Morgen vielleicht von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 1: Anklopfen --------------------   Das Gefühl, zu verdursten, während du trinkst. Zu verhungern, während du in dich hineinfrisst. In dir herrscht Leere. Das Gefühl, falsch abgebogen zu sein, während du weiterrennst. Zu schweigen, während du innerlich schreist. In dir herrscht Leere. Die Erkenntnis, das Falsche gesagt zu haben. Oder geschwiegen, wenn du das Schweigen hättest brechen müssen. Und es nie wieder zurücknehmen zu können. Das Gefühl.     Kapitel 1   Wheeler klopfte nie. »Du hast es versprochen, Geldsack!«, rief er und nahm sein Büro ein, wie ein Sturm, der nichts liegen ließ, wo es hingehörte. »Ich warte seit drei Stunden –« Die Migräne kündigte sich mit einem Hämmern gegen die Schläfen an. Wheeler stützte sich mit beiden Händen auf seinem Schreibtisch ihm gegenüber ab und hatte die Nerven, ihn in seinem Büro anzufauchen. »Während du hier deine Drecksarbeit machst und dich –« »Später. Nicht jetzt, Wheeler.« Stille, nur das Klackern der Tastatur. Uhrenticken. »Ach, vergiss es.« Er knallte die Tür und Seto Kaiba schnaubte. Wheeler würde es nie lernen, anzuklopfen. Kapitel 2: Ignorieren ---------------------   Er würde es nie verzeihen, war sein erster Gedanke. Mit geschlossenen Augen saß er an seinem Schreibtisch, die Computer und Laptops sirrten um ihn herum. Es roch nach abgestandener Luft. Draußen ging die Sonne unter, dann wieder auf. Zeit wurde bedeutungslos, während ein Plan in seinem Kopf die Taubheit vertrieb. Mit jeder Idee, jedem Gedanken, an den er sich krallte. Vielleicht war es Wahnsinn. Aber er war noch nie jemand gewesen, der nach dem Möglichen strebte. Als er die Augen öffnete, erstarrte er. »Was machst du hier?« Er schaffte es seine Überraschung vorwurfsvoll klingen zu lassen. Wheeler klopfte nie. Es wunderte ihn schon lange nicht mehr, dass der vorlaute Vollidiot tat, wie es ihm beliebte. Selbst jetzt, selbst hier. Irgendwann hatte er sich daran gewöhnt. »Was willst du noch?«, brummte er und warf ihm über seine Bildschirme hinweg einen Blick zu. Joey Wheeler fing ihn auf, reckte ihm seine Faust entgegen. Sein rechtes Auge zuckte. »Du bist ein arroganter Vollidiot, Kaiba. Es ist jetzt schon eine Woche her. Wie lange willst du mich noch ignorieren?«, blaffte er. »Du solltest nicht hier sein«, murmelte er. Joey Wheelers Mundwinkel hoben sich zu einem schiefen Grinsen. »Du auch nicht, Geldsack. Geh nach Hause.« Kapitel 3: Bereuen ------------------   Er konnte zu Hause nicht schlafen. Alles war viel zu leise, als presste jemand Kissen auf seine Ohren. Alles klang gedämpft. In der Villa war niemand, der auf ihn wartete. Also blieb er im Büro. »Herr Kaiba?« Er antwortete nicht. Er hatte keine Zeit, mit irgendwelchen Menschen zu interagieren, die seine Aufmerksamkeit für Banalitäten überstrapazierten. »Du solltest auf sie hören, Geldsack.« »Nicht jetzt, Köter«, knurrte er. »Weißt du, wie lange du wieder hier in deinem Büro hockst? Du siehst aus wie ein Zombie.« Wheelers Humor war schon immer fragwürdig. »Du solltest mal wieder einen guten Döner essen.« In Wheelers Welt lösten sich Probleme entweder durch Nichtstun oder durch Nahrungsaufnahme. Er verdrehte die Augen, aber ansonsten zeigte er keine Reaktion, tippte weiter, ließ alle möglichen Computer Berechnungen anstellen. Er hatte eine Menge Computer. »Seto«, flüsterte er jetzt und der Ton gefiel ihm nicht. Da war kein übertriebenes Grinsen hinter den Silben, keine lächerliche Beleidigung, die seine Inkompetenz überspielen sollte, kein kognitiv limitierter Kommentar, der ihm praktisch aufzwängte, ihn verbal in den Boden zu rammen. Er ignorierte ihn. »Herr Kaiba, der Vorstand –« »Nicht jetzt«, knurrte er. In seinem Kopf brüllten Zahlen und Gleichungen. Irgendwo in einer Etage seines Verstandes wusste er, dass der Durchschnittsmensch nicht so reagierte. Aber er war noch nie durchschnittlich gewesen. »Das stimmt. Du warst schon immer eher in der Kategorie böses Supergenie.« »Wheeler, halt die Klappe. Ich tue das für dich«, knurrte er. »Wirklich?« Wheeler lehnte sich über seine Schulter, wie er es schon so oft getan hatte, strich dabei über seinen Oberarm und stierte auf den Bildschirm. »Alter, du machst dir zu viel Stress. Du vergeudest hier voll deine Zeit. Mokuba wartet und –« Natürlich begriff Wheeler mit seiner beeinträchtigten Intelligenz nichts. Er verstand nicht, was auf dem Spiel stand. Dass er es nicht bereuen würde. Kapitel 4: Schweigen -------------------- Er würde sein Versprechen halten. Dieses Mal. Er war sich absolut sicher. Die Option zu bereuen hatte es seit seiner Kindheit nicht mehr gegeben. Er würde nicht jetzt anfangen, an seinen Fähigkeiten zu zweifeln. »Warum machst du nicht mal was Sinnvolles mit deinem Geld?« Er schnaubte, warf ihm einen Blick über den Rand seines Computers zu. Wie er dastand, aus dem Panoramafenster über Domino hinweg schaute, als würde er von einer Zukunft träumen. Sein Haar strahlte, als stünde es in goldenen Flammen, während die Sonne aufging. Um seinen Mund hing ein Lächeln. Vielleicht dachte er auch nur über seine nächste Mahlzeit nach. »Ich verwende mein Geld ausschließlich sinnvoll«, erwiderte er. »Ich finanziere humanitäre Projekte. Dazu veranstaltet die KC zahlreiche Charity-Events und –« »Und mit deiner Zeit und lädst deine Freunde mal zum Essen ein.