The Gates of Salem von rosenluchs (Astron) ================================================================================ Kapitel 1: Der Anfang --------------------- Maja blinzelt. Die Sonne hindert sie daran, ihre Augen sofort zu öffnen. Aber sie merkt, dass sie noch im Auto sitzt. Die Welt, die am Fenster vorbeizieht, ist ihr fremd. Reflexartig schaut sie auf sich hinunter. Sie hat noch ihre Kleider an! Eine braune Jeans, ein rotes Kapuzenshirt mit dem Logo der Wisconsin Badgers, und graue Turnschuhe. Neben ihr lenkt Tante Sharon, in einem hellblauen Sweatshirt, einer grauen Hose und flachen, weißen Schuhen. Ihre saphirblauen Augen auf den Straßenverkehr fixiert. Ihr welliges schwarzes Haar hat sie mit einem kornblumenblauen Haarreif gebändigt. Die mittellange, leicht hakenförmige Nase, die halbvollen Lippen und das spitze Kinn runden das Profil ihres herzförmigen Gesichts ab. „Kleines, du hast ausgesehen, als hättest du schlecht geträumt“, spricht sie, während sie sich weiterhin auf den Verkehr konzentriert. Sie hat Maja aus Sherwoods zu sich geholt, weil ihre Mutter endlich das Sorgerecht verloren hat. Maja lugt in den Rückspiegel, worin sie ihre Cousine mit gekreuzten Beinen hinter sich sitzen sieht. Debbie bemerkt das und streckt aus Spaß die Zunge raus. Bringt sie für einen Moment zum Schmunzeln, bis sie sich wieder Sharon zuwendet. „Nicht wirklich... Es war nur ein komischer Traum. Ich bin eine riesige Treppe hochgelaufen und war dann auf einer Karibikinsel. Und das da vorne ist wirklich Salem?“ Maja zeigt geradeaus, nachdem sie auf einem Schild „Sie betreten Salem – Gegründet 1626“ gelesen hat. Von Sherwoods nach Salem ist eine beachtlich weite Strecke zurückgelegt worden. „Aber erst kommt dein Zimmer ran! Morgen wirst du schon mehr von unserer Stadt sehen.“ „Morgen ist ihr erster Schultag, Mom“, meldet sich Debbie. „Dann übermorgen!“, korrigiert sich Tante Sharon. Das Familienauto parkt vor dem Haus, in dem Sharon und Debbie wohnen: Ein von außen her kleines und bescheidenes Einfamilienhaus im englischen Baustil. Mit Backsteinwänden und aschgrauem Dach. Tante Sharon und Debbie steigen aus. Maja bleibt sitzen. „Mir gefiel Sherwoods besser!“, murmelt sie bitter. Tränen nehmen ihr die Sicht. Nicht weil sie Sherwoods vermisst. Sie erinnert sich an die Sherwoods Middle School. Ihre alte Schule mit den kleinen Klassen. Wo jeder jeden kennt. Für Maja war sie ein Albtraum: Dort war sie Mobbingopfer Nummer Eins. Obwohl sie im Tennis das talentierteste Mädchen der Sherwoods war. Doch wann immer sie Tennis spielte, dachten alle, sie würde sich für etwas Besonderes halten. Wo sie Folgendes ist: Eine Missbildung! Ein Alkikind! Sozialleistungsprinzessin! Und so eine aufmerksamkeitsgeile Schlampe! Da öffnet Debbie ihre Autotür und lehnt sich gegen sie. Maja sieht zu ihr auf: Ihre Haare sind blond gefärbt, fallen glatt ihre Schultern herab bis zur unteren Rippe. Die grasgrünen Augen, die sie schon immer bewundert hat, suchen ihre. Sie hat das Gesicht ihrer Mutter, Tante Sharon. Während Maja nicht weiß, wem sie ähnelt. Das runde, pausbackige Gesicht mit dem spitzen, eckigen Kinn. Die rotblonden, puffigen Haare. Die knollige Stupsnase. Die schläfrigen, matten indigoblauen Augen. Der breite Mund mit den anormal schmalen Lippen. Sie ist der Inbegriff der Hässlichkeit! „Du wirst es hier besser haben. Vergiss, was passiert ist!“, mahnt Debbie. „Nun komm, du musst dir ein Zimmer aussuchen.“ Maja zögert, steigt aber doch aus dem Wagen, stellt sich vor ihre Cousine und fragt: „Hilfst du mir auch beim Einrichten?“ „Hab ich dir nie geholfen?