Leuchten von NaokoSato ================================================================================ Kapitel 3: Wetterleuchten ------------------------- Sie lagen im Wohnzimmer auf dem Boden und hörten nur auf die Musik. Es lief eine von Einars Lieblingsplatten, ein Musical von dem Tarek noch nie etwas gehört hatte. Aber eigentlich hatte er von keinem der Künstler etwas gehört, die Einar hatte. Tarek mochte tanzbare Musik. Er ging gerne in die Clubs und tanzte sich den Kopf frei. Ohne Beat war Musik langweilig. Jetzt lag er hier schon seit mehreren Stunden und lernte, dass es gar keinen Beat brauchte. Was auch immer Einar aufgelegt hatte, hatte ihm gefallen. Diese Erkenntnis fand er sehr faszinierend und fragte sich, weshalb er so lange dafür gebraucht hatte. Plötzlich wurde die Ruhe allerdings durch das Summen von Einars Handy gestört, der seufzend aufstand und das eingehende Telefonat annahm. „Wir müssen doch nochmal raus“, verkündete er grinsend und machte die Musik aus. „Wieso?“ „Ich muss zum Optiker.“ „Du hast eine Brille? Oder Kontaktlinsen?“, wunderte Tarek sich, der weder das eine noch Hinweise auf das andere gesehen hatte. „Noch nicht. Die haben gerade angerufen, dass ich meine neue Brille abholen kann“, erklärte Einar. „Meine alte ist vor kurzem total zerstört worden, als sie mir in der Küche runtergefallen ist und ich Volltrottel draufgetreten bin.“ „Soll das heißen, du siehst momentan nicht viel?“ Einar lachte. „Ich sehe genug, so schlecht sind meine Augen nicht, aber mit der Zeit wird es anstrengend. Ein Film im Kino ist die Grenze des Möglichen.“ „Dann holen wir dir jetzt die Brille und gehen dann in eine Doppelvorstellung“, schlug Tarek grinsend vor. „Jetzt werd mal nicht übermütig.“ Wieder lachte Einar und ging zum Schrank, um sich ein neues Shirt zu holen. Als er sich das alte T-Shirt auszog, fiel Tarek eine lange Narbe auf, die quer über seinen Rücken ging. Instinktiv wollte er danach fragen, ahnte aber, dass er damit nur in Wunden bohren würde, also ließ er es sein. Zum Dank wurde er mit einem T-Shirt beworfen. „Hier, das dürfte dir passen und ist sauber“, lächelte Einar ihn an. „Danke“, murmelte Tarek und zog es über. Nach dem Kaffee und dem Gespräch in der Küche hatte er geduscht und sein neues Hemd nicht wieder angezogen, weil es den gestrigen Abend nicht sauber überstanden hatte. Sie liefen wieder in die Innenstadt, benötigten diesmal nur eine halbe Stunde. Es war immer noch heiß und die Luft flirrte über den Straßen, aber sie liefen unter den großen, alten Bäumen in Einars Viertel entlang und holten sich zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt Frappuccinos für den Weg. Tarek erzählte auf dem Weg viel von seiner kleinen Schwester, die ihn als Kind ständig genervt hatte und als Erwachsene weiter machte. Sie war gerade achtzehn geworden und machte eine Ausbildung zur Krankenschwester, wie ihre Mutter eine war. Aus jedem Wort, das er über sie sagte, hörte Einar heraus, dass Tarek sie trotzdem von ganzem Herzen liebte und jedem wehtun würde, der ihr wehtat. „Du liebst deine Familie“, stellte Einar daher fest als sie an einer Ampel warten mussten. „Am Ende sind sie diejenigen, die du hast. Freundschaften können zerbrechen, manche sehr schnell, aber Familie bliebt. Ich stimme nicht mit allem überein, was meine Eltern oder Yasmin tun und denken und sagen, aber ich liebe sie trotzdem. Und du bist der erste, dem ich das so offen sagen kann...