« Er verzog den Mund. Natürlich, Wheelers Prioritäten pendelten zwischen Freunden und Nahrungsaufnahme. »Meine Freunde«, echote er, als wäre es ein Gestank, den er nicht loswurde, wenn er einmal an ihm haftete. Jedem war bewusst, dass es nicht seine Freunde, sondern Wheelers Freunde waren. Er duldete sie höchstens. »Natürlich mit Mokuba und seiner Frau. Und die kleine Yuki. Sie wird bald schon sechs, wusstest du das, arroganter Geldsack?« »Arrogant von deiner Perspektive, Wheeler«, erwiderte er, »aber Ambition, vor allem, wenn sie zielgerichtet ist mit den nötigen Kapazitäten –« Joey Wheeler hatte die Nerven, ihm mit großen Schritten entgegen zu stolpern, um ihm gegen seinen Hinterkopf zu schnipsen. »Laber nicht«, murrte er und legte dann die Hand auf seinen Arm. Wenn er die Augen schloss, fühlte es sich ganz warm an. »Du verlierst das Wichtige aus dem Blick, Kaiba.« Er stimmte an dieser Stelle nicht mit Wheelers verqueren Weltsicht überein. An vielen Stellen natürlich, aber hier besonders. Er vergeudete seine Zeit erst gar nicht, um ihm die offensichtlichen Argumente darzulegen. »Du weißt schon, dass das Ganze hier selbst für dich ziemlich abgefuckt ist, oder?«, flüsterte Wheeler. Er antwortete nicht, stattdessen riss er die Augen auf und tippte weiter. Stille und Computersirren. Wheeler hatte es nie ertragen, lange zu schweigen. »Weißt du, was du tun müsstest?« Ja, er wusste es, aber er wollte es nicht. »Ich habe jetzt keine Zeit für deine erbärmlichen Versuche, Konversation zu betreiben. Der Prototyp ist fast fertig. Hör auf, mich abzulenken.« Vielleicht verlor er seinen Verstand, vielleicht riskierte er einen gesunden Bezug zur Realität. Aber er würde sein Versprechen nicht brechen. Nicht dieses Mal. Kapitel 5: Versprechen ----------------------   Die Theorie war, dass die Persönlichkeit eines Menschen durch elektrische Impulse und Hormone gesteuert wurde. Nichts, was die Natur kreierte, konnte nicht auch durch die Technik abgebildet werden. Nicht, wenn er derjenige war, der das Spiegelbild erschuf. Er verlegte seinen temporären Arbeitsplatz in einen der Testquartiere für unerprobte Innovationen im Keller der KC. »Arroganter Bastard«, knurrte Wheeler und funkelte ihn an. »Was zur Hölle machst du hier?« Er verriet dem Köter nicht, dass mit einem Partyhütchen auf dem Kopf die intendierte Wirkung verpuffte. »Ich arbeite.« »Laber nicht rum«, zischte er. »Heute war deine Geburtstagsparty, Geldsack! Und du bist nicht hingegangen!« Es hätte ihn fast amüsiert, dass Wheeler mehr an seinem Geburtstag lag als ihm selbst. Das war schon immer sein Problem gewesen, er schaffte es nicht, seine Prioritäten zu ordnen. »Ich hatte keine Zeit.« Vor seinen Augen verschwammen ständig die Zahlen auf den Bildschirmen. »Mokuba wird gleich hier auftauchen, bis dahin hast du besser eine bessere Erklärung für – dafür!« Wheeler gestikulierte wild in Richtung der Computer und der Kapsel, die ursprünglich für ein virtuelles Spiel geplant war. Schläuche und Kabel quollen aus den Geräten und überzogen die Fliesen wie Adern eine Hand. »Ich hatte es versprochen. Damit wird es möglich sein. Und ich bin Mokuba keine Rechenschaft schuldig«, erwiderte er. »Du hängst immer noch an dem Versprechen«, seufzte Wheeler und blies eine seiner Strähnen aus der Stirn. »Die Details werde ich noch konfigurieren. Es wird keinen Unterschied zu der realen Welt geben. Ich werde dafür sorgen, dass alles perfekt wird.« Wheeler verdrehte die Augen. »Du kannst nicht ewig davor abhauen, Kaiba.« Joey Wheeler hatte schon immer seinen eigenen Standards auf andere projiziert. »Irgendwann musst du dir eingestehen, dass du es verkackt hast. Aber –« Er hackte auf die Tastatur ein, überprüfte die Schaltung der VirtualCapsule und ignorierte Wheelers vorwurfsvolle Blicke. Anders als Wheeler, konnte er seine Prioritäten angemessen setzen. Vielleicht zu spät. »Ich entscheide das«, knurrte er. »Auch, wenn dein inkompetenter Verstand, das nicht begreifen kann. Ich werde mich nicht mit dieser Realität zufriedengeben!« Dann hörte er Schritte. Er zuckte zusammen, wie ein unartiger Junge, der bei einem Streich ertappt wurde, ehe er das Gefühl abschüttelte und Wheelers amüsiertes Schnaufen ignorierte. »Seto?« Er hob den Kopf und musterte seinen kleinen Bruder, der in der Tür stand. Manchmal irritierte ihn, dass die Vorstellung von ihm und die Realität nicht übereinstimmten. In seinen Gedanken ging ihm Mokuba immer noch nur knapp bis an die Schultern. Mokuba schlenderte auf ihn zu, musterte ihn, dann glitt sein Blick weiter nach hinten, blieb offensichtlich an den Geräten hängen. »An welchem Projekt arbeitest du?