Night Walk von Cirque_des_Reves ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es war Kakerus Idee gewesen. Es war auch keine schlechte Idee! Trotzdem wusste Koi auch jetzt, Tage nachdem sie das erste Mal aufgekommen war, nicht so ganz, was er davon halten sollte. Er war kein großer Fan von Gruselgeschichten. Er erinnerte sich noch an diverse Mutproben aus Mittelschulzeiten, die… nicht ganz angenehm verlaufen waren. Er erinnerte sich noch an Nachtwanderungen aus seiner Kindheit, die er lieber am Rockzipfel seiner Schwester verbracht hatte.   Kurzum: Ein bisschen klang es nicht cool, jetzt mitten im Sommer auf Geisterjagd zu gehen, und das nur, weil Kakeru aufgeschnappt hatte, dass es in den Wäldern in der Gegend in Sommernächten angeblich zu Geistersichtungen gekommen war.   Trotzdem stand er jetzt hier, es war längst dunkel geworden, und wartete darauf, dass der Rest ihrer Geisterjäger auftauchen würde. Solange er nicht darüber nachdachte, dass sie wirklich etwas finden könnten, war es sogar eigentlich ziemlich cool! Und aufregend. Wie ein Mystery-Anime, nur besser, weil sie der Reihe nach um einiges cooler waren als die Protagonisten es wären. Es war schade, dass Haru fehlte; ohne ihn und seine Essenz hatte Koi das Gefühl, als würden ihm zwei wertvolle Mitglieder ihres Teams fehlen, die eine großartige Ergänzung gebracht hätten – und wer wusste schon? Womöglich hätte Harus Essenz sogar mehr gesehen als sie anderen zusammen! Dafür hatten sie statt Haru einiges an nicht-Gravi-Unterstützung bekommen: Kai und Rui würden mitkommen. Kai klang beruhigend. Kai war zuverlässig und gut darin, auf andere aufzupassen, das hieß, Koi ging davon aus, dass er ein würdiger Ersatz für Haru und seine Essenz sein würde. Rui klang ein bisschen weniger beruhigend, denn er hatte die beunruhigende Eigenschaft, Shun zu ähnlich zu sein, wenn es wirklich gerade niemand gebrauchen konnte. Und wenn man vom Teufel sprach, der stand gerade fröhlich neben der Tür – um sie zu verabschieden, wie er sagte. Um ihnen Angst einzujagen, befand Koi, und dafür reichte schon sein unheilverkündendes Grinsen! Er wollte auch gar nicht mehr über die Geister hören, die sie suchen wollten. Hitodama. Natürlich wusste Koi, was sie waren. Wenn man Japaner war, kam man an einigen Dingen einfach nicht vorbei! Seelen Verstorbener, die in Form von meist als bläulich oder grünlich beschriebenen Flammenkugeln vorkamen, die einige handbreit über der Erde schwebten – gerade weit genug, dass ihre langen, dünnen Schweife den Boden nicht berührten. Bekam ihnen nicht, laut Legenden. „Verlauft euch nicht im Wald.“ Aus Shuns Mund klang es wie eine Drohung, nicht wie ein guter Ratschlag. Koi erschauderte, verschränkte die Arme vor der Brust. Er versuchte wirklich, sich nicht davon beunruhigen zu lassen, aber Shuns Anblick machte ihn trotzdem jetzt schon nervös. „Man weiß nie, was da sonst noch so zu finden ist, wenn man lang genug sucht… Oder versehentlich hineinstolpert.“ „Wir werden gar nichts finden!“, erwiderte er in einem Anflug von Panik, den er hinter Entschlossenheit kaschierte. Sie würden auch nirgendwo hineinstolpern! Es half nicht, dass Shun nur auflachte. Koi trat instinktiv einen Schritt zurück. Ein Blick zu Kakeru hinüber zeigte, dass sein ursprünglicher Enthusiasmus auch gedämpft war und große Augen sahen beunruhigt drein.   Es war ein bisschen beruhigend, dass Hajime nicht mit der Wimper zuckte.   „Oh, Koi. Sorge dich lieber darum, was euch finden wird…“ Es war ein bisschen beunruhigend, dass Shun einfach nicht aufhörte. Er ignorierte Kois kommenden Protest auch nur. Geschlagen sackte er in sich zusammen. Er hatte das dringende Bedürfnis, den Abend lieber mit Animes, Internet und Social Media zu verbringen als damit, durch einen dunklen Wald zu streifen und nach allem Ausschau zu halten, wovor normale, vernünftige Menschen einfach weglaufen würden. Koi war gern ein vernünftiger Mensch, wenn es um solche Dinge ging.   Es brauchte Hajimes Mahnung, damit Shun mit dem gruseligen Grinsen aufhörte. Koi seufzte erleichtert auf. Ein Blick in die Runde zeigte, dass auch Kakeru sehr erleichtert aussah, und sogar Aoi wirkte jetzt irgendwie entspannter – vielleicht war es aber auch nur Einbildung. In jedem Fall fand er, es geschah Shun ganz recht, dass Hajime ihm nur noch die kalte Schulter zeigte. „Armer Shun-San“, murmelte Kakeru neben ihm belustigt. Koi nickte grinsend, zusehend, wie Shun beinahe den sterbenden Schwan mimte – ganz mit tragischem an-die-Brust-Fassen. Er musste unwillkürlich auflachen. So war es besser. Es war wirklich beruhigend, Hajime dabeizuhaben. Wo Koi so darüber nachdachte, waren sie vermutlich wirklich sehr sicher. Nicht einmal Dämonenkönig Shun traute sich, Schabernack mit Hajime zu treiben. Da würden doch so ein paar Geister es noch viel weniger wagen!   Die Erkenntnis war genug, dass Koi sich doch schon wieder mehr auf das kommende Abenteuer freute, als sie Shun schließlich hinter sich ließen.   Es wäre noch schöner gewesen, wenn das unheilvolle, wissende Grinsen des Anderen ihm nicht noch ewig im Nacken nachkribbeln würde.     ***     Der Wald war wie ein riesiges Monster aus Dunkelheit, das in den klaren Nachthimmel hinaufragte. Der fast volle Mond warf silbriges Licht auf die Erde, das dem Gras und den Baumwipfeln eine unwirkliche, realitätsfremde Farbe verlieh – es sah mehr aus wie ein kreativer Geniestreich als wie das wahre Leben. Die Vorstellung, sich von diesem Monster aus Ästen und Blättern verschlucken zu lassen, war unangenehm beunruhigend und Koi war beinahe froh darum, dass sie am Waldrand noch einmal innehielten für eine Vorsichtsmahnung von Hajime. Sie sollten nicht verlorengehen, keine Erkundungstrips, nicht kreischend weglaufen… Es waren Dinge, die Koi ohnehin nicht getan hätte, also konnte er sie unbekümmert abnicken. Wenn es nach ihm ging, würde er sich keinen Schritt weiter als nötig von seinen Freunden entfernen! Wenigstens hatten sie Taschenlampen gegen die Dunkelheit. Begleitet von den Lichtkegeln machten sie sich auf den Weg hinein ins Dickicht. Es erinnerte ihn ein bisschen an Grundschulausflüge, wie sie hier liefen. Abgesehen von Hajime, der offenbar ihrer Lehrer war oder so, liefen sie alle brav in Zweierreihen. Kakeru ging neben Koi, hinter ihnen waren Aoi und Arata. Es machte Koi nervös, Arata im Rücken zu haben. Er vertraute dem Kerl nicht! Er hoffte, dass es ihn von gemeinen Streichen abhalten würde, dass Kai und Rui hinter ihm liefen und jede Bösartigkeit sehen würden.   Ein Blick zurück zeigte, dass Kai Rui an die Hand genommen hatte. Koi musste grinsen, weil es ein so typischer Anblick war. Nichts, das er wirklich schon einmal gesehen hatte, aber eben vom Grundprinzip her völlig passend. Er stieß Kakeru amüsiert in die Seite. „Schau mal“, forderte er leise. Kakeru folgte seinem Fingerzeig und drehte sich kurz um. Als er wieder zu Koi sah, grinste er selbst breit. „Wie süß! Immerhin geht Rui uns so nicht verloren.“ „Passt lieber auf, dass ihr selbst nicht verloren geht“, kommentierte Arata von hinten. Koi hörte ein süffisantes Grinsen in seiner Stimme, für das er ihm gern etwas an den Kopf geworfen hätte. „Wir gehen nicht verloren!