“ Einar strahlte ihn an. „Das freut mich“, sagte er leise. Lächelnd schüttelte Tarek den Kopf und sah zur Ampel, die gerade wieder auf Rot schaltete. „Und jetzt müssen wir weiter warten.“ „Deine Schuld.“ „Meine? Niemals! Deine!“ Sie lachten. Zehn Minuten später standen sie beim Optiker und Einars Brille wurde ein letztes Mal angepasst. Einar hatte ihn angegrinst, als er sie das erste Mal aufgesetzt hatte. Sie war perfekt für ihn, auch wenn für Tareks Geschmack zu viele Idioten mit ähnlichen Brillen durch die Gegend liefen, denen sie nicht einmal standen. Bei Einar war das anders. Das dunkle Gestell war wie für sein Gesicht gemacht. Schon im ersten Moment wurden Brille, die dunkelblonden Locken und das leicht kantige Gesicht zu einer Einheit. Einer makellosen Einheit. Etwas erschrocken über seine eigenen Gedanken schüttelte Tarek schnell den Kopf und sah aus dem Schaufenster nach draußen. Die Fußgängerzone war so gut wie leer, und die wenigen Menschen, die vorbei liefen, hatten Eis oder kalte Getränke in der Hand, einige auch Schirme gegen die Sonne. Durch Tareks Kopf schossen aber andere Dinge als der Kampf gegen den Sommer. Wieso hatte er das gedacht? Was sollte das bitte bedeuten? Einmal mehr zutiefst verwirrt bemerkte er nicht, dass Einar neben ihn trat und verkündete, dass sie gehen konnten. Erst als sein Arm angestupst wurde, fand er wieder zurück in die Gegenwart. „Wo warst du denn?“, lächelte Einar ihn an. „Weg“, gab Tarek leise zu. „Lass uns gehen.“ Tarek sah ihn fragend an. „Wohin?“ Einige Sekunden überlegte Einar, dann nickte er und ging einfach los. „Sagst du mir jetzt, wo wir hin gehen?“, rief Tarek, folgte ihm aber. „Wir holen uns noch was zu trinken und dann gehen wir zu einem meiner Lieblingsplätze in der Stadt.“ „Klingt gut“, erwiderte Tarek. Sie holten sich in einem Coffeeshop riesige Becher frischen Eistee. Noch etwas, was Tarek eigentlich nicht mochte, aber es schmeckte und schien Einar glücklich zu machen, zwei Gründe, Vorurteile über Bord zu werfen. Dann gingen sie in einen Park und dort in die Nähe eines kleinen Sees, der von Ruder- und Tretbooten bevölkert wurde. Auf dem großen Spielplatz direkt neben der Eisdiele liefen Kinder, aufgeputscht von Eis, durch den Sand und Eltern saßen auf den Bänken im Schatten und beobachteten ihre Sprösslinge. Die Terrasse des Cafés war voller Rentner, die sich über den Lärm der Kinder beschwerten und die Schlange am Fenster für den Straßenverkauf schien unendlich. Einar führte Tarek an all dem vorbei und bog in einen ruhigeren Teil des Parks ein, wo sich alte, kaum beachtete Laubengänge befanden, an deren Steinsäulen Efeu empor wuchs. „Hier komme ich gern her zum Lesen. Der Lärm dringt kaum durch die Pflanzen und Säulen und kein Mensch verirrt sich hier her.“ „Nur du“, korrigierte Tarek. „Ja, nur ich. Früher saßen hier öfter irgendwelche Säufer, aber seit der Spielplatz vorne existiert und der ganze Park aufgeräumt wurde, kommt die Polizei öfter vorbei und die Säufer sind weg. Jetzt ist es einer der friedlichsten Orte, die ich kenne“, erklärte Einar. „Ich glaube, ich weiß, was du meinst.