« »Ich habe alles unter Kontrolle«, brummte er. Mokuba seufzte. »Seto, ich weiß, dass es –« Erinnerungen waren nichts als elektrische Ströme, die von Nerven weitergeleitet wurden. Das menschliche Gehirn bestand aus Milliarden von Nervenzellen. Das Problem war der Speicherplatz. Die Details, die eine Persönlichkeit definierten. »Seto, Joey –« »Ich weiß.« Er schwieg. Seit wann klang die Stille zwischen ihnen so nach unausgesprochener Distanz? »Seto.« Er sah nicht auf. »Alles Gute zum Geburtstag.« Kapitel 6: Verschwinden -----------------------   Menschen glaubten, wenn sie erst einmal reich wären, wären sie glücklicher. Aber das war ein Irrglauben. Mit der Grundsicherung und ein wenig Luxus wie Urlaub, Haus und Auto gingen vielen die Vorstellung aus, was sie sich noch kaufen könnten. »Mokuba meint, du machst dich selbst kaputt. Er macht sich echt Sorgen um dich«, sagte Joey plötzlich ganz nah neben ihm und er widerstand der Frage, wann er hier herein gekommen war und warum er nie anklopfte, denn das wäre nur verschwendeter Atem gewesen. Joey lehnte sich von hinten an seinen Hocker und schaute ihm über die Schulter, als könnte er irgendetwas mit diesen Daten anfangen. Er glaubte seinen Atem im Nacken zu spüren. »Hat er das gesagt?« Menschen glaubten, wenn sie erst einmal reich wären, würden sich all ihre Träume erfüllen. Sie glaubten, sie würden dann nichts mehr in ihrem Leben bereuen müssen. »Naja, eher so etwas wie: Ich befürchte, mein Bruder ist in einer akuten Phase, in der er –« »Lass es, Wheeler.« »Du willst es echt nicht hören, ne?« »Du könntest mir nichts mitteilen, was ich nicht schon wüsste.« »Du bist ein Idiot «, erwiderte Wheeler und ein Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. Seto verdrehte die Augen, blinzelte. Um ihn herum surrten Computer. Seine Finger schwebten über der Tastatur und hackten dann darauf ein. Das regelmäßige Ticken der Uhr erfüllte das Zimmer. Er hielt inne, überflog die Daten, die er mühselig eingegeben hatte und löschte sie. Schon wieder. Mit einem Schnauben wandte er sich der Maschine zu. Er verfluchte sie, als sie schon wieder eine Sicherheitsabschaltung durchführte und er auf einen schwarzen Bildschirm starrte. Er fand den Fehler nicht. »Weißt du noch, als ich ins Kaibaland wollte?« Natürlich, doch er selbst hatte sich geweigert. Und als Wheeler alleine weggeflogen war mit seinen Freunden und Mokuba, hatte er die komplette Woche im Büro verbracht. »Wenn du so weitermachst, dann wirst du es wieder bereuen.« Die Akten stapelten sich auf seinem Schreibtisch. Morgen erwartete der Vize-Beistandsvorsitzende in der Besprechung Informationen bezüglich der nächsten Vertragspartner. Am Vormittag käme ein potenzieller Großkunde, am Mittag stand die Präsentation der neuen Generation der DuelDisk an, am Nachmittag sollte der Bereichsleiter Design und der Bereichsleiter Marketing bei ihm vorsprechen, am Abend musste er die Verträge fertig haben. Vor seinen Augen verschwammen die Bildschirme und er fuhr sich über die Augen, als brächte es Ordnung in seinen Kopf, aber er wusste es besser. »Ich habe es nie bereut. Was willst du hier, Wheeler?«, fragte er, ohne sich umzusehen. Er hörte ihn schnauben und dann seufzen. Sein Duft stieg ihm in die Nase und Seto schloss kurz die Augen, um sich zu besinnen. »Du arbeitest wieder viel zu lang.« Er antwortete nicht, er wollte es nicht hören, er konnte sich denken, wie Wheeler dreinschaute, denn die Vorwürfe wiederholten sich immer in verlässlichen Abständen. »Hör auf, mich zu ignorieren, Geldsack.« Doch das hatte Wheeler noch nie davon abgehalten, ihn mit Belanglosigkeiten zu nerven und Seto kniff die Augen zusammen, weil sich die ersten Kopfschmerzen in seine Schläfen gruben. Er zog den Blister aus seiner Hemdtasche und nahm sich eine Tablette. »Ich muss arbeiten. Ich muss bis –« »Ich weiß«, unterbrach Joey ihn und er glaubte Resignation zwischen den Worten zu hören. »Und du weißt, wo du mich findest.« Vielleicht war es das, was seinen Blick von den Bildschirmen löste und sich zu ihm umdrehen ließ, aber er war verschwunden. Sein Büro leer, nur die Computer und er. Seto fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und starrte an die Decke. Fünf Minuten oder fünf Stunden. Er wusste es nicht. Menschen waren Idioten. Kapitel 7: Aufhören -------------------   Am nächsten Tag stieß er die Tür zum Konferenzsaal auf. Er war zu spät, aber niemand wagte es, ihn darauf anzusprechen. Er setzte sich an den Kopf des Tisches. Der Vize-Beistandsvorsitzende präsentierte die nächste Kampagne. Seto starrte an die Wand. Er hörte erst auf damit, als er die Sitzung für beendet erklärte. Die Blicke seiner Mitarbeiter folgten ihm aus dem Saal. Am Vormittag kam ein potenzieller Großkunde, dem er nicht zuhörte, stattdessen schaute er, wie sich die Zahl der digitalen Uhr an der Wand erhöhte mit jeder Minute, die verstrich, bis sie wieder von vorne stieg. Am Mittag stand die Präsentation der neuen Generation der DuelDisk an. Am Nachmittag sprach der Bereichsleiter Design und der Bereichsleiter Marketing bei ihm vor. Er nickte manchmal. Am Abend musste er die Verträge fertig haben. Er bekam sie nicht fertig. Stattdessen starrte er an die Decke, den Kopf im Nacken, die Finger auf der Tastatur, als wären sie dort festgefroren. Er konnte nicht aufhören. »Du sitzt immer noch hier?