringen. Diese Wunden aber würden natürlich abheilen müssen. Sie würden vernarben. Als Symbol. Erinnerung. Zeichen seines Versagens, sich in die bestehende Hierarchie einzufügen. Wie gut, dass er davon bisher davon bereits einige Dutzend hatte. Irgendwann würde diesem selbstgefälligen Scheusal gewiss der Platz ausgehen. Um den Anblick der ernsten, konzentrierten Schnauze, umgeben von kurzhaarigem, stoppeligem Fell und einer ausufernd üppigen Mähne, nicht länger ertragen zu müssen, schloss Chacham die Augen und ließ das Unvermeidliche über sich ergehen. Als Takiff fertig war und seine Klaue zurückzog, verzog er nur kurz die Schnauze. Er öffnete die Augen erst, nachdem ihm eine letzte, überflüssige Mahnung zugekommen war und die Geräusche des Reißens und Zerrens, Beißens und Berstens wieder eingesetzt hatten. Langsam richtete er sich auf und seufzte beim Anblick seines Fells. Blutverklebt an unzähligen Stellen. Das Herauszuwaschen würde… interessant werden. An einige Stellen war schwer heranzukommen. Irgendwer hatte sich offenbar tatsächlich zwischenzeitlich in seinem Hintern verbissen. Was er davon wohl halten sollte? Der Versuch, sich selbst zum Schmunzeln zu bringen, sich aufzumuntern, schlug hoffnungslos fehl. Stattdessen saß er dort, beherrschte sich, sah den anderen zu. Während sein Kopf von sprichwörtlichen Gewitterwolken umgeben schien. Erst Stunden später – mindestens dem Gefühl nach -, erlaubte man auch ihm, sich der Beute zu nähern. Es war kaum noch etwas übrig. Ganz zu schweigen davon, dass irgendetwas davon sonderlich ansprechend aussah. Er bekam, wie immer, die Reste.   Frustriert kehrte er heim. Das Maul blutig und ein seltsamer, unangenehmer Nachgeschmack im Mund. Er wollte wirklich nicht darüber nachdenken, woher der stammte. Stattdessen schloss er die Tür des prunkvollen Anwesens hinter sich. Es gab schöne Häuser. Es gab luxuriöse Häuser. Und dann gab es das hier. Im Grunde hätte man Takiffs Haus bereits als halben Tempel bezeichnen können. Natürlich stand ihm als Rudelführer zu, sich einen gewissen Lebensstandard zu gönnen. Seine erarbeitete Überlegenheit zu demonstrieren. Auch, wenn Chacham so seine Zweifel hegte, wieviel davon wirklich legitim als erarbeitet bezeichnet werden durfte. Fakt war dummerweise, dass er vom Rudel lediglich aufgenommen worden war. Er gehörte nicht dazu, hatte es nie wirklich getan. Etwas, das viele Mitglieder des Rudels nur zu freudig immer wieder in Erinnerung brachten. Und hätte irgendwer anders als Takiff selbst ihn aufgenommen, wäre er inzwischen längst tot. Er und nur und ausschließlich er allein durfte in solche Kämpfe eingreifen. Kämpfe, in denen Chacham immer wieder unterlag. Er war kein Leonal wie die anderen. Es fehlte ihm an Kraft, um sich zu behaupten. Sicher, er konnte gut ablenken, antäuschen, beherrschte viele clevere Manöver und Tricks und List – aber am Ende kam es immer darauf an, wer kräftiger war. Sein Körper war grazil, geschickt,… fragil. Er war ein Renner, Späher, Sprinter, Kundschafter, Treiber, Lockvogel. So viele Rollen. Aber nicht die, die er sich wirklich wünschte. Seufzend begann er sich im Bad Wasser einzulassen. Rasch stieg der Dampf auf, als es immer heißer wurde, beschlugen die Scheiben, die Tonfliesen. Ein paar Öle, die Seife bereitgelegt und er stieg in das beinahe schon schmerzhaft heiße Badewasser. Ein kehlig knurrender Laut begleitete den Moment, bis er zu einem wohligen Schnurren verkam und völlig erstarb. Bis auf Nasenhöhe ließ er sich einsinken. Genoss die Hitze, die in ihn eindrang. Die sanften, unaufdringlichen Gerüche der Öle, die ihre Arbeit taten. Genoss sogar das Brennen der Wunden an seiner Brust. Mit etwas Glück konnte er all das Blut wegwaschen und sein Fell etwas… umbrüsten. Vielleicht würde man dann nicht einmal mehr Spuren seiner neusten Errungenschaft sehen können. Wenigstens für eine Weile. Es mochten wohl an die zwei Stunden sein, die er das zunehmend, aber langsam auskühlende Wasser genoss. Dann hingegen sog seine Nase einen neuen Geruch ein. Zwei sogar. Die Schnauze verziehend, hob er sich aus dem Wasser, wischte sich mit seinen Tatzen die Reste der Flüssigkeit aus den Augen und blinzelte im Raum umher. Saris stand nicht weit entfernt, die Pranken in die Hüfte gestemmt und einen vorwurfsvollen Blick in seine Richtung schleudernd, als wäre es ein Feuerball. Er wusste, was jetzt kommen würde. Schon wieder. Denn wirklich: Es war ja nicht das erste Mal, dass er in dieser Situation war. Und bislang hatten sie sich als sehr berechenbar erwiesen. Folgten Mustern und Routinen. Sie würde ihn nun mit ernster, harter Stimme belehren. Darüber, wie dumm es war, sich mit dem Rudel anzulegen. Dass es ihm, als einen lediglich aufgenommenen Außenseiter, nicht zustünde, die Hierarchie in Frage zu stellen. Ganz zu schweigen davon, sich in ihr einen besseren Platz erarbeiten zu wollen. Sie würde irgendwie einen Weg finden, es so zu drehen, dass es ganz danach klang, dass sie sich einfach