“ „Komm, setzen wir uns“, lächelte Einar und ging zu einer der Steinbänke, die zwischen den Säulen standen. „Wie oft kommst du her?“, fragte Tarek. „Immer wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, ich aber trotzdem meine Ruhe haben will“, meinte Einar mit geschlossenen Augen. „Natürlich muss das Wetter mitspielen.“ „Hast du viele solcher Orte?“ „Nur das Dach und diese Ecke hier. Wenn mir nach Trubel ist, setze ich mich aber auch gern einfach in ein Café, trinke meinen Kaffee dort und lese.“ Tarek zögerte, dann fragte er leise: „Darf ich dir eine Frage stellen, die etwas persönlicher ist? Du musst sie auch nicht beantworten, wenn du nicht willst.“ „Das kommt auf die Frage an“, antwortete Einar. „Die Narbe auf deinem Rücken... woher kommt die?“ Einar sah ihn mit großen Augen an, dann senkte er den Kopf. Er wusste, dass er darüber reden musste, irgendwann, und er ahnte, dass Tarek genau der richtige Mensch dafür war, aber war er bereit? Er schluckte, atmete tief durch und begann: „Die Ex-Beziehung. Bevor wir zusammen waren, war ich noch kein Einzelgänger, ganz im Gegenteil. Aber er war eifersüchtig. Jedes Mal, wenn ich mich mit meinen Freunden traf, musste ich Rechenschaft ablegen. Ich war wirklich verliebt und wollte für immer mit ihm zusammen sein, also tat ich alles, um ihn zu halten. Ich gab meine Freunde auf, meine Zeit für mich. Wir zogen zusammen und wenn ich später als gewöhnlich von der Arbeit kam, ließ ich die Vorwürfe über mich ergehen. Meine Mutter meinte einmal zu mir 'Du bist nicht mehr du', und sie hatte Recht. Dann fing in dem Laden, in dem ich damals gearbeitet habe, ein neuer an und wir verstanden uns wirklich gut, als Freunde. Ich hatte nur noch auf der Arbeit die Chance so etwas wie eine Freundschaft aufzubauen, und ich wollte das so sehr. Jeder braucht doch Freunde, oder? Während der Arbeitszeit war auch alles gut, doch dann gingen wir eines Tages gemeinsam in der Pause essen. Wir redeten und lachten und taten nichts, was wir sonst nicht auch taten, nur dass wir keine Bücher dabei einsortierten, sondern aßen. Am Abend kam ich nach Hause und er rastete aus. Ich würde ihn betrügen, ihn hintergehen, ihn nicht wirklich lieben. Egal, was ich sagte, es wurde nicht gehört. Alles Ausreden. Die Freundin meines angeblichen Kollegen würde ich auch nur erfinden. Ich saß heulend in der Ecke und es hörte nicht auf. Ich wollte nur noch raus. Und er hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Ich rannte und er schaffte es nur, meinen Rücken zu streifen. Ich rannte den ganzen Weg durch die halbe Stadt zu meiner Mutter und fiel ihr heulend in die Arme, mein kompletter Rücken voller Blut. Sie brachte mich ins Krankenhaus und danach zur Polizei. Freunde meiner Mutter, gestandene Männer, holten meine Sachen aus der Wohnung, meine Klamotten, die Bücher und ein paar meiner Platten. Ich holte mir ein neues Telefon mit anderer Nummer, suchte mir einen anderen Job und zog in meine jetzige Wohnung. Er wurde auf Bewährung verurteilt und darf nicht mehr in meine Nähe kommen. Die Angst, dass er trotzdem wieder auftaucht, bleibt aber. Deswegen gehe ich selten aus. Und wenn ich nicht hier bin, dann immer an Orten mit vielen Menschen. Er kennt diesen Ort nicht. Zum Glück.