“, lacht sie und schlägt auf ihre Schulter. „Dann komm!“ Da lacht auch Maja und rennt, nachdem sich jeder einen Umzugskarton geschnappt hat, mit Debbie ins Haus. ... Golden scheint die Sonne durch das offene Fenster. Die Gardinen rascheln im sanften Wind. Im Radio singt Katy Perry: California Gurls We're undeniable Fine, fresh, fierce We got it on lock West coast represent Now put your hands up... Im Takt wippt sie ihre dünnen, aber kräftigen Beine auf und ab. Liest bäuchlings die neuste Ausgabe der Seventeen. Ihre Augen überfliegen den Artikel über die neuste Mode für diesen Herbst. Schade, dass der Sommer fast vorbei ist! Es grenzt an ein Wunder, dass es noch warm genug war für ein blaues Jeans-Kleid und Suede-High-Heels. Ihre rechte Hand mit den dunkelblau lackierten Fingernägeln blättert eine Seite um. Mit der linken stützt sie ihr Kinn, die Finger zwirbeln an einer Haarsträhne. Ihre Augen überfliegen jeden einzelnen Text auf der neuen Seite. Es ist ein ruhiger Nachmittag ohne Hausaufgaben. Zu ruhig und zu schön, um im Zimmer herumzuliegen statt sich zum vielleicht letzten Mal im Jahr auf dem Balkon zu sonnen. Die Sonnenblumenbettwäsche reicht mit etwas Fantasie auch. „Buh!“ Ein leichter Schreck jagt durch ihren Körper. Doch erschrocken hat sie sich nicht. Das Schreckgespenst kennt sie dafür allzu gut. „Rocío! Du sollst doch niemanden erschrecken!“ Im roten T-Shirt und Jeans hüpft die Kleine durch das Zimmer. Landet neben ihr auf das weiße Himmelbett aus Holz. „Du hast bestimmt etwas über Jungs gelesen! Justin Bieber?“, foppt Rocío und schnappt ihr die Seventeen weg. Sie schmunzelt nur und streicht ihrer kleinen Schwester über die schwarzen, lockigen Haare. Nein, ihr kann man nicht böse sein. „Leona! Rocío! Essen ist fertig!“, hallt Mamas Stimme durchs Haus. Der Geruch von gebratenem Gemüse und Fleisch erfüllt die Luft. Mit einem Satz springt Rocío vom Bett und flitzt durch die Tür. Die Seventeen landet etwas unsanft auf den weißen Teppichboden. Leona steigt langsam aus ihrem Bett, schaltet das Radio aus und begibt sich zur Treppe. „Niemand macht eine bessere Fajita, Gladys!“, lobt Dad. Er scheint gerade von der Arbeit gekommen zu sein. Jedenfalls trägt er noch seinen dunkelblauen Anzug mit der roten Krawatte. Sein jungenhaftes Lächeln und seine strahlenden, kastanienbraunen Augen verjüngen ihn so sehr, dass er fast nicht mehr wie ein Vater, sondern eher wie ein großer Bruder aussieht. Ein großer Bruder mit schwarzem, krausem Haar, dessen Wurzeln allmählich ins Altersgrau übergehen. Seine dunkelbraune Haut spannt sich in leichten Falten über sein eckiges Gesicht. Doch weder Leona noch Rocío haben dieselbe Hautfarbe wie der Vater. Rocíos Haut ist dunkel-oliv, wie Mamas. Leonas allerdings ist heller. Eher derselbe Farbton wie eine der Tortillas auf dem großen Teller. „Wie war heute die Schule, Leo?“ fragt Dad, als sie sich neben Rocío Platz nimmt. „Wie jeden Montag“, antwortet sie nüchtern. „Die einen waren noch vom Wochenende voll, die anderen hatten aus anderen Gründen schlechte Laune. Nach der Schule gingen dann alle lachend nach Hause.