Yu-Gi-Oh! The Last Asylum von -Aska- ================================================================================ Kapitel 101: Turn 92 - Mirror Me -------------------------------- Turn 92 – Mirror Me     Die letzten beiden Tage waren für Velvet schrecklich gewesen. Geplagt von Albträumen des Flugzeugabsturzes und den Gerüchten um ihr nicht ganz so geheimes Examen, konnte sie sich kaum mehr im Unterricht konzentrieren und mied Kontakt mit anderen, wo es nur ging. Nach einer besonders peinlichen Vorstellung im Player Management-Unterricht schlenderte sie nach dem Läuten der Schulglocke den Flur entlang. Andere Schüler rannten an dem schwarzhaarigen Mädchen vorbei, einer rempelte es sogar an, sodass die Brillenträgerin vorne über kippte und sich an der Fensterbank zu ihrer Rechten festhalten musste.   „Hey!“, schrie Patrice, welcher Velvet auf etwas Abstand folgte, dem Jungen hinterher. Als der Junge ihn bemerkte, nahm er die Beine in die Hand und rannte noch schneller davon. Trotzdem rief der Venezolaner ihm hinterher: „So behandelt man kein Mädchen!“ Auch ihre anderen drei Freunde folgten Velvet, die betrübt seufzte. „Alles ok?“, fragte der braun gebrannte Bursche sie schließlich, als er sie erreichte. „Ja, danke. Aber ich wäre im Moment lieber allein.“ „Das warst du schon seit dem Duell mit Henry“, sagte Isaac besorgt, als er aufgeschlossen hatte, „denkst du nicht, dass du damit aufhören solltest, dich abzukapseln?“ Tatjana hinter ihm nickte. „Friss das bloß nicht in dich hinein! An der Katastrophe kannst du nichts ändern. Sei bloß froh, dass du nicht mit in dem Flugzeug gesessen hast.“ „Welch mitfühlende, warme Worte, wie man sie nur von selbstlosen Menschen wie dir kennt“, schnarrte ihr Erzfeind spöttisch, fügte dann aber ernst hinzu: „Aber sie hat Recht. Lass das nicht zu sehr an dich heran.“ „Genau. Freu' dich doch, dass Mr. Ford dich nicht verklagen wird“, fügte Fabio am Rande etwas unbeholfen hinzu. „J-ja.“ „Weißt du was? Es ist so schönes Wetter, ich spendiere dir ein Eis. Das bringt dich garantiert auf andere Gedanken“, strahlte Patrice, legte seinen Arm um das Mädchen und führte sie mit den anderen im Schlepptau fort. Die Schwarzhaarige lächelte schwach. „Okay. Danke.“ Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, wie extrem diese Vision gewesen war. Es hatte sich angefühlt, als wäre sie tatsächlich in dem Flugzeug gewesen. Und dieses Mädchen, das ihr in den Flammen entgegen blickte …   Völlig unbemerkt von Velvet und den anderen lehnte eine junge Frau an der Fensterbank und beobachtete die Gruppe mit einem Seitenblick aus ihrer dezenten, fast unsichtbaren Brille. Das blonde Haar der Asiatin war mit zwei Nadeln hochgesteckt. Neben ihr auf dem Fensterbrett hockte eine kleine, schwarze Gestalt, die in ihrer Körperform und dem lilafarbenem Haarpflaum wie eine mutierte Zwiebel aussah. „Noch kein weiterer Angriff“, überlegte sie leise. „Die lassen sich Zeit.“ Auch andere Schüler nahmen weder sie, noch den Schattengeist wahr. „Das kann auch ruhig so bleiben“, klagte der mit seiner schrillen, hohen Stimme. „Hmm. Solange Kali sich noch im Weißen Raum von ihrer Dummheit erholt, müssen wir das Mädchen im Auge behalten.“ Orion blähte seine Wangen auf. „Das ist typisch. Wir müssen ihre Drecksarbeit verrichten.“ Ein Faden Speichel tropfte aus seinem Trötenmund. „Aber sie ist so …“ „… unzuverlässig und egoistisch“, vollendete die junge Frau seinen Satz spitz, „ich hoffe, ihr kleiner Rachefeldzug ist bald vorbei. Der maskierte Dämon hat -sie- beauftragt, Velvet Thorne zu beschützen. Und an ihrer Stelle würde ich mich mit ihm gut stellen wollen.“ „Ist er wirklich so mächtig?“, fragte Orion ehrfürchtig. Mit Blick auf die davon ziehende Gruppe von Velvet grinste seine Begleiterin schelmisch. „Wenn es nach Lady Gardenia geht, absolut. Ich frage mich, wie akkurat und wichtig die Visionen dieser Velvet sind, wenn dieses Ding sich derart um ihre Sicherheit sorgt.“ „Weiß ich nicht. Aber sie ist kawaii!“ Daraufhin warf die Blonde dem Schattengeist einen amüsierten Blick zu, sagte aber nichts.   ~-~-~   „Ich bin zurück, ihr Arschgeigen!“ Ein Satz, der Livington in Angst und Schrecken versetzte – zumindest wenn es nach dem blonden Mädchen ging, das ihn von sich gegeben hatte und das gerade aus einem Taxi gestiegen war. Anya Bauer stemmte die Hände in die Hüften und starrte das weiße Einfamilienhaus im typisch amerikanischen Vorstadtstil an, das sie auch ihr Zuhause nannte. Matt und Zanthe stiegen hinter ihr aus dem Wagen. Und irgendeine nicht weiter nennenswerte Person fragte nach 100 Dollar, aber das blendete Anya gekonnt aus. „Endlich wieder Zuhause. Fühlt sich wie eine Ewigkeit an.“ „Ja, die Untersuchungshaft von ganzen 24 Stunden war auch ganz schön hart“, maulte Matt grimmig und schob sich an dem Mädchen vorbei, um den Taxifahrer zu bezahlen. Zanthe gluckste. „Ach so schlimm war es doch gar nicht. Die Polizisten waren 'interessant'.“ Anya erinnerte sich noch genau, wie sie in einem Verhörraum gesessen hatte und von einem Detective ausgequetscht wurde wie eine reife Tomate. Was der alles wissen wollte … Als ob der tatsächlich geglaubt hatte, dass das kack Flugzeug wegen -ihr- abgestürzt war. Hmpf! Und das alles nur, weil sie und ihre Freunde es vor dem Start noch einmal verlassen hatten. Anya erinnerte sich an diesen Moment, als-   „Hey, Trantüte“, raunte der schwarzhaarige Werwolf ihr da gut gelaunt vom Kofferraum zu, „hilfst du mir mal mit dem Gepäck, das wir nicht mehr haben?“ Tatsächlich holte er dort nur eine Tüte mit ein paar kurzfristig gekauften Klamotten und Utensilien hervor, die sie sich in Ephemeria City besorgt hatten. Nach der erstaunlich kurzen Untersuchung hatte man die Fünf schließlich gehen lassen.   Ja. Anya Bauer, Matt Summers, Zanthe Montinari und Claire Rosenburg hatten den Absturz überlebt, weil sie nie Teil davon gewesen waren. Ach ja, und natürlich Valerie Redfield, die aber mit einem anderen Taxi zu ihrem Vater gefahren war. Stimmt, erinnerte sich Anya da grimmig und sah in das Taxi hinein, wo die blonde Weltmeisterin, deren Haar bis knapp unter den Ohren zu einem Bob geschnitten war und vom Pony grüne Strähnen hängen ließ, regungslos verharrte. Diese blöde Pute war auf Geheiß des Werwolfs ja jetzt ihre neueste Mitbewohnerin. „Steig' endlich aus“, motzte die Nicht-Duel Queen ihr verhasstes Gegenstück an. Daraufhin gehorchte Claire mechanisch und stieg aus dem Wagen. Anya kratzte sich am Hinterkopf, meinte: „Na wenigstens funktioniert das. Vielleicht sollte ich sie zur Sklavin umfunktionieren …“ „Mach das und ich werde allen erzählen, was man mit dir in der U-Haft gemacht hat“, sprach Zanthe erstaunlich trocken und stellte sich auf die andere Seite des Taxis, um Claire in Empfang zu nehmen. Er grinste über dessen Dach zu Anya herüber. „In die Hocke gehen und husten.