“ Tausend Gedanken gingen in Tareks Kopf umher, aber einer ließ ihn handeln. Wie schon im Kino zog er den wieder weinenden Einar einfach in seine Arme und strich ihm sanft über den Rücken. Jedes Wort wäre zu viel gewesen. Einar krallte sich wieder an ihm fest und weinte einfach. Diese Geschichte zu erzählen hatte ihm alles abverlangt und er war dankbar, dass Tarek ihn einfach nur hielt. Zu viele Bilder tauchten wieder auf, Bilder, die er gern vergessen hätte. Zu viele Tränen bahnten sich ihren Weg, die er gern zurück gehalten hätte, aber er ließ sie laufen. Jede Träne, die floss, machte es leichter. Jedes mal, wenn Tareks Hand über seinen Rücken strich, fühlte er sich besser. Es dauerte, aber die Tränen versiegten schließlich. Einar allerdings blieb an Tarek gelehnt, und Tarek behielt ihn in seinen Armen. Beide wussten, dass Einar den Halt, den sie ihm gaben, noch brauchte. So saßen sie eine gefühlte Ewigkeit da, im Schatten der Säulen in dieser verlassenen Ecke des Parks, ganz in der Ferne war Kinderlachen zu hören. „Wie... Wie lange ward ihr zusammen?“, fragte Tarek dann doch irgendwann. „Fünf Jahre“, flüsterte Einar. „Wenn es nach mir geht, wird dir nie wieder jemand so weh tun“, sagte Tarek bestimmt. Einar löste sich von ihm und sah ihn mit großen Augen an, die Brille hing schief auf seiner Nase, dann fiel er Tarek einfach um den Hals. „Danke“, hauchte er kaum hörbar. Wieder drückte Tarek ihn an sich und wieder strich er ihm über den Rücken. „Schon gut.“ Mehrere Minuten saßen sie so da, bis Einar sich endgültig beruhigt hatte und sich langsam von Tarek löste. Er fühlte sich das erste Mal seit Jahren wieder vollkommen wohl. Tarek sah ihn unsicher an. „Besser?“, fragte er leise. „Viel besser, Danke.“ antwortete Einar lächelnd und befreite seine Brille von Tränenrückständen. Er wurde von Tarek dabei beobachtet, in dessen Kopf gerade absolutes Chaos herrschte. In seiner Erzählung hatte Einar doch von einem Er gesprochen, oder hatte er sich verhört? Plötzlich tauchten wieder Bilder auf: Einar beim Ins-Bett-Gehen, sein Rücken beim Umziehen vorhin, sein Grinsen beim Optiker, die verwuschelten Haare beim Aufwachen. „He!“ Einar stupste ihn an. „Ich frage nicht viermal, ob wir gehen wollen.“ Tarek blinzelte ihn ein paar Mal an. „Ja, klar.“ „Sehr gut. Ich habe Hunger“, lächelte Einar. Seine Augen waren noch rot, sein Strahlen aber war echt. „Worauf hast du denn Lust?“, wollte Tarek wissen während sie sich auf den Weg machten. „Weiß ich noch nicht.“ Einar schien es wirklich besser zu gehen, stellte Tarek fest. Nachdem sie ein Stück schweigend zurückgelegt hatten, traute Tarek sich, eine der zwei Fragen zu stellen, die ihm durch den Kopf gingen. „Sag mal, dein Ex... ist ein Mann, oder?“ Einar nickte. „Alle meine Ex-Freunde sind Männer“, gab er leise zu, auf Ablehnung gefasst. So wie Einar befürchtet hatte, blieb Tarek auf einmal stehen. Etwas ängstlich drehte er sich um, doch statt Ablehnung oder Ekel oder Wut sah er in Tareks Gesicht Verwirrung. „Alles in Ordnung?“, fragte Einar vorsichtig. Tarek sah ihn an und schüttelte langsam den Kopf. Dann überwand er die Entfernung zwischen ihnen in einem Schritt, legte seine Hand in Einars Nacken und küsste ihn. Nach dem Kuss wurde auch seine zweite Frage beantwortet. Die Antwort: Ja, es fühlte sich sehr gut an, Einar zu küssen. Der Geküsste hingegen war nun sehr verwirrt und sah Tarek vollkommen fassungslos an. „Was...?