“ Wie auch? Sie waren effektiv sicher in ihrer Position mitten in der Schlange. Solange Hajime nicht verschwand, konnte ihnen auch nichts passieren, denn Koi bezweifelte ehrlich, dass die vier Jungs hinter ihnen so einfach verschwinden würden. Kai war vernünftig. Er musste vernünftig sein, immerhin vertrat er gewissermaßen Harus Essenz, und der durfte man keine Schande bereiten.   Irgendwie half Vernunft im Rücken nur nicht wirklich gegen das typische Gefühl von Nervosität und Paranoia, das damit einherging, wenn man nachts an einem dunklen Ort unterwegs war.   Bei allem Nachteulensein, Koi war niemand, der nachts gern draußen war. Er hatte eine lebhafte Fantasie, die schnell dazu führte, dass er Monster sah, wo keine waren. Dass Schatten wirkten, als würden sie die Hände nach ihm ausstrecken und ihn packen wollen. Dass der Wind, der in den Bäumen wisperte, plötzlich ein Meer an bösartigen Dämonen wurde, die ihm grausige Geheimnisse ins Ohr flüstern wollten, ohne die Kois Leben eindeutig besser war. Es war ohrenbetäubend laut von den Zikaden, die überall im Gebüsch lauerten und ihre scheußlichen, monotonen Gesänge sangen. Trotzdem hörte Koi jeden knackenden Zweig, jedes Rascheln im Gebüsch. Jedes Mal zuckte er zusammen, und wenn er doch einmal etwas nicht mitbekam, dann war es Kakeru neben ihm, der erschrocken zusammenfuhr und ihn dann mit so viel Panik im Blick ansah, dass Koi erwartete, auf einen Massenmörder zu treffen, wenn er über seine Schulter sah. Mit einer Axt. Einer großen Axt. Er konnte sich sogar sehr gut vorstellen, wie dieser Axtmörder da irgendwo im Gebüsch war. Er lauerte, nur darauf wartend, dass sie unachtsam wurden, dass sie sich nicht mehr ständig umblickten. Wenn sie sich erst an die nächtlichen Geräusche des Waldes gewöhnt hatten, an alles Zirpen und Rascheln und Knacken, dann würde er sich in Bewegung setzen. Aus dem Gebüsch heraus…   Tapp, tapp.   Ihm war, als könnte er die Schritte des Axtmörders hören. Leise, weil er sich bemühte, nicht aufzufallen, aber sie schleiften ein bisschen, raschelten auf dem unruhigen Waldboden. Sein Nacken kribbelte, Koi zog instinktiv die Schultern hoch, um ihn zu beschützen. Vielleicht hatte der Kerl hinter ihnen schon ein Auge auf sie geworfen. Überlegte sich, wo seine Axt sich am besten machen würde. Wäre Koi ein Axtmörder, er würde zuerst Kai ausschalten. Immerhin sah er groß und kräftig aus! Aber vielleicht mochte der Axtmörder ja eine Herausforderung. Dann würde er Kai am Leben lassen, und sich stattdessen die schwächsten Glieder der Kette schnappen, weil sie ohnehin zu langweilig wären.   Tapp, tapp.   Rui vielleicht. Kakeru? Kois Magen verknotete sich besorgt und er warf reflexartig einen Blick über die Schulter – da war kein Axtmörder hinter ihnen. Er stieß erleichtert die Luft aus. Kakerus Handrücken kollidierte mit seinem Unterarm. „Alles okay?“ „Huh–? Ja, keine Sorge, Kakeru-Sa–“ Es wurde Koi gerade erst bewusst, dass er sich die fremden Schritte irgendwo hinter ihnen nicht nur einbildete, als sie ihn mitten im Satz unterbrachen.   In einem Anflug von Panik klammerte er sich an Kakerus Arm fest. „D-da sind Schritte!!!“, verkündete er panisch, seine Stimme plötzlich eine gefühlte Oktave höher als sonst. Selbst wenn es kein Axtmörder war – die Alternativen waren auch nicht besser! Geister? Monster? Ungeheuer? Zombies? Sein Kopf lieferte ihm immer mehr Erklärungen, was sich da hinter ihnen im Dickicht befinden mochte, ganz diskutabel, wie glaubhaft die nun wirklich waren. Für Koi klangen sie gerade alle unangenehm plausibel! „Da ist nichts.“ Hajimes Stimme klang ruhig, gelassen. Koi spürte, wie ihm allein von dem Klang ein Stein vom Herzen fiel und langsam ließ er wieder von Kakerus Arm ab, grinste ihn mit neugeschöpfter Hoffnung an. „Meinst du wirklich, Hajime-San?