Uncertain Heart von Khaleesi26 ================================================================================ Kapitel 47: Macht ----------------- „Es gibt diejenigen, die glauben Macht zu haben und die, die sie tatsächlich haben.“ Reign Eine ganze Woche verging, ohne dass irgendetwas geschah. Was mich nur noch nervöser machte. Von Hayato gab es bis jetzt kein Lebenszeichen und fast glaubte ich schon, er hätte aufgegeben. Dass er vielleicht doch noch zur Besinnung gekommen wäre. Doch insgeheim wusste ich natürlich, dass das nur Wunschdenken war. Dass ich nichts von ihm hörte, war nur ein weiterer Beweis dafür, dass ich mich nicht in ihn getäuscht hatte. Er wollte uns hinhalten. Am langen Arm verhungern lassen und uns mürbe machen – und es funktionierte. Tai und ich wussten beide, dass das nur die Ruhe vor dem Sturm war. Der Gedanke daran, was uns womöglich bevorstand, zerfraß mich innerlich. Weder auf die Schule, noch auf irgendetwas anderes konnte ich mich konzentrieren. Seit Tais Geburtstag wollte ich so viel Zeit wie möglich mit Hope verbringen. Am liebsten hätte ich sie für keine Sekunde mehr aus den Augen gelassen. Von Tai hingegen hatte ich mich größtenteils distanziert. Ich wusste genau, wie weh ihm dieser Abstand tat. Und auch für mich war es nicht einfach. Doch ich schaffte es einfach nicht, ihm gegenüberzutreten. Zu groß war die Enttäuschung, die ich in seiner Gegenwart verspürte. Ich wusste, ihm ging es genauso. Nur leider änderte das nichts an der Tatsache, dass er zu einem großen Teil die Schuld an dem trug, was geschehen war. Auch wenn er es nie wollte. Und so war die Woche vergangen, ohne, dass wir viel Kontakt zueinander hatten. Was nicht hieß, dass Tai es nicht versucht hätte. Mein Handy zeigte mehr als genug verpasste Anrufe und unbeantwortete Nachrichten an. Ich lag gerade mit Hope auf dem Sofa, als mein Display erneut aufleuchtete. Hope lag auf meinem Bauch, während ich irgendein sinnloses TV Programm auf mich niederprasseln ließ und das Piepen meines Handys gekonnt ignorierte. Es tat mir leid, dass ich so abweisend zu ihm war. Aber … vielleicht war es sogar besser so. Natürlich war ich in den letzten Tagen immer und immer wieder meine Optionen durchgegangen. Doch, egal, wie ich es drehte und wendete – wir konnten die nahende Katastrophe nicht mehr abwenden. Hayato hatte Tai wahrscheinlich schon angezeigt. Schlimm genug, dass es Tais ganze Zukunft aufs Spiel setzen könnte, doch was sollte nun aus uns werden? Kaum vorstellbar, dass das Jugendamt jetzt noch einer Adoption zustimmen würde. Egal, wie das hier ausging, Tai wäre vorbestraft und selbst ich würde als Außenstehende denken, dass Hope bei ihrem leiblichen Vater vermutlich besser aufgehoben war als bei einer minderjährigen Schülerin und ihrem „gewalttätigen“ Freund – wie Hayato es so schön nannte. Als das Piepen verstummte und eine weitere Nachricht auf meiner Mailbox aufleuchtete, atmete ich frustriert aus. Vielleicht drückte ich mich auch deshalb davor, Tai gegenüberzutreten, weil ich genau wusste, worauf das hier alles hinauslaufen würde. Mir blutete das Herz, bei dem Gedanken daran, was uns bevorstand. Jeden Abend, wenn ich im Bett lag, stellte ich mir die bittere Frage, ob es das endgültige Aus für Tai und mich bedeutete? Egal. Ich musste endlich mit ihm reden. Wir mussten uns endlich den Tatsachen stellen und uns Gedanken machen, wie es weitergehen würde, sollte der schlimmste Fall eintreten. Tai war Hopes Vater und wir waren eine Familie. Ob Hayato das wollte oder nicht. Wir durften uns nicht von ihm auseinanderdrängen lassen – niemals. Ich drückte Hope noch etwas fester an mich und richtete mich auf. „Wir sollten Papa endlich besuchen gehen, findest du nicht auch?“ Als würde sie wissen, was ich vorhatte, fing sie freudig an zu lachen, als ich aufstand und mit ihr zur Tür ging. Ich öffnete sie und trat hinaus in den Hausflur, wo ich augenblicklich zusammenzuckte. Eine dunkle Gestalt befand sich rechts von mir und lehnte lässig mit dem Rücken an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt. Im nächsten Moment atmete ich erleichtert auf. „Musst du mich so erschrecken?“ Tai runzelte die Stirn und sah mich fragend an. „Ach, schon gut“, sagte ich und winkte ab. „Wahrscheinlich hab ich schon Paranoia.“ „Kein Wunder“, entgegnete Tai kopfnickend und stieß sich mit einem Ruck von der Wand ab. „Die hätte ich an deiner Stelle auch.“ Recht hatte er. Hätte uns wohl beide nicht gewundert, wenn Hayato mir direkt vor meiner eigenen Tür aufgelauert hätte. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, als Tai auf mich zukam. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und sah mich unverwandt an. „Was tust du hier?“, fragte ich ihn. „Auf dich warten“, antwortete er tonlos. „Du gehst ja nicht an dein Telefon. Und früher oder später musst du ja mal deine Wohnung verlassen.