“ „Das haben die nicht gemacht!“, protestierte die Gebeutelte sofort knallrot im Gesicht. „Wenn ich die Geschichte erzähle, -haben- sie es. Und jeder wird es glauben. Also lass die Finger von Claire, sonst sind sie ab.“ „Tch. Spielverderber!“   Matt indes war fertig mit Bezahlen und winkte dem Taxifahrer zu, dass er jetzt losfahren konnte. Kurz darauf sahen die Vier dem Wagen hinterher, wie er mit erstaunlich hoher Geschwindigkeit durch die Ortschaft bretterte. „Was war denn mit dem? Ich hab doch nur-“ „Ich sag' jetzt lieber nicht, wie viel Trinkgeld ich ihm zahlen musste, damit er -das- vergisst“, brummte der Dämonenjäger im schwarzen Ledermantel und schielte zu Anya herüber. Dann aber sah er herüber zu deren Wohnhaus, wo gerade die Tür aufflog. „Was auch immer, da will dich jemand begrüßen.“ Anya drehte sich um und bemerkte eine Frau Mitte 40 auf sie zu eilen, deren blond gelocktes Haar hin und her wippte. Und die sich einfach und erstaunlich geschickt über die Gartentür hinweg schwang. Und die sie so fest in ihre Arme schloss, dass jene fast unter dem Druck brachen. „Au! Mom, lass das!“ „Anya“, schluchzte die, wurde dann aber so laut, dass die ganze Nachbarschaft es hören musste, „junges Fräulein, was hast du jetzt schon wieder angestellt!? Du hättest sterben können! Gott, wenn ich dran denke, dass ein Zufall dich gerettet hat!“ Äh, ja, Zufall, dachte Anya, die genau wusste, dass es in dieser Welt keine Zufälle gab. „Mom …“ Sheryl Bauer liefen Tränen über die Wangen. „Anya, du hast lebenslanges Flugzeugverbot! I-ich bin gerade dabei Essen zu mach-“ Sie stockte mitten im Satz, als sie die junge Frau vor Zanthe erblickte, welche mit ausdruckslosem Blick an ihr vorbei sah. Sofort wurde Anya losgelassen. Sheryl stand plötzlich kerzengerade da. „I-ist sie das?“ „Die einzig wahre“, gluckste Zanthe und machte eine Verneigung neben der angesprochenen Dame, „Claire Rosenburg, Anyas neue BFF!“   Und noch nie wurde Anya so wüst beiseite geschoben wie in diesem Moment. Nur eine Staubwolke zeugte noch davon, dass Sheryl noch eben vor ihr und nicht vor Claire gestanden hatte. „Bist du gut angekommen?“, fragte Anyas Mutter das Mädchen zuckersüß. Sie packte sie sanft an den Schultern. „Komm doch rein, sicher hast du Hunger.“ „Ich verspüre kein Hungergefühl“, entgegnete die mechanisch. Doch sie hatte keine Wahl, Sheryl führte sie mit Nachdruck an Anya und Matt vorbei Richtung Haus. Verdutzt sahen jene beiden ihnen hinterher. Besonders der Schwarzhaarige musste im Nachhinein darüber lachen. „Zanthe, du hast nicht übertrieben. Sie -ist- ein Fan.“ „S-sie hat vorher noch nie was von diesem Miststück gehört! Wie kann sie auf einmal so besessen sein!?“, beklagte sich die links liegen gelassene Anya verständnislos. Und wurde tröstend vom Werwolf, der sein Markenzeichen, ein rotes Kopftuch trug, auf der Schulter getätschelt. Aber seine Tat strafte seiner Worte Lügen. „Das ist kein Fan, das ist ein Groupie. An deiner Stelle würde ich sie nachts nicht aus den Augen lassen, Anya.“ „Halt die Klappe, Flohpelz!“ Wütend stampfte Anya voran, trat die Gartentür auf und schmollte vor sich hin. Ihre Freunde hinter ihr bemerkten, im Gegensatz zu ihr selbst, dass sich jemand hinter der halb offenen Haustür verbarg. Anya bekam davon erst etwas mit, als sie selbst dort angelangte. Eine leise, tonlose Mädchenstimme begrüßte sie mit: „Oh, die Lokalprominenz gibt sich die Ehre.“ Die Blonde sah auf. „Huh?“ Besagte Person trat hinter der Tür langsam hervor. Und wenn jemand nicht genau wusste, -wer- das war, hätte er vermutlich einen Herzinfarkt erlitten. Denn dort stand ein Mädchen in hellblauem Pullover und gleichfarbiger Beanie, das Anya wie aus dem Gesicht geschnitten war. Selbst die blonden Strähnen, die ihr im Gesicht hingen, waren identisch zu denen Anyas. „Das kann doch nicht wahr sein“, keuchte die fassungslos. „Zoey!?“ „Hi Anya“, grüßte die ihre Cousine mit erhobener Hand. „Lang nicht gesehen.“   ~-~-~   Eine halbe Stunde später hatten alle sich in der kleinen Küche der Bauers zum gemeinsamen Essen eingefunden. Anya hatte Zoey kurz als ihre Cousine vorgestellt, doch zu einem richtigen Gespräch waren sie nicht gekommen.   Anya saß am kreisrunden Esstisch und stocherte lustlos in ihrem Steak mit Kartoffeln herum, während Matt das Essen geradezu in sich hineinschaufelte. Claire saß dem Mädchen direkt gegenüber und fing sich immer wieder böse Blicke ein, ohne aber auch nur im Geringsten darauf zu reagieren. Nur gelegentlich nahm sie die Gabel in den Mund. „Das ist echt lecker“, meinte Matt. Zanthe, der am Waschbecken mit Mrs. Bauer stand und sich gerade die Hände wusch, drehte sich zu ihm um und grinste. „Ohne Sheryls Tipps wäre es nicht halb so gut gelungen.“ „Du schmeichelst mir. Schmeckt es dir auch, Claire?“ Doch zu Anyas bitterböser Genugtuung sagte die lediglich: „Ich verspüre keine negativen Empfindungen beim Essen.“ „Das heißt ja“, strahlte der Werwolf seine Gastgeberin an, ehe noch jemand etwas anderes behauptete. Anya sank tiefer in ihren Stuhl. Jetzt sprach der Kerl ihre Mutter schon beim Vornamen an! Hmpf!   „Hast du gar keinen Hunger?“, fragte Zanthe das andere Mädchen, das gegenüber dem Tisch an der Tür zur Abstellkammer lehnte und einen finsteren Blick aufgesetzt hatte. „Nein“, kam von Zoey eine knappe, missmutige Antwort. Mit verschränkten Armen verharrte sie da und starrte insbesondere Anyas Freunde unliebsam an. „Wer sind die? Deine Bodyguards? Ein Fanclub?“ „Oh, ja, wir haben uns ja noch gar nicht richtig vorgestellt.“ Matt stand vom Tisch auf und ging mit ausgestreckter Hand auf Anyas Cousine zu. „Ich bin Matt Summers, ein Freund von Anya.“ Statt seine Geste zu erwidern, entgegnete jene aber nur knapp: „Zoey Bauer, aber das weißt du bereits.“ „Zanthe Montinari“, sprach der von der Spüle und sah zu ihr herüber, „a-“ „Mein Haustier“, feixte Anya dazwischen. „Eigentlich wollte ich sagen, dass ich ihr Berater in Sachen Liebe, Freundschaft und Gefühl bin.“ Von Zoey kam aber nur ein leises, verächtliches Schnaufen. Von Anya dagegen gleich ein fliegendes Messer, das der Werwolf gekonnt auffing, während Anyas Mutter nur geschockt daneben stand. Nachdem nichts geschah, ließ Matt die Hand sinken. „Ja, uhm, jedenfalls schön, dich kennenzulernen. Anya hat nie erwähnt, dass sie eine Cousine hat.“ „Ja“, kam es verhalten, „wir haben uns ja auch lange nicht gesehen …“ „Zoey ist die Tochter von Dads Schwester, Tante Tina“, erklärte Anya, „bis vor acht Jahren haben sie im Nachbarort gewohnt, deshalb haben wir uns fast jedes Wochenende gesehen. Aber dann musste Tantchen in den Knast und Zoey zu Oma.