“ „Natürlich. Was du hörst, sind entweder unsere eigenen Schritte, oder ihr Echo. Hier ist offensichtlich niemand außer uns.“ Es klang vielleicht doch plausibler als alles, was Kois Hirn fabrizierte. Er lachte, verlegen von seiner eigenen Panik. „Macht Sinn.“ „Also spar dir die Panik, Pinkie. Selbst wenn hier jemand wäre, deine Haarfarbe schreckt jeden potentiellen Angreifer wieder ab. Wie die Tiere, die extra bunt sind, um ihre Feinde einzuschüchtern.“ – „Arata-Kun!“ Koi fand das überhaupt nicht lustig. Er drehte sich empört zu dem anderen herum, der ihn völlig unbekümmert und ohne jede Gemütsregung musterte. Seine dunklen Augen wirkten im mangelnden Licht beinahe schwarz, was ihn ein bisschen aussehen ließ, als wäre er selbst ein Dämon. Unheimlich. Er schauderte, drehte sich lieber wieder um, ehe der Anblick von Arata dem Dämon sich noch in seinen Erinnerungen festbrannte.   Es dauerte keine zehn Minuten, bis Koi doch wieder mit dem Gedanken liebäugelte, Panik zu bekommen. Es war erschreckend genug, dass Aoi abrupt stehen blieb, aber ein Blick in sein Gesicht zeigte obendrein weit aufgerissene, erschrockene Augen, die überhaupt nichts Gutes verheißen konnten. Koi schluckte. „Habt ihr das auch gehört…?“ „Was?“ Kakeru, wie er klang, hatte nichts gehört. Eine Mischung aus Neugier und Beunruhigung schwang in seiner Stimme mit. Aois Blick wanderte zu ihm. Selbst im schlechten Licht von Taschenlampen und Mond war sichtbar, dass er bleicher war als sonst.   „Da war ein Lachen…“     ***     Auch wenn sie schnell zu der Einigung kamen, dass da auch kein fremdes Gelächter war, Koi blieb nervös. Jedes Knacken unter ihren Füßen. Jedes Rascheln im Gebüsch. Selbst das laute Zirpen der Zikaden machte ihn gerade kirre, und immer wieder sah er sich hektisch um, halb erwartend, irgendwo im Dunkeln ein Paar rot glühender Augen zu sehen. Oder einen halbtransparenten Geist. Eine schwebende Feuerkugel. Ein Irrlicht, das ihn in eine fremde Welt locken wollte. „Die Zikaden werden ganz schön nervig, wenn man nichts anderes hört, huh?“ Selbst Kakerus Stimme erschreckte ihn – er zuckte zusammen, sah seinen Freund überrascht an. Kakeru wirkte noch fröhlich, alles in allem. Bis auf einen leicht beunruhigten Unterton in seinem Blick grinste er munter. Koi beneidete ihn darum. Es war gerade ein bisschen wie mit Achterbahnen – Koi verschätzte im Vorfeld, wie schlimm es werden würde. Und Kakeru vertrug es einfach, weil Kakeru irgendwie alles vertrug, und das war unglaublich beneidenswert. Die Zikaden waren eindeutig eine Pest. Entsprechend war Koi mehr als dankbar für Aois spontanen Vorschlag, sie zu übertönen. Wie auch immer, das war ihm völlig egal. Sie könnten singen! Das war immerhin ihr Job, es war nicht, als würde es allzu grausig klingen. Aber vielleicht mochte der Axtmörder keine Pop-Musik.   Er schüttelte den Gedanken gerade rechtzeitig ab, um zu bemerken, wie Kakeru ins Straucheln geriet. Sofort streckte er die Hand nach ihm aus, um ihn festzuhalten, aber – zu spät. Mit einem lauten Schrei landete er auf dem Hosenboden, und Koi sah entsetzt zu, wie seine Taschenlampe in einem hohen Bogen ins nächste Gebüsch fiel, nur um dort zusätzlich zum Sturz auch noch ihr Leben auszuhauchen. Es war so typisch. Es war so typisch, und trotzdem kam es so unerwartet, dass sie allesamt einen langen Moment still waren. Koi fühlte sich mindestens genauso entgeistert, wie Kakeru dreinblickte, als der das Schicksal seiner Lampe beweinte. Und deshalb war es gut gewesen, Kai mitzunehmen. Der hatte allen Ernstes eine Ersatztaschenlampe dabei, die er Kakeru mit einem großbrüderlichen Grinsen hinunterreichte. „Du machst Harus Essenz wirklich alle Ehre, Kai-San!