“ Ich biss mir auf die Unterlippe, weil sich sofort mein schlechtes Gewissen zu Wort meldete, da ich ihn die letzten Tage so auf Abstand gehalten hatte. Das hatte er wirklich nicht verdient. „Du weißt, du hast einen Schlüssel. Du hättest jederzeit einfach rüberkommen können.“ „Hättest du das denn gewollt?“ Ich zuckte mit den Schultern und sah betreten zu Boden. „Dachte ich mir.“ Tai wandte den Kopf nach rechts und fuhr sich gestresst durch die Haare, ehe er wieder mich ansah. „Hör zu, Mimi. Es tut mir wirklich leid, was da passiert ist. Aber du darfst mir deshalb nicht aus dem Weg gehen. Denn das ist genau das, was er will. Gerade jetzt müssen wir mehr denn je zusammenhalten.“ Zaghaft nickte ich, wusste jedoch nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich wusste, dass er mit seinen Worten recht hatte. Würden wir uns entzweien, hätte Hayato genau das erreicht, was er die ganze Zeit über wollte. Doch, wie um alles in der Welt sollten wir das nur wieder hinkriegen? „Möchtest du …“ Ich räusperte mich kurz. „Möchtest du vielleicht reinkommen? Damit wir über alles reden können, meine ich.“ Noch ehe Tai antworten konnte, streckte Hope ihre Ärmchen nach ihm aus. Tais Mundwinkel wanderten nach oben und bereitwillig überreichte ich sie ihm. Tai schloss sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Mein Herz weitete sich bei diesem Anblick. Die zwei gehörten einfach zusammen. Genauso wie ich zu Tai gehörte und Hope zu mir. Wir waren eine Familie. Und je mehr Hayato versuchte, uns auseinanderzubringen, desto mehr wurde mir das bewusst. Schmerzlich bewusst. Denn wenn ich die beiden so ansah, wie viel Liebe zwischen ihnen existierte, wollte ich keinen von beiden verlieren. Ich wollte die kleine, heile Welt, die wir uns so lange erkämpft hatten, nicht aufgeben. Niemals. Tai folgte mir in die Wohnung, doch anstatt direkt über unser Problem zu sprechen, machte ich mich erst mal daran das Essen vorzubereiten. Tai blieb zum Abendessen und während ich die Küche aufräumte, brachte er unsere kleine Tochter ins Bett. Leise schloss er die Tür hinter sich und setzte sich neben mich aufs Sofa. Er zog ein Bein an, legte seinen Arm auf der Lehne ab und wandte sich mir zu. „Ich habe gute Neuigkeiten“, verkündete er plötzlich und ein breites Lächeln zog sich über sein ganzes Gesicht. Überrascht sah ich ihn an. „Was denn?“ „Die Uni in Osaka hat sich erneut bei mir gemeldet. Ich habe wohl bei meinem Besuch neulich eine ziemlich gute Figur gemacht. Ein paar Studenten hatten gehört, dass ich an meiner alten High School Kapitän der Fußballmannschaft war und wollten wissen, was ich so auf den Kasten habe. Wir haben ein kleines Spiel gemacht, eigentlich nur so zum Spaß, aber einigen Dozenten muss das wohl ziemlich gut gefallen haben, was sie gesehen haben. Sie bieten mir ein Sportstipendium an, wenn ich zusage.“ Ich begann zu strahlen, weil das einfach grandiose Neuigkeiten waren. „Das ist unfassbar Tai, herzlichen Glückwunsch!“ Tai grinste stolz. „Ist es. Uuund … da ist noch was.“ Geheimnisvoll zog Tai einen Briefumschlag aus seiner Gesäßtasche. „Der hier ist für dich.“ Stutzig betrachtete ich den Briefumschlag, als ich ihn entgegennahm und den Absender sah. „Der … der ist ja von der High School in Osaka.“ Mir kribbelte es in den Fingern, während ich ihn öffnete und die ersten Zeilen des Briefes laut vorlas. „Sehr geehrtes Fräulein Tachikawa, mit Freuden können wir Ihnen mitteilen, dass sie an unserer Schule angenommen wurden. Ihre bisherigen schulischen Leistungen sprechen für sich und wir würden uns freuen, sie demnächst an unserer High School in Osaka begrüßen zu dürfen.“ Ich schnappte nach Luft. „Ernsthaft?“ Völlig perplex und überrumpelt starrte ich Tai an, der einfach nur dasaß, eifrig nickte und grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Aber … wie? Ich habe mich doch gar nicht dort angemeldet.“ Tai zuckte mit den Schultern und nahm mir den Brief aus der Hand, um selbst noch mal einen stolzen Blick darauf zu werfen. „Als klar war, dass ich ein Sportstipendium in Osaka erhalten würde, dachte ich mir, dass du um nichts in der Welt zulassen würdest, dass ich mir diese Chance entgehen lasse. Also habe ich kurzerhand deine Unterlagen an die örtliche High School geschickt. Und das Beste kommt erst noch: du musst nicht mal warten, bis du dieses Jahr hier beendet hast. Ich habe mir die Lehrpläne angesehen. Du bist jetzt schon viel weiter im Stoff als die Schüler in Osaka. Der Direktor meinte, es wäre kein Problem für dich, sofort mitten ins Schuljahr einzusteigen.“ Mir klappte die Kinnlade nach unten. Ich wusste überhaupt nicht, was ich zuerst fühlen sollte. Dankbarkeit? Erleichterung? Freude? Was es auch war, es wurde definitiv im Keim erstickt, als mir klar wurde, dass dieser Traum gerade wie eine Seifenblase zerplatzt war. Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte hinunter und räusperte mich. Tai bemerkte den plötzlichen Stimmungswandel und sein Lächeln erstarb. „Du willst nicht mitkommen, stimmt’s?“, schlussfolgerte er geknickt. Frustriert blies ich die Luft aus und griff nach seiner Hand. „Du weißt genau, wie gerne ich mitkommen würde. Wenn ich könnte, würde ich heute noch meine und Hopes Sachen packen und morgen wären wir bereits in Osaka.“ Tai verzog das Gesicht. „Aber du kannst nicht? Ist es das, was du mir sagen willst?“ Ich drückte seine Hand noch etwas fester. „Es steht momentan zu viel auf dem Spiel, Tai. Ich kann nicht einfach in eine andere Stadt ziehen, bevor hier nicht alles geklärt ist.“ Tai entriss mir seine Hand und schmiss den Brief auf den Tisch. Aufgebracht tigerte er im Raum umher. „Du willst ernsthaft unseren Traum aufgeben, nur weil dein Ex uns gerade das Leben schwer macht? Das kann nicht dein Ernst sein. Es lief so gut mit uns dreien! Sogar das Jugendamt hat das gesehen.“ „Da gebe ich dir ja recht“, sagte ich eindringlich. „Aber überleg doch mal, wie das gerade jetzt aussehen würde. Erst prügelst du auf Hayato ein und dann nehme ich meine Tochter und ziehe mit meinem ‚Schlägerfreund‘ in eine weit entfernte Stadt? Gerade jetzt, wo es offiziell ist, dass er ihr Vater ist?“ Abrupt blieb Tai stehen und sah mich erbost an. „Hör endlich auf, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Ich bin kein Schläger und das weißt du!“ Jetzt sprang ich ebenfalls vom Sofa aus. „Ja, aber genau so wird er es hinstellen und ehe du dich versiehst, wäre ich wieder allein in Tokio, Hope wäre bei ihm und du hättest eine Klage am Hals.“ Tai zischte verächtlich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Die habe ich wahrscheinlich ohnehin schon. Ein Wunder, dass die Polizei noch nicht vor meiner Tür stand und mich in Handschellen abgeführt hat. Ich bin schließlich eine Bedrohung für die Allgemeinheit.“ Die Verachtung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Und ich konnte ihn verstehen. Auch ich hatte nichts weiter als Verachtung für diesen Menschen und seine Spielchen übrig. Das Problem war nur, wenn wir jetzt nicht anfingen mitzuspielen, hatten wir verloren, ehe es überhaupt richtig begonnen hatte. Ich trat einen Schritt auf Tai zu und versuchte ihn zu berühren, doch er entzog sich mir und wandte sich von mir ab wie ein trotziges Kind. „Tai, bitte versteh mich doch“, sagte ich ruhig. „Ich würde nichts lieber tun, als sofort mit dir von hier fortzugehen. Aber es geht einfach nicht. Jedenfalls jetzt nicht. Du weißt, ich bräuchte die Zustimmung meiner Eltern, da sie noch das vorläufige Sorgerecht für Hope haben. Sie irgendwie davon zu überzeugen, wäre uns vielleicht noch gelungen. Ehrlichgesagt glaube ich, mein Vater ist froh, wenn er ein Problem weniger hat. Aber Hayato, er …“ Die Hoffnungslosigkeit, die gerade über uns schwebte, war zum Greifen nahe. Und es tat unheimlich weh, sich dies alles einzugestehen. Eine ganze Weile wurde es still zwischen uns. Vermutlich gaben wir uns beide unseren schweren, kläglichen Gedanken hin. Plötzlich drehte Tai sich zu mir um. Die Traurigkeit in seinen Augen brach mir beinahe das Herz. „Ich verstehe es nicht.“ „Was verstehst du nicht?“, fragte ich. „Warum gibst du uns auf?“ Ich sog scharf die Luft ein. „Oh Gott, Tai. Ich gebe uns nicht auf! Niemals!“ „Doch, Mimi, genau das tust du“, erwiderte Tai hart. „Du gibst auf, ehe du es überhaupt versucht hast. Ich dachte, wir wären ein Team und würden für dieselbe Sache kämpfen. Aber du kämpfst nicht – du gibst auf. Du tust genau das, was er von dir will und du verlangst von mir, dass ich das auch tue. Das enttäuscht mich. Ich dachte, wir wären stärker.“ Diese Worte trafen mich so hart als hätte man mir ein Messer ins Herz gerammt. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte und das war auch gar nicht nötig. Tai warf einen letzten Blick auf den Brief, der immer noch auf den Tisch lag – vollgeschrieben mit Worten, die unsere Träume hätten wahrmachen können. Dann ging er an mir vorbei. Ich hörte nur noch, wie die Tür ins Schloss fiel. Die Stille die sich nun ausbreitete, war kaum auszuhalten. Tai sagte, er wäre enttäuscht von uns. Und um ehrlich zu sein, war ich das auch. Diese Tatsache trieb mir die Tränen in die Augen. War es wirklich so wie er sagte? Hatte ich uns aufgegeben? Obwohl Samstag war, fiel es mir am nächsten Tag schwer aus dem Bett zu kommen. Das Gespräch mit Tai hatte mir ziemlich zugesetzt. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass an seinen Worten auch ein Funke Wahrheit dran war. Tatsächlich spielte ich Hayato gerade in die Hände, indem ich mich fügte und einfach … nichts tat. Und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit war es genau das, was er wollte. Allein die Tatsache, dass er sich seit dem Vorfall mit Tai noch nicht gemeldet hatte zeigte, dass er versuchte mich mürbe zu machen. Mich wie einen Fisch am Haken zappeln zu lassen. Und es gelang ihm leider zu gut. Das und die Tatsache, dass Tai irgendwie recht hatte, machte mich so wütend, dass ich hätte laut aufschreien könnte, als ich unter der Dusche stand. Doch meine Wut führte nicht nur zu Frustration, sondern auch dazu, dass ich das Gefühl hatte, endlich was unternehmen zu müssen – gegen Hayato und gegen die Fesseln, die meine Eltern immer noch um mich legten. Ich fühlte mich wie ein Vogel, gefangen in einem Käfig. Doch ich wollte endlich fliegen und frei sein. Frei von all den Leuten, die glaubten, sie könnten über meine und Hopes Zukunft bestimmen. Und genau das würde ich Tai jetzt gleich sagen. Nämlich, dass ich nicht aufgab – dass ich UNS nicht aufgab. Dass ich immer noch dafür kämpfen wollte, was wir hatten und haben könnten. Und nicht einmal Hayato würde mich davon abhalten. Nach dem Duschen föhnte ich meine Haare und zog mich an. Ich wollte rüber zu Tai gehen. Noch mal mit ihm reden, mich mit ihm versöhnen, um dann gemeinsam einen Schlachtplan zu entwickeln. Voller Euphorie öffnete ich die Tür und wollte hinausstürmen, als ich fast gegen etwas prallte – oder eher gegen Jemanden. „Oh, Entschuldigung“, sagte ich und wich einen Schritt zurück. „Hast du’s eilig?“ Hayatos Stimme lies mir förmlich das Blut in den Adern gefrieren. Meine Hände wurden eiskalt, während sie sich angespannt zu Fäusten ballten und ich zu ihm aufsah. „Was willst du hier?“ Er hatte die Hand zum Anklopfen gehoben, lies sie jedoch mit einem Grinsen im Gesicht sinken. Fast hätte ich über diese Ironie lachen können, dass er einfach dort stand, wie eine Mauer und mir den Weg nach draußen versperrte. „Nette Begrüßung. Schön, dass du zu Hause bist. Ich wollte gerade zu dir“, sagte Hayato und drückte sich wie selbstverständlich an mir vorbei in meine Wohnung. „Hey!“, rief ich ihm wütend hinterher und knallte die Tür mit voller Wucht zu, um ihm hinterher zu stapfen. „Erstens: was fällt dir ein, hier einfach reinzuplatzen? Und zweitens: hör verdammt noch mal auf, einfach unangemeldet hier aufzutauchen. Hast du keinen Anstand?“ Dieser Kerl machte mich rasend! Was bildete er sich ein, wer er war? Meinte er ernsthaft, er konnte sich alles erlauben? Mit verschränkten Armen blieb ich vor ihm stehen, während Hayato sich gelassen zu mir umwandte. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sah mit seiner adretten Kleidung und dem schicken, schwarzen Mantel, der vermutlich ein Vermögen gekostet hatte, mal wieder so aus, als würde er gerade von einem Geschäftstermin kommen. Ich zwang mich dazu von seinen Klamotten abzulassen und ihm stattdessen direkt in die Augen zu sehen. Er wirkte zufrieden. „Ich habe dir was mitgebracht“, eröffnete er mir und griff in die Innenseite seines Mantels. „Ich dachte mir, es wäre angebracht, ihn dir persönlich zu überreichen.“ Er zog einen Briefumschlag aus seiner Manteltasche und hielt ihn mir entgegen. „Was soll das sein?“, fragte ich verbissen. „Sieh doch nach.“ Am liebsten hätte ich ihm sein selbstgefälliges Grinsen aus dem Gesicht gewischt. Stattdessen nahm ich den Umschlag entgegen, den er mir reichte. Bei dem Absender geriet ich kurz ins Stocken. Ein Brief von der Polizei. Und er war an Tai Yagami adressiert. Ich schluckte hart. „Ich nehme an, du kannst dir denken, was darinsteht“, sagte Hayato, während ich krampfhaft versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. „Und dafür bist du extra vorbei gekommen?“, erwiderte ich und versuchte dabei die Fassung zu wahren. „Wir wussten beide, dass du Anzeige erstatten würdest. Das ist also weniger überraschend für mich als viel mehr das, was ich ohnehin von dir erwartet habe. Wenn du also gedacht hast, du könntest mir dabei zusehen, wie ich vor dir auf die Knie falle, hast du leider Pech. Dann hast du den Weg umsonst gemacht.“ Sein Grinsen geriet ins Wanken. Ganz kurz wirkte es tatsächlich so, als hätte Hayato nicht mit dieser Antwort gerechnet und für einen Moment fühlte ich mich ihm sogar überlegen. Angriff war eben doch noch die beste Verteidigung. Doch leider fand er viel zu schnell zu seiner alten Form zurück. Seine Mundwinkel wanderten nach oben. „Ich hätte wirklich gedacht, dir liegt mehr an deinem Freund. Du weißt genau, was diese Anzeige für ihn bedeutet“, sagte er selbstgefällig und zeigte mit dem Finger auf den Brief in seiner Hand. „Das war’s vorerst mit seinem Studium. Oder meinst du ernsthaft, irgendeine Uni wird ihn bei sich aufnehmen, wenn das rauskommt? Und was das Jugendamt davon halten wird, muss ich dir ja wohl nicht sagen. Sicher werden sie nicht begeistert davon sein, dass du unsere Tochter mit jemanden großziehen willst, dem gerne mal die Hand ausrutscht.