Uncertain Heart von Khaleesi26 ================================================================================ Kapitel 28: Flashback I – Kari ------------------------------ „Die Lüge, die man am wenigsten ertragen kann, ist die eigene.“ Tokyo Ghoul re (Band 8) In diesem Moment, als die Wahrheit wie eine Welle auf mich einschlug, war es, als würde sie mich ersticken. Als würde jegliches Leben aus mir weichen. Ich fühlte mich ohnmächtig. Der Schmerz war so stark und füllte jede Pore meines Seins aus, so dass ich nichts mehr spürte. Keinen Groll. Keine Wut. Keinen Hass. Da war einfach nur Leere, sonst nichts. Geistesabwesend starrte ich immer noch auf die Zettel in meiner Hand. Ein paar kleine Worte, die die Macht hatten, alles zu zerstören, woran ich geglaubt hatte. Hatte ich das? Hatte ich der Lüge wirklich geglaubt? Vielleicht war es einfach zu schön, um es wahrhaben zu wollen. Zu schön, um das Offensichtliche zu sehen. Tief im Inneren wusste ich es doch. Ich hatte es geahnt. Aber es jetzt schwarz auf weiß zu sehen war doch um so vieles schmerzhafter, als in meinen Albträumen. Die Realität erschlug mich und raubte mir die Luft zum Atmen. Keine Ahnung, wie lange Kari schon an meiner Schulter rüttelte, ehe ich wieder zu mir kam. „Mimi? Mimi, man… du machst mir echt Angst. Jetzt sag doch was.“ Mit sorgenvollem Blick sah sie mich an. Verwirrt blickte ich mich um. Jetzt fiel es mir wieder ein. Wie in Trance war ich nach draußen gerannt. Weil ich keine Luft mehr bekommen hatte. Weil ich in seiner Nähe nicht mehr atmen konnte. Die frische Nachtluft schlug mir entgegen und bereitete mir Kopfschmerzen. Mein Blick ging wieder zu Kari, die immer noch vor mir stand und mich an beiden Schultern gepackt hielt. Als hätte sie versucht mich wachzurütteln. „Oh man, geht’s wieder? Was ist denn nur los mit dir?“ Ihre Stimme zitterte. Sie hatte Angst. Doch nicht so viel Angst, wie ich. Ohne groß darüber nachzudenken griff ich in meine Tasche und holte die zerknitterten Zettel hervor, die ich offenbar dort reingesteckt haben musste. Ich hielt sie Kari hin und kurz wirkte es, als müsste sie darüber nachdenken, ob sie sie nehmen und lesen sollte oder nicht. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Ich hätte sie selbst nie lesen sollen. Doch sie tat es trotzdem. Sie faltete die Zettel auseinander und ich suchte nach einer Regung in ihrem Gesicht. Doch sie starrte einfach nur auf die Schrift. Auf Tais Sünde und auf Soras, die zu einer Einzigen verschmolzen. „Mimi, ich…“ Sie sah mich nicht an und das konnte nur eins bedeuten. „Hast du es gewusst?“, fragte ich und meine Stimme drohte erneut zu brechen. Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Gewusst nicht. Aber geahnt.“ „Genau, wie ich“, sagte ich und konnte es nicht verhindern, dass mir eine Träne über die Wange lief, als ich schließlich Schritte hinter mir hörte. „Mimi? Lass mich in Ruhe! Mimi!“ Ich wollte mich nicht umdrehen, denn ich hatte genug. Ich hörte, wie Yamato versuchte ihn aufzuhalten. Er war stinksauer. „Lass sie einfach in Ruhe, hörst du? Ihr beiden habt heute Abend schon genug angerichtet!“ Ich begann zu schluchzen und presste mir die Hand auf den Mund. Offenbar war Izzy auch bei ihm. „Das sehe ich auch so. Du solltest dich jetzt erst mal zurückhalten, Tai.“ „Zurückhalten?