“ Dabei denkt Leona an Yvonne Morgensen, die sie immer wieder eisig anstarrt, sobald sie auch nur in ihre Sichtweite gerät. Yvonne, die sogenannte Königin der Bowditch High. Wozu braucht eine Schule eine Königin? Kopfschütteln. „Dasselbe sehe ich bei meinen Fox-25-Kollegen. Alle kommen murrend zur Arbeit und verlassen diese in bester Laune“, berichtet Mama, die die Teller mit der Fajita füllt. „Meine Kollegen bei der Bank sind da nicht anders. Die freuten sich auch auf Dienstag“, schmunzelt Dad, der ihr die ersten zwei Teller abnimmt. Seinen und Rocíos. Danach folgt ihn Mama zum Esstisch. In jeder Hand einen Teller. Für sie und für „Leonita“ a.k.a. „Leo“. Das große Schätzchen. ... Der Wind weht sanft durch das Geäst der Bäume, das sich langsam ihrer Blätter entledigt. Rote, Gelbe, Braune fallen auf das Gras, die gepflasterten, geteerten Wege. Die Nachmittagssonne taucht den Park in ein goldenes, wärmendes Licht. Noch nie war irgendeiner der letzten Tage des Sommers so herrlich. Im Schatten einer der großen Bäume im Salem Common sitzt Emily mit ihrer besten Freundin auf der selbstgemachten Patchwork-Decke mit schwarzen, rosa, lila und grünen Flicken. „Hätte nicht gedacht, dass das erste Jahr auf der High School so lustig anfängt“, beginnt Lilith, die ihr Sandwich aufgegessen hat. „Auch weil Yvonne die Königin der Schule ist?“, fragt Emily grinsend. Denkt an die ersten zwei Wochen, die nun hinter ihnen liegen. Lilith lacht. So heftig, das ihre silbernen, kreuzförmigen Ohrringe fein klimpern. „Stimmt! DIE bildet sich echt was ein“, pustet sie hervor. Da steht sie auf, zupft ihr schwarzes, knielanges Spitzenkleid zurecht und nimmt eine übertrieben tussihafte Pose an. „Ihr Frischlinge steht an unterster Stufe! Versucht nicht, euch gegen mich aufzulehnen! Ihr seid meine Diener und Verehrer, oder mein Mittagessen! Es gibt ungeschriebene Regeln, an die ihr euch eher halten solltet!“, äfft sie die „Königin“ nach. Bei Emily fließen die Tränen vom so vielen Lachen. „Was für eine Zicke. Glaubt die olle Hexe ernsthaft, uns Neuntklässler herumkommandieren zu wollen? Letztes Jahr war sie selber eine“, stellt Lilith sicher. Nachdem sie es ausgesprochen hat, nimmt Lilith einen starren Gesichtsausdruck an. Emily steht auf, um nach dem Rechten zu schauen. Spürt ihre hellbraunen Haare und ihr cremefarbenes Kleid mit dem Blumenmuster im Wind flattern. Ihre großen, dunkelgrünen Augen treffen die kleineren Violetten. „Lil? Hast du ein Gespenst gesehen?“, fragt Emily sorgenvoll. „Bei einem Geist wärt ihr beide längst tot, Mooskopf!“, tönt es hinter ihr. Langsam dreht sie sich um. Sie hat sofort erkennt, wer genau ihnen Gesellschaft leistet. Wenn man vom Teufel spricht! „Ach, was für eine Überraschung! Welch eine Ehre, Eure Majestät!“, flötet Emily. Yvonne Morgensen, die „Königin“ der Nathaniel Bowditch High School, reagiert darauf mit einem wütenden Schnauben. Ihre geschlitzten, stahlgrauen Augen glühen durch ihren rotbraunen Pony wie eine Gewitterwolkenwand, aus der Blitze zucken. Doch Emily hüpft auf Yvonne zu und umarmt sie herzlich. Seufzt auf und spricht mit zuckersüßer Kinderstimme zu ihr: „Hi, Yvy-Schatz! Welch glücklicher Zufall! Wir wollten uns gerade über Jungs unterhalten. Aber wir sind in dem Who's Who der Schule nicht eingeweiht. Daher bräuchten wir unbedingt deinen Expertenrat.“ Yvonne schiebt sie von sich, verschränkt ihre Arme. „Hat SIE nicht über mich hergezogen?“, gibt sie beleidigt von sich und starrt zu Lilith rüber. „Ich habe ihr demonstriert, wie du auf einen Jungen aus unserer Klasse reagieren könntest.“ Yvonne lacht laut. Wie kann der Grufti so etwas behaupten? Als würde sie sich mit unreifem Kleingemüse abgeben. „So ein Quatsch! Jeder weiß, dass ich mit Rick zusammen bin!“, erklärt sie den komischen Mädchen, die noch wie Mittelschülerinnen aussehen. Die werden noch vieles lernen müssen. „Rick Astaire!“, mault Mooskopf. „Von den hast du schon letztes Jahr erzählt. Geht er jetzt nicht in die Zwölfte? Bist du dann immer noch mit ihn zusammen, wenn er auf dem College ist?