«, maulte Wheeler ganz nah neben ihm. Er spürte seine Hand auf der Schulter und zuckte zusammen. Da war ein Duft, der ihn an etwas erinnerte, das er verdrängte. Eine Erinnerung an Sommerabende und Wintertage. »Nicht jetzt, Wheeler«, murrte Seto und massierte seine Nasenwurzel. Wheeler schnaubte. »Wann hast du das letzte Mal geschlafen?« Er erinnerte sich nicht. »Oder etwas gegessen. Nö, Kaffee zählt nicht.« Wheelers Wärme strich über seine Wange und einen Augenblick lang vergaß er zu atmen. Er zwang seine Augenlider auf, forcierte die Fingerspitzen, weiter über die Tastatur zu gleiten. Sein Nacken schmerzte, ein Stechen zwischen seine Wirbel. Das Pochen in seinem Kopf wurde lauter. Aber was waren schon Schmerzen im Vergleich zur Leere? Er konnte nicht aufhören. »Wir haben nicht mehr viel Zeit«, flüsterte Seto. Wheeler lachte leise. Er spürte es in seinem Inneren, wie es vibrierte, etwas füllte, das sonst leer blieb. Einen Moment fühlte er dem nach, wusste er könnte es nicht festhalten. »Ich bin fast fertig«, fuhr er fort, als wollte er ihn besänftigen, als hoffte er, ihn dadurch zum Schweigen zu bringen. Diesen Augenblick nicht zu zerstören. Aber wann hatte Wheeler jemals die Klappe gehalten? »Weißt du, was du tun musst?« Er antwortete nicht, denn er wollte es nicht hören. Er hätte so viel tun müssen, hätte so viel sagen sollen. Jetzt saß er hier und versuchte, sein Versprechen einzulösen. »Du weißt, dass es nicht mehr normal ist, oder?« Seto ließ diese Worte im Raum stehen, weil es eine rhetorische Frage war – auch, wenn Wheeler das Wort wahrscheinlich falsch geschrieben hätte. Stattdessen verzog er seinen Mund zu einem höhnischen Halbgrinsen und tippte Codes in den PC, überprüfte die Schaltungen. Seine Finger zitterten. Seine Sicht verschwamm. Sein Kopf fühlte sich viel zu leicht an, seine Arme zu schwer, als schwebte er über dem Boden, um jeden Moment abzustürzen. »Wann waren wir schon normal?«, murmelte er. Seine Augen brannten, aber er schloss sie nicht. Er fürchtete, er würde sie nicht wieder öffnen können. In ihm stieg eine leichte Übelkeit auf, die er mit einem flachen Atem bekämpfte. Er wollte nichts mehr hören. »Du musst endlich mal damit aufhören, Alter.« Doch das hatte Wheeler noch nie davon abgehalten, ihm seine Meinung ins Gesicht zu schleudern. Mit all seinen stilistisch fragwürdigen Angewohnheiten. Er würde niemals damit aufhören. Denn wenn er aufhörte, was blieb dann? »Vergiss es, Köter«, brummte er und Wheeler lachte, wischte diese entleerte Beleidigung mit einer Bewegung zur Seite, beugte sich zu ihm und strich ihm mit seinem Zeigefinger über den Nacken. Seine Härchen stellten sich auf. Eine Gänsehaut breitete sich von seinem Finger aus über den Rücken. Er atmete zittrig ein. »Hör auf«, sagte er, weil er immer das Falsche sagte. Aber Wheeler hatte das nie distanziert. Er wollte ihn fragen, wie es dazu gekommen war. Wheelers Finger strichen über sein Kinn und zwangen ihn, in dieses ordinäre Braun zu schauen. Nichts als verpasste Gelegenheiten, vergeudete Zeit und das Gefühl, nicht zurückzukönnen. Er versank darin. Wheelers Lippen strichen über seine. Er schmeckte nach dem Gefühl, zu verdursten, während er trank. Zu verhungern, während er in sich hineinfraß. Es fühlte sich an, wie das Gefühl, falsch abgebogen zu sein, während er weiterrannte. Es klang, wie das Schweigen, während er innerlich schrie. Kapitel 8: Verschlingen -----------------------   In dem Arbeitszimmer herrschte Stille. In seinem Kopf jagten Gedankenfetzen und Ideensplitter einander. Wenn er sie fassen wollte, verschwanden sie wie Atemdunst auf einer Fensterscheibe. Jemand klopfte an seine Bürotür und trat ein. Er hörte seine zögerlichen Schritte, doch wandte sich nicht um, schrieb weiter Codes und Befehle und hielt seinen Blick starr auf die Bildschirme gerichtet. Er hatte keine Zeit. »Seto, du kannst es nicht ewig herauszögern.« Er hielt für einen Augenblick inne, hielt die Luft an, als würde es helfen, sich zurückzuhalten. Er kam nicht weiter. Da war eine Grenze, die er nicht schaffte zu durchbrechen, als ketteten ihn seine Konzentration und der Schwindel. »Von ewig kann keine Rede sein, Mokuba. Ich bin kein inkompetenter Trottel. Ich werde es in wenigen Wochen abgeschlossen haben und dann –« Er wusste, er könnte es schaffen. Aber zwischen den Schmerzattacken verschlang ihn die Leere. Sein kompletter Kopf pulsierte. Schon seit Stunden. Seit Tagen? Die Zeit floss ohne willkürliche Einteilungen ineinander. Er biss die Zähne aufeinander, um das Ächzen zu dämpfen. »Hast du mal in den Spiegel geschaut?« Er wusste, wenn er nur ansatzweise so aussah, wie er sich fühlte, musste er ein ziemlich unästhetisches Bild darbieten. Aber er hatte keine Zeit für Banalitäten. »Seit wann bist du so oberflächlich«, spöttelte er, doch Mokuba kicherte nicht. Das hatte er schon lange nicht mehr. Stattdessen schwieg Mokuba und beobachtete, wie er den Blister aus seiner Hemdtasche fischte und eine Tablette in den Mund schob. »Wie viele Tabletten hast du heute schon genommen, Seto?