“, schrie Tai. Ich wünschte, ich hätte genauso wütend sein können wie er. Doch es ging nicht. Ich war innerlich gebrochen und das ist ein Gefühl, welches noch schlimmer war als einfach nur Hass oder Wut zu empfinden. „Was ist eigentlich hier los?“, hörte ich nun auch Takeru sagen, der offensichtlich neben ihnen aufgetaucht war. „Tai, lass sie einfach in Ruhe“, sagte Sora. „Gib ihr einfach ein bisschen Zeit, um…“ „Spinnst du?“, schrie Tai sie völlig außer sich an. „Das ist doch alles nur deine schuld!“ „Mir reichts! Ich hab genug gehört“, funkte Yamato wütend dazwischen und verließ die Gruppe. Er ging an uns vorbei, blieb kurz stehen und warf mir einen flüchtigen Blick zu. Dann sah er zu Sora und Tai. „Ihr beide seid echt das Letzte!“ In seinen Augen lag so viel Verachtung, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Er drehte sich um und ohne noch ein Wort zu verlieren, ging er. Auch sein Herz war gebrochen. Stille legte sich über die Gruppe. Bis es von vorne begann. Ich hörte Tai, der weiterhin wütete und seiner besten Freundin wüste Beschimpfungen an den Kopf warf. Sora, die leise weinte. Takeru und Izzy, die versuchten, Tai zurückzuhalten. Mit dem Rücken weiterhin zu ihnen gewandt, hielt ich mir die Hand vor Augen, als würden sie dadurch irgendwie verschwinden. „Mimi!“, rief Tai erneut aufgelöst. „Mimi, hör mir bitte zu!“ Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und flüsterte: „Bring mich hier weg.“ Ich spürte, wie Kari nach meiner Hand griff. Als ich sie ansah, nickte sie. „Dreh dich einfach nicht um. Komm mit.“ Ich sah, wie sie einen Blick hinter mich warf. Dieser Blick konnte nur an eine Person gerichtet sein, denn er drückte mehr aus als tausend Worte. Ich hörte ihn noch ein paar Mal meinen Namen rufen, bis er immer leiser wurde und auch die Geräusche der Party hinter mir langsam verblassten. Wie schön wäre es gewesen, wenn ich meine Gedanken genauso dort zurücklassen könnte. Wenn ich einfach vor ihnen davonlaufen könnte. Doch das Einzige, wovor ich davonlaufen konnte, waren sie und das tat ich auch. Wir setzten einen Schritt vor den anderen, wobei ich Kari einfach folgte, ohne darüber nachzudenken, wo wir überhaupt hingingen. Schnellen Schrittes gingen wir die Straßen entlang, über die wir vor wenigen Stunden erst gekommen waren, während sie immer noch meine Hand festhielt. Sie zog mich einfach immer weiter. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich die ganze Nacht lang hinter ihr herlaufen können. Doch irgendwann blieb sie stehen. „Komm. Ich bring dich nach Hause.“ Ich sah nach oben. Wir waren an unserem Wohnblock angekommen. Kari brachte mich nach oben und erst, als wir vor meiner Tür angekommen waren, ließ sie meine Hand los. Sie nahm mir meine Tasche ab und kramte meine Schlüssel raus, ehe sie mir aufschloss. Dann legte sie mir noch ein Mal ihre Hand auf die Schulter und sah mich mitfühlend an. „Es tut mir so leid, Mimi. Versuch ein wenig zu schlafen. Ich hole Hope morgen früh bei Frau Hanada ab und dann komme ich zu dir.“ Wie angewurzelt blieb ich in der Türschwelle stehen und starrte in den dunklen Flur, der genauso dunkel wie meine Gedanken waren und der mich zu verschlucken drohte. Kari drehte sich um und wollte in ihre Wohnung gehen, als ich den Kopf wandte. „Kari… kannst du… kannst du vielleicht…?“ Sie lächelte sanft und kam zurück. „Natürlich, ich bleibe gerne bei dir.