“ Ich biss die Zähne aufeinander und knurrte wie ein bissiger Hund. „Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Du hast Tai provoziert. Das war der einzige Grund, warum er auf dich losgegangen ist. Und ganz ehrlich: du hast es mehr als verdient.“ Mehr denn je konnte ich verstehen, warum Tai so urplötzlich auf Hayato losgegangen war. Hätte ich nicht einen letzten Funken Vernunft in mir, hätte ich mich spätestens jetzt auch auf ihn gestürzt. Das beeindruckte Hayato jedoch wenig. Er zuckte gelassen mit den Schultern und ging an mir vorbei, um sich gegen die Küchentheke zu lehnen. „Mag sein, dass ich es verdient habe. Ich gebe zu, es war sicher kein Kavaliersdelikt, einfach so auf der Party oder bei dem Termin mit dem Jugendamt aufzutauchen. Oder dir im Pool so nahe zu kommen.“ Etwas blitzte in seinen Augen auf … und lies mich erschaudern. „Aber auch ich bin kein Unmensch, Mimi. Auch wenn es dir schwerfällt, das zu glauben … auch ich habe ein Herz.“ Ich lachte laut auf. Das konnte er ja wohl nicht wirklich von sich behaupten. „Und du bist extra hergekommen, um mir das zu sagen? Wenn das alles war, dann kannst du gleich wieder gehen.“ Ich konnte und wollte diese Person einfach keine Sekunde länger ertragen. „Nein, deswegen bin ich nicht hier“, erwiderte Hayato und kam endlich zur Sache. Mir schwante schon, dass er nicht allein deswegen hergekommen war, um Postbote zu spielen. „Also, was willst du dann hier?“, fragte ich ungeduldig nach. „Ich bin hier, um dir einen Deal vorzuschlagen.“ Seine Augen wanderten zu Hopes Zimmertür, dann zurück zu mir. „Ich möchte, dass du und Hope bei mir einzieht.“ Mein ganzer Körper erstarrte zu Stein. Und beinahe wäre mir die Kinnlade runtergeklappt. Hatte ich mich da eben verhört oder hatte er das gerade wirklich gesagt? „Das … das meinst du nicht ernst!“, mutmaßte ich perplex, doch die Miene, die Hayato aufgelegt hatte, schien genau das Gegenteil zu bedeuten. Jegliches Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Stattdessen sah er mich unverwandt an – was nur eine Schlussfolgerung zuließ. „Du … meinst es ernst“, sagte ich völlig benommen und kam mir dabei vor wie im falschen Film. Hayato verschränkte die Finger ineinander und wirkte ganz geschäftig. „Natürlich meine ich es ernst. Oder denkst du, ich sage so etwas zum Spaß? Dafür kennst du mich zu gut, Mimi.“ Richtig. Dafür kannte ich ihn zu gut. Er hatte eben gesagt, dass er wollte, dass Hope und ich bei ihm einzogen – und es war sein verdammter Ernst. „Du bist verrückt“, war das Einzige, was ich dazu sagen konnte. Alles andere entzog sich meiner Vorstellungskraft. Wie kam er dazu, mir so einen Vorschlag zu unterbreiten? Er musste komplett den Verstand verloren haben, wenn er dachte, ich würde so was auch nur annähernd in Erwägung ziehen. „Jetzt sei mal eine Minute ernst und denk darüber nach“, forderte Hayato, woraufhin ich nur zischte. „Da gibt es nichts nachzudenken. Die Antwort lautet nein.“ „Und ich denke, dass das die beste Lösung für alle wäre. Ich hätte meine Tochter in meiner Nähe und könnte sie besser kennenlernen. Ich bin schließlich ihr Vater. Du wärst finanziell abgesichert und müsstest dir keine Gedanken mehr um Geld oder um die Zukunft machen. Bei mir hättet ihr alles, was ihr braucht.“ Bis auf Liebe, meinte er? „Ich sage ja nicht, dass wir wieder ein Paar werden sollen, wobei …“ Er warf mir ein schelmisches Grinsen zu und ich hätte mich auf der Stelle übergeben können. „Aber Hope hätte ihre Eltern um sich. Ihre leiblichen Eltern. Ihre gesamte Zukunft wäre bestens abgesichert und sie müsste nicht irgendwann fragen, wer ihr richtiger Vater ist und warum sie ihn nie kennengelernt hat. Meinst du nicht, dass sie irgendwann von selbst darauf kommen wird, mich aufzusuchen, um mich kennenzulernen? Willst du ihr das wirklich antun?“ Ich griff mir an die Stirn. Mir schwirrte der Kopf. Gedankenverloren ließ ich mich auf die Rücklehne des Sofas sinken. „Du hast völlig den Verstand verloren, Hayato“, sagte ich und schüttelte zweifelnd den Kopf. Geschah das hier gerade wirklich? Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Der Schock über dieses Gespräch musste mir ins Gesicht geschrieben stehen. „Und hör auf damit, Hope als deinen größten Trumps auszuspielen. Das ist einfach nur lächerlich. Du weißt, dass du nur ihr Erzeuger bist und im besten Falle auch immer nur das sein wirst.“ Ich konnte einfach nicht fassen, dass er mir diesen Vorschlag unterbreitete. Als wäre es eine ernsthafte Option. Doch ich kannte Hayato zu gut und wusste, dass er niemals so ein Angebot machen würde, ohne dabei etwas in der Hinterhand zu haben. Und genau dieser Verdacht bestätigte sich im nächsten Moment. Hayato suchte meinen Blick und ich konnte sehen, wie seine Mundwinkel zuckten. „Sie ist nicht mein größter Trumpf. Dein Freund ist mein größter Trumpf. Und diese Anzeige, die du gerade in den Händen hältst.