“ Jene blickte grimmig zur Seite. „Ja … wenn man sich keine Wohnung leisten kann, geht man als günstige Alternative ins Kittchen …“ „Na ja, Oma lebt etwas weiter weg, daher haben wir uns seitdem nur noch selten gesehen. Früher waren wir unzertrennlich“, erzählte Anya weiter. Da kam ein bissiges Lachen von der Spüle. „Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Ihr zwei Sonnenscheine habt sicher viel Freude nach Livington gebracht.“ Sheryl neben Zanthe stöhnte. „Du ahnst nicht wie oft ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.“ Matt lachte ebenfalls, verstummte aber bei Zoeys finsterem Blick. „Was machst du eigentlich hier?“, wollte Anya schließlich wissen. „Dich besuchen, Dummy?“ „Weiß Oma davon?“ „Vielleicht“, wich Zoey aus, „vielleicht auch nicht. Wen juckt's?“   Also war sie ausgebüchst, dachte Anya und verdrehte die Augen. Ihrer Cousine, die ein Jahr jünger war, wurde damals oft die Rolle des Hirns des Zweiergespanns zugeschrieben. Während Anya eher die ausführende Kraft gewesen war, hatte Zoey sich eher um die Planung der Missetaten gekümmert. Nicht selten mit zweifelhaftem Ergebnis. Aber Anya hatte die Zeit mit ihr stets genossen. Dass Zoey praktisch vom einen Tag zum anderen umziehen musste, hatte beide wie ein Schlag getroffen. Anfangs war es seltsam gewesen, Livington alleine unsicher zu machen, doch Anya gelang es schnell, sich daran zu gewöhnen. Trotzdem hatten sie bis vor zwei, drei Jahren noch regelmäßig telefoniert und Zoey war hin und wieder zu Besuch gekommen. Aber Grandma Bauer, die damals als ihr Vormund eingesetzt wurde, war inzwischen auch nicht mehr die Jüngste und damit sind die Besuche mit der Zeit immer weniger geworden. So auch die Telefonate. Natürlich war Zoey inzwischen alt genug, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Aber es gab gute Gründe, warum Margery Bauer in all das involviert war. Und so stand ihre Cousine gewissermaßen immer noch auf der Stufe eines unmündigen Kindes.   „Darüber haben wir schon gesprochen, Zoey“, meinte Sheryl beim Abwaschen, „bitte ruf' Marge wenigstens an. Sonst tu ich’s.“ „Hab ich doch schon!“ „Hast du nicht“, widersprach Anyas Mutter streng und sah zu dem bockigen Mädchen herüber. „Nimm dir ein Beispiel an Anya und werd' vernünftig. Marge macht sich sicher Sorgen.“ Zoey aber schien gar nicht einzusehen, dass sie im Unrecht war und verdrehte die Augen. „Später!“ Damit stampfte sie an den anderen vorbei und verließ die Küche, ehe es noch zu einem handfesten Streit kam. Als sie weg war, atmete Matt vorsichtig auf. „Puh, deine Cousine ist … schwierig.“ „Was erwartest du?“ Zanthe lehnte sich an die Spüle. „Guck dir doch an, wem sie aus dem Gesicht geschnitten ist.“ Anya fauchte sofort: „Was soll das denn heißen!?“ „Sie hatte es nie leicht“, erklärte Sheryl betrübt und ließ die Hand mit dem Teller darin sinken, „eine alkoholkranke Mutter, der Vater hat die Familie kurz nach der Geburt verlassen … Anya hat der Polizei oft Probleme bereitet, aber im Vergleich zu den Dingen, die Zoey in den letzten Jahren angestellt hat, waren das Kinderstreiche.“ „Das tut mir leid“, meinte Matt betroffen. „Ach, die ist hart im Nehmen.“ Anya legte ihre Gabel beiseite. „Ich geh' mal nach oben. Muss mir was anschauen. Hab eh keinen Hunger …“ Damit erhob sie sich, aber nicht, ohne Claire einen letzten, bösen Blick zuzuwerfen. Wann würde der Tag endlich kommen, an dem ihr Todesblick Löcher in die Köpfe der Leute brannte?   ~-~-~   Nachdem Anya sich zurückgezogen hatte und in ihrem Zimmer stand, spürte sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein seltsames Gefühl in den eigenen vier Wänden. Als ob sie nicht hierher gehörte. Das Bett zu ihrer Rechten war gemacht. Der Schrank auf der anderen Seite des Zimmers vermutlich aufgeräumt. Keine Klamotten und Videospiele, die verteilt im Raum herumlagen. Auch der Schreibtisch war sauber und ordentlich.   Zu diesem schlenderte das Mädchen herüber, setzte sich und sah erstmal von ihrem Fenster auf die Straße herab. Wüsste sie es nicht besser, würde sie sich glatt dem Flair der friedlichen Vorstadt ergeben. Aber ihr herannahender Tod stand immer noch im Raum. Der Collector hatte ihre Lebenskraft an sich gerissen und erpresste sie damit, sieben Hüterartefakte zu sammeln, von denen sie inzwischen drei besaß. Die Undying, unsterbliche Wesen die die Ordnung der Welt wahrten, hatten versucht dies zu verhindern und waren inzwischen ihre Verbündeten. Obwohl sie Anya versprochen hatten, ihr bei ihrem Problem zu helfen, wenn sie die Jagd nach den Artefakten einstellte, fühlte jene sich unwohl. Wie sollte so eine Lösung aussehen? Eine Antwort darauf blieben die Undying ihr bisher schuldig und sie hatte auch seit der letzten Begegnung im Ephemeria Bridge Stadion nichts weiter von ihnen gehört. „Einen Monat hab ich noch“, seufzte sie, beugte sich zur obersten Schreibtischschublade herab und zog jene auf, „angenommen, Ricther und seinem Freak-Ensemble fällt tatsächlich etwas ein, was mache ich?“ Die Frage war natürlich an Levrier gerichtet, ihren unsichtbaren Partner gerichtet, der in der Karte des Xyz-Monsters [Gem-Knight Pearl] steckte. Inzwischen kannte sie ihn seit einem Jahr und er war es, der sie oft auf den, naja, richtigen Weg brachte. Sozusagen ihr Jiminy Grille, nur mit spitzerer Zunge.   Wie meinst du das?   „Ich bin hier. Aber ich weiß nicht, wie ich … mein Leben leben soll. Vorausgesetzt, es endet nicht bald.“ Anya nahm eine Zeitschrift aus der Schublade in die Hand und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. „Keine Kämpfe mehr, keine Duelle, die mein Schicksal entscheiden. Das wird … langweilig. Denk' ich.“   Du gehst davon aus, dass die Undying dir helfen können. Ich hoffe, dem ist auch so. Aber was, wenn nicht? Darüber haben wir bisher nicht geredet, Anya Bauer. Und selbst wenn es ihnen gelingt, deine Lebenskraft wiederherzustellen, ist es unwahrscheinlich, dass der Sammler einfach zusehen wird. Es wird zu einer Konfrontation zwischen euch beiden kommen, früher oder später.   „Yeah.“ Der mächtigste Dämon auf diesem Planeten würde sicherlich angepisst sein, wenn er erfuhr, dass sie nicht länger seine Marionette war. Aber sollte er ruhig kommen. Ihre nächste Auseinandersetzung würde anders verlaufen als die letzte, wo er sie nach allen Regeln der Kunst fertig gemacht hatte. Und neben den Undying hatte sie noch ihre Freunde. Summers, der Flohpelz, Redfield … alle waren mutig genug, sich dem Bastard von Sammler zu stellen. Und dann war da natürlich noch Nick, der sicher auch helfen konnte, und wenn er nur das Konto dieses Spinners leerräumte. Brauchten Dämonen eigentlich Geld?   Mehr hast du dazu nicht zu sagen?   „Momentan nicht. Warten wir erstmal ab, wie sich das entwickelt.“ Anya blätterte nebenbei durch die Zeitschrift, Duel Monsters Weekly. Die Ausgabe war zwar schon etwas älter, aber sie reichte für Anyas Vorhaben. „Im Moment kann ich sowieso nichts tun. Nicht, solange ich keine Duel Disk habe.