“ Wir gingen gemeinsam rein und Kari schaltete das Licht an. Ich machte mir nicht die Mühe meine Schuhe auszuziehen, sondern ging geradewegs ins Wohnzimmer, um mich auf das Sofa sinken zu lassen. Immer noch wie in Trance starrte ich vor mich hin. Alles wirkte so verdammt unwirklich. Ich konnte immer noch nicht fassen, was da gerade geschehen war. Doch die Zettel in meiner Tasche bewiesen das Gegenteil. Kari holte mir aus der Küche ein Glas Wasser und reichte es mir. Ich setzte es an meine Lippen und nahm einen Schluck. Und als hätte dieses stinknormale Leitungswasser irgendeine heilende Wirkung auf mich gehabt, brach ich augenblicklich in Tränen aus. Kari setzte sich neben mich, nahm mir das Glas ab und zog mich in ihre Arme. Ich drückte mein Gesicht in ihre Schulter, während endlich sämtliche Emotionen über mich hereinbrachen. Enttäuschung. Wut. Bitterkeit. Demütigung. Das Gefühl, verraten worden zu sein. Ich ließ einfach alles raus und Kari hielt mich einfach nur fest, strich mir ab und zu sanft über den Kopf. So saßen wir eine ganze Weile da, während ich jegliches Zeitgefühl vergaß. Als meine Tränen langsam versiegten, hatte ich keine Ahnung, wie spät es war oder wie lange ich geweint hatte. Ich lag immer noch in Karis Armen und gab mich einfach dem Schmerz hin, den dieser Abend bei mir hinterlassen hatte. „Hätte ich doch niemals vorgeschlagen auf diese blöde Party zu gehen“, sagte ich schließlich schniefend und richtete mich wieder langsam auf. Kari sah mich mitfühlend an. „Es ist doch nicht deine Schuld. Es wäre früher oder später sowieso irgendwann rausgekommen.“ „Kari… w-was meintest du vorhin damit, du hättest es geahnt? Wusstest du was von Sora und…?“ Meine Stimme brach. Ich konnte seinen Namen nicht aussprechen. Kari schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich war mir nicht sicher, aber ich habe gespürt, dass sich etwas zwischen den beiden verändert hatte.“ „Wie meinst du das?“, fragte ich, doch Kari hielt inne. Offenbar war sie sich nicht sicher, ob sie mir wirklich erzählen sollte, was sie wusste. Doch, egal wie weh es gerade tat, jetzt wollte ich auch die ganze Wahrheit wissen. „Erzähl mir alles, bitte, Kari“, flehte ich förmlich. Kari nickte. „Gut. Es ist schon ziemlich lang her, ich weiß gar nicht mehr genau, wann es war… Aber es war komisch. Ich bin nachts aufgestanden, weil ich Durst hatte und mir aus der Küche ein Glas Wasser holen wollte. Ich glaube, sie hat mich nicht bemerkt, aber Sora ist in dem Moment aus Tais Zimmer gekommen. Erst wollte ich sie fragen warum, aber dann hab ich es gelassen, da sie ziemlich durcheinander gewirkt hat. Außerdem war es nicht ungewöhnlich, dass sie manchmal etwas länger bei uns blieb. Ich dachte, die beiden wären vielleicht einfach beim Lernen eingeschlafen oder so.“ Ich zwang mich, Karis Worte genau in mir aufzunehmen und nach irgendeiner Antwort zu suchen. Nach irgendeiner Erklärung. Aber sie schnürten mir lediglich die Kehle zu. „Ich wollte Tai am nächsten Tag darauf ansprechen, aber er war alles andere als gut drauf. Also habe ich es dabei belassen. Seitdem war das Verhältnis der beiden irgendwie anders. Ich kann es nicht genau beschreiben, aber… Ich hatte es dem Umstand zugeschrieben, dass Sora kurz darauf mit Matt zusammengekommen ist und dass Tai sich von den beiden irgendwie vernachlässigt fühlt. Oh, Mimi… es tut mir so leid, dass ich nicht eher etwas gesagt habe. Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie miteinander…“ „Warte mal“, unterbrach ich Kari. „Was soll das heißen: Sora ist kurz darauf mit Matt zusammengekommen? Tai war noch nicht mit mir zusammen, als das mit Sora passiert ist?“ Kari schüttelte bedächtig den Kopf. „Nein, nein, um Gottes Willen, nein. Es war wohl ungefähr zu der Zeit, als du na ja… offiziell umgezogen bist. Und kurz danach ist das dann mit Matt und Sora passiert.“ Ich biss mir schmerzlich auf die Unterlippe. Spielte das eine Rolle? Hatte es eine Bedeutung, dass es genau zu dieser Zeit passiert war? Ich dachte, dass Tai mich in den letzten Wochen mit Sora betrogen hatte. Doch das änderte einiges. Und trotzdem schmerzte es. Außerdem wusste ich ja gar nicht, ob es bei diesem einen Mal geblieben war. Vielleicht hatten sie eine Affäre. Diesen Gedanken wollte ich lieber gar nicht erst zu ende denken. „Bitte, Mimi. Verurteile Tai nicht zu schnell“, sagte Kari plötzlich und legte eine Hand auf meine. „Ich bin genauso sauer auf ihn wie du, weil er es dir nicht eher gesagt hat, das kannst du mir glauben. Aber du weißt selbst am besten, wie es ist, ein Geheimnis bewahren zu müssen. Du hattest deine Gründe. Ich hatte meine Gründe. Und Tai hatte sie sicher auch. Hör dir bitte erst an, was er zu sagen hat.“ Ich konnte weder auf Karis Bitte eingehen, noch konnte ich sie ablehnen. Mir schwirrte so sehr der Kopf von diesen ganzen Informationen. „Kari, weißt du… Dieser Abend heute läuft immer wieder vor meinem inneren Auge ab. Wie ein Film. Wäre es ein Film, wäre es ein bizarres Drama. Und ich bin die Hauptdarstellerin. Tai hat mich heute sehr verletzt“, sagte ich und eine weitere Träne rollte mir über die Wange. Kari nickte und sah mich mitfühlend an. „Ich weiß. Und das tut mir leid. Glaub mir, ich weiß genau, wie du dich fühlst. Ich habe mein eigenes Drama bereits durchlebt.“ Plötzlich fiel mir der Zettel wieder ein, der immer noch in meiner Tasche lag. Ich zog ihn heraus und faltete ihn auseinander. Es war Karis Geständnis. Ich schluckte und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn entgegen und starrte einige Sekunden darauf. „Erzähl mir davon, Kari.“ Ich sah, wie sie mit sich kämpfte, doch letztendlich seufzte sie und sah mich vielsagend an. „Wer hat das noch gelesen?“ „Nur Izzy. Ich habe ihn sofort eingesteckt, bevor ihn noch jemand lesen konnte.“ „Gut“, sagte sie. „Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden.“ Ich legte meine Hand auf ihre. „Versuch es einfach. Was ist hier los, Kari?“ Sie biss sich kurz auf die Unterlippe, ehe sie mir alles erzählte. Sie schüttete mir ihr Herz aus, wie ich ihr meines ausgeschüttet hatte. Und ich hörte mir alles geduldig an. Jedes einzelne Wort… Rückblick Es war vor ein paar Monaten, als sie an unsere Schule kam. Eine neue Schülerin. Sie kam in meine Klasse, weil sie von ihrer alten Schule geflogen war. Sie tat mir unglaublich leid, denn niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben und böse Gerüchte machten die Runde. „Habt ihr schon gehört, dass Aiko vorher auf einer katholischen Mädchenschule war?“ „Nein, ehrlich? Aber warum ist sie von ihrer Schule geflogen?“ „Also, ich habe gehört, sie soll eine heimliche Liebesbeziehung zu einer Mitschülerin gehabt haben. Könnt ihr das fassen? Das ist so ekelhaft!