“, war das einzige Wort, das er zustande brachte. „Ich... ich weiß nicht...“, gab Tarek leise zu, raufte sich die Haare und ging an Einar vorbei. „Warte“, rief Einar und folgte ihm. „Es tut mir leid“, murmelte Tarek als Einar wieder neben ihm lief. „Warum hast du es getan?“ Tarek zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich einfach Neugier.“ „Und was hast du rausgefunden?“ „Deine Lippen sind weich“, flüsterte Tarek. Einar sah ihn ein paar Momente an, dann murmelte er ein Danke und musste lachen. Etwas irritiert wunderte Tarek sich, was daran so komisch war, allerdings dauerte das nicht lange, da Einars Lachen sehr ansteckend war. „Jetzt weiß ich, was ich essen will“, sagte Einar als er sich beruhigt hatte. „Was?“ „Pizza.“ Tarek nickte nur und ging weiter. Er versuchte wieder so selbstsicher wie immer zu wirken, doch innerlich verfluchte er sich für sein Handeln. Ja, die zweite Frage in seinem Kopf war „Ob es sich wohl gut anfühlt, Einar zu küssen?“ gewesen, aber musste er wirklich auf alles eine Antwort bekommen? Er war so dumm... „Alles ist gut“, meinte Einar neben ihm und lächelte ihn an. „Wirklich?“ „Ja, du hast mich überrascht, aber ich bin dir nicht böse oder so.“ „Echt nicht?“ „Nein. Der Letzte, der mich geküsst hat, hat mir den Rücken zerschnitten und hätte sicher noch schlimmeres anstellen können, da bin ich froh, dass ich jetzt einen neuen Kuss habe. Und ganz ehrlich: Du bist darin nicht schlecht.“ Grinsend sah Einar Tarek an und ohne etwas dagegen tun zu können, lächelte Tarek zurück, wurde aber gleichzeitig rot. „Danke“, murmelte er. Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis Einar sie zu seinem Lieblingsitaliener gelotst hatte, ganz unauffällig. Solange Tarek nichts dagegen hatte, konnte er das schon machen. Und Tarek schien immer noch peinlich zu sein, was er getan und was Einar gesagt hatte. Die Verlegenheit machte ihn richtig süß, irgendwie. Schnell verdrängte Einar den Gedanken wieder und suchte einen Tisch für sie beide. Nach dem Essen sah Tarek das erste Mal wieder auf sein stumm geschaltetes Handy. Irgendwas musste passiert sein. Seine Mutter hatte ihn zigmal angerufen und seine Schwester hatte ihm schon am Nachmittag, als er gerade Einar tröstete, eine Nachricht geschickt, in der sie fragte, wo er steckte. Normalerweise schrieb er seinen Eltern schnell eine SMS, damit sie sich keine Sorgen machten, wenn seine Schuhe am Morgen nicht im Flur standen. Seit er Einar kannte, war ihm das egal. „Ich fürchte, ich muss nach Hause, sonst schickt meine Mutter einen Suchtrupp los“, erklärte er beim Verlassen des Restaurants. „Schon gut. Melde dich einfach morgen, ja?“ Einar lächelte ihn breit an. „Mach ich“, lächelte Tarek zurück und umarmte Einar nochmal kurz. „Und wenn du mich brauchst, ruf an.“ Einar nickte. „Du aber auch.