“ Bei dem Flugzeugabsturz waren sowohl ihre als auch die ihrer Freunde mit Ausnahme von Zanthes Duellhandschuh drauf gegangen. Zugegeben, Anya konnte das neue, rote Standard-D-Pad sowieso nicht leiden, aber sie brauchte trotzdem ein aktuelles Modell, damit sie ihre neuen Pendelkarten nutzen konnte. Nur hatte sie keine Ahnung, wie ihre neue Duel Disk überhaupt aussehen sollte, weshalb sie sich beim Schmökern im Magazin etwas Inspiration erhoffte.   Wenn du eine neue Duel Disk kaufen möchtest, besuche doch Nico Palmers Laden. Dort gibt es viele verschiedene Modelle, die du auch aus der Nähe sehen kannst.   Anya schnalzte mit der Zunge. „Muss das sein?“ Sie wollte nicht dorthin. Nicht, weil sie dort bald wieder als Verkäuferin arbeiten musste. Sondern weil sie auch dort fehl am Platz war. Jenes hatte sie erkannt, als Mr. Palmer ihr das Paket mit den Karten geschickt hatte. Der Mann hatte Besseres verdient. Aber sie brauchte das Geld, nachdem auf Harper ja kein Verlass war, was so etwas anging. Wobei sie ehrlich zugeben musste, dass die Arbeit nicht so schlecht war, nur … langweilig.   Ja, muss es. Er wird sich bestimmt freuen dich zu sehen. Du hast dich noch nicht persönlich bei ihm bedankt. Das bist du ihm schuldig.   Anya klappte die Zeitschrift zu und erhob sich. „Ja ja, ich hab's ja kapiert. Fein, ich geh' hin.“ „Wohin?“, drang in dem Moment Zoeys Stimme durch den Türschlitz. Welche keine Sekunde später geöffnet wurde. Ihre Cousine stand da und blinzelte verdutzt. „Mit wem redest du da?“ „Niemandem“, log Anya. „Ich will ins Kolosseum, mir 'ne neue Duel Disk kaufen. Kommst du mit?“ Zoey zuckte mit den Schultern. „'kay. Wollte dich sowieso fragen, ob wir die Stadt unsicher machen wollen. Haben uns ja viel zu erzählen un' so.“ „Cool“, nickte Anya und schloss zu ihrer kleinen Cousine auf, schlang den Arm um ihre Schulter, „wird ja auch endlich Zeit, dass wir wieder was unternehmen.“ Verlegen grinste das Mädchen mit der Beanie. „Yeah!“   ~-~-~   „Krass“, staunte Zoey, während die beiden Mädchen durch die Mall des fast vollständig aus Glas bestehenden Kolosseum zogen. Der Boden war aus glänzendem, blank poliertem Stahl, von der Dachkuppel strahlte die Sonne ins Innere. Selbst Anya war verblüfft, wie sie dem Mädchen hinterher sah, das gerade ein Autogramm von ihr erhalten hatte. Das war jetzt schon die dritte, seit sie sich auf dem Weg hierher gemacht hatten. Früher haben die Leute sofort die Straßenseite gewechselt, wenn sie sie gesehen haben … „Sieh an, wer da beliebt geworden ist“, stichelte Zoey, „du solltest Kohle dafür verlangen.“ „Vielleicht nächstes Mal.“ Eigentlich fand Anya es ganz angenehm, dass die Leute sie aufrichtig respektvoll behandelten. Da machte es ihr nichts aus, kurz ein wenig ihrer Zeit zu entbehren. Wobei sie natürlich auch nichts dagegen hatte, wenn andere sie weiterhin aus Angst mieden. Es sollte ja keiner glauben, Anya Bauer wäre weich geworden. „Na ja, aber ist schon krass, wie oft sie im Fernsehen von Flug 117 labern. Manche Sender haben sogar eure Namen genannt.“ Zoey lachte. „Alter, deine Mutter hat 'ne richtige Panikattacke bekommen, als sie zum ersten Mal davon im Radio berichtet haben. Da hatte sie gerade Pancakes für mich gemacht. Die waren gut.“ „J-ja, Mum macht sich schnell Sorgen“, wusste Anya nicht so recht, wie sie auf Zoeys Aussage reagieren sollte. „Die hat fast geheult.“ Zoey zuckte mit den Schultern. „Na ja, mir war auch nicht ganz wohl dabei, wenn ich ehrlich bin. Aber irgendwie wusste ich, dass dir nichts passiert ist. Jemand wie du stirbt nicht bei einem Flugzeugabsturz, sondern in einem Schusswechsel mit fünfzig Cops oder so.“ „Äh, ja, danke.“   Während die beiden Mädchen weiter durch die Mall schlenderten und sich dem Geschäft von Mr. Palmer näherten, sahen sie schon durch die Schaufenster, wie voll es dort war. Anya musste anerkennend pfeifen. „Cool. So viele Kunden hatten wir sonst in einem Monat nicht.“ „Wegen dir“, brummte ihre Cousine auf einmal mürrisch. Sie stopfte ihre Hände in die Taschen ihres Pullis und zog an Anya vorbei. „Warte!“, forderte die Zoey auf. Jene wirbelte plötzlich herum und grinste über beide Backen. „Weißte was? Ich hab 'ne Idee.“ „Lass hören!“ „Du brauchst 'ne neue Duel Disk.“ Die Ältere stöhnte genervt. „Ach ne, darum sind wir hier, Einstein.“ „Ja, aber wie willst du sie dir besorgen?“ „Kaufen?“, kam eine Antwort voller Unverständnis. Zoey rollte mit den Augen. „Echt jetzt? Und von welchem Geld? Ich dachte du bist pleite. Das ist chronisch, irgendwie in unserem Erbgut. Frag Oma, der geht’s genauso.“   Oh ja. Anya erinnerte sich noch an das eine Mal, als ihre Großmutter väterlicherseits mal die Handtasche ihrer Mum nach Bargeld durchwühlt hatte. Wollte sich eine Flasche Whiskey besorgen, hatte aber keine Kohle dafür. Junge, hatte da die Luft gebrannt. Margery Bauer war vieles: Egoistisch, missmutig, grantig, nie um einen bösen Spruch verlegen. Und das perfekte Vorbild. Na ja, irgendwann hatte Anya einsehen müssen, dass niemand Grandma Bauer imitierten konnte und es dementsprechend irgendwann aufgegeben, um ihren eigenen Weg zu gehen. Was, wenn sie genau drüber nachdachte, noch gar nicht so lange her war … Aber man musste ihr auch zugute halten, dass sie sich um Zoey kümmerte und sie wie ihren Augapfel hütete. Erstaunlicherweise war Dad dagegen der Einzige in seiner Blutlinie, der das komplette Gegenteil vom Rest seiner Familie war. Erfolgreich, kompetent, einflussreich, nicht vorbestraft. Und Zach lag irgendwo dazwischen, aber wen juckte der schon?   „Jedenfalls kannst du dir so ein Teil nicht leisten, schon gar nicht eines der neueren Modelle“, plapperte Zoey derweil im Rückwärtslaufen weiter. „Verstehste, worauf ich hinaus will?“ „Ne.“ Abrupt blieb die Blonde mit der Beanie stehen, sah ihre Cousine ungläubig an. „Biste von Aliens entführt und ausgetauscht worden, oder was? Die Anya Bauer, die ich kenne, kann eigentlich meine Gedanken lesen. Man, streng mal deine Rübe an!“ „Tch.“ Es war Jahre her, aber diese Sprüche waren typisch Zoey. Nur, dass sie Anya heute nicht mehr so beeindruckten wie damals. Wieder rollte ihre Cousine mit den Augen. „'kay.“ Sie winkte Anya zu sich heran. Als beide voreinander standen, beugte sie sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Woraufhin Livingtons Version von Bart Simpson erschrocken zurückwich. „Bist du bescheuert?“ „Was denn!? Wie in alten Zeiten! Ich wette, wenn wir zusammenarbeiten, schaffen wir das!“ „Keine Chance!“, fauchte Anya und hielt demonstrativ die Arme über Kreuz. „Ich habe keinen Bock auf Stress mit den Cops!“ „Seit wann hast du vor sowas Angst?“ Zoey starrte sie verständnislos an. „Wenn's schief geht, haut dein Dad uns raus. Macht er doch immer.