nur um ihn Sorgen machte. Und er würde ihr glauben, wie immer. Weil er das wollte. Weil er wirklich glauben wollte, das ihr etwas an ihm lag. Nicht genug vielleicht, ihn zum Partner zu wählen und seine Jungen zu gebären, aber zumindest genug, um ihn immer wieder aufs Neue zu mahnen, zu belehren und danach an seiner Seite zu sitzen und mit weicher, warmer Stimme voller Zuneigung auf ihn einzureden, dass er ein Idiot sei. Es war das Beste, was er haben konnte. Er würde nicht ausgerechnet jetzt anfangen, wählerisch zu werden. Dann jedoch… erwog er es zumindest. Denn da war auch dieser andere Geruch. Er hüllte Saris ein. Ihre schlanke, zähe Gestalt war ein wahrer Augenöffner. Sie sonnte sich oft genug in der Aufmerksamkeit, die sie bekam. Wissend, dass keiner wagen würde, sie zu berühren. Chacham hatte nicht genug Glaube und Verzweiflung übrig, um sich auch noch erfolgreich einzureden, dass es bei ihm anders wäre. Sie wusste auch um seine Vernarrtheit und sie kostete sie ebenso aus wie die aller anderen – es gab keinen Unterschied. Er war diesbezüglich nichts Besonderes. Das war eben einfach, wie die Dinge waren. Doch heute… heute hatte er keine Lust. Er hatte keine Lust, sich ihre immer gleichen Reden anzuhören, oftmals sogar ähnlich formuliert, ähnlich strukturiert. Hatte keine Lust, sich für etwas rügen und belehren zu lassen, das nicht seine Schuld war. Hatte keine Lust, sich zurücksetzen und schlechter behandeln zu lassen. Keine Lust, Takiffs Herrschaft zu akzeptieren. Die Hierarchie zu respektieren. Er hatte keine Lust auf ihren mitleidigen Blick und ihre wohlmeinenden Worte. Gerade, als sie ansetzte, kam er ihr rasch zuvor. „Du stinkst nach Takiff.“ Und wie sie das tat! Es war eine regelrechte Wolke, die sie mit sich herumtrug. Verdutzt hielt Saris inne. Er hatte sie erfolgreich aus dem Konzept gebracht. Sie brachte ihre Schnauze kurz an ihr Fell, sog die Luft ein. Allein, wie ihre Augenlider in frischen Erinnerungen kurz herab flatterten und ein leises, aber dennoch nicht leise genug gemachtes Schnurren ihrer Kehle entrang, rief mehr Ekel in ihm hervor, als er sich je hatte vorstellen können. Sie mochte es. Sie fühlte sich wohl damit. Es war, wie die Dinge immer gewesen waren. Und er hasste es. „Du bist jetzt seit über fünfhundert Jahren bei uns. Du solltest wirklich langsam gelernt haben, wie die Dinge laufen“, rügte sie noch immer sichtlich aus dem Konzept gebracht und – er verzog erneut die Schnauze – noch immer sichtlich angetan von ihren Erinnerungen. „Habe ich. Ich find’s da nur nicht sehr angenehm“, schoss er unerwartet finsteren Blickes zurück. Selbst Saris bemerkte die Veränderung zum sonstigen Ablauf und musterte ihn eindringlich. „Komm bitte nicht auf dumme Ideen, ja? Du bist ihm nicht gewachsen. Keiner im Rudel ist das. Deshalb ist er in der Position, in der er ist und hat, was er eben hat.“ „Dich, beispielsweise.“ Die Erwiderung kam schneller, als er darüber hatte nachdenken können. Und er bereute den beinahe schon trotzigen Ton in seiner Stimme mehr als alles andere. „Ja. Beispielsweise“, gab sie zurück. Die Stimme warm, der Blick… mitleidig. Nun bereute er ihren Blick, irgendwie, mehr als seinen Tonfall. „Ich will ihm nicht die Führung streitig machen“, versicherte Chacham ernst, „Ich wünschte nur, ich wäre ein echter Teil des Rudels. Nicht einfach nur das kaum geduldete Anhängsel des Anführers. Ich spähe besser als alle anderen, laufe schneller als alle anderen, bin geschickter, wendiger als alle anderen!“ Seufzend trat Saris zu ihm herüber, ließ sich auf dem Rand der Wanne nieder. Der Geruch Takiffs war nun um soviel stärker und er musste sich beherrschen, nicht davon zu würgen. Ohne jede Berührungsscheu glitt Saris Tatze ins Wasser, zeichnete eine ihrer Krallen vorsichtig und langsam die Musterung seines Felles nach. Eine Vielzahl zweiteiliger schwarzer Flecke, an ein oder zwei Stellen jeweils unterbrochen, sodass sie keinen Kreis formten. Das Innere von einem hellen Braun geziert, während die Grundfarbe seines Fells doch eigentlich Weiß war – am Bauch, allemal. Sein Rückenfell hatte einen stärkeren Gelbton, fast schon ins Orange abdriftend. Und er war, für die Dauer des Augenblickes, froh so viele dieser Musterungen zu besitzen. Saris zog mit ihrer Kralle einige davon fast schon verspielt nach und selbst Takiffs penetranter Gestank vermochte ihm diesen Moment nicht zu vergällen. „Du magst es in Zweifel ziehen, aber wir sind froh, dich zu haben. Deine Talente, allesamt. Deinen klugen Kopf. Weder Takiff noch die Rudelmitglieder sind wirklich gut darin, dir ihre Wertschätzung zu zeigen, aber… du wirst geschätzt. Es ist nur…“ Für einen Moment hielt sie inne, stoppte auch das Nachzeichnen seiner Fellmuster. Ließ ihm gerade genug Zeit, dass ihre Worte seinen Verstand erreichen konnten. „Chacham, du bist nunmal keiner  von uns. Wir geben uns Mühe, wir alle, dich so gut wie wir nur können in unsere Gesellschaft einzugliedern, aber letztlich bist du ein Findling. Wir können, dürfen nicht zulassen, dass du dich in der Hierarchie hocharbeitest. Dass du auch nur einen Kampf darum bestreitest. Du weißt es selbst besser als ich: Du bist schnell und wendig, aber wenn es darauf ankommt, einfach nicht sehr stark. Bei einem echten Rangfolgekampf dürfte Takiff nicht eingreifen. Und du würdest sterben. Willst du das denn wirklich?