“ Die anderen Mädchen flüsterten in der Pause und dabei war es ihnen völlig egal, ob Aiko es hörte oder nicht. Ich fand das furchtbar. Sie hatte keinen einzigen Freund. „Hey, du bist Aiko, nicht?“, fragte ich sie deshalb irgendwann in der Pause, als sie wieder mal allein auf ihrem Platz saß. Sie nickte nur verunsichert. „Ich bin Kari. Möchtest du mit mir zusammen Mittag essen?“ An diesem Tag sah ich sie das erste Mal lächeln, seit sie an unsere Schule gekommen war. Die anderen Mädchen verstanden nicht, warum ich mich mit ihr abgab, aber das war mir egal. Wir freundeten uns an und verbrachten immer mehr Zeit miteinander, auch nach der Schule. Sie spielte leidenschaftlich gerne Tennis und ich sah ihr oft dabei zu. Ich mochte sie wirklich gern. Und ich glaube, sie mochte mich auch. „Sag mal, Kari“, sagte sie eines Tages zu mir, als wir allein beim Mittagessen saßen und uns mal wieder alle schief von der Seite ansahen. „Macht es dir nichts aus, mit mir gesehen zu werden? Du weißt doch, was die Leute über mich reden. Hast du dich niemals gefragt… na ja, ob an den Gerüchten etwas dran ist?“ Ich sah von meinem Essen auf und lächelte sie an, ehe ich ihre Hand nahm. „Nein und es ist mir auch egal. Ich mag dich so, wie du bist Aiko. Ganz egal, was die anderen erzählen oder was davon wahr ist.“ Aiko’s und meine Beziehung wurde immer inniger. Je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto mehr fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Nach ein paar Wochen war sie bereits so viel mehr als nur eine Freundin für mich geworden. Es war nicht so, dass ich noch nie verliebt war, aber… diese Art von Gefühlen verunsicherte mich zutiefst. Deshalb beschloss ich irgendwann meinen ganzen Mut zusammenzunehmen und mit ihr darüber zu sprechen. „Aiko, ich muss… ich muss mit dir reden.“ Wir standen beide in der Mädchenumkleidekabine der Schule. Sie hatte gerade wieder ein Match gespielt und zog sich um. Fragend sah sie mich an. „Was denn, Kari?“ Ich spürte, wie meine Hände zu schwitzen begannen und mein Herz wild gegen meine Brust schlug. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. I-ich… also i-ich“, stammelte ich und hatte keine Ahnung, wie ich diese Worte je über die Lippen bringen sollte. Doch sie mussten einfach raus. Sonst würden sie mich noch irgendwann auffressen. „Ich glaube, ich habe mich in dich…“ Aiko kam auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Liebevoll sah sie mich an. „Ich glaube, ich weiß, was du versuchst zu sagen, es aber nicht kannst.“ Dann nahm sie meine Hand. „Mir geht es genauso.“ Mein Herz machte einen Sprung, als sie mich so ansah und sich nach vorne beugte, um mich zu küssen. Ich hatte schon mal einen Freund gehabt und wusste, wie es sich anfühlte verliebt zu sein, doch die Gefühle, die Aiko in mir auslöste, waren völlig neu und doch so überwältigend. Ich verlor mich in diesen ersten Kuss von uns. Leider sollte es zugleich unser Letzter sein. Wir vergaßen völlig die Zeit und als schließlich die Tür zur Umkleide aufflog und die anderen Mädchen hereinkamen, standen wir immer noch da und küssten uns. Niemand kann sich vorstellen, wie es ist, mit solchen Blicken angesehen zu werden. Erst jetzt hatte ich eine Vorstellung davon, wie sich Aiko die ganze Zeit gefühlt haben musste. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum sie dann tat, was sie tat. „Was zum Teufel…“, sagte eine meiner Klassenkameradinnen, als Aiko sofort drei Schritte zurückwich. Irritiert sah ich erst sie und dann die anderen an, die uns voller Entsetzen beobachteten. „Oh mein Gott, ich hab’s gewusst“, platzte es plötzlich aus jemanden heraus und sie hielt sich die Hand vor den Mund. „Ihr seid lesbisch!“ Alle anderen fingen an zu lachen. Sie lachten über uns und unsere Gefühle, als wären sie ein Witz. „Hört auf so einen Unsinn zu reden“, erwiderte Aiko darauf bitter. Sie würdigte mich keines Blickes mehr. Sie stand vor ihrem Spint, zog sich an und tat so, als wäre ich gar nicht da oder als wäre das eben zwischen uns gar nicht passiert. „Kari und ich sind nicht lesbisch. Sie hatte nur was im Auge und ich habe nachgesehen, was es ist.“ Tränen stiegen mir in die Augen. „Ja, natürlich. Und rein zufällig habt ihr euch dann geküsst“, lachte eines der Mädchen, doch Aiko zischte nur verächtlich. „Als ob ich sie küssen würde, du spinnst doch! Ich habe nicht das geringste Interesse an ihr. Aber vielleicht steht sie ja auf mich. Woher soll ich das wissen? Ist mir jedenfalls völlig egal.“ Ich konnte nicht fassen, dass sich mein Leben innerhalb so weniger Sekunden so stark verändern konnte. Doch es passierte. Mit Tränen in den Augen rannte ich aus der Umkleidekabine, während ich ihr Gelächter noch weit hinter mir hörte. Und von diesem Tag an war alles anders. Es war, als hätten wir die Rollen getauscht. Ich war immer beliebt gewesen, an der Schule. Ich hatte Freundinnen, die gerne Zeit mit mir verbrachten. Doch plötzlich war ich eine Aussätzige. Die anderen Mädchen mieden mich. Sie redeten hinter meinem Rücken und machten auf den Flur einen hohen Bogen um mich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Durch meine Offenheit hatte sich alles verändert. Ich hatte Aikos Platz eingenommen. Noch nie hatte ich mich in einem Menschen so sehr getäuscht. Während sie immer beliebter wurde, wurde ich ausgeschlossen. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wirklich hilflos. Das war der Moment, in dem Takeru ins Spiel kam. Natürlich bekam er mit, wie es mir ging. Wir gingen auf dieselbe Schule und auch an den Jungs gingen diese Gerüchte nicht spurlos vorbei. „Was ist los Kari?“, fragte er eines Nachmittags, als wir auf dem Schulhof waren. „Ich sehe doch, dass dich diese Gerüchte belasten.“ Traurig ließ ich die Schultern hängen. „Und was, wenn es keine Gerüchte sind?“ Takeru überlegte kurz und lächelte mich dann aufmunternd an. „Und was wäre so schlimm daran?“ „Was so schlimm daran wäre?“, entgegnete ich fassungslos. „Du siehst doch, wie die anderen darauf reagieren. Keiner versteht es. Alle denken, ich wäre irgendwie… unnormal.“ „Du bist völlig normal, Kari“, sagte Takeru und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Lass diese Idioten einfach reden. Wenn du später auf der Uni bist, interessiert es kein Schwein mehr, ob du auf Mädchen oder Jungs stehst. Die sind einfach kindisch.“ Tränen stiegen mir in die Augen und ich fiel ihm unvermittelt in die Arme. „Ich weiß. Ich weiß ja. Ich versuche ja, sie zu ignorieren. Aber… es ist so verdammt schwierig, wenn einfach niemand mehr etwas mit dir zu tun haben möchte. Ich will… Ich will einfach nur, dass alles wieder normal wird.