“ Aber Anya stampfte mit dem Fuß auf. „Ich kann mich nicht mein Leben lang auf Dad verlassen. Außerdem …“ Anzusprechen, dass sie sich seit dem Legacy Cup in einer gewissen Vorbildfunktion als nun halbwegs bekannte Duellantin befand, wollte Anya dann aber doch nicht. Zoey würde das sowieso nicht verstehen. Entsprechend endgültig maulte sie: „Schluss damit. Ich kaufe das Teil und fertig. Wenn es zu teuer ist, habe ich eben Pech. Vielleicht gibt Mr. Palmer mir 'nen Vorschuss!“ „Pft! Fein, was auch immer. Langweilerin.“ Verstimmt steckte Zoey ihre Hände wieder in die Jackentaschen und stampfte neben Anya her.   Sie sprachen kein Wort mehr miteinander, als sie zusammen den Laden betraten. Erst passierte gar nichts, dann aber wurden sie von einer Kundin bemerkt. Welche es sich nicht nehmen ließ, Anya nach einem Autogramm zu fragen. Die blinzelte die junge Frau irritiert an. „W-was?“ Schon wieder!? Und Zoeys Gesichtsausdruck sprach dieselbe Sprache, nur in einem deutlich anderem Tonfall. „Kann ich ein Autogramm haben?“, wiederholte die ihre Frage. Und fügte ein flehendes „Bitte?“ dazu. „Uh. 'kay. Ich denke schon.“   Anya kannte das gar nicht. Während des ganzen Legacy Cups hatte sie nicht ein einziges Autogramm verteilt. Vielleicht wurde sie sogar drauf angesprochen, aber da hatte sie so viel um die Ohren gehabt, dass sie solche Fragen unbewusst überhört haben musste. Und heute gleich viermal hintereinander? Vielleicht sollte sie mal die Online-Tauschbörsen überprüfen, ob die ihre Autogramme nicht doch für Geld vertickten …   Während die Dame aus ihrer Handtasche Kugelschreiber und Schreibblock kramte, betrachtete Zoey alles ziemlich unzufrieden. Anya bemerkte den giftigen Blick, wollte aber vor ihrem 'Fan' keinen Streit mit ihrer ganz-und-gar neidischen Cousine anfangen. Nachdem Anya ziemlich ungeschickt irgendwas auf den Block gekritzelt hatte, standen schon zwei junge Männer hinter ihnen und baten ebenfalls um Autogramme. „Pass auf, dass dir nicht 'n Kaufvertrag für 'ne Waschmaschine untergejubelt wird“, maulte Zoey, als Anya auf den beiden ihren Wunsch erfüllte.   „Was ist denn hier- Anya!“ Und da war er, Mr. Palmer, ein dunkelhäutiger Mann mit weißem Haar und Bart, der nicht selten in ziemlich engen Hawaiihemden herumlief. Mit ausgestreckten Armen kam er der Zweitplatzierten des Legacy Cups entgegen und umarmte sie fest. Anya, die das Ganze so interpretierte, dass er sie für die zusätzlichen Fehlzeiten, die das Duell im Weißen Raum, der anschließende, kurze Krankenhausaufenthalt und die Verzögerung beim Rückflug nach Livington verursacht hatten, ganz eindeutig erwürgen wollte, stammelte klamm: „Mr. Palmer, i-ich bin am Montag wieder-“ Er packte sie an den Schultern und schob sie von sich weg. „Bauer. Du bist entlassen.“ „W-was?“ „Eine angehende Profiduellantin sollte ihre Zeit nicht an einem Ort wie diesem verschwenden.“ Er lächelte sie warm an, klang aber immer noch todernst. „Außerdem bist du als Verkäuferin eine Niete.“ „A-aber ich brauche den Job!“ Nico Palmer schüttelte den Kopf. „Nein. Was du brauchst, ist ein Platz in der Profiliga. Und den wirst du bekommen, wenn du hart genug dafür arbeitest.“ Die Blonde seufzt geknickt. Das war ja alles ganz okay, was er da sagte, aber im Endeffekt nur Ausflüchte. Er brauchte sie nicht mehr. Sie hatte die Werbetrommel für den Laden – wohlgemerkt sehr unfreiwillig! – gerührt. Mehr Kunden, Ziel erreicht, so einfach war das. Und sie konnte ihn auch irgendwo verstehen. Wenn sie jetzt wieder hier anfing, würde sie all das binnen kürzester Zeit zunichte machen.   „Hey! Du kannst sie nicht einfach so rausschmeißen!“, fauchte Zoey wütend und drängte sich zwischen die beiden. „Dieser Scheißladen ist jetzt nur so beliebt, weil sie dein beschissenes T-Shirt getragen hat. Sonst würde dich heute kein Schwein kennen. Also zeig etwas Dankbarkeit, klar!?“ Anya fasste ihre Cousine an der Schulter. „Misch dich nicht ein.“ „Was!?“ Zoey drehte sich zu ihr um. „Lässt du so mit dir umgehen!?“ „Es ist okay, klar!?“ „Du kannst dir nicht mal 'ne verdammte Duel Disk leisten!“ Hinter Zoey fragte Mr. Palmer erstaunt: „Stimmt das? Was ist mit deiner alten geschehen?“ Anya stöhnte genervt, antwortete aber trotzdem. „Die eine wurde mir gestohlen, die andere ist bei diesem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.“ Sie könnte sich auch einfach wieder die von Logan ausleihen, fiel es Anya dabei ein. Aber der hatte im Moment ganz andere Probleme. Wie sein ganzes D-Wheel, das Roboburgs Manager damals geschrottet hatte oder die Tatsache, dass man ihn beschuldigte, für die Zerstörung in Ephemeria City verantwortlich zu sein. Welche tatsächlich auf ihren und Claires Mist gewachsen war, als die beiden ihr Riding Duel ausgetragen hatten…   „Warte einen Moment.“ Mr. Palmer drehte sich um und schritt Richtung des gläsernen Verkaufstresens. Auch Zoey entfernte sich. „Sehe mich mal'n bisschen in diesem Drecksladen um.“ Aber ihre Cousine beachtete sie kaum, sondern sah ihrem ehemaligen Arbeitgeber hinterher, wie er den Tresen umrundete und in der dahinter liegenden Tür zum Lager verschwand.   Kurze Zeit später kam er mit einem langen, weißen Karton in beiden Händen zurück. Freudestrahlend schritt er damit auf Anya zu. „Die ist heute Morgen gekommen. Wie passend.“ „Wie jetzt?“ Das Mädchen machte große Augen. Auf der Pappe war eine schwarze Duel Disk abgebildet. Während der Kern mit dem Deckschacht und Friedhof rund und eine leuchtende, blaue Kugel in seinem Inneren eingelassen war, entsprach die leicht gebogene Spielfläche eher der eines D-Pads. Monsterkartenzonen waren nicht markiert, sondern eine einzige, schwarze Fläche, die automatisch die Positionen erkannte. Nur die Zauberfallenzonen waren durch fünf separate Schächte darunter klar abgetrennt. Das alles wurde durch eine metallisch-silberne Umrandung ergänzt. „Das ist eines der neuen Modelle, das Pendelkarten bereits lesen kann.“ Mr. Palmer reichte Anya den Karton, welche diesen ziemlich perplex entgegen nahm. „Na, gefällt sie dir?“ „Y-yeah“, erwiderte die Blonde zögernd und warf einen Blick hinab auf die Abbildung der Duel Disk. Wenn man die blaue Kugel da drin irgendwie mit einem leuchtenden Totenkopf austauschen würde, wäre sie in der Tat perfekt. „Aber die ist viel zu teuer. Kann ich mir nicht leisten, sorry.“ „Du musst sie nicht bezahlen“, erwiderte ihr Gegenüber plötzlich ernst, „sie gehört dir.“   Zoey, die etwas entfernt an einem Regal mit D-Pads stand und die ganze Zeit mit einem Seitenblick alles mitverfolgte, horchte auf. Dagegen stieß Anya nur ein irritiertes „Huh!?“ hervor. „Nun guck nicht so“, lachte Mr. Palmer wieder ausgelassen, „nimm sie schon!“ „A-aber die muss doch schweineteuer sein! Die kann ich unmöglich annehmen!