“ Saris wartete nur eine kurze Weile auf Antwort. Er war zu sehr in Gedanken, als das er darauf hätte reagieren können. Und missverständlich nahm sie das als gutes Zeichen, lächelte, ließ ihn in der Wanne zurück und… wusch sich hoffentlich. Auch wenn er das bezweifelte. Vermutlich rollte sie sich stattdessen in ihrem Schlafzimmer über die Bettdecken und Laken, rieb seinen Gestank an alles dran, was sie finden konnte. Es hieß im Grunde nur, dass er sich die nächsten Tage vom Westflügel des Anwesens fernhalten würde – aus Respekt und Rücksicht für seinen Appetit.   Wieder und wieder gingen ihm an jenem Abend Saris‘ Worte durch den Kopf. Seine Talente wurden geschätzt. Sein kluger Kopf. Aber war er nur das? War er wirklich nur sein Verstand und die Summe seiner Fertigkeiten? Er mochte die Farbe Gelb. Er schlief gerne lange aus und wälzte sich nach dem Aufwachen noch im Bett herum, ehe er wirklich aufstand. Er hasste es, wenn etwas zwischen seinen Zähnen klemmte und verstand nicht, wie andere das ignorierend einfach den ganzen Tag herumlaufen konnten, weil es sich irgendwann, irgendwie, spätestens bei der nächsten Mahlzeit, schon von alleine klären würde. Er liebte es, zu essen – aber er war wählerisch. Und litt oft genug Hunger, weil man ihm kaum etwas übrig ließ. Immerhin war er dürr und zäh, kaum Muskeln – wofür sollte sein Körper all die Energie also schon benötigen? Er machte sich diese Gedanken wieder und wieder, wälzte sie wie ein faules Stück Fleisch auf der Zunge umher, als müsse er sich erst noch darüber klar werden, ob er es wirklich ausspucken wollte. Derweil saß er, wie viele Abende, vor Takiffs Spiegel. Die wundervoll verzierten, gravierten Knochen formten ein großes Oval in dessen Mitte Wasser Glas ersetzte. Die Knochen waren Trophäen, allesamt. Jeder Einzelne ein Bestandteil großer, wichtiger Jagden. Takiffs erste Jagd. Takiffs erste Verteidigung des Rudelreviers. Takiffs Machtergreifung. Knochen von allen größeren oder wichtigeren Gegnern, die er je hatte. Vorausgesetzt natürlich, besagte Gegner waren überhaupt zu Tode gekommen, doch… wie Saris schon so schön gesagt hatte: Er war nicht grundlos in der Position, in der er sich befand. Er konzentrierte sich eher beiläufig auf den Spiegel. Die flüssige Oberfläche, gerade noch still wie Glas, begann Wellen zu schlagen, als habe man einen Stein hineingeworfen. Farben und Konturen wirbelten durcheinander, fanden an die richtigen Plätze und bildeten eine neue Szenerie. Saris steckte nur kurz den Kopf zur offenstehenden Tür hinein und seufzte, als sie die fremdartigen Gestalten darin erblickte. Zweibeiner wie sie, sicherlich. Aber mehrheitlich ohne Fell. Chacham verfolgte nun schon seit einer Weile die Geschicke eines neuen Individuums. Irgendwie hatte er sich immer an einzelne Exemplare gehängt und ihre bemerkenswert kurzen Lebensspannen beobachtet. Was sie taten. Wie sie schliefen. Aßen. Kämpften. Starben. „Ich werde deine Faszination für dieses Volk nie begreifen. Sie sind keine Jäger. Sie sind nackt und hässlich. Sie sind nicht einmal sonderlich begabt in… irgendetwas.“ Er nickte langsam, während ein Jungtier einem alten Geschöpf breit grinsend und seltsame Lachlaute ausstoßend entgegen wankte, offenbar gerade erst im Begriff, das Laufen zu erlernen. Es war klein. Unförmig. Felllos. Helle Haut und seltsam spitze Ohren. Sie erinnerten an Fledermäuse. Und was Fledermäuse waren, wusste er letztlich auch nur, weil eines der früher von ihm beobachteten Individuen diese Kreaturen studiert hatte… „Sie sind mutig“, erwiderte er mit einem versonnenen Lächeln die Szene beobachtend. Das alte Spitzohr, gekleidet in seltsame Gewänder, hob das Jungtier unter den Armen greifend hoch. Drehte sich. Das befremdliche Lachen verstärkte sich. Die kleinen, knubbeligen Arme ruderten herum. Er hatte Kreaturen aus jener Welt gesehen, die Klauen besaßen, aber dieses Volk hatte keine. Sie hatten kein Fell. Keine Klauen. Und ihre Schnauzen waren schlecht geformt für irgendeine Art von nennenswertem Biss. Zudem liefen sie aufrecht. Immer. Sicherlich, es gab da diese Phase in ihrer frühsten Jugend, aber sobald sie einmal erlernt hatten, sich auf ihren Beinen zu bewegen, taten sie das fortwährend. Leonale dagegen rannten vierbeinig, wenn sie denn wirklich rennen mussten. Es war nicht unbedingt schicklich, aber so viel schneller… „Sind sie das?“, hakte Saris nach. „Mhm. Sie können sich kaum verteidigen. Keine gut ausgeprägten Schnauzen, keine Krallen. Ihre Körper sind oftmals dick und weich. Viele von ihnen besitzen nicht einmal Magie“, erwiderte er fasziniert von jenem Anblick seine bisherigen Beobachtungen. „Klingt nach Beute“, rätselte Saris verwirrt. „Sind sie aber nicht. Das ist es ja. Sie setzen sich durch. Sie sind die Jäger.