« Seit wann klang Mokuba so vorwurfsvoll? Er zuckte die Schulter. Es war nicht so, dass er ihm eine Erklärung schuldig war. Er war kein ungezogener Junge. Das war er noch nie gewesen. Er wusste genau, was er tat. »Wieso?«, fragte er und die unausgesprochene Herausforderung lag zwischen den Silben. »Ich weiß, dass –«, die Stimme seines Bruders wurde hier dünn, aber er vollendete den Satz, den er gar nicht hören wollte trotzdem, »es nicht leicht ist für dich.« Nicht leicht, als würde es vorübergehen, wie eine Erkältung. Seine Augen zogen sich zu Schlitzen. Seit wann gab Mokuba solche Parolen von sich? Seit wann war die Stille zwischen ihnen so voller Ketten, die sie festhielten, wo sie waren? So voller gebrochener Versprechen? »Ich werde nicht aufhören.« Er wollte die Worte seines Bruders nicht hören, die dort zwischen ihnen standen und er wollte seinen Blick nicht sehen, weil es alles nur noch unerträglicher machte. Den Schmerz und die Leere. »Seto.« Dieser Ton, der zu viel ausdrückte. »Ich glaube, ich weiß ziemlich genau, was du planst, aber es wird nicht funktionieren. Und du weißt das, oder?« »Geh.« Es war keine Bitte. »Seto, du musst –« »Geh, Mokuba!« Er befürchtete, er würde seine Kontrolle verlieren, ihn anschreien, ihn verbal zertrümmern und danach würde er sich dafür hassen. »Du solltest ihn nicht so abblitzen lassen, Geldsack.« Mit einem Schnauben quittierte er Wheelers überflüssige Meinung, verkrampfte die Finger um die Tischkante und versuchte, sie nicht in die nächste Mauer zu schlagen. Wheeler klopfte nie. Stets rauschte er, ohne den Hauch eines Verständnisses für Etikette, in sein Büro, beanspruchte so viel Raum in seinem Leben, dass es ihn erstickte, und tat so, als wäre es selbstverständlich. »Du weißt, dass er Recht hat.« »Ich werde nicht –« Die Migräne durchschnitt seinen Satz und er drückte noch eine Tablette aus der Verpackung, spülte sie mit Kaffee herunter. »Ich bin mir sicher, dass das voll nicht gesund ist.« Er sah Wheelers Mimik vor sich, wie er seinen Mund verzog und die Stirn in Falten legte und es hätte ihn amüsiert, wäre das Pochen in seinen Adern nicht so laut und das Zittern seiner Glieder so ablenkend gewesen. »Was ist los?« Wheelers Silhouette verschwamm. Er konzentrierte sich auf die Stimme, aber sie klang verzerrt. »Du solltest aufhören, dich zu bestrafen, Seto.« »Ich bestrafe mich nicht«, murmelte er. »Es ist nicht deine –« »Sag es nicht«, knurrte er. »Du weißt, was du tun musst, oder?«, flüsterte Wheeler ganz nah an seinem Ohr. »Seto, mit wem –« Grenzen lösten sich auf, während der Boden wegschwamm und sich sein Unterkörper dehnte wie Gummi. Es hätte ihn amüsiert, wäre es nicht so beängstigend gewesen. Er wollte es nicht. »Ich bin noch nicht so weit.« Niemals. Er würde es niemals verzeihen. »Du bist nicht der einzige, der leidet, weißt du. Du bist nicht allein, arroganter Eisschrank.« Aus Wheelers Mund klangen Beleidigungen wie Versprechen. »Seto? Seto!« Jemand packte seinen Kopf und schmetterte ihn gegen die nächste Wand. Ein Zittern krallte sich in seine Hände, jagte in seine Beine. Er blinzelte, versuchte die Orientierung zu behalten, aber die Decke kippte zur Seite. Er wollte ihm versichern, dass es ihm gut ginge, aber dann entglitt ihm die Realität, wie ein Band, dass jemand wegriss und er nahm nur noch einen Schmerz wahr, der sich bis in seine Schläfen bohrte. Kapitel 9: Fühlen -----------------   Gedanken konnten ergrauen. Ideen verblassen. Die Leere rammte seinen Brustkorb und hinterließ ein klaffendes Loch. Um ihn herum verebbten Farben unter einem Schleier aus Grau. Nächte wurden zu Tagen und Tage zu Nächten. Es spielte keine Rolle mehr. Er verdurstete, während er trank. Verhungerte, während er in sich hineinfraß. Die Leere verschlang alles, was er besaß. Er war falsch abgebogen und erinnerte sich nur noch vage daran, wo. Er rannte weiter, obwohl er nicht wusste, wohin. Er wollte schreien, aber alles blieb still. Die Leere verschlang jeden Ton und jede Farbe. Jemand klopfte. Er schwieg, doch die Tür öffnete sich trotzdem. Er wandte sich nicht um, lag mit dem Rücken zum Eingang des Zimmers und starrte an die Wand. Es war dunkel hier drin, obwohl durch den Fensterspalt Licht drang. Jemand zog die Gardinen zurück und er schloss die Augen. Er hörte, wie das Fenster geöffnet wurde und er vergrub sein Gesicht im Kissen. »Du hast dich aus dem Krankenhaus entlassen. Ich habe erst eben davon erfahren.« Seit wann klang Mokuba so erwachsen? »Sie haben eine Gehirnerschütterung ausgeschlossen. Alles andere wäre nur Zeitverschwendung«, murmelte er in den Überzug. »Du warst dehydriert, bist zusammengebrochen und hattest eine Überdosis. Wie viele von diesen Kopfschmerztabletten nimmst du?« Es war nicht so, als hätte er das bereits von den Ärzten gehört. Und es war nicht so, als würde es ihn inzwischen mehr interessieren. »Nicht genug«, murmelte er. Angesichts der Schmerzen, die ihn gerade überfluteten. Es wäre angenehmer gewesen, hätte jemand seinen Schädel aufgeschnitten. »Warum hast du nicht auf meine Anrufe geantwortet?