“, verkündete Koi stolz. Er brachte Procellas Babysitter damit dazu, verdutzt zu blinzeln. Kakeru lachte. Im Licht seiner neuen Taschenlampe sah er schon wieder munter aus. Koi grinste zufrieden. Er mochte es nicht, wenn Kakeru unglücklich aussah. Und es war einfach nur ein gruseliger Anblick. Kakeru war einfach nicht der Typ für Unglück. Also klar, er war ein Pechvogel, aber das war etwas anderes. Kakeru war einfach so unheimlich optimistisch und positiv, dass Koi gar nicht anders konnte, als immer ein bisschen besorgt zu sein, wenn sein Freund dann doch einmal eben nicht positiv aussah.   Irgendwie hatte die Taschenlampentragödie aber sogar etwas Gutes – sie war ablenkend gewesen. Koi fühlte sich wieder entspannter, als sie ihren Weg schließlich fortsetzten – entspannt genug, dass ihm sogar noch bessere Ideen als Singen kamen, um die nervigen Zikaden zu übertönen. Schwungvoll drehte er sich um, rückwärts weiterlaufend. Im Gegensatz zu Kakeru, den das vorhin auf den Hintern befördert hatte, traute er sich durchaus zu, nicht bei erster Gelegenheit über seine eigenen Füße zu stolpern. Oder einen Stein. Oder ein Stöckchen. „Wir können ein Spiel spielen, um die Zikaden zu übertönen!“ Es hätte eine großartige Idee sein können, wirklich. Es hätte großartig sein können, aber dann kam Arata. Koi widerstand gerade so dem Impuls, ihm die Zunge herauszustrecken, als seine einzige Reaktion war, nachzufragen, was sie denn überhaupt spielen sollten. Als ob Koi das wüsste! Außerdem fand er, dass der gemeine Kerl sich ruhig auch mal beteiligen konnte. Es war immens befriedigend, dass auch Arata keine Idee hatte. „Alles, was mit Fangen oder Verstecken zu tun hat, ist raus“, kommentierte Hajime von vorne. Seine Stimme klang wieder einmal mahnend. Koi verdrehte die Augen – etwas, das er sich aber auch nur traute, wenn sein Leader es nicht sah. „Wir sind nicht dumm, Hajime-San!“ „Wie wäre es mit ich sehe was, was du nicht siehst?“, schlug Kakeru vor. Koi schüttelte fast augenblicklich den Kopf. „Zu dunkel! Wie soll das denn aussehen? Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist… dunkel?“ „Ich sehe was, das ist pink und nervig.“ – „Arata-Kun! Dich fragt niemand!“   „Wie wäre es mit Rätseln?“ – „Müssten uns erst einfallen, Aoi-San. Nicht so gut. Assoziationsketten?“ „Nicht mit Arata-Kun, Kakeru-San!“ Koi hätte nie gedacht, dass es so schwer wäre, ein simples Spiel zu finden. Aber es war faszinierend wenig simpel, ein Spiel zu finden, wenn man nicht einmal genug Licht hatte, um irgendetwas zu machen, das sich nicht nur aufs rein Verbale beschränkte. Eine ganze Weile ging die Diskussion weiter, hauptsächlich zwischen ihm und Kakeru, nachdem sich Arata dankenswerterweise raushielt, außer, wenn es darum ging, spitze Kommentare zu machen. Irgendwann war Koi so frustriert, dass er mit einem resignierenden Stöhnen die Hände in die Luft warf. „Flaschendrehen! Mit einer Taschenlampe.“ Die Idee gefiel ihm gut genug, dass er schnell wieder grinste. Er nutzte seine eigene Lampe, um in Aratas entgeistertes Gesicht zu leuchten – die Reaktion war ein genervtes Zungeschnalzen, das ihn noch breiter grinsen ließ. „Lampendrehen!“ „Abgelehnt“, gab Arata augenblicklich zurück. Aoi war weitaus höflicher damit, aber auch er lehnte es ab. „Ihr wollt nicht hier übernachten, also sucht euch ein Spiel, das man auch nicht-stationär spielen kann.“ Hajime hatte wenigstens ein Argument. Auch wenn das kein Problem war. Koi winkte lachend ab. „Keine Sorge! Das kriegen wir bestimmt hin!