“ Nunmehr von seiner Faszination doch ein wenig angesteckt – oder vielleicht auch nur besorgt –, trat Saris ein Stück näher. „Und wie machen sie das?“ „Sie sind klug. Sie lassen sich Dinge einfallen. Sie bauen Werkzeuge, Waffen, Häuser, Maschinen. Sie zweckentfremden. Erfinden sich und ihre Umwelt stetig neu.“ Inzwischen berichtete er mit völliger Begeisterung, obgleich seine Aufmerksamkeit weiterhin auf den Spiegel geheftet war. Das alte Spitzohr hatte das Jungtier abgesetzt und es lief nun wild kichernd im Kreis herum. „Maschinen?“, hakte sie verständnislos nach – und sein Nicken war wenig hilfreich. Eine Weile musterte sie ebenfalls die Bilder, ehe sie mit den Schultern zuckte. Diese Welt und ihre merkwürdigen Bewohner interessierten sie nicht im Geringsten. „Hast du daher also all deine verworrenen Ideen?“, stichelte sie und verschwand wieder aus dem Raum. Vermutlich war Takiff inzwischen heimgekehrt und er wollte wirklich nicht darüber nachdenken, was das bedeutete. Konnte er auch nicht. Sie hatte es zweifellos nicht böse gemeint. Er kannte Saris inzwischen zu lange und, so hoffte er, zu gut, um das legitim vermuten zu können. Sie hatte gescherzt, hatte sticheln, ihn einfach ein wenig ablenken und aufziehen wollen. Doch ihre Worte blieben ihm mit seltsamer Hartnäckigkeit in den Ohren haften und ungewohnt ernst setzte er sich mit etwas auseinander, was eigentlich nur ein Scherz hatte sein sollen. Glaubte sie das wirklich? Konnte sie das wirklich glauben? Offenkundig wurde er sowieso bereits auf seine Talente und Fertigkeiten reduziert. Auf das, was er konnte. Was bedeutete es also, wenn ihm diese Dinge nun auch noch abgesprochen wurden? Wenn selbst das nicht länger als sein Eigen angesehen wurde, sondern als etwas, das er sich von anderer Stelle geholt hatte? Selbst wenn die Verhaltensweisen dieser fremdartigen Kreaturen nur Inspiration waren – wäre das nicht für das Rudel dennoch Grund genug, ihn wieder und wieder für die nächsten Jahrtausende daran zu erinnern, dass er ja noch weniger wert war, zu noch weniger fähig war, als es ohnehin bereits den Anschein gehabt hatte? Den Spiegel zur Weitsicht benutzen zu dürfen war Takiffs Art gewesen, ihm für die eine Jagd zu danken, in der Chacham sich einer wirklich tatsächlich überlegenen Beute in den Weg geworfen hatte. Er hatte sein Leben riskiert um den Rudelführer zu retten. Und das hatte ihn auch tatsächlich fast umgebracht. Für Takiff war der Spiegel ein Relikt. Ein hübsches Ding, Tand, nutzlos. Er hatte ihn aufgestellt, weil die Trophäen und seine Machart eindrucksvoll waren, aber niemand benutzte ihn wirklich. Wozu auch. Wieviel Opfer musste es für Takiff also tatsächlich bedeutet haben, ihn das Ding als Zeitvertreib nutzen zu lassen? Im Grunde nur eine weitere Instanz, in der er mit Resten abgespeist worden war. Und jetzt sollte ihm selbst daraus ein Strick gedreht werden…?   Chacham war die Tage und Wochen darauf übellauniger denn je. Egal, wie sehr er sich bemühte, er konnte die Gewitterwolken nicht hinter sich zurücklassen, ihnen nicht davonrennen. Er beherrschte sich bestmöglich, spielte mit und wurde sich doch umso deutlicher bewusst, wie anders er behandelt wurde. Takiffs unterkühlte Art als langfristige Konsequenz seines erneuten Ausbruchs und Saris permanenter Gestank nach ihm trugen ihren Teil dazu bei, ihn in dieser Stimmung gefangen zu halten. Ihn weiter darüber grübeln zu lassen. Und jeden Abend verfolgte er das kleine Bündel Haut und Fleisch, wie es herumlief und kicherte. Und manchmal, wie das alte Spitzohr ihm Geschichten erzählte. Ihm einen Gutenachtkuss gab. Wie er es zu warnen versuchte. Und wie wenig das Jungtier davon verstand. Er warnte vor anderen seiner Art. Davor, dass es nicht akzeptiert werden würde, weil es als unrein gesehen werden würde. Es stammte nicht vom richtigen Volk ab, nicht vollständig zumindest. Und je länger er beobachtete, zuhörte, Abend um Abend, umso klarer wurde Chachams Bild. Und es schmerzte, sie ähnlich es seiner eigenen Situation war. Das Jungtier mochte es noch nicht begreifen, vielleicht noch nicht begreifen können, aber s hatte den Fehler begangen, geboren zu werden. Von der falschen Mutter oder gezeugt  vom falschen Vater. Es würde ausgestoßen werden. Aussätzig. Wie er. Nur geduldet und selbst das vielleicht nicht immer. Das alte Spitzohr war ihr Großvater. Kein Rudelführer, aber offenbar dennoch mächtig genug, dass man ihn respektierte. Oder fürchtete. Seine Macht bestand in seiner Magie und seiner Weisheit. Verknüpft mit seinem Namen und dem Einfluss seiner Familie würde er versuchen, einen Schutzschild für sie zu formen. Aber er wusste nicht, wie gut das gelingen würde. Die Liebe in seinen Worten, seinem Lächeln, ihrem Umgang miteinander war offensichtlich. Und es schmerzte, sich vorstellen zu müssen, wie er scheitern würde. Denn selbst mit all der Macht, dem großen Namen, dem Einfluss, der Weisheit… was würde es gegen die Masse nutzen, die ein Rudel aufzubringen wusste? Letztlich wäre er einfach nicht stark genug.   „Ich werde durch den Spiegel gehen.“ Es dauerte eine ganze Weile, ehe Saris und Takiff sich wieder im Stande sahen, zu antworten. Die Nachricht beinhaltete wenige Worte, aber weitreichende Konsequenzen – und natürlich bestand die erste Reaktion beider darin, ihn zu fragen, ob er nun völlig den Verstand verloren hatte. „Habe ich nicht. Ich habe lediglich eine Entscheidung getroffen“, verteidigte er sich und ging in Gedanken nochmals durch, wie er sich die Dinge zurechtgelegt, geplant und vorgestellt hatte. „Aber es ist eine dumme Entscheidung!“, wandte Saris betroffen und aufrichtig besorgt ein, „Das sieht dir nicht ähnlich.“ „Wieso?“, hakte Takiff stattdessen schlicht nach. Er strich sich mit der Tatze durch die dichte Mähne und wartete einfach auf eine Erklärung. Vorher, das war Chacham bewusst, würde er diesen Raum nicht verlassen. Er war vielleicht schnell – aber Takiff hatte Mittel und Wege und würde im Zweifelsfall eher den Spiegel zerstören, als zuzulassen, dass sein Mündel sich seinen Wünschen und Anweisungen widersetzte. „Es ist ein offenes Geheimnis, das mich hier keiner haben will“, begann er seine Gründe zu erklären. Saris setzte bereits zu Widerworten an, doch Takiff gebot ihr mit gehobener Pranke Einhalt. „Sprich weiter“, forderte er schlicht. „Du hast mich damals ins Rudel aufgenommen und ich weiß, dass das hier undankbar erscheinen mag. Aber ich bin kein Teil der Hierarchie. Ich bin nur… das Ding, das du irgendwann aufgesammelt hast. Ich wäre nicht einmal am Leben, hättest du nicht stets auf mich aufgepasst und schützend die Pranke über mich gehalten. Ich werde niemals aufsteigen. Ich werde niemals ein eigenes Heim haben dürfen. Ich werde niemals eine Partnerin finden oder Nachwuchs zeugen.“ Kurz nur streifte sein Blick Saris, flüchtig und – allem Anschein nach – völlig unbemerkt von beiden. „Ich habe keinen Platz in diesem Rudel. Keine Aussicht auf… irgendwas. Überleben, sicherlich, ja. Aber was ist Überleben schon noch wert, wenn es kein wirkliches Leben zu leben gibt? Und… was die Undankbarkeit anbelangt, so behaupte ich, meine Schuld längst abgetragen zu haben. Ich habe mit euch gejagt. Ich habe mir Wunden eingefangen, wieder und wieder. Ich bin schneller gerannt, weiter gerannt, höher gesprungen als jeder von euch. Ich habe die meisten Spähaufgaben erfüllt. Ich habe stets die beste Beute gewählt. Ich will nicht sagen, dass das kein anderer aus dem Rudel ebenfalls hätte tun können – aber keiner von denen konnte es so gut wie ich!“ Lange herrschte Schweigen. An sich war es nichts Neues, das männliche Mitglieder das Rudel verließen. Ihre Gesellschaft hatte sich über den Stand hinaus entwickelt, das männliche Jungtiere das Rudel irgendwann verlassen mussten, aber sie mussten die Führung des Alphas anerkennen und seinen Weisungen Folge leisten, solange sie ihn nicht direkt herausfordern wollten. Und solche Herausforderungen hatte Takiff bisher immer gewonnen. Mühelos. Aber es stand im Grunde jedem frei, zu gehen. Nur war Chacham eben nicht jeder. „Ich werde darüber nachdenken“, erwiderte Takiff ruhig. „Das kann nicht dein Ernst sein?!“, fuhr Saris ihn sofort an. Takiff dagegen hob die Pranke, bedeutete ihr noch kurz Ruhe zu halten, während er seinem Mündel zunickte. Chacham zog sich mit der Erwiderung des Nickens zügig zurück. Er hatte die Tür noch nicht einmal zur Gänze geschlossen, da wurde es im Raum bereits… laut. Aus welchen Gründen Saris auch immer dagegen war, es spielte keine Rolle mehr. Vielleicht mochte sie ihn, wie er es immer gehofft hatte. Ehrlich und aufrichtig. Vielleicht sah sie auch einfach nur die weitreichenden Konsequenzen für das Rudel, wenn andere, weniger Erfahrene und weniger Geschickte nun wieder Spähaufgaben und Treibjagd übernehmen mussten. Den verlorenen Nutzen, gewissermaßen, den sie vor einigen Tagen noch stichelnd erwähnt hatte. Ob sie wohl die Zusammenhänge zog? Ob sie ihre Worte nun bereute?   Er bekam die Erlaubnis am nächsten Morgen. Takiff wirkte… erschöpft. Und richtete lediglich neutrale, vage Grüße von Saris aus. Vermutlich waren sie sogar erfunden und Saris hatte kein Wort mehr dazu verlauten lassen. Nichtsdestotrotz wusste Chacham die Geste zu schätzen. „Gute Jagd, Chacham. Mögest du finden, was du suchst.“ Er wirkte aufrecht, stolz, das Ebenbild des makellosen Rudelführers und doch… schwang eine gewisse, nostalgische Bitterkeit in seiner Stimme mit. Sie hatten sich nie ganz einig darüber werden können, wie genau sie nun eigentlich zueinander standen. Dieses Ende… klärte das zumindest. Irgendwie. „Gute Jagd, Takiff. Mögest du stets vor dem Wind bleiben.