“ Tatsächlich war Anya selbst von ihrer Bescheidenheit überrascht. Sie wusste ja nicht mal, dass sie zu solchen Zügen überhaupt in der Lage war. Aber etwas in ihr sträubte sich, dieses Geschenk anzunehmen und das nicht nur deshalb, weil sie niemandem etwas schuldig sein wollte. Da der dunkelhäutige Mann sie zu durchschauen schien, wechselte er wieder zu seinem ernsten Tonfall. „Hör mal, ich kann dich nicht dazu zwingen. Aber ich kann dir versichern, dass diese Duel Disk bereits bezahlt wurde. Alles ist gut.“ „Von wem?“, wollte Anya sofort wissen. Statt zu antworten, grinste der alte Mann, presste Daumen und Zeigefinger aufeinander und zog sie wie einen Reißverschluss über seine Lippen. „Einem notgeilen Fan bestimmt“, zischte Zoey aus der Ferne grimmig. War es vielleicht Nick gewesen, der bestimmt schon wusste, dass ihr altes D-Pad im Arsch war? Oder hatte ihre neidische Cousine Recht und irgendjemand fand sie so gut, dass er ihr das schenken wollte? Anya weitete die Augen. Konnte es vielleicht sogar sein, dass Logan …?   Wenn dem so war, würde sie sich revanchieren! Ein euphorisches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Alles klar. Halten Sie das kurz!“ Sie drückte ihm den Karton zurück in die Hände, nur um ihn mit typisch roher Anya Bauer-Gewalt regelrecht zu zerfetzen. Kaum war die Duel Disk aus der letzten Luftpolsterfolie ausgepackt, wurde sie schon an Anyas linken Arm gesteckt. „Hell yeah!“ Stolz präsentierte sie Mr. Palmer den Apparat, welcher glücklich wirkte. Und irgendwie konnte Anya sich darüber freuen. „Danke, Mr. P!“ „Dafür nicht, Anya. Und jetzt geh, probier' sie aus.“ „Yeah! Ich hab auch schon eine Idee, wo!“ Natürlich dort, wo das Geschenk vermutlich herkam. Aus Logans Werkstatt. Also der Schenkende, nicht die Duel Disk selbst. Und wieso verbesserte sie sich im Gedanken, fragte Anya sich mit einem ganz komischen Bauchgefühl. „Lass uns gehen“, maulte Zoey, als sie sich wieder dazugesellte. „'kay. Also dann“, sagte Anya und reichte Mr. Palmer die Hand, „danke trotzdem!“ „Komm ruhig mal wieder vorbei. Aber nur, wenn du gute Laune hast und ein paar Autogramme verteilen willst.“ Daraufhin musste selbst die Blonde grinsen, während ihr ehemaliger Chef bärbeißig lachte und Zoey nur die Augen verdrehte.   ~-~-~   „Logan ist echt in Ordnung“, meinte Anya gut gelaunt, als die beiden Mädchen die letzten Schritte nahmen und auf den Parkplatz vor seiner Werkstatt einbogen. „Du wirst ihn mögen.“ „Na ich weiß nich'. Klingt für mich wie'n Pedo“, schnarrte Zoey verächtlich. „Wie alt ist der denn?“ „Keine Ahnung, 30 vielleicht?“   Anya sah über den leeren Parkplatz herüber und musste feststellen, dass die beiden Garagentore verschlossen waren. Ihre Euphorie bekam einen jähen Dämpfer versetzt. Ein kleines, weißes Schild am rechten Tor verriet, dass der Besitzer für längere Zeit fort war und entsprechend keine Aufträge annehmen konnte. „Oh …“ Also steckte Logan immer noch in Ephemeria City fest. Klar, die untersuchten immer noch die Ursache für die Zerstörung der Riding Duel-Strecke, die hauptsächlich Roboburg zerlegt hatte. In einem Akt der absoluten Selbstaufopferung hatte Logan vor der Polizei behauptet, dass er gefahren war, obwohl Anya die eigentliche Fahrerin war. Sie hatte sein D-Wheel benutzt, welches dabei auch noch durch diesen Nigel McPherson, Claires Manager, zerschrottet worden war. Zwar hatte Logan ihr am Flughafen erzählt, dass sich – warum auch immer – ein anderer Mann zu den Geschehnissen schuldig bekannt hatte. Aber anscheinend waren da wohl doch noch Zweifel seitens der Behörden. Also würde sie Logan wohl noch eine Weile nicht sehen … „Na so viel dazu“, triumphierte Zoey regelrecht, als die beiden Mädchen sich der gelb gestrichenen Werkstatt näherten. Jene blieb stehen, während Anya weiterging und das Schild am Tor in die Hand nahm. „Wie wär's: Wir lassen deinen Frust an Ernie Winter aus. Der wohnt doch noch hier, oder? Man, wie der immer geheult hat, wenn wir-“ „Kein Bock!“, murrte Anya mit gesenktem Haupt und ließ es wieder los.   Deprimiert wandte sie sich von der Werkstatt ab. Zoey, die einige Meter weiter stehen geblieben war, verschränkte genervt die Arme. „Sag mal, was ist eigentlich mit dir los, huh?“ Anya drehte sich irritiert zu ihr um. „Haben dich deine neuen Freunde zur Spaßbremse umfunktioniert?“, fragte ihre Cousine weiter und schüttelte den Kopf. „Statt ein bisschen die Sau rauszulassen, benimmst du dich wie diese erzkatholische Redfield-Schlampe.“ „Uh …“ Das kam für die Blonde unerwartet. „Redfield ist Protestantin. Glaub ich …“ „Darum geht’s nicht! Du bist langweilig wie’n Stück gammliger Käse, Anya!“ So wie sie es sagte, fühlte Anya sich jedoch lediglich provoziert. „Was soll das denn heißen!?“ „Früher hättest du mitgemacht.“ Das Mädchen, das die ganze Zeit über ihre Hand auf dem Arm gelegt hatte, schob den Pullover beiseite. An ihrem Arm befand sich ein schmales, orangefarbenes D-Pad. Anya weitete die Augen. „Hast du das mitgehen lassen!?“ „Jup. Du wolltest ja nicht.“ „Zoey, bist du bescheuert!?“ Anya trat einen Schritt auf sie zu. „Wir müssen das Teil sofort zurückgeben! Mr. Palmer wird ausflippen, wenn er das merkt!“ „Hat er aber nicht. Außerdem hätte ich gedacht, dass du dich freust.“ Die Jüngere starrte eingeschnappt zur Seite. „War wohl'n Trugschluss.“ Voller Unverständnis sah Anya ihre Cousine an. „D-doch, uh, gut gemacht, aber trotzdem …“ Sie seufzte schwer und versucht, ihr Gefühl in Worte zu fassen. „Weißt du, es … geht nicht immer nur um einen selbst. Ein Fehler …“ Vor ihrem inneren Auge sah sie den rothaarigen Sammler, dann ein abstürzendes Flugzeug und schließlich Logan hinter Gitterstäben. „… und dein Leben könnte gelaufen sein.“ Dann sah sie entschlossen auf. „Werde erwachsen, Zoey! Gib das scheiß Teil zurück und entschuldige dich!“ „Wie bitte!? Du spinnst wohl!“ Die hob demonstrativ den Arm. „Langsam hab ich die Nase voll. Wenn du das Ding zurückhaben willst, komm und hol's dir doch! Duelliere dich mit mir darum. Natürlich nur, sofern ich dir als Gegnerin auch gut genug bin!“ Damit hätte sie rechnen müssen, dachte Anya. Ihre Cousine war genauso stur wie sie. Aber die Sache auf sich belassen konnte Anya nicht. Nicht, wenn sie Mr. Palmer noch etwas schuldete. „Du hast dich verändert“, klagte Zoey bitter mit ausgebreiteten Armen. Sie sah Anya an, als hätte sie jeglichen Glauben verloren. „Ich erkenne dich kaum noch wieder. Du verhältst dich wie eine Musterschülerin, verstehst keinen Spaß mehr und sogar dein Spielstil ist ganz anders! Pendelmonster!? Dein Ernst!? Früher hast du auf sowas geschissen!“   Irgendwo konnte Anya ihre Cousine ja verstehen. Sie hatten sich verdammt lange nicht gesehen und entsprechend viel Nachholbedarf, aber Zoey übertrieb maßlos. 'kay, vielleicht hatte sie sich verändert, aber das passierte eben. „Was ist dein Problem?