“ Man konnte die Lampe doch irgendwo dranbinden und dann eben die Kordel zwirbeln, und wenn sie sich ausgedreht hatte… „Wir brauchen eine ordentliche Idee, bevor dem Kerl noch eine Umsetzung für seine idiotische Idee einfällt.“   Alleine aus Protest Arata gegenüber hätte Koi seine Idee gerne durchgesetzt, aber Kai kam ihm schlussendlich zuvor, als er ein simples Frage-Antwort-Spiel vorschlug. Es klang sogar richtig witzig! Wer vor den Antworten kniff, bekam einen Strich, und wer am Ende die meisten hatte, musste eine Strafe absolvieren. Was auch immer. So richtig einig konnten sie sich nicht darin werden, wie diese Strafe aussehen könnte, also vertagten sie das Thema. Sie konnten auch erst einmal spielen und nachher die Strafe aussuchen. Hier draußen im Wald würde man sie wohl eh nicht einlösen können, und das klang besser, als noch ewig darüber zu diskutieren! (Im Endeffekt war es einerlei. Worüber sie auch sprachen, die Zikaden waren übertönt – aber Koi wollte ein Spiel!) Um die Antwortverweigerer zu notieren, landete nach kurzer Diskussion noch Kois Handy bei Hajime, der gleichzeitig Teilnehmer und Schiedsrichter sein würde, und nachdem endlich alle organisatorischen Kleinigkeiten geklärt waren, drehte Koi sich wieder schwungvoll zu seinen Freunden herum, klatschte auffordernd in die Hände.    „Also los! Mögen die Spiele beginnen!“     ***     „Lieblingsfarbe? Meine ist blau. Wie der Himmel, morgens vor dem Sonnenaufgang.“ „Blau.“ „Gold! Und alles, was auffällig ist!“ „Bin nicht wählerisch, solange es zusammenpasst! Aber ich mag pink ziemlich gern.“ „Lila. Blau. Grün. Schwarz.“ „Dunkel und unaufdringlich. Schwarz und violett sind angenehm.“ „Hab keine Lieblingsfarbe. Hauptsache, nicht pink.“ – „Arata-Kun!“   Es war wirklich lustig. Ganz wie Koi erwartet hatte, war das Spiel unglaublich unterhaltend. Klar, es waren Fragen dabei, die waren eher unspektakulär. Lieblingsessen. Hassessen. Wer brauchte das denn? Aus allen Kindheitsträumen und Kindheitsängsten war Koi auch herausgewachsen, weswegen sie für ihn eher langweilig waren, aber Kakerus Erzählung, dass er als Kind panische Angst vor Musikinstrumenten gehabt hatte, weil er immer darauf gewartet hatte, wann seine Eltern ihm eins aufzwingen würden, war schon wieder amüsant gewesen. Und Arata. Horrorfilme, sagte er. Etwas an Aois Blick ließ Koi zumindest hoffen, dass die Angst noch existierte, und er nahm sich vor, bei Gelegenheit einen Gravi-Filmabend zu organisieren. Mit Horrorfilmen. Ganz zufällig. Er wollte Arata doch nichts Böses, niemals. Die Frage nach ihren lächerlichsten Albträumen ließ bald darauf nicht nur Koi laut auflachen. Es war richtig gut! Kakeru erzählte, dass er als Kind oft von einem gigantischen Nikuman gejagt worden war, das ihn fressen wollte – so als Rache für all die Teigtaschen, die er in seinem Leben verspeist hatte. „Ich hab dann ein paar Wochen lang tatsächlich keine Nikuman gegessen.“ Ein paar Wochen. Koi musste grinsen. Natürlich hatte Kakeru das nicht länger ausgehalten, auf irgendein Nahrungsmittel zu verzichten, das er grundlegend aß. Aratas peinlichster Albtraum hatte irgendetwas mit Haien in rosa Tutus zu tun. Aoi war weniger spektakulär – aber irgendwie niedlich. „Hab geträumt, ich wäre ein Mädchen.“ „Du wärest ein sehr hübsches Mädchen“, kommentierte Arata trocken. Aois empörten Protest ignorierte er konsequent. „Frag You. Soll ich ihm mal die Fotos von damals zeigen? Vierte Klasse? Theateraufführung?“ – „Arata, es ist genug!“   Alle lachten, außer Aoi, dessen Gesicht selbst in der Dunkelheit sichtbar rot geworden war. Koi wollte die Fotos sehen. Es war beinahe schade, dass Arata sie ihm niemals zeigen würde, dieser gemeine Kerl.   