“ Es war… eine fragwürdige Verabschiedung. Eigentlich ein Glückwunsch für Späher, bevor sie ihre Aufgabe antraten und Takiff war Alpha – er würde ganz gewiss nicht mehr spähen gehen. Aber wie oft hatte Saris ihm wohl davon erzählt, dass er sich über seinen Geruch an ihr beschwert hatte? Wie oft hatte er selbst sich bei Takiff über dessen Gestank beschwert? Vielleicht, unter weniger harten und ungnädigen Bedingungen und ohne  den sozialen Druck des Rudels, hätten sie irgendwann, irgendwie, so etwas wie Brüder werden können. Doch dieses Szenario hatte nie wirklich eine Chance gehabt.   Mit wenigen Worten trat er hindurch. Der Spiegel begann seine Magie zu wirken, penetrierte den dicken Schleier aus allgegenwärtiger Magie, um seine lebendige Fracht auch lebendig und in einem Stück zum Ziel zu bringen. Eine gewisse Ungenauigkeit war zwangsläufig immer enthalten, einfach unvermeidlich. Sprünge dieser Art waren aufwendig genug – Takiff würde den Spiegel für zwei, vielleicht drei Jahrhunderte nicht verwenden können. Aber was scherte ihn das schon? Er hatte dahingehend nie Ambitionen gezeigt. Chacham kehrte nicht in den Wald ein. Stattdessen landete er auf einem Platz ein kleines Stück außerhalb einer brüchigen Hütte. Die Bäume hier waren schmal, karg und klein, doch jenseits des Gefälles, auf dem die Ruine stand, konnte er ihn sehen. Jenen tiefgrünen Wald aus beeindruckend hohen Baumriesen. „Ein Monster!“, rief jemand panisch. Da erst wurde er sich bewusst, dass er von jenen Kreaturen umgeben war. Ein knappes Dutzend an der Zahl, bewaffnet mit Netzen und Speeren. Ein Männchen war deutlich feiner gekleidet als der Rest, trug ein offenes Buch vor sich und starrte ihn über dessen Rand hinweg entsetzt an. „Meister Gilbert, was ist das?!“, verlangte ein anderer zu wissen, während man bereits die Netze warf. „Jedenfalls nicht, was ich gerufen habe!“, fluchte der feiner Gekleidete, „Bringt es zur Strecke!“ Binnen Sekunden brachen Kämpfe aus. In den Netzen verheddert, war er nicht in der Lage, sich rasch zurückzuziehen. Seine Gegner waren ungeschickt, geradezu mitleiderregend langsam, doch ihre Taktik und zahlenmäßige Überlegenheit verschaffte ihnen einen Vorteil. Einen, der zu groß war, ihn anders auszugleichen. Chacham brüllte auf, als zwei der Lanzen sich in sein Fleisch bohrten. Er packte eine davon, entriss sie mühelos ihrem Träger und stieß prompt zurück – das zur Schlagwaffe verschmiedete andere Ende ihm gegen die Stirn. Ein trockenes Knacken verhieß wenig Gutes für dessen Schicksal. Als er sich erst einmal aus den Netzen hervorgewühlt hatte, wütete er unter seinen Angreifern. Biss und Klauen waren effektiv und ihre Leiber so bemerkenswert zerbrechlich. In der ganzen Zeit bemühte sich das fein gekleidete Männchen so sehr darum, ihn unter Kontrolle zu bringen oder wieder fortzuschicken, aber er hatte nicht die ganze Strecke zurückgelegt, um sich sofort wieder heimschicken zu lassen wie ein gescholtenes Jungtier! Als Stille einkehrte, versank der Platz langsam, aber sicher, im Blut. Schwer atmend sah er sich um. Nichts und niemand regte sich mehr. Mit Mühe brach er die zwei Speere ab und bereute in diesen Augenblicken sehr, sich nie der Heilkunst zugewandt zu haben, wie Takiff es ihm wieder und wieder angeraten hatte. Nein, er hatte sich ja unbedingt im Kampf beweisen müssen, bei der Jagd. Das hatte er nun davon! Chacham wusste nicht recht, wie er die Wunden versorgen sollte. Natürlich kannte er das Nötigste, wie sie alle. Das Objekt entfernen, die Wunde desinfizieren, schließen, vernähen, verbinden. Aber er hatte seit Jahrhunderten keine Naht mehr gelegt und hier gab es weder Faden, noch Nadel. Und auch nichts zum Desinfizieren. Dazu kam, dass das Versorgen der Wunde ohnehin wenig geholfen hätte. Einer der Speere hatte ihn am Rücken getroffen. Er kam nicht einmal ordentlich an die Stelle heran. Hier war niemand mehr, der ihm helfen könnte oder den er zur Hilfe hätte zwingen können. Und er spürte, wie es schwerer wurde, zu atmen. Wie sein Atem röchelnder klang. Schlechtes Zeichen. In seiner Verzweiflung angesichts der sich rasant verschlechternden Lage durchsuchte er das Haus und… war verwirrt von dem, was er vorfand. Eine Vielzahl an Kreaturen in Käfigen. Alle schreckten sie vor ihm zurück, viele verängstigt  von seiner Erscheinung und Natur, sich durch ihre Reaktion als Beutetiere im Angesicht des Räubers verratend. Andere zogen sich zurück, weil der Blutgeruch sie an etwas erinnerte. Das war nicht gerecht. Sie würden sterben. Verhungern. Weshalb auch immer sie in diesen Käfigen waren – er hatte Verantwortung. Hatte sie sich aufgeladen, als er jene tötete, die über sie gewacht hatten. Also war es nur Recht, ihnen eine Chance zu geben. Die Möglichkeit einzuräumen, dass sie sich selbst helfen konnten. Er verbrachte weitere, kostbare Minuten damit, die Schlösser aufzubrechen und die Käfige zu öffnen. In einem davon lag eine kleine, pelzige Kreatur. Sie war offenkundig schwer verletzt. Das hellorange Fell mit den großen, weißen Tupfen war an einigen Stellen von Blut verfärbt, die Schnauze witterte nur langsam, der Kopf