“ Anya stemmte die Hände in die Hüften. „Meine Prioritäten haben sich eben geändert. Ist doch nich' schlimm.“ Die zusammengepressten, weiß werdenden Lippen ihres Gegenübers sprachen eine ganz andere Sprache. Zoey schluckte schwer. „'kay, wenn du meinst.“ „Deswegen sind wir immer noch Schwestern“, versuchte Anya, sie versöhnlich zu stimmen. „Ich versteh's bloß nicht!“ Natürlich, Zoey konnte es nicht auf sich beruhen lassen. „Du bist Anya Bauer, das Mädchen, das vor nichts Angst hat. Du hast sogar Flug 117 überlebt! Anstatt dir zu nehmen, was du willst, versuchst du wie'n Spießer zu leben. Haste 'ne Nahtoderfahrung gehabt oder was?“   Anya fuhr zusammen. Dass Zoey ausgerechnet das auf den Tisch bringen würde hätte sie nicht erwartet. Ihre Cousine stellte sich das alles so einfach vor. Ja, früher war sie das Mädchen gewesen, das vor nichts Angst gehabt und sich alles genommen hatte, was sie wollte. Aber dieses Mädchen war ein dummes Kind gewesen, das nicht wusste, welche Gefahren da draußen lauerten. Wenn sie Zoey aber all dies gestand, würde das ihrer Beziehung gewiss nicht gut tun. Vorsichtig sagte Anya: „Hör zu. Dass ich … dass wir die Explosion überlebt haben, war purer Zufall. Ich wurde von etwas abgelenkt …“   Während noch ein paar Nachzügler das Flugzeug betraten, meinte Livingtons Terrormaschine schließlich nachdenklich von ihrem Sitz aus: „Irgendwas war eben komisch.“ „Hmm?“ Matt drehte sich zu ihr um. „Dieser Typ da. Er … irgendwie kam er mir bekannt vor.“ Ihre schwarzhaarige Sitznachbarin Valerie wunderte sich: „Wen meinst du?“ „Den Kerl eben, der uns beobachtet hat.“ Anya murrte unzufrieden. „Der in Weiß.“ Zanthe reckte den Kopf nach oben und sah sich um. „Jetzt wo du's sagst, der ist nicht eingestiegen.“ Der Dämonenjäger wollte wissen: „Was stört dich denn an dem?“ „Ich weiß es nicht. Es fühlte sich an, als wären wir uns schon mal begegnet. Wenn ich's nicht besser wüsste, dann …“ Als seine Freundin zögerte, erwiderte Zanthe neben Matt gutmütig. „Sag's einfach.“ „… war das eben mein Dad. Und, wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass Dad mich aus Gardenias Weißem Raum gerettet hat. Aber das ist unmöglich, er verfügt über keine besonderen Kräfte.“ Anya wurde schlagartig bewusst, wie merkwürdig das alles für ihre Freunde klingen musste, besonders, da sie ihnen diese Gedanken bisher nicht mitgeteilt hatte. Verdammt, hätte sie doch nur einen Moment gewartet und sich den Kerl näher angesehen! „Jetzt ist es zu spät, den Typen anzusprechen, wir heben in ein paar Minuten ab“, meinte Valerie nachdenklich. „Außerdem, meinst du nicht, dein Vater würde mit dir über diese Sachen anschließend reden wollen?“ Die Blonde aber senkte ihr Haupt. „Ich hab noch nie kapiert, was in Dads Kopf vor sich geht.“ „Vergiss den Kerl. Freu' dich lieber auf Zuhause“, versuchte Matt sie aufzuheitern.   Anya versank noch tiefer in ihrem Sitz und krallte sich in die Armlehnen. Das war doch kein gewöhnlicher Mann gewesen. Wer kam denn durch die Kontrollen, ohne dann ins Flugzeug zu steigen? Okay, Nigel vielleicht, aber der hatte genug Kohle und war der Manager der Weltmeisterin, da würde jeder ein Auge zudrücken. Und Logan … aber wer würde den nicht durchlassen, wenn er einem gut zuredete? Der Typ hingegen … nope. Der war nicht normal. „Leute, ich-“ Sie drehte sich um und sah über den linken der beiden Gänge im Flugzeug. Und da stand er, dieser Typ im weißen Mantel mit dem Basecap. Mitten im Gang und keiner schien sich darüber zu wundern, dass er nicht Platz nahm. „Was ist?“, fragte Valerie neben ihr verwirrt. „Shit!“ Der Typ drehte sich im selben Moment um, als das Mädchen aufsprang.   Er begann zu rennen, sie begann zu rennen. Vorbei an einer Flugbegleiterin, raus aus dem Flugzeug. Sie schrie ihm hinterher stehen zu bleiben, aber natürlich folgte er der Aufforderung nicht.   Was dann geschah, hatten die anderen ihr als sehr seltsam beschrieben. Ihre abrupte Flucht hatte Matt, Zanthe, Valerie und Claire dazu bewegt, ihr zu folgen. Anya selbst konnte sich nur noch daran erinnern, irgendwann mitten im Boardingbereich zu stehen, wo sie sich von Logan verabschiedet hatte. Umringt von ihren Freunden. Erinnerungen an die Jagd nach dem Fremden hatte sie keine und er war auch spurlos verschwunden gewesen. Als sie zurück ins Flugzeug wollte, weigerte sich das Personal mit Händen und Füßen dagegen. Kurz nach dem Start explodierte ein Teil der Maschine, die daraufhin abstürzte und noch einen Wolkenkratzer dabei mit ins Unglück riss. Sie fünf hatten als Einzige überlebt und waren zwei Tage den Behörden ausgesetzt gewesen, ehe sie Ephemeria City schließlich verlassen konnten …   „Wir hatten einfach nur Glück“, erklärte Anya Zoey, wobei sie das Übernatürliche daran ein wenig retuschiert hatte. „Wenn dieser Kerl da nicht gewesen wäre, wäre meine Karriere vorbei, noch bevor sie überhaupt begonnen hätte. Tch.“ Zoey funkelte sie böse an. „Darum geht es doch. Deine Karriere als Profiduellantin. Da sind solche wie ich eben im Weg.“ „Hast du mir überhaupt zugehört!?“ „Hab ich! Und es kotzt mich an!“ Doch entgegen ihrer Worte zierte ein kleines, böses Lächeln Zoeys Lippen. „Wenn du willst, dass ich dir dabei nicht im Weg stehe, wirst du dieses Duell wohl oder übel gewinnen müssen. Ich könnte der Presse 'ne Menge über dich erzählen.“ Die Blonde riss die Augen weit auf. „Huh?“ „Ganz recht. Denn wenn du verlierst, solltest du deine Karrierepläne lieber gleich freiwillig an den Nagel hängen. Und das D-Pad behalte ich selbstverständlich.“   Anya nahm das Gesagte in sich auf. Überlegte. Ihr eigenes Fleisch und Blut, neidisch und verbittert, wollte sie erpressen? Die, die einst wie eine Schwester für sie gewesen war? Unglaublich … Das Mädchen ballte eine Faust. „Fein. Und wenn ich gewinne …“ „Ja?“, horchte Zoey erwartungsvoll nach. „Verpisst du dich aus Livington.“ Schweigen. Ihrer Cousine stand der Mund offen, bis sie ihn schließlich schloss und leise ein „'kay.“ nuschelte. Still gingen Anya und Zoey noch etwas auf Abstand vor der geschlossenen Werkstatt. Dann hoben die Zwei ihre Arme mit der neuen Duel Disk beziehungsweise dem gestohlenen D-Pad an, schoben ihre Decks in die Öffnungen und ließen sie ausfahren. „Duell!“   [Anya: 4000LP / Zoey: 4000LP]   Die beiden Mädchen funkelten sich voller Verachtung an, ehe Anya schließlich schnaubend den ersten Zug für sich beanspruchte. Von ihren fünf Karten legte sie eine quer auf ihre brandneue Duel Disk. „Ein Monster gesetzt. Zug beendet.“ Statt wütend, sprach sie in einem gefährlich leisen, ruhigen Tonfall, den sie nur in sehr seltenen Fällen anschlug. Dann, wenn sie -wirklich- wütend war. Zischend positionierte sich zu ihren Füßen eine vergrößerte Kopie der Karte.   „Ich bin“, murrte Zoey auf genau dieselbe Art und Weise und zog. „Zauberkarte [Future Fusion]. In zwei Zügen findet eine Fusion mit ausgewählten Monstern in meinem Deck statt.