“ „Du stellst blöde Fragen! Er ist mein Freund! Und wird es natürlich nach seinem Abschluss bleiben. Ich habe ja zwei Jahre später selber meinen Abschluss in der Tasche.“ „Oho! Toller Plan! Und du überlegst schon, was du werden willst? Warte, lass mich raten! Model? Schauspielerin? Journalistin für die Regenbogenpresse?“ Yvonne seufzt. Was streitet sie sich mit dem Pummel, mit dem sie sich schon früher herumschlagen musste? Egal, ob im Kindergarten, in der Grundschule oder in der Abraham Lincoln Middle School. Dabei bestanden ihre Eltern darauf, sich nur mit den Kindern „gut betuchter“ Bürger, Mitglieder der High Society von Salem abzugeben. Was Yvonne auch ohne Befehl tut: Ist sie doch selbst die Tochter reicher Geschäftsleute, die für Fiat Chrysler durch die halbe Welt cruisen. Und ist es nicht toll, von allen bewundert zu werden? Beliebt zu sein? Darin ist sie, Yvonne Morgensen, verdammt gut. Nicht umsonst bekleidet sie das Amt der „Königin der Bowditch High“. Ihre Vorgängerin kennt sie nicht. Als Yvonne auf die High School kam, war diese bereits aus der Schule raus. Die ehemalige Königin soll aus Kalifornien zu Verwandten nach Salem geschickt worden sein, weil sie Sex mit einem Teeniestar hatte. Nach dem Abschluss hat niemand mehr etwas von ihr gehört oder sie jemals wieder gesehen. Sie ist vielleicht nach Kalifornien zurückgekehrt. Höchstwahrscheinlich zu ihrem Teeniestar. „Yvonne?“ Grufti hat sich vor ihr gestellt, als sie noch in Gedanken war. „Ja, Lilith?“, gibt Yvonne von sich. „Ähm... Wir haben gehört, die Neue...“ „Ach, ja! Die Russin, Gerda. Ist in ihrem Land ein Superstar. Sie und ihren Bruder sehe ich gerade am Park vorbeilaufen.“ ... „Findest du diese Yvonne nett?“, fragt Kai, als sie an einem der Stadtparks vorbeigehen. „Was?“ Gerda erwacht langsam. Zusammen mit ihrem Zwillingsbruder läuft sie gemächlichen Schrittes die Straßen der neuen, amerikanischen Heimatstadt entlang. Und immer lullen sie die schönen Häuser und Parkanlagen geistig ein. Nach zwei Wochen haben sie sich den Weg von der Schule nach Hause eingeprägt, den sie dieses Mal zu Fuß bewältigen. Und doch scheint es immer wieder, als gäbe es stets Neues zu entdecken. „Unsere Klassenkameradin, die alle Königin nennen. Findest du sie nett?“, wiederholt Kai. Seine Hände stecken in seinen Hosentaschen. Dies verstärken seine nach hinten geneigte Haltung und seinen schlürfenden Gang. „Sie ist ganz in Ordnung. Sie mag mich... Sie mag uns!“, antwortet Gerda sanft. Kai runzelt seine Stirn. Das macht er immer, wenn er nicht ihrer Meinung ist. „Sie mag uns beide nur, weil du ein Ex-Superstar bist. Und zu nicht jedem ist sie nett. Hast du in der großen Pause gesehen, wie sie diese Gang auf Gideon gehetzt hat, bloß weil der neben ihr niesen musste?“ Gerda zwirbelt an ihren hellblonden Haaren und grübelt. Erinnert sich an die drei finsteren Typen, die als Yvonnes Bodyguards fungieren. Diese Drei, die auch ohne Befehl Mitschüler drangsalieren. Ihr kahlköpfiger, muskelbepackter Anführer mit dem Fuchsgesicht. Der bleiche, magere Metal-Fan mit dem langen Pferdeschwanz. Und der blonde, engelhafte Junge mit der Baseballkappe. „Aber“, erwidert Gerda hoffnungsvoll. „Ist sie nicht mit diesen zwei Mädchen zusammen? Die eine hieß doch Mandy, oder?“ Kai nickt. Seine blaugrünen Augen treffen ihre. „Ja, aber auf mich wirken die genauso sympathisch wie Yvonne. Die Beiden sind ihre Schoßhündchen, die sich ein halbes Hirn teilen.“ „Sei nicht so gemein!“, schilt Gerda. „Das sind ihre besten Freundinnen! Da macht es doch nichts, dass sie oft bei ihr sind.