“ Ich warf einen Blick auf den Brief, den er mir gegeben hatte – und der unser Schicksal besiegelte. Plötzlich fühlte es sich an, als würde jemand mein Herz mit bloßen Händen herausreißen. Ja, ich wusste nur zu gut, wie schwer dieser Brief wiegte. Was er für eine Welle an Kettenreaktionen auslösen könnte. Angefangen bei Tai. Seinem Studium. Seine Pläne. Unsere gemeinsame Zukunft. Hope. Die Adoption. Einfach alles. Alles hing am seidenen Faden. Wir tanzten bereits viel zu lange auf dünnem Eis, seit Hayato wieder in unser Leben geplatzt war. Und Hayato würde nicht nur damit drohen, es zum Einsturz zu bringen – er würde es auch tun, bei der nächsten Gelegenheit, die sich ihm bot. Es sei denn … „Du möchtest, dass Hope und ich bei dir einziehen. Und im Gegenzug ziehst du die Anzeige gegen Tai zurück?“, konfrontierte ich ihn. Hayato nickte. „Im Grunde ist das die Zusammenfassung des Ganzen. Also, was sagst du?“ Ich sackte in mich zusammen und ließ die Schultern hängen, während ich versuchte, gegen die Wut und die Tränen anzukämpfen. Was sollte ich jetzt nur tun? Was konnte ich überhaupt noch tun? Hayato stellte mich vor eine unmögliche Entscheidung. Ich sollte wählen zwischen Tais Zukunft und die meiner Tochter und meiner. In Sekundenschnelle ging ich seine Worte immer und immer wieder im Kopf durch, in der Hoffnung, mir würde irgendeine Lösung einfallen. Irgendeine Lösung, unter der weder Tai, noch ich leiden mussten. Doch egal wie ich es auch drehte und wendete – es lief immer auf’s selbe hinaus: Hayato würde gewinnen. So oder so. Ich hatte genau zwei Möglichkeiten: entweder ich spielte dieses Spiel mit und bewahrte Tai somit vor einer Strafanzeige, die definitiv seine gesamte Zukunft gefährdet hätte oder ich weigerte mich und würde mit Tai gemeinsam untergehen. Hayato würde es schaffen, sie mir wegzunehmen. Er würde es so darstellen, dass ich nicht reif genug sei, zu entscheiden, was gut für meine Tochter war. Dass Tai kein geeigneter Umgang für sie war. Hayato war in einem guten Alter, konnte ein gesichertes Einkommen vorweisen und zeigte offenkundig Interesse daran, sich um seine Tochter zu kümmern. In den Augen der Beamten wäre er definitiv die bessere Wahl. Und ich? Mit Glück würde ich Hope alle zwei Wochenenden zu Gesicht bekommen. Allein der Gedanke daran, zerriss mir förmlich das Herz. „Also?“, fragte Hayato erneut, da ich ihm bis jetzt keine Antwort gegeben hatte. „Wie entscheidest du dich?“ Fassungslos sah ich ihn an. „Ich … ich weiß es nicht.“ Ich biss mir schmerzhaft auf die Unterlippe. Was sollte ich nur tun? „Na, schön“, meinte Hayato und stieß sich von der Küchentheke ab. „Überleg es dir bis morgen. Den da lasse ich dir erst mal da. Vielleicht fällt dir die Entscheidung dann leichter.“ Er deutete auf den Brief in meiner Hand und machte sich schließlich zum Gehen auf, während mir einfach jegliche Worte fehlten. Kurz vor der Tür wandte er sich noch mal um und sah mir direkt in die Augen – voller Entschlossenheit. „Ich hoffe, du weißt, dass ich das nicht tue, um dir zu schaden. Ich möchte einfach nur das Beste für meine Tochter. Und ich würde alles tun, um sie bei mir zu haben. Dafür wär mir jedes Mittel recht. Bedenke das, wenn du deine Entscheidung fällst. Es gibt diejenigen, die glauben Macht zu haben und die, die sie tatsächlich haben.“ Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, war es vorbei mit meiner Selbstbeherrschung und ich brach in Tränen aus. Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen und wünschte mir, dass sich der Boden unter meinen Füßen auftun und mich verschlucken würde. Wie konnte das nur passieren? Wie konnte es passieren, dass Hayato mich ein zweites Mal in so eine Lage brachte? In eine Situation, in der ich so eine schwierige Wahl treffen sollte? Damals war es mir allerdings leichter gefallen, denn es kam für mich nie in Frage, Hope nicht zu bekommen. Sie jetzt ihm zu überlassen, kam ebenfalls nicht in Frage – niemals. Aber wie sollte ich mich für sie entscheiden und gleichzeitig gegen Tai und unsere Beziehung? Wenn ich jetzt einknickte und Hayato genau das gab, was er wollte, würde Tai mir das nie verzeihen. Er hatte mir vorgeworfen, aufgegeben zu haben. Und um ehrlich zu sein, war ich so kurz davor, dies wirklich zu tun. Mit dem Ärmel meines Pullovers wischte ich mir die Tränen aus den Augen, ehe ich mit zittrigen Fingern den Brief öffnete, den ich immer noch verschlossen in den Händen hielt. Ich las die Zeilen durch, die über Tais komplette Zukunft entscheiden könnten. Immer wieder las ich sie, als könnten sie mir die Entscheidung abnehmen, die ich zu fällen hatte. Und tatsächlich taten sie das auch. Je öfter ich diesen verfluchten Brief las, desto mehr wurde mir bewusst, was ich zu tun hatte. Die Traurigkeit verwandelte sich mit jedem