« »Ich war beschäftigt.« Er schmeckte die Lüge auf der Zunge, aber es war die Erklärung, die jeder schluckte. Er war immer beschäftigt. Jeder nahm an, er hätte wichtige Meetings und Telefonate und Verträge zu unterzeichnen. Niemand zuckte mit der Augenbraue, wenn er behauptete, er hätte Termine. »Wie lange willst du noch hier im Dunkeln liegen?« Außer Mokuba. Die Wahrheit war, er hatte Termine. Aber es interessierte ihn nicht. »Ich dachte, du würdest es gutheißen, wenn ich mich endlich einmal ausruhe. Mir Zeit für mich nehme. Vielleicht suche ich mir auch gleich ein neues Hobby. Vielleicht fange ich an zu gärtnern.« Der Sarkasmus tropfte von jeder Silbe. »Hier in deinem Schlafzimmer? Eine tolle Idee.« Er öffnete seine Augen einen Spalt weit und sah, wie Mokuba mit verschränkten Armen dastand, ihn musterte, als wüsste er Antworten, bevor er fragte. Es irritierte ihn und es erinnerte ihn an sich selbst. Vielleicht deswegen. »Wie viele Tabletten hast du noch hier herumliegen?«, fragte Mokuba leise. Er schnaubte, drehte sein Gesicht weg, starrte an die Wand, dann aus dem Fenster. »Soll ich Roland beauftragen es für dich zu protokollieren oder hast du ihm schon die Anweisung gegeben?« Mokuba seufzte, wie er selbst manchmal seufzte, wenn Wheeler sein kognitives Niveau unter dem Gefrierpunkt bewies. Aber er sagte nichts dazu. Er war müde. Er war so müde, dass er glaubte, nie wieder aus dem Bett steigen zu können. Er spürte wie sich die Matratze senkte, doch er starrte weiter aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. »Der Vorstand möchte dich als«, hier zögerte Mokuba, »unpässlich geltend machen. Sie haben mich gerufen, um dich eine Zeit lang zu vertreten.« Von draußen strahlte die Sonne herein. Es war so ein klarer Wintertag. Aber alles wirkte grau. Unbedeutend. Was hieß es schon, reich zu sein, wenn das Geld nicht die benötigte Zeit kaufen konnte? »Schön«, sagte er, »herzlichen Glückwunsch.« Was bedeutete es schon, einflussreich zu sein, wenn der Einfluss nicht bis an das Ziel führte? Er schloss die Augen. »Du bist ein Arsch, Kaiba.« Er atmete ein und aus und ein und ignorierte diese Stimme, die über ihn strich wie die Wärme eines Sonnenstrahls und ihn dabei erzittern ließ. »Du bist ein egozentrischer Ekelarsch.« »Seto, du weißt, dass du mit der ganzen Situation nicht alleine bist«, begann Mokuba und legte eine Hand auf seinen Rücken, den er ihm immer noch zugewandt hatte. Er kniff die Augenlider fester aufeinander, biss auf seine Unterlippe, presste die Arme um seinen Oberkörper und ignorierte sie, ignorierte sie alle beide. Es wäre gelogen, würde er Mokuba vorwerfen, es nicht nachvollziehen zu können. Sie hatten beide Erfahrung mit diesen Dingen. Dinge, die sich nicht festhalten ließen, obwohl man nicht loslassen konnte. Also schwieg er. »Ich weiß, dass du alles versucht hast, aber –« »Jetzt komm mal langsam wieder klar. Du tust so, als wär‘ das alles voll deine Schuld, Alter. Du musst endlich mal –« »Du musst endlich –« Er fuhr hoch, saß mit einem Male aufrecht im Bett und schrie, dass er gar nichts müsste. Er glaubte zu ersticken, während er heftig durch den Mund atmete. Als würde ihn jemand mit dem Kopf unter Wasser tunken. Ein Gefühl wie Panik überflutete ihn. Er brüllte, dass er dieses Gefühl hasste. Dass er seit seiner Kindheit nicht mehr versagt hatte. Dass er nur etwas mehr Zeit bräuchte. Dass er es nicht akzeptieren würde. Dass er sein Versprechen halten würde. Dass er es hasste, wenn Wheeler nicht anklopfte und so tat, als wäre es selbstverständlich. Dass er überall Chaos hinterließ und viel zu laut war. Mokuba flüsterte Worte, die er nicht hörte, spürte, wie Mokuba sich zu ihm lehnte und festhielt und irgendwann ertrank er in dem Gefühl, dass er nie wieder richtig atmen würde. Dass er versagt hatte, dass er keine Zeit mehr hatte, das Gefühl, dass er sein Versprechen nie würde halten können. Dass es zu spät war. Das Gefühl. Kapitel 10: Akzeptieren -----------------------   Er würde es nie akzeptieren, war sein zweiter Gedanke. Wheeler klopfte nie an. Er nahm sein Büro ein, wie ein Sturm, der nichts liegen ließ, wo es hingehörte. Er verbreitete Chaos, egal, was er tat. Er war laut und bekräftigte mindestens zweimal am Tag, dass er den Intelligenzquotienten eines Hundes besaß. »Irgendwann mal bin ich der beste Duellant der Welt, Geldsack. Du wirst schon sehen«, verkündigte er aus dem Nichts. Der Gedanke hallte in seinem Kopf, wiederholte sich wie ein Echo. »Ich gebe niemals auf«, erzählte Wheeler jedem, obwohl es kaum jemand hören wollte. Jemand griff nach seinem Arm, riss ihn mit sich und zog ihn aus dem Wasser. Er japste nach Atem. »Es wäre irgendwie cool, wenn man das in der Schule lernen könnte«, sagte er, während er mit dem Kopf nach unten auf dem Sofa im Büro lungerte. Seine Nase hing in einem Manga, das Mathebuch unbeachtet auf dem Kaffeetisch. »Statt Mathe Spielstrategie und statt Sozialkunde Kartenkunde, wäre so hammer.