“ Darauf dreht sie ihren Kopf zur anderen Seite. Seufzt: „Ich habe sie enttäuscht, weil ich nicht in ihre Tanzgruppe wollte. Das ist keine, wie ich sie kenne. Aber jetzt überlege mir, doch...“ „Mach es nicht! Willst du etwa eine Tussi werden wie die?“, fällt Kai ihr ins Wort. „Du bist schon Sängerin, Musikerin, Balletttänzerin und Turnerin! Wozu willst du Cheerleaderin werden? Du weißt, dass du anderen nicht zu gefallen brauchst. Du wirst auch so gemocht. Aber nicht von allen auf der Welt. Und du kannst diese nicht dazu zwingen, dich zu mögen. Wichtig ist, wie du selbst bist, und was dir gut tut.“ Diese Worte versetzen Gerda einen Stich ins Herz. Wie recht er doch hat! Auch wenn ihn Mama diesen Floh ins Ohr gesetzt haben mag. Und sie versteht, dass es auch Menschen gibt, die sie solala finden oder gar hassen. Zu Letzteren gehört sie: Gerda Michailowa Saratow, preisgekrönte Sängerin, Solistin, Primaballerina und Turnweltmeisterin. Die in jedem Schulfach nur Einsen schreibt. Die jeden attraktiven Jungen, jede beste Freundin bekam. Doch egal was sie tat, sie war nie mit sich zufrieden. Oft hatte sie das Gefühl, von allen gehasst und ausgenutzt zu werden. Und manchmal wurde sie das auch tatsächlich. Meistens allerdings nicht. Ihre Unsicherheit säte ihr nur diesen Verdacht in ihren Verstand, in ihren Herzen. In manchen Zeiten hätten ihre Unzufriedenheit, Unsicherheit und Misstrauen sie sogar umgebracht. Wenn sie das mal nicht selbst versucht hat. Ihre Unzufriedenheit mit sich, ihre eigene Unsicherheit und ihr Misstrauen ist sie nicht losgeworden. Sie ist nur besser darin geworden, sie zu verstecken, zu unterdrücken. Weggesperrt im Dunkeln ihrer Seele, ihres Herzens. Endlich haben sie und Kai ihr Zuhause erreicht. Forrester Street heißt die Straße, in der ihre Familie seit Anfang August wohnt. Das helle, dreistöckige Holzhaus mit den rotbraunen Fensterläden hat die Nummer 45 und liegt an einer Abzweigung. Das sorgfältig gepflegte Grundstück ist durch einen hellbraunen Lattenzaun abgegrenzt. Kai öffnet das Tor und tritt auf den grau gepflasterten Weg. Als Gerda das Tor hinter sich zumacht, wartet Kai bereits auf eine der beiden kleinen, umzäunten und überdachten Veranda, zu der die helle Holztreppe führt und sie von der Haustür trennt. Diese eine Veranda ist durch einen Erker von der anderen getrennt. Schnellen Schrittes tippelt Gerda die Treppe hoch, wo schon jemand von innen die Tür aufmacht. „Großmama!“, ruft Gerda aus. „Hallo, Oma!“, grüßt auch ihr Bruder. Großmama lässt die beiden eintreten. Mit einem Lächeln fragt sie: „Wie war heute die Schule, meine Schätzchen?“ „Ganz okay. Ein bisschen chaotisch, aber ganz okay“, antwortet Kai knapp beim Schuhe-Ausziehen. Gerda nickt zustimmend. ... Trotz der reichen Verzierungen und den schönen Galerien üben die weiten, leeren Flure eine einschüchternde Macht aus. Der Graf durchschreitet sie unberührt. Er kennt die Flure wie seine Manteltasche. Denn seit einiger Zeit durchquert er sie jeden Tag. Es vergeht kein Tag mehr, an dem er nicht in den Königspalast vorgeladen wird. Er hatte sie lange genug im Auge behalten. Es war auch nicht schwer, sie ausfindig zu machen. Ein kinderloses Paar, nicht verheiratet trotz gemeinsamem Nachnamen, ihm nicht unbekannt, zogen sie wie ein eigenes Kind auf. Vierzehn Jahre lang. Für den jungen Prinzen eine Ewigkeit. Er war erst zwei Jahre alt, als es passierte. Als die Geschwister voneinander getrennt wurden. Der Grund ist allgemein bekannt, bei dem noblen Patriarchen, dem devoten Mönch, dem ungebildeten Bauern. Dem Prinzen ist dies purer Aberglaube, üble Nachrede. Und doch ist es nicht die Sehnsucht nach einem Wiedersehen, das