Die restlichen Albtraumgeschichten konnten sich alle nicht mit Kakerus Kakeru-fressenden Nikuman messen. Die waren einfach viel zu genial, fand Koi. Hajime war wirklich langweilig – es war der typische nackt-in-der-Schule-Traum, den er hatte. Rui erzählte zugeknöpft davon, dass er keine peinlichen Albträume gehabt hatte, nur solche, in denen seine Familie stritt; Kakeru stand sofort ins Gesicht geschrieben, wie Leid ihm seine Frage tat. „Ist okay“, gab Rui zurück. Er sah tatsächlich nicht aus, als würde es ihn belasten, aber ehrlich, in seinem Gesicht konnte Koi sowieso noch nie auch nur ansatzweise lesen. „Es ist besser. Heute vertragen wir uns wieder.“ Er sah ein kurzes, zufriedenes Lächeln auf Kais Gesicht, das Koi den Eindruck vermittelte, der junge Mann wüsste mehr als er. Hauptsache, Rui ging es besser und Kakeru musste kein schlechtes Gewissen haben, denn Koi mochte seine Frage sehr! „Eine Höhle“, erzählte Kai. Er grinste, völlig unbekümmert von aller möglichen Peinlichkeit seiner Geschichte, „Mit nem Schild davor. Menschenfressende Menschen. Ich hab‘s im Traum gelesen und dachte mir, es wäre ne gute Idee, da reinzugehen. War es natürlich nicht, entsprechend ist mein Traum auch geendet, aber es war so dämlich selbstverschuldet, dass ich schon beim Aufwachen wieder lachen musste.“ „Es ist wirklich dämlich, Kai“, kommentierte Rui nüchtern. Kakeru lachte herzlich, schüttelte den Kopf. „Wie gut, dass es solche Höhlen nicht wirklich gibt! Sonst würden wir Kai-San doch glatt verlieren.“ „Mein peinlichster Albtraum war die ganz banale Tatsache, dass mein geheimer Süßigkeitenvorrat plötzlich leer war. Ich schwöre, es war schrecklich! Ich bin panisch aufgewacht und hab erstmal meine Schubladen durchwühlt, bis ich alles wiedergefunden habe. …und dann hab ich den Großteil aufgegessen, weil der Stress mich hungrig gemacht hat.“ Koi würde niemals behaupten, dass seine Träume spektakulär waren. Mussten sie auch nicht, denn sein Leben übernahm das schon sehr gut – und es war ihm mehr als genug, dass er Kakeru und den Rest der Truppe mit der kleinen Erzählung zum Lachen brachte. Selbst Arata ließ sich zu einem amüsierten Schnauben herab. „Pass auf, dass dein Albtraum nicht wahr wird“, drohte er.   Koi würde sich angewöhnen müssen, seine Zimmertür nachts zu verbarrikadieren.   „Was sind eure Lieblingsplätze? Ich mag Kais Veranda. Und den Gemeinschaftsraum im Wohnheim.“ „Ach stimmt ja. Rui und Kai-San haben zusammengewohnt, ehe sie hergekommen sind! Äh. Mein Lieblingsplatz ist auf der Arbeit…? Ich fühl mich einfach gut, wenn ich was Sinnvolles tue!“ „Mein Zimmer.“ „Draußen in der Sonne! Wobei manchmal vor dem Fenster bei Sommerregen auch nett ist.“ „Vor dem Internet! Es gibt nichts cooleres, als durch die ewigen Weiten des World Wide Web zu surfen!“ „In der Zuschauermenge eines Idol-Konzerts. Oder auf der Bühne.“ „Kein Kommentar? Ich glaube nicht, dass ich eine brauchbare Antwort habe.“   „Wie alt wart ihr bei eurem ersten Kuss? Ich war zwölf.“ Arata grinste. Koi stolperte vor lauter Schreck, und aus dem Augenwinkel sah er, wie Kakerus Taschenlampe hektisch zuckte. Er starrte Arata an, ungläubig und empört, spürte, wie Hitze in seine Wangen kroch. Das war doch wirklich kein passendes Thema für eine Nachtwanderung, während sie auf der Suche nach Geistern waren! (Auch wenn sie letzteren Teil irgendwie sehr vergessen hatten. Koi störte es nicht.)  „Definiere erster Kuss. Erster ernsthafter Kuss aus romantischen Gründen, oder zählen auch alle Mutproben und Schultheaterküsse dazu?