« Gedanken schimmerten. Ideen leuchteten, nahmen Farben an. »So ein Unsinn«, erwiderte Seto, während er auf der Tastatur tippte. »Welcher Idiot würde seine Kinder auf so eine Schule schicken, nur um ein Kartenspiel zu erlernen?« »Hey! Dein Leben hat sich auch durch ein blödes Spiel verändert. Und meins eben durch DuelMonsters. Anderen könnte es genauso gehen, Geldsack.« Er widersprach nicht und Wheeler grinste. Er würde nie dieses dämliche Grinsen vergessen, bei dem sich Wheelers Mundwinkel so weit hochschoben, dass er die Augen zukniff. Um ihn herum fluteten Farben. »Hey, Geldsack! Lass uns irgendwann diese Schule gründen!« Erinnerungen füllten die Leere, ließen die Wunden vernarben. »Ich will ein Duell, Geldsack. Mit dir«, rief Wheeler schon, als er die Tür weit aufriss. Und rissen wieder Löcher hinein. Seto verdrehte die Augen. Die nächste Kampagne saß ihm im Nacken, ein potenzieller Großkunde würde Ergebnisse erwarten, die Skizzen der neuen Generation der DuelDisk lagen noch auf einem unberührten Stapel Dokumente. Design, Marketing, Verträge. Nichts, was Wheeler begriff. »Morgen«, sagte er und zog eine Schachtel Tabletten gegen seine Kopfschmerzen aus der Schreibtischschublade. Wheeler ließ sich auf die Tischkante nieder, schaute über seine Schulter auf den Bildschirm, als würde er auch nur ein Viertel nachvollziehen können, und sah ihn dann von der Seite her an. »Versprochen?«, fragte er und kniff die Augen zusammen. Er nickte, spülte die Tablette mit Kaffee herunter und ignorierte Wheelers vorwurfsvolles Gerede von Gesundheit und Ausgewogenheit und die Frage, ob er statt den ganzen Scheiß in sich zu kippen nicht lieber mit ihm einen Döner essen gehen wollte. Er wedelte mit der Hand, als könnte er ihn wie eine lästige Fliege verscheuchen. Er würde es nie akzeptieren, war sein zweiter Gedanke. »Doch, das geht irgendwann wieder. Es dauert manchmal verdammt lange, echt jetzt. Aber das kriegst du schon hin, Geldsack. Du bist nicht alleine, weißt du?« Wheeler lehnte sich zu ihm. »Ich weiß es zu schätzen, was du für mich tun wolltest und alles«, fuhr er fort, »aber –« »Kennst du das Gefühl«, unterbrach Seto ihn, »wenn du die wirklich wichtigen Dinge auf morgen verschiebst, weil du so viel zu tun hast und den Überblick verlierst, wo deine Prioritäten liegen sollten?« »Du hast es vergessen, Geldsack«, rief er. »Ich warte zwei Stunden, denke so, nee, er hat es versprochen, da lässt er mich nicht hängen und –« Die Migräne kündigte sich mit einem Hämmern gegen die Schläfen an. »In ein paar Jahren hätte es funktioniert«, murmelte er. »In ein paar Jahren – wenn ich so daran arbeiten würde, dann könnte man den menschlichen Verstand digitalisieren. Ich bin mir sicher.« Wheeler stützte sich mit beiden Händen auf seinem Schreibtisch ihm gegenüber ab und hatte die Nerven, ihn in seinem Büro anzufauchen. »Wenn du hier deine Drecksarbeit gemacht hast –« »Was wirst du jetzt tun?« »Ach, vergiss es. Ich hau ab.« Seto Kaiba erhob sich. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ach, komm, das hättest du nie im Leben gesagt«, spöttelte Wheeler und grinste. »Das ist jetzt nicht mehr relevant«, erwiderte er nüchtern. Die Erkenntnis, das Falsche gesagt zu haben. Oder geschwiegen, wenn er das Schweigen hätte brechen müssen. Das Gefühl, es nie wieder zurücknehmen zu können. »Es war ein Unfall«, sagte Wheeler, als bereute er nichts. Das Gefühl, er hätte ihn nur nicht gehen lassen sollen. Das Gefühl. Er riss die Augen auf und fuhr herum. Sein Blick jagte durch das Schlafzimmer. Wheeler lehnte am Fenster. Zufriedenheit lag in den Fältchen um seine Augen, als er ihn angrinste. »Mokuba war vorhin hier mit Yuki. Sie vermisst dich, wusstest du das? Und Roland muss Yugi und die Clique dauernd davon abhalten, hier halber einzubrechen. Ich glaub‘, Roland ist deswegen ziemlich angepisst.« Wheeler verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lachte leise. Setos Glieder fühlten sich an, als hätte sie jemand eingegipst. Sein Mund war trocken und gegen seine Schläfen trommelte ein leichter Schmerz. Seine Augen brannten. »Du hast ganz schön Chaos verursacht, Kaiba.« »Das sagt gerade der Richtige«, murmelte er und griff nach dem Glas auf dem Nachttisch. Er fand keine Kopfschmerztabletten. Nicht einmal unter der Matratze und Wheeler hatte die Nerven in ein Lachen auszubrechen. »Mokuba ist cleverer als du.« »Das habe ich nie bezweifelt«, erwiderte er und beobachtete Wheeler, wie er strahlte. Es schmerzte. Da war in ihm ein schmales Loch. Aber die Leere, die ihn zerfraß, verebbte. Er schloss die Augen, versuchte sich zu sammeln, diesen Moment festzuhalten. »Es ist nicht deine –« Und dann öffnete er sie und betrachtete Wheeler. »Sag es nicht«, flüsterte er. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte Joey sanft. Er war schon immer ein sturer Idiot gewesen. Sie lagen im Bett. Um sie herum Sonnenstrahlen, draußen leuchteten der blaue Himmel und die grünen Baumkronen. Drinnen schimmerten Joeys Strähnen und seine Augen. Seto wusste, er würde diesen Moment nicht festhalten können. »Du weißt, was du tun musst, Seto.« Diesmal war es keine Frage. »Ja.