“ „Bis morgen“, verabschiedete Tarek sich und ging zum Bus. Einar sah ihm noch nach, dann schlenderte er in die andere Richtung davon. Beim letzten offenen Eiscafé holte er sich noch drei Kugeln Eis, alles Schoko, und lief dann langsam nach Hause. Die Luft war noch warm und sehr feucht, Regen und Gewitter lagen in der Luft. Doch der erste Tropfen fiel erst, als Einar gerade seine Haustür öffnete. Er ging nach oben und sah aus dem Treppenhausfenster, wie der Regen einsetzte. In seiner Wohnung öffnete er schnell alle Fenster, um die heiße Luft raus zu lassen. Der Regen würde sie weg waschen, wie er auch den Sommerstaub aus der Luft und von den Blättern der Bäume wusch. Nach und nach mischte sich unter das Prasseln des Regens das Grollen des Donners. Die Bäume vor seinem Fenster wurden immer öfter von Blitzen erleuchtet und Einar konnte nichts anderes tun, als im Dunkeln auf seinem Schreibtischstuhl zu sitzen und nach draußen zu starren. Ab und zu wanderten seine Finger zu seinen Lippen und betasteten diese. Ein Mensch, den er mochte, hatte ihn geküsst. Dabei war es vollkommen egal, dass Tarek nur ein Freund war. Es war endlich einmal ein gutes Gefühl, eine gute Erinnerung an einen Kuss. Die Küsse seines Ex waren zerfressen gewesen von Eifersucht und Kontrollwahn. Nie hatte Einar ihn so küssen können, wie er es gewollt hatte. Vielleicht ganz am Anfang, aber das war so weit weg, dass es ein anderes Leben war. Dieser Mensch vom Anfang war lange verschwunden. Der Mensch, der Einar die Welt zeigen wollte, der Einar einfach nur glücklich machte. Damals war der Anfang anders gewesen als jetzt mit Tarek. Sie hatten sich kennengelernt und waren noch am selben Abend im Bett gelandet. Selbst wenn Tarek wirklich nichts mit ihm anfangen würde, und dafür sprach einiges, so gäbe es doch die Möglichkeit einer Freundschaft. Die Wahrscheinlichkeit dafür, schätzte Einar, lag bei 99 Prozent. Nachdem er festgestellt hatte, dass es rein regnet und er alle Fenster wieder geschlossen hatte, legte Einar sich auf seine Matratze und las. Fünf Kapitel später klingelte es. Unsicher sah Einar auf seine Uhr, mittlerweile war es halb zwei Uhr nachts. Panik stieg in ihm auf. Wer würde um diese Uhrzeit bei ihm klingeln? Doch nur einer und der durfte ihm nicht zu nahe kommen. Einar wusste, dass diese Person es trotzdem versuchen würde. Er zog das Laken über seinen Kopf und umklammerte sein Handy mit der Hand, für den Fall, dass er schnell die Polizei rufen müsste. Es klingelte wieder und Einar rollte sich zusammen. Wenn er sich ganz klein machte, verschwand er doch, oder? In seiner Hand vibrierte sein Handy. Vorsichtig schielte er auf das Display. „Eingehender Anruf: Tarek“, verkündete das Gerät und erleichtert nahm Einar ab. „Hallo“, lächelte er leise. „Hey. Ich will... kann ich hoch kommen?“, fragte Tarek mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme. Er schien Angst zu haben. „Ja, klar. Warte kurz.“ Einar stand schnell auf und öffnete ihm die Tür. Vollkommen durchnässt und mit hängendem Kopf kam Tarek die Treppe hoch, langsam humpelnd. „Hallo“, grüßte Einar ihn vorsichtig. Tarek sah ihn ausdruckslos an, sein linkes Auge geschwollen. „Hallo“, murmelte er. „Scheiße, was ist passiert?“, fragte Einar erschrocken. „Kann ich hier schlafen?“, fragte Tarek zurück. „Klar, komm rein“, meinte Einar und ließ Tarek vorbei. „Wurdest du überfallen?“ „Nein“, kam es nur von Tarek, der tropfend im Flur stehen blieb. „Was ist passiert?“, wollte Einar wissen während er ein Handtuch holte. Tarek antwortete nicht. „Du willst nicht darüber reden?