Aufräumen mit dem Irrglauben, weshalb er ihn, seinen engsten Berater und Oheim, ausgeschickt hat, sie in der fremden, entfernten Welt aufzuspüren. Dem einzigen bewohnten Planeten dieses Sonnensystems. In dem Land, das tausende Drehpunkte der Welten, dem Irdischen und Übernatürlichen beherbergt. Und dort gibt es viele, von denen die Menschen keine Ahnung haben. Die Meisten dort glauben nicht an Magie, an die fremden Welten. Stattdessen gibt es für sie immer eine logische, greifbare, auf Wissenschaft basierende Erklärung. Aber er traf in den Jahren der Suche Menschen an, die hinter den Geheimnissen der Magie kommen, die fremden Welten finden wollen. Für diese sind „Außerirdische“ eine von der Regierung verschwiegene Realität. Der Mensch ist ein faszinierendes Geschöpf. Die Welt, in der sie leben, ein wundersamer Ort. Und dort fand er sie, in der Stadt, in der die Hüter aufeinander treffen und auserwählt werden. Er muss die Prinzessin in ihre wahre Welt zurückholen, bevor sie sie finden. Denn sonst wären all die Anstrengung umsonst. Dann würden die Pläne des Prinzen auf ewig nicht umsetzbar bleiben. Die Wachen verneigen sich. Gewähren ihn Einlass in den Hauptsaal. Der Graf tritt in die weite, leere Halle. Seine Schritte hallen in tausenden Echos wider, wie das Sonnenlicht durch die tausend Fenstergläser scheint. „Gibt es Neues, Graf Kastor?“, hallt ihn die klare, feste Stimme des Prinzen entgegen. Über dem gold-grünen Thron hängen die Porträts seiner Vorgänger an der Bernsteinwand. Solange er nicht volljährig ist, hat er keine uneingeschränkte Herrschaftsgewalt. Noch zwei Jahre wird der Königstitel vakant bleiben. Insgesamt sechzehn Jahre wird das Reich Astron keinen Herrscher haben. In den Geschichtsbüchern ist dies schon eine schwerere Kost als die kürzeste Amtszeit eines Regenten von Astron. (König Pasquaise III. herrschte nur zwei Minuten.) Kastor verneigt sich, den Hut gegen die Brust gedrückt. Dann richtet er sich wieder auf, den Hut immer noch in seiner Hand. Aus ihn holt er ein Bild hervor. Das Antlitz der Prinzessin. „Prinz Seraphin. Die Suche ist erfolgreich abgeschlossen worden“, spricht er voller Ehrfurcht. Er reicht ihm die Fotografie. Prinz Seraphin greift nach ihr. Seine violetten Augen funkeln, als er sie begutachtet. „Wo ist sie? Wo ist meine Schwester Lysbette?“, fragt er, seinen Blick hebend. Kastor holt Luft, bevor er antwortet: „Am Hauptdrehkreuz zwischen der Erde und unserer Welt.“ „Dem Treffpunkt der Hüter. Ihnen wird die Gefährlichkeit meiner Schwester vertraut sein. Aber diese alten Knacker wissen nicht einmal, dass Lysbette in ihrer Nähe ist“, spottet der Prinz. „Achten Sie auf Ihre Wortwahl!“, mahnt Kastor. „Und die neue Generation steht schon in den Startlöchern!“ Prinz Seraphin lacht. „Haben Sie vor Kindern Angst? Die bis dahin keine Ahnung von der Existenz der Magie und von Astron haben?“ „Deshalb, mein Prinz, will ich um die Erlaubnis bitten, schnellstmöglich zuzuschlagen. Auf das die neuen Hüter keine Chance haben, sich zwischen Ihnen und Ihrer Schwester zu drängen.“ Prinz Seraphin lächelt, als er verkündet: „Diese Erlaubnis wird Ihnen sofort erteilt! Unter einer Bedingung!“ Kastor horcht auf. „Schnappen Sie sie vor ihren Augen! Erteilen Sie den Hütern meine Botschaft, dass ich ihnen überlegen bin. Auf das sie nichts unternehmen, sich mir entgegen zu stellen!“ „Und was, wenn ich scheitere?“, fragt Kastor vorsichtig, aber nicht angsterfüllt. „Dann schlagen Sie in dem Moment zu, wo die Hüter am Weitesten von meiner Schwester entfernt sind.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)