“ Hajime machte es nicht besser. Vor allem deshalb nicht, weil Arata es natürlich nur auf ernsthafte Küsse bezog. Koi verzog das Gesicht unselig, presste die Lippen zusammen. Das war nicht fair! Das ganze Thema war blöd, und er war sich fast sicher, dass Arata es mit Absicht gemacht hatte, einfach nur, um hier irgendjemanden zu foppen. (Ihn, wahrscheinlich. Pah!)  „Ändert meine Antwort übrigens nicht. Zwölf.“ „Vierzehn“, war Hajimes Antwort. Kois Mundwinkel verzogen sich immer mehr. „Zwölf“, verkündete Aoi leise. Er lächelte verlegen. Kois Blick wanderte weiter, blieb an Rui hängen, der gerade den Mund aufmachte. „Sechszehn.“ Koi fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, so sehr schockierte ihn die Antwort. Er starrte Rui ungläubig an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Öffnete ihn noch einmal. „Was?! Sogar Rui-Kun–?!“ – „Sag nicht, du hast noch nie jemanden geküsst?“ Koi gab einen leidenden, unglücklichen Laut von sich und schüttelte vehement den Kopf. Auch wenn es stimmte – das würde er ganz sicher nicht sagen, wenn Arata danebenstand und ihn so dämlich schadenfroh ansah. „Ich verweigere die Aussage!“ „Wir wissen deine Antwort doch eh alle. Sag’s doch einfach, dann sparst du dir den Strich.“ „Kein Kommentar!!!“   Es war deprimierend, dass selbst Kakeru eine Antwort geben konnte. Elf war er gewesen, erzählte er stammelnd, und Koi verzog unglücklich das Gesicht, weil es einfach unfair war, dass selbst der Pechvogel mehr Liebesglück hatte als er. „Und du, Kai-San?“ Kai sah einen Moment fast verwirrt drein. So, als müsste er ernsthaft darüber nachdenken. Schon so lange her? Schon so viele Küsse? Koi wollte es sich gar nicht so genau ausmalen, es würde ihn nur noch mehr ärgern! „Neunzehn.“ Gar nicht lange her. Er sah den Mann verblüfft an, sah dann zu Kakeru hinüber, der ähnlich verblüfft den Kopf schüttelte. „Ich hätte gedacht…“ – „Ich weiß, was du meinst.“ Kai war jetzt zwar kein Weiberheld, aber er wirkte durchaus wie jemand, der viel Erfolg bei den Mädchen haben konnte! Frauen mochten doch Typen, die groß und zuverlässig waren, wieso also nicht? Sein Blick kehrte immer noch sehr verwirrt zu Kai zurück, der aber nur geheimniskrämerisch grinste. Vielleicht würde Koi es sich für eine der nächsten Fragen merken.   Vielleicht wollte er von dem Thema aber auch nur ganz schnell wieder weg.   Arata war ein Teufel. Ein Teufel, der viel zu viel Spaß daran hatte, immer wieder Fragen zu stellen, auf die Koi keine Antwort geben wollte. Leider war der Dreckskerl damit nicht einmal alleine – und sei es nur aus Ideenmangel, aber auch in den Fragen der anderen kamen immer wieder Dinge auf, die einfach nicht okay für Koi waren! Er litt. Er fühlte sich regelrecht verraten, ernsthaft. Sehr verraten, also gar Kakeru schlussendlich auf den fahrenden Zug aufsprang: „Seid ihr verliebt?“ Er sah in die Runde, große Augen aufmerksam. Erst, nachdem er die Frage gestellt hatte, schien ihm bewusst zu werden, dass er selbst antworten musste – er errötete schlagartig und verzog verlegen das Gesicht. Sein Blick huschte zu Koi hinüber. Er schnitt selbst eine Grimasse. Die Frage war doch dumm gewesen! Und viel zu privat! Die wollte Koi auch nicht beantworten, wenn er ehrlich war. „Ich bin verliebt!“, verkündete Kakeru schließlich tatsächlich noch, und er sah aus, wie Koi sich fühlte – als würde ihm das Herz bis zum Hals schlagen. Ihm wurde mulmig. Kakeru sah ihn immer noch an. „Ich… auch.“ Er hatte nicht antworten wollen – es war einfach so herausgerutscht!   Die Tatsache, dass irgendwie niemand – nicht einmal Rui! Koi war langsam echt schockiert – verneinte, machte die Peinlichkeit um einiges erträglicher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)