“ Der permanente Zauber richtete sich vor ihr auf. Anya ließ es sich nicht anmerken, aber wenn ihre Cousine nach wie vor ihr altes Deck benutzte, bedeutete das eine Menge Ärger. „Dann noch ein Zauber: [Worm Call]. Da du ein Monster kontrollierst, kann ich ein Worm-Monster von meiner Hand in die verdeckte Verteidigungsposition rufen.“ Noch ein dauerhaft wirkender Zauber – und Anya wurde in ihrer Befürchtung bestätigt. Über dem Spielfeld bildete sich ein hellblauer Vortex, aus dem eine flüssige Masse tropfte. Ein Teil jener klatschte vor Zoey auf den Boden und bildete eine horizontal liegende Karte. „Zug beendet.“ „Draw“, flüsterte Anya beinahe und zog langsam eine Karte von ihrem Deck. Zwischen den beiden Duellantinnen herrschte eine unheimliche Stille. Als ob jede für sich spielte. Ein eisiger Luftzug fegte über den Parkplatz zur Werkstatt. „Ich beschwöre [Gem-Knight Sardonyx] als Normalbeschwörung.“ Vor Livingtons wohl bekanntester Einwohnerin tauchte ein Ritter in rot-weißer Rüstung auf, welcher einen mächtigen Morgenstern an einer Kette schwang.   Gem-Knight Sardonyx [ATK/1800 DEF/900 (4)]   „Er ist ein Zwillingsmonster“, erklärte Anya ruhig, „das heißt, solange er nicht ein zweites Mal als Normalbeschwörung gerufen wird, wird er als normales Monster behandelt.“ Zoeys Reaktion fiel ziemlich kratzbürstig aus. „Das weiß ich!“ Aber ihre Cousine zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Wollte dich nur dran erinnern, denn für meine nächste Aktion ist das wichtig. Ich aktiviere [Polymerization] von meiner Hand.“ Mit untypischer Gelassenheit schob sie jene Zauberkarte in ihre Duel Disk und sah dabei aus den Augenwinkeln zu Zoey herüber, die sichtlich überrascht war, die Urmutter aller Fusionskarten zu sehen. „Ich verschmelze die beiden normalen Monster auf meiner Spielfeldseite. Sardonyx! Und [Gem-Knight Sapphire].“ Über Anya öffnete sich ein rot-blauer Wirbel, welcher erst den Morgenstern-Schwinger, dann einen hellblauen Ritter absorbierte, welcher aus der gesetzten Karte hervor schwebte. „Ein Schrei aus vergangenen Tagen erschüttert die Zukunft. Erster deiner Art, höre meinen Ruf.“ Ein lauter Knall sowie eine Explosion erfolgten aus dem Vortex. „Fusion Summon! Dominiere, [First Of The Dragons]!“ Da zischte ebenjener schon aus dem Rauch und breitete sich über Anya aus – ein gewaltiger, dunkelblauer Drache, dessen langer Körper überall mit Hörnern bespickt war.   First Of The Dragons [ATK/2700 DEF/2000 (9)]   Anya nahm eine Fallenkarte aus ihrem Blatt und schob sie in den Schlitz ihrer Duel Disk, sodass jene sich zu ihren Füßen verdeckt materialisierte. Dann sah sie auf. „Ich weiß genau, was dort liegt. Los, [First Of The Dragon], vernichte [Worm Victory]! Burst Stream of Origin!“ Auf Anyas Befehl hin öffnete der Drache sein Maul und sammelte rötliche Energie, die er in einen wallenden Strahl aus das gesetzte Monster herab feuerte. Zoey stöhnte mit geweiteten Augen. Kurz bevor der Odem sein Ziel traf, tauchte jenes aus seiner Karte auf – eine rote, sechsarmige, halbwegs humanoide Gestalt unbekannter Herkunft. Ihre Haut war mit Schuppen bedeckt, das Maul ein Schlund, bespickt von zahllosen, spitzen Zähnen.   Worm Victory [ATK/0 DEF/2500 (7)]   „Kch! Na gut, vielleicht hast du mich durchschaut, aber dann weißt du auch genau, was passiert, wenn [Worm Victory] aufgedeckt wird!“, feixte Zoey selbstsicher. Ihr Monster wehrte den Strahl mit allen sechs Armen erfolglos ab und ging in einer mächtigen Explosion unter. Doch nicht, ohne vorher einen von ihnen auszuschwingen und damit eine rote Flüssigkeit auf den Drachen zu schleudern. „Mit seinem Effekt zerstört er alle offenen Monster, die nicht zu seiner eigenen Art gehören!“ Anyas Drache wurde im Gesicht getroffen – und leckte den Schleim einfach ab, ohne dass etwas geschah. Zoey klappte die Kinnlade hinunter. „W-was?“ „[First Of The Dragons] interessiert sich nicht für die Effekte anderer Monster“, sprach Anya und verschränkte die Arme voreinander. „Ich sagte doch, ich weiß, was dort liegt und habe entsprechend reagiert. Und nur zur Info: Der da war mein Preis für den zweiten Platz beim Legacy Cup.“ Sie nickte zu ihrem Drachen nach oben. „Du wirst dir wohl was anderes einfallen lassen müssen. Zug beendet.“   Ihre Cousine zeigte jedoch ihr hinterhältigstes Grinsen. „Hab ich doch schon längst. Draw!“ Plötzlich öffnete sich über dem Mädchen mit der Beanie ein gewaltiger, blau-weißer Sog. „Jetzt zieht sich [Future Fusion] die benötigen Monster aus meinem Deck, um nächste Runde den Big Boss zu beschwören!“ Erst schob sich eine Karte aus Zoeys Kartenstapel, dann noch eine und noch eine. Anya war nicht überrascht zu sehen, dass das halbe Deck ihrer Widersacherin aufgenommen und in den Wirbel geworfen wurde. Insgesamt zwanzig Karten flogen durch die Luft und verschwanden schließlich. „King, Queen, uh, Xex … Barses hab ich nicht gesehen und … Victory natürlich“, zählte Anya leise für sich auf. Bis auf jene fünf hatte Zoey ihr gesamtes Monsterarsenal der Fusion dargeboten. „Ach, das erlebst du aber sowieso nicht mehr“, gab Zoey indes weiterhin an, ohne Anya dabei wirklich zu beachten. „Die Kombo kennst du bestimmt noch!“ Sie zückte zwei Zauberkarten und zeigte sie vor. „[Soul Reversal] und [Upstart Goblin]. Ich lege ein Flippeffektmonster von meinem Friedhof auf mein Deck und ziehe es anschließend. Dass du dabei 1000 Lebenspunkte bekommst, juckt mich null.“ Tatsächlich hatte die Jüngere Anya diesen Zug damals oft gezeigt. Ein greller Lichtstrahl schoss aus Zoeys Friedhof, machte in der Luft einen Bogen und traf auf ihr Deck. Anschließend zog jene die leuchtende Karte mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen.   [Anya: 4000LP → 5000LP / Zoey: 4000LP]   Es war [Worm Victory], wie Zoey durch das Vorzeigen der Karte unmissverständlich klar machte. Jenen legte sie auf ihre Duel Disk. „Ich beschwöre ihn dank [Worm Call] verdeckt, da du Monster kontrollierst und ich nicht.“ Erneut tropfte etwas Schleim aus dem Wurmloch am Himmel und manifestierte sich als liegender Kartenrücken vor Zoey. „Da ich ihn aber sofort nutzen will, rufe ich [Worm Barses] als Normalbeschwörung! Sein Effekt dreht dabei sofort ein Monster aus der Verteidigung in den Angriff!“ Noch ein Schleimtropfen klatschte auf den Asphalt und nahm die Gestalt einer weiteren, halbwegs humanoiden Kreatur an. Gelb und vierarmig war sie, mit Bauch und Schulterplatten gepanzert und dazu noch mit einem genauso ekelhaften Schlund gesegnet wie Victory. Welcher kurz darauf aus seiner Karte empor stieg.   Worm Barses [ATK/1400 DEF/1500 (3)] Worm Victory [ATK/0 DEF/2500 (7)]   Letzterer schwang einen seiner sechs Arme aus und traf den ersten Drachen abermals mit rotem Schleim, ohne