weiteren Wort in Wut. Langsam kroch sie in mir hoch, bis sie jede einzelne Pore meines Körpers ausgefüllt und zum Glühen gebracht hatte. Ich ging in die Küche und stellte mich vor die Spüle. Aus dem Schubfach darunter holte ich ein Feuerzeug heraus. Ohne weiter darüber nachzudenken, hielt ich den Brief über das Spülbecken. Ich zündete ihn an und während ich den Flammen dabei zusah, wie sie ihn verschluckten und die Worte in Staub auflösten, half mir meine Wut dabei einen Entschluss zu fassen. Der Entschluss darüber, dass ich nicht aufgeben würde – weder Hope, noch Tai, noch mich selbst. Es klingelte an der Tür. Erst wollte ich es ignorieren und stopfte stattdessen ein paar weitere Klamotten in meinen Koffer. Ich wusste genau, wer vor der Tür stand, doch ich wusste nicht, ob ich für dieses Gespräch schon bereit war. Ein weiteres Mal klingelte es. Seufzend schloss ich meinen Koffer, der mehr als lieblos gepackt war und atmete schwerfällig aus. Wie um alles in der Welt sollte ich ihm das nur erklären? Ich ließ mir mehr Zeit als nötig, um zur Tür zu gehen. Bevor ich sie öffnete, straffte ich meine Schultern und versuchte mich innerlich gegen das zu wappnen, was mich erwartete. „Hey“, sagte ich geknickt, als ich Tai vor mir stand. Auch er wirkte nicht weniger frustriert, was jedoch vermutlich immer noch am gestrigen Streit lag. „Hey“, sagte er und vergrub die Hände in den Hosentaschen, so wie er es immer tat, wenn ihm etwas unangenehm war. „Darf ich reinkommen?“ „Natürlich.“ Ich trat einen Schritt zur Seite und schloss die Tür hinter ihm. Wir gingen ins Wohnzimmer, wo Hope auf ihrer Spieldecke saß und von all den Schwierigkeiten, die in der Luft hingen, nichts mitbekam. Wie gern hätte ich mir ein Stück ihrer Sorglosigkeit angenommen. „Ich wollte mit dir reden“, verkündete Tai. „Wegen gestern.“ Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und sah betreten zur Seite. Sein Blick fiel auf meinen gepackten Koffer, der direkt neben Hopes vor meiner Schlafzimmertür stand. „Verreist du?“, fragte Tai stutzig. Ich räusperte mich und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Am liebsten hätte ich ihm nicht mal in die Augen gesehen. Diese Entscheidung würde er nie verstehen – ganz gleich, was ich jetzt sagte. „Ehm … sozusagen“, stammelte ich, weil ich einfach nicht die richtigen Worte fand. „Ausgerechnet jetzt?“ Tai sah mich zweifelnd und mit gerunzelter Stirn an. Ich wollte ihm antworten, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich wusste, dass es schwer werden würde. Aber nicht, dass es SO schwer werden würde. „Oh, Mimi“, sagte Tai und ging auf mich zu, was mich unweigerlich einen Schritt zurückweichen ließ. Wenn er mich jetzt umarmte, würde ich vermutlich weich werden und einen Rückzieher machen. Tai bemerkte mein Zögern und hielt in seiner Bewegung inne. Traurig sah er auf mich hinab. „Du musst doch nicht verschwinden. Nicht meinetwegen. Es tut mir leid, was ich gestern zu dir gesagt habe. Ich habe das nicht so gemeint, ich war nur … nur so wütend.“ Ich konnte ihm ansehen, wie sehr es ihn ärgerte, dass die Situation gestern so eskaliert war. Aber letztendlich fanden wir doch immer wieder zueinander, egal wie schlimm der Streit auch war. Nur war ich mir nicht sicher, ob das diesmal genauso sein würde. Ich atmete tief ein und hielt die Luft an, bevor ich sie mit einem Seufzen wieder ausstieß. „Tai, hör zu … ich muss dir was sagen“, verkündete ich schweren Herzens und ging zur Küchentheke, um mich dort abzustützen. Ich brauchte jetzt definitiv etwas, woran ich mich festhalten konnte. Erwartungsvoll und zugleich ängstlich sah Tai mich an. Ihn so zu sehen, brach mir das Herz. „Gott, wie soll ich dir das nur erklären?“, sagte ich zu mir selbst und vergrub das Gesicht in meinen Händen, um noch ein mal tief durchzuatmen. „Gut“, sagte ich schließlich und zwang mich dazu, ihm direkt in die Augen zu sehen. Das hatte er verdient. „Ich verreise nicht. Ich … Ich ziehe zu Hayato.“ Für einen Moment schien die Zeit stehen geblieben zu sein, in der Tai mich einfach nur anstarrte. Ich konnte das Herz, das nur so wie wild gegen meine Brust schlug, förmlich hören. Nach einer schier endlos langen Minute, in der keiner von uns etwas sagte, verfinsterte sich Tais Blick schließlich. „Was?“, platzte es aus ihm heraus. „Kannst du das bitte wiederholen? Ich glaube, ich hab mich verhört.“ „Ich ziehe zu Hayato“, wiederholte ich so ruhig es ging, auch wenn das nicht nötig gewesen wäre. Tai fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Mimi … bist du verrückt geworden?“ Unwillkürlich musste ich auflachen. „Ja, wahrscheinlich“, erwiderte ich und ließ die Schultern hängen. „Was um alles in der Welt ist denn seit gestern passiert?“, sagte Tai und wirkte mehr als aufgebracht. „Kannst du mir das erklären? Was ist in dich gefahren? Gibt es auch nur eine einzige vernünftige Erklärung dafür, dass du zu ihm ziehen willst? Ich meine … was ist los? Liebst du ihn etwa noch?