hob sich träge. Es lag im Sterben. So wie er. Vorsichtig streckte Chacham seinen Geist nach dem Wesen aus, berührte dessen Verstand. Sah die Jagd, der es zum Opfer gefallen war. Sah, wie es stundenlang seine Verfolger zum Narren gehalten hatte. Wie es in mehr als nur eine Falle gerannt war, sich aber aus den Meisten hatte befreien können. Weil es die Fallen verstand. Ihre Schwachstellen erkannte und sie nutzte. Nachdem jede andere Kreatur geflohen war, ließ er sich neben dem Käfig auf den Boden sinken. Lehnte sich mit der unverletzten Schulter an, der Kreatur zugewandt und lächelte selbst allmählich träge, unter immer schwereren Atemzügen. „Du bist wie ich“, meinte er leise, „Klug und schnell… aber einfach nicht klug und schnell genug, hm?“ Das Tier scheute nicht zurück, als er seine Pfote vorsichtig über dessen Fell streichen ließ. Es zeigte keine Scheu, keine Angst. Vielleicht spürte es, dass sie beide starben. Und hieß die Gesellschaft willkommen. „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, mein kleiner, pelziger Freund“, setzte Chacham nach einem Moment an, als er spürte, wie schwer das Atmen inzwischen geworden war, „Aber ich finde, wir haben beide eine zweite Chance verdient!“ Vorsichtig und langsam hob er die Kreatur aus deren Käfig hervor und setzte sie sich auf die eigenen Beine. Noch immer zeigte das Wesen keine Gegenwehr – vielleicht war es dafür auch einfach schon zu schwach. „Lass es uns nochmal versuchen“, flüsterte er leise, hob den Kopf des Tieres und starrte tief in dessen Augen, während sein Verstand einmal mehr den Geist des Tieres suchte. Essenzen berührten einander, umkreisten, erforschten, teilten. Der Prozess war langwierig und ihnen beiden blieb nicht viel Zeit, dennoch – er konnte nichts erzwingen. Würde es nicht. Letztlich erklärte sich das Wesen einverstanden. Auf welcher intuitiven Basis auch immer es begriffen haben mochte, was geschehen würde, wusste Chacham nicht. Nur eines war ihm klar: Wenn er das tat… würde er sterben. Natürlich konnte man argumentieren, dass er das so oder so würde. Ob er nun noch ein paar Minuten wartete und seinen Verletzungen erlag oder hier, wo die Zeit anders verging, einfach altern würde oder ob er nun in einen Gegner hinein liefe oder diesen Plan umsetzen würde – der Tod war nunmehr unausweichlich geworden. Aber es war eine Sache, ihn in Form von Krallen oder Zähnen kommen zu sehen. Etwas anderes, am Alter dahin zu siechen oder, schlimmer noch wie er befand, sich selbst Stück für Stück zu verlieren. Das war, was ihn letztlich ereilen würde. Er verschmolz seinen Verstand und seine Seele mit dieser Kreatur. Gab ihr alles, was er hatte. Jeden Funken Leben, der noch in ihm war. Er und das Tier wurden eins, während sein Körper versagte. Die Wunden der Kreatur schlossen sich im Zuge der Verschmelzung, doch mit den Jahren, die da kommen würden, würde sein Verstand einbüßen. Die Form dieses Geschöpfes, sein Geist, war nicht für solche Komplexität vorgesehen. Es würde schleichend sein. Das Wissen, das am wenigsten genutzt wurde, würde er zuerst einbüßen. Nach und nach würde ihm immer mehr entgleiten. Bis er begann, sich selbst zu verlieren. Seine Persönlichkeit, Stück für Stück. Bis da nur noch das Tier wäre. Aber Chacham akzeptierte dieses Schicksal. Denn er wusste zudem zweierlei: Zum einen, dass er dieser Kreatur eine zweite Chance  verschafft hatte, ebenso wie sich selbst. Und zum anderen… dass er nun einige Jahre hätte, bevor die ersten Anzeichen des Verfalls kommen würden, in denen er tun konnte, weshalb er hierhergekommen war. Ruhig auf dem Bein seines ehemaligen Körpers sitzend verfolgte Chacham, wie der Funke in seinen alten Augen erstarb. Wie die Gestalt zusammensank. Wie das prächtige, gemusterte Fell an Farbe und Glanz verlor. Lange noch saß er dort, starrte sein eigenes Gesicht an. Erinnerte sich an Saris und Takiff und fragte sich insgeheim, was die beiden wohl dazu gesagt hätten, wie schnell seine Reise hierher sich jedweder Kontrolle seinerseits entzogen hatte. Leise seufzend sprang er schließlich herab. Verließ das Haus und trat an den Abhang heran. Sie befanden sich in den frühen Ausläufern eines Gebirges. Irgendwo dort unten, wo er die riesigen Wälder erblicken konnte, die eine weite Fläche von Feldern und Wiesen eingrenzten, war sein Ziel. Eine lange und beschwerliche Reise voller Gefahren, sicherlich – aber er war klug. Und schnell. Und die Verschmelzung hatte ihm so viel Wissen zugetragen, das er benötigte, um in dieser Welt zu überleben. So viele neue Gerüche, so viel neue Geschmäcker. Er fraß, so oft und viel er konnte. Jagte Beute. Jagte einfach nur so. Spielte. Schlief. Aber er vergaß sein Ziel nicht, verlor es nicht aus den Augen. So klein zu sein hieß lediglich, dass er immer wieder hohe Punkte suchen musste, um sich zu orientieren. Er fand unterwegs sogar eine andere seiner Art. Ein Punkt, an dem Instinkte, die nicht  die seinen waren, sein Handeln zu einem Großteil lenkten. Und je weniger über diese Peinlichkeit gesagt wurde, umso mehr sollte ihm das nur recht sein. Immerhin hatte es sich um ein Tier gehandelt. Was Saris dazu wohl gesagt hätte?   