“ Takeru strich mir sanft über den Kopf und hielt mich fest an sich gedrückt, während ich mich in seinen Armen ausweinte. Ich zuckte leicht zusammen, als uns eine bekannte Stimme plötzlich überraschte. „Kari… Kari, ich muss mit dir reden!“ Es war Aiko. Wütend sah ich sie an. „Was willst du, Aiko? Es gibt nichts mehr zu reden!“ Erst jetzt sah ich, dass auch sie Tränen in den Augen hatte und ihr Gesicht gerötet war. „Es tut mir so leid, Kari. Dass ich dich verleugnet habe und meine Gefühle zu dir… einfach alles tut mir so leid. So war das nicht geplant. Aber du weißt nicht, wie das ist, Kari. Wenn man von allen verstoßen wird, nur, weil man anders ist. Ich hab das alles schon ein Mal durch und ich habe mir geschworen, so etwas nie wieder durchmachen zu müssen.“ Ich schnaufte verächtlich. „Ja, Aiko. Du hast recht. Ich habe absolut keine Ahnung, wie das ist.“ „Kari…“, sagte Aiko schniefend und kam auf mich zu. „Ich möchte einfach nur mit dir zusammen sein.“ Takeru stellte sich zwischen uns. „Das kannst du vergessen!“ Überrascht sah sie zu ihm auf. „Kari ist jetzt mit mir zusammen! Also, lass sie endlich in Ruhe! Und sag das auch deinen dämlichen Freundinnen!“ Ich konnte nicht fassen, was Takeru hier für mich tat. Er hatte sich ritterlich vor mich gestellt und mich vor der Welt beschützt. Natürlich glaubten sie uns nicht sofort. Die meisten freuten sich für uns und waren froh darüber, dass ich offensichtlich wieder zur Besinnung gekommen war. Und auch Aiko hielt sich zukünftig von mir fern. Doch die Mädchen aus meiner Klasse redeten immer noch. Sie trauten dem Frieden nicht und waren der Meinung, dass T.K. nur mein Alibi-Freund war, um zu vertuschen, dass ich insgeheim auf Mädchen stand. Na ja, und im Grunde war es ja auch so. Das Gerede und die Lästereien wollten einfach nicht aufhören. „Hier“, sagte er und legte mir einen kleinen, silbernen Ring in die Hand. Wir waren gerade zusammen im Kino und aßen Popcorn. „Woher hast du den denn? Aus einem Kaugummiautomaten?“ „Nein, von meiner Mutter. Der liegt schon ewig bei uns rum und ich glaube, sie wird ihn nicht vermissen“, erklärte Takeru und steckte sich eine ganze Hand Popcorn in den Mund. Ich staunte nicht schlecht, als ich den Ring vor meinen Augen hin und her drehte. „Und was soll ich jetzt damit?“ „Das ist dein Verlobungsring. Ab heute sind wir offiziell verlobt.“ Ich erschrak und sah ihn geschockt an. „Bitte, was?“ Takeru zuckte nur mit den Schultern. „Ich höre, was die anderen immer noch über dich reden. Das muss endlich aufhören! Ich will nur, dass du deine Jahre bis zum Abschluss friedlich verbringen kannst – ohne irgendwelches Gerede. Ich will, dass es dir gut geht, Kari. Du bist meine beste Freundin. Und das ist die beste Lösung. Wenn sie das sehen, werden sie dir glauben.“ Er klang so überzeugt von diesem Plan, dass ich selbst alle Zweifel über Bord warf und zustimmte. Takeru meinte, wir müssten es ja nur bis zum Abschluss durchziehen. Wir würden einfach allen erzählen, dass wir danach heiraten würden und dann, nach dem Abschluss, würden wir uns friedlich trennen, weil wir festgestellt hätten, dass wir doch noch zu jung wären, um so einen bedeutsamen Schritt zu machen. Takeru sollte recht behalten. Die Mädchen staunten und bekamen große Augen, als sie den Ring an meiner Hand sahen. „Wahnsinn! Dann stimmt es also wirklich, mit Takeru und dir“, sagte ein Mädchen. Ein anderen grinste übers ganze Gesicht und klatschte eifrig in die Hände. „Ich habe es schon immer gewusst, dass ihr zusammengehört. Mal ehrlich, ihr seid seit eurer Kindheit die besten Freunde. Irgendwann MUSSTET ihr euch ineinander verlieben! Ihr seid einfach füreinander bestimmt.