“ Meine Augen weiteten sich. „Was? Nein! Wie kannst du das auch nur denken? “ „Was ist es dann, Mimi? Erklärs mir! Was hat er getan, um dich zu diesem Schritt zu bewegen? Erpresst er dich mit irgendwas?“ Ich schluckte schwer und biss mir auf die Lippe. Ich konnte ihm unmöglich sagen, warum ich das tat. Wenn Tai erfuhr, dass er der Grund dafür war, würde er sich nicht nur die schlimmsten Vorwürfe machen, sondern auch von mir verlangen, es nicht zu tun. Dafür kannte ich ihn zu gut. Er würde lieber seinen eigenen Kopf hinhalten als zuzulassen, dass Hope und ich gingen. „Das ist völlig unwichtig. Alles, was du wissen musst ist, dass ich das für uns tue.“ Tai entfuhr ein Zischen. „Ist das dein Ernst?“ Ich wollte etwas antworten, doch ich konnte nicht, sonst wäre ich vermutlich in Tränen ausgebrochen. Trotzdem war meine Entscheidung unumstößlich. „Und was ist mit Hope?“, fragte Tai, als würde er die Antwort nicht schon längst kennen. „Sie kommt mit mir“, sagte ich und brach damit ein weiteres Mal unserer beider Herzen. Ich sah, wie Tai mit sich kämpfte. Wie er verbissen zu Boden blickte und die Hände zu Fäusten ballte, als würde er gleich auf irgendetwas einschlagen müssen. „Und du willst mir wirklich nicht sagen, warum du das tust?“, fragte er noch ein mal, hinter zusammengebissenen Zähnen. Ich schüttelte entschlossen den Kopf. „Das geht nicht. Bitte, Tai, vertrau mir einfach. Ich tue alles dafür, damit wir zusammenbleiben können, das verspreche ich dir.“ Seine Mundwinkel zuckten ungläubig. „Indem du gehst?“ Ich schwieg. So schwer es mir auch fiel, ich musste standhaft bleiben. Tai ging auf mich zu und blieb direkt neben mir stehen, ohne mich anzusehen. „Und ich kann dich nicht davon abhalten, egal, was ich auch tue?“ Die Bitterkeit in seiner Stimme zerriss mir das Herz. Wir wussten beide, dass meine Entscheidung endgültig war, auch wenn er sie nicht verstand. „Nein“, sagte ich lediglich mit erstickter Stimme, weil ich nicht mehr hervorbrachte. Dann hörte ich nur noch, wie die Tür ins Schloss fiel. Eine Stunde später stand ich vor dem Haus, was ich nur allzu gut von innen kannte und doch gehofft hatte, es nie wieder sehen zu müssen. Wie mechanisch betätigte ich den Knopf der Klingel und wartete darauf, dass mir aufgemacht wurde. Es dauerte keine zehn Sekunden, da stand Hayato in der Tür. Zunächst wirkte er überrascht, doch das legte sich schnell. „Sieh einer an.“ Ein triumphierendes Grinsen stahl sich auf seine Lippen und er verschränkte die Arme vor der Brust. „Die verlorene Prinzessin kehrt zurück.“ Ich ignorierte diesen Kommentar. „Was ist? Lässt du uns jetzt rein oder was?“ Er zog eine Augenbraue in die Höhe und ging zur Seite. Es sah alles so aus wie früher, als ich mit Hope und meinem Gepäck eintrat. Viel zu schnell drohten die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit mich einzuholen. Kurz huschte mein Blick zu der Wand, an der wir uns damals geliebt hatten, an dem Abend, als wir uns kennenlernten. Hayato trat neben mich und grinste wissend. „Ich wusste, du kommst wieder.“ Ich antwortete nicht, sondern biss mir stattdessen auf die Unterlippe. Seine rechte Hand wanderte in seine Hosentasche, während er mit der anderen bestätigend meine Schulter drückte. „Das war die richtige Entscheidung, Mimi.“ Ich nickte, ohne ihn anzusehen. „Ich weiß.“ „Na, dann“, entgegnete Hayato und ließ von mir ab. „Kommt, ich zeig euch eure Zimmer.“ Er ging den Flur voraus zu den vielen Zimmern, die dieses Haus besaß, doch ich folgte ihm nicht sofort. Stattdessen blieb ich noch einen Moment lang stehen, um mich zu sammeln und mich zu besinnen, warum ich hier war. Ja, Hayato hatte recht. Ich hatte die richtige Entscheidung getroffen. Doch wenn er dachte, es wäre die Entscheidung aufzugeben, dann irrte er sich gewaltig. Nein – ich hatte die Entscheidung getroffen zu kämpfen. Tai hatte mir vorgeworfen kampflos aufzugeben. Aber genau das tat ich nicht. Wie hieß es so schön? Sei deinen Freunden nahe, aber deinen Feinden noch näher. Ich kannte Hayato gut. Aber anscheinend noch nicht gut genug, um ihn genauso in Bedrängnis zu bringen wie er mich. Allerdings hatte ich viel von ihm gelernt. Jeder hatte seine Leichen im Keller und ich war mir sicher, dass es bei Hayato so einige gab. Denn, wenn mich die letzte Zeit eins gelehrt hatte, dann dass jeder von uns ein Geheimnis hat. Und seins würde ich ausgraben und ihn wie eine Klinge an die Kehle halten – genauso wie er es bei mir getan hatte. Entschlossen ballte ich meine Hand zur Faust, ehe ich Hayato endlich folgte. Er hatte recht gehabt, mit dem, was er sagte: Es gibt diejenigen, die glauben Macht zu haben und die, die sie tatsächlich haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)