Als er sein Ziel erreichte, konnte er es bereits hören. Das Jungtier schrie. Also sputete er sich. Seine zweite Chance würde ganz sicher nicht damit beginnen, dass er versagte oder zu spät käme! Flink wie selten zuvor jagte ein weißer Blitz durch die Straßen Carasambans bis zu einem kleinen Flecken Gras, auf dem eine sehr junge Halbelbe saß. Sie hatte herumgetollt, war gestolpert und hatte sich schlicht das Knie aufgeschrammt. Ihre Schmerzlaute und Hilferufe waren herzzerreißend, aber noch war niemand in unmittelbarer Nähe. Vorsichtig trat er heran und ihr Fokus verschob sich. Neugierig musterte sie ihn, die Verletzung offenbar fast vergessen. Nur ein leises Schluchzen dann und wann zeugte noch davon. Er huschte ein wenig näher, immer ihre Reaktion im Blick behaltend. Doch sie griff nicht an, wich nicht zurück. Vorsichtig trat er näher und, in Ermangelung einer guten Idee, was er denn nun eigentlich tun sollte, leckte über die Wunde. Das half schließlich beim Desinfizieren… Chacham erschrak fürchterlich, als die Hand des Jungtiers sich plötzlich auf seinen Pelz legte. Aus reinem Reflex sprang er zunächst zurück und sah sich einem ebenso verdutzten Gesicht gegenüber wie er es wohl auf seiner Schnauze präsentierte. Nachdem er sich langsam beruhigt hatte, trat er wieder näher. Und ließ diesmal zu, dass das Jungtier an ihm herumtastete. Einen Eindruck von ihm gewann. „Keine Sorge“, sandte er seine Stimme telepathisch in ihren noch jungen, flauen Verstand, „Ich werde auf dich aufpassen. Versprochen! Gemeinsam sind wir so viel stärker als sie…!“ Wem redete er eigentlich gut zu? Ihr oder sich? Das vergnügte Kichern und breite Lächeln versicherte ihm jedoch rasch, dass die Antwort auf jene Frage zumindest für den Moment belanglos war. Entsprechend ließ er zu, dass das Jungtier ihn näher heranzog und das Gesicht in sein Fell drückte, dabei immer noch allerhand seltsame Laute von sich gebend und gelegentlich glucksend. Als das alte Spitzohr wenig später auftauchte, schien er besorgt und, kaum dass er sie fand, erleichtert. Aber das bewies Chachams Meinung nach auch nur, dass die Kleine mehr wachsame Augen gebrauchen konnte! Er wurde zwar mit Worten und Handgesten aufgefordert, sich davon zu machen, doch wirklich Motivation legte man diesbezüglich erst an den Tag, als er ins Haus folgen wollte. Die Verwunderung darüber lüftete sich rasch, denn schließlich sah er aus wie ein Tier. Er erwog, die anderen einzubeziehen. Erst recht, weil das Jungtier sehr unglücklich darüber schien, das er draußen bleiben sollte und sie getrennt wurden. Dann jedoch bedachte er sich und griff stattdessen zu anderen Mitteln. Er würde ihnen schon klar machen, was er wollte – indem er klug handelte! Also kletterte er den Baum herauf und schlich sich durch das nachlässig offen stehen gelassene Fenster ein. Und man fand ihn am Abend dicht an das Jungtier gekuschelt. In den Tagen darauf setzte man ihn mehrfach wieder vor die Tür. Er wehrte sich nie. Und nicht ein einziges Mal trennte man ihn von seinem Jungtier, ohne das es zu schreien und zu lärmen und sich über die Ungerechtigkeit zu beschweren begann. Es entlockte ihm ein Lächeln. Sie gehörten zusammen, sie waren gleich – und sie wussten es beide. Jetzt musste nur noch der Rest ein Einsehen haben und tatsächlich, das ließ nicht allzu lange auf sich warten. Man wurde nachlässiger damit, die Fenster zu schließen. Er fand ja doch einen Weg. Man wurde nachlässiger damit, ihn rauszuwerfen. Er kam ja doch immer wieder rein. Und irgendwann… war er kaum noch eines Blicks wert. Doch selbst das war die Kehrtwende, nicht der Schlusspunkt. Illyana, die für die Verwaltung der hiesigen Vorräte und die Jagd zuständig war, hatte Mitleid mit ihm – und das schon nach erstaunlich kurzer Zeit. Wenn sie ihn raus brachte, bekam er zum Abschied etwas zu essen. Und als er dann geduldet wurde, gab es davon umso mehr. Vielleicht war nicht alles davon immer für ihn gedacht gewesen, aber… nun – er war klug. Und wirklich, wirklich schnell. Zudem war es ja gut und schön, Arien – sein Jungtier – mit allerhand Gemüse und Fleisch zu füttern. Aber wirklich freuen tat sie sich meist dann, wenn er ihr Kekse aus den Töpfen in der Küche holte. Das alte Spitzohr aufzuweichen, dauerte am längsten. Athavar gab zwar nach, doch nur zu Gunsten der Freude und des Glücks Ariens. Eine stillschweigende Übereinkunft, mit der sie beide gut leben konnten. Und jede Nacht, wenn Arien einschlief, schmiegte er sich etwas näher an sie heran und flüsterte ihr in Gedanken zu. „Ich bin da. Ich passe auf dich auf.“ Sie gaben ihm sogar einen Namen, auf den er mit Fug und Recht stolz war – egal, wie oft er frustriert schnaufend durchs Haus gebrüllt wurde. Er bedeutete so viel wie… ‚klug‘. Coru. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)