“ Ich machte gute Miene zum bösen Spiel. Denn so wahnwitzig diese Idee auch war – von da an wurde es besser. Die Leute hörten auf zu reden. Sie ignorierten mich auch nicht mehr, wenn sie mir auf dem Flur begegneten. Alles war wieder wie vorher – zumindest fast. Schließlich konnte keiner ahnen, dass Takeru, nachdem er eingewilligt hatte, meinen Freund zu spielen, sich selbst verliebte. Fassungslos sah ich Kari an. Was sie mir hier offenbart hatte, musste ich erst einmal verdauen. Ich hatte ja keine Ahnung, was sie alles durchmachen musste. „Kari… Ich… Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, stammelte ich, doch sie schüttelte nur leicht den Kopf, während sie sich eine winzige Träne von der Wange wischte. Offenbar hatten auch sie die Schatten der Vergangenheit wieder eingeholt. „Ist schon gut, Mimi. Jetzt ist es ja raus. Es war so schwer für mich, mich die ganze Zeit verstellen zu müssen. Und Takeru… ich hätte es längst beenden müssen. Er hat mehr für mich getan, als ein normaler Freund je getan hätte. Jetzt ist er verliebt und auch er hat das Recht glücklich zu werden, mit dem Mädchen, dass seine richtige Freundin ist. Stattdessen gaukelt er immer noch allen vor, wir wären das liebende Pärchen, während er sich außerhalb der Schulzeit mit seiner eigentlichen Freundin trifft.“ Ich schluckte schwer. Kaum auszumalen, wie es Kari gerade gehen musste. Und Takeru… ich hatte ihn völlig zu Unrecht verurteilt. „Warum beendest du es dann nicht, Kari?“, fragte ich sie eindringlich. „Lös diese Fake-Verlobung auf. Sag einfach allen, dass ihr euch getrennt hättet.“ Traurig sah sie zu Boden und ich spürte, dass sie mir noch nicht alles erzählt hatte. Da war noch mehr… „Aber dann wäre es endgültig.“ Ich stutzte. „Was meinst du damit?“ „Weißt du, einige aus meiner Klasse haben die beiden schon öfters zusammen gesehen und fingen an, unangenehme Fragen zu stellen. Obwohl T.K.‘s Freundin auf eine ganz andere Schule geht. Das macht die Sache aber nicht unbedingt einfacher. Würde ich das Ganze endgültig beenden, würde Takeru offen zu seiner Freundin stehen – was für mich bedeuten würde, dass ich die beiden noch öfter zusammen sehen müsste als nötig. Das würde sehr schmerzen, glaube ich. Vielleicht noch mehr als diese Fassade aufrecht zu erhalten.“ Ich überlegte eine Sekunde lang, was Kari damit meinen könnte, bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel und ich mir die Hand vor den Mund schlug. „Oh! Kari“, sagte ich. „Hast du dich etwa in Takerus Freundin verliebt? Na, klar. Das ist es! Es würde dir zu sehr weh tun, sie immer mit ihm zusammen zu sehen und würde dir erneut das Herz brechen“, schlussfolgerte ich, doch Kari sah mich völlig verdattert an. „Was? Nein! Mimi!“, platzte es aus ihr heraus. „Du bist völlig auf dem falschen Dampfer! Es ist nicht seine Freundin, in die ich mich verliebt habe.“ „Nicht?“ Fragend sah ich sie an. Stand ich jetzt völlig auf dem Schlauch? Ich sah, wie Kari beinahe schon verträumt an ihrem Ring spielte, den sie von… „Takeru! Es ist Takeru!“ Meine Augen weiteten sich. „Du hast dich in Takeru verliebt!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)