“ Tarek schüttelte den Kopf und ließ sich von Einar den Kopf trocken rubbeln. „Du blutest“, murmelte Einar und berührte eine Stelle an Tareks Augenbraue, aber er meinte auch seine Lippe. „Kann sein.“ Tarek war erschreckend teilnahmslos und ließ sich widerstandslos ins Bad ziehen, wo Einar ihn auf den Badewannenrand setzte und Pflaster suchte. Als die Pflaster geklebt waren, sah Einar ihn an. „Zieh die Klamotten aus, die sind zu nass“, forderte er Tarek auf. Ohne eine Regung zog Tarek sich bis auf die Unterhosen aus, obwohl selbst diese nass waren. Einar erschrak abermals als er mit einer Trainingshose und einem neuen T-Shirt wieder ins Bad kam. Auf Tareks gesamtem Körper begann die Haut, sich zu verfärben. Morgen würde er mit blauen Flecken übersät sein. „Welches Arschloch war das? Den mach ich fertig“, platzte es wütend aus Einar heraus während er Tarek die Klamotten reichte. Tarek schüttelte nur den Kopf und trocknete sich ab. „Tee?“, fragte er Einar. „Klar, ich mach uns welchen. Hast du besondere Wünsche?“ „Irgendwas mit Früchten?“ „Geht klar“, antwortete Einar und ging in die Küche. Immer noch abwesend zog Tarek die trockenen Sachen an und schlurfte ins Wohnzimmer, wo er sich aufs Bett setzte. Alles tat ihm weh, aber das war nicht das wichtigste im Moment, da die Verzweiflung überwog. Einar brachte ihm schließlich eine große Tasse Tee, die nach Weihnachten duftete. „Mit Früchten habe ich gerade nur Weihnachtssorten da, sorry“, lächelte er schief. „Schon gut“, murmelte Tarek und trank schweigend. Einar wollte so gern nachfragen, doch er ließ es. Er wollte ihn so gern in den Arm nehmen und trösten, doch er ließ es. Er wollte so viel auf einmal tun, doch er setzte sich nur auf den Boden und sah zu Tarek. Dieser stellte irgendwann die leere Tasse neben die Nachttischlampe und rollte sich zusammen. Er weinte. Worüber er nicht weinte, waren seine Schmerzen. Es war alles, was er verloren hatte, das ihm die Tränen in die Augen trieb. Und es war sein Stolz, der Einar wegschob, als dieser seine Hand nach ihm ausstreckte und ihn trösten wollte. Einar rutschte weg und beobachtete, an den Kleiderschrank gelehnt, nur, wie Tarek immer kleiner wurde. Er wollte so gerne für ihn da sein, so wie der andere für ihn da gewesen war. Er wollte ihm helfen, wollte Rache üben, wollte die Verletzungen verschwinden lassen, die sichtbaren und unsichtbaren. Und ja, es verletzte ihn ein wenig, dass Tarek das nicht zuließ. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde Tarek ruhiger. Einar, der schließlich den Blick abgewandt hatte und dessen Kopf auf seinen Knien lag, hörte leise seinen Namen. Er machte sich nicht die Mühe aufzustehen, sondern krabbelte auf allen Vieren zum Bett und sah Tarek an. „Lass uns schlafen“, flüsterte der nur und rückte zur Seite, damit Einar sich hinlegen konnte. „Schlaf gut“, murmelte Einar als er lag. „Du auch.“ Sie lagen wieder nebeneinander und sahen an die Decke, doch Tarek tastete sich bald mit der Hand zu Einars Hand vor und drückte diese. Einar erwiderte den Druck leicht und im nächsten Moment lag Tarek dicht neben ihm. Einar lehnte sich ebenfalls rüber, so dass sie Hand in Hand, Arm an Arm, Kopf an Kopf einschliefen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)