« »Versprichst du mir was?«, fragte Joey, während Seto sich seine Krawatte band. Er hielt inne. »Wenn du die ganze Sache geregelt hast – mit mir und so – geh danach mit allen einen Döner essen.« Kapitel 11: Epilog | Gehen --------------------------   Joey klopfte nie. Er war einfach da, ohne Ankündigungen. Als wäre es selbstverständlich. Er war chaotisch und laut. Als wäre es selbstverständlich, dass niemand ihn ignorieren konnte. Wenn er nicht mehr da war, dann klaffte da eine Leere. Menschen glaubten, wenn sie erst einmal genug gearbeitet hätten, würden sie all ihre Träume erfüllen können. Die Leere füllen. »Du hättest es nach mir benennen sollen. Joey-Wheeler-DuelMonsters-Schule, beste Schule des Landes, in Gedenken an den besten Duellanten und so.« Seto verdrehte die Augen, während er den Schotterweg entlangschritt. »Sie heißt Domino Duell-Akademie.« »Ich weiß. Wie öde.« Sie glaubten, sie könnten die Dinge, die sie heute versäumten, morgen erledigen. »Mmmh. Du bist also so ein Idiot, der seine Kinder auf so eine Schule schickt.« »Es ist Mokubas Tochter. Er ist der Idiot.« Dass sie übermorgen nichts mehr in ihrem Leben bereuen müssen. Er kniff die Augen zusammen, schwieg. Da war das Rauschen der Baumkronen, ein Eichhörnchen, das den Stamm entlangjagte. Seto schritt an Namen und Daten vorbei. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie die Maschinen abstellen.« Joey lächelte. »Ich weiß. Und du hast dein Versprechen gehalten. Tristans Gesicht, als du sie alle zum Döneressen eingeladen hast. Ich dachte echt, ich verrecke.« Seto hob die Augenbraue und Joey brach neben ihm in Lachen aus. »Alter, der war gut«, japste er. Menschen glaubten, Zeit heilt alle Wunden, aber er war der Ansicht, das war ein Irrglauben. Zeit allein heilte so gut wie eine Brausetablette oder eine Überdosis an Schmerzmitteln. »Ich habe deine Beerdigung verpasst«, sagte er und betrachtete den Grabstein, gegen den Joey gelehnt stand. Zeit half nichts oder betäubte eine Weile, aber irgendwann brach die Leere herein und riss einen mit sich. »Schon okay«, erwiderte er mit einem Schulterzucken und grinste dann, als hätte er ihm einen verdammt genialen Streich gespielt. »Ich werde ja auch deine verpassen.« Joeys Humor war schon immer fragwürdig. Er glaubte, es war nicht die Zeit oder Tabletten oder Reichtum, was die Wunde heilte. »Du wärst heute 25 Jahre alt geworden«, sagte er und schaute in den Himmel, weg von den Daten und dem Namen im Stein. Es war einer dieser eiskalten, aber sonnigen Wintertage. Er zog den Mantel enger. »Joah, stimmt.« Es war ein Unfall gewesen. Aber wäre Joey nicht dort gewesen, hätte er ihm nur an diesem einen Abend gesagt, er solle bleiben. Oder wäre er früher vom Büro nach Hause – »Aber«, hätte Wheeler geantwortet und wäre sich mit einer Hand durch seine blonden Strähnen, »du, ich muss jetzt, Geldsack. Du solltest auch lieber nach Hause. Lass die anderen nicht unnötig warten.« Und dann hätte er übertrieben breit gegrinst. Morgen vielleicht würde er es sich verzeihen, war einer seiner letzten Gedanken, bevor er wusste, dass er es akzeptiert hatte. Dass manche Wunden immer nur zu einer Narbe verblassen würden. Dass manche Entscheidungen das Leben durchschnitten. Dass manche Menschen eine Leere hinterließen. Er drehte sich um und ließ Joey gehen. Epilog: Post-Epilog | Anklopfen -------------------------------   Sie klopfte nie an. Sie riss die Tür auf und rannte auf ihn zu und rief schon von der Tür aus, dass sie ihm unbedingt etwas zeigen müsste. Das tat sie meistens. »Irgendwann mal bin ich die beste Duellantin, Onkel Seto!«, verkündigte sie stolz. Er strich ihr über die braunen Locken, als sie ihn mit großen, blauen Augen ansah und ihm ihr Zeugnis entgegenstreckte. »Sehr gut. Aber zu einer guten Duellantin gehören nicht nur gute Noten, Yuki«, mahnte er sie. »Man muss auch –« »Auf das Herz der Karten hören?«, schlug sie vor und er verdrehte innerlich die Augen. Mokubas Hüsteln kaschierte sein amüsiertes Lachen nicht, durchschnitt aber seinen Gedanken, Yugi fristlos seine Lehrstelle zu kündigen. Seto schaute zur Tür, wo sein kleiner Bruder mit einem kleinen Jungen im Arm stand und auf sie wartete. »Lass uns etwas essen gehen, Yuki«, sagte er zu seiner Nichte und sie rutschte von seinem Schoß, nahm seine Hand, während sie ihm erzählte, dass Jaden wieder gegen sie verloren hatte. Aber dass er ihr das nicht übelnahm, weil er ja einer ihrer besten Freunde war. Und er sowieso niemals aufgeben würde. Er klappte den Laptop zu. Das konnte bis morgen warten.   Das Gefühl, zu spielen, während du zuschaust. Zu lächeln, während du in dich hineinlachst. In dir herrscht das Gegenteil von Leere. Das Gefühl, weiterzugehen, während du die richtige Richtung suchst. Zu flüstern, während du innerlich lauschst. In dir herrscht das Gegenteil von Leere. Die Erkenntnis, das Falsche gesagt zu haben. Oder geschwiegen, wenn du das Schweigen hättest brechen müssen. Und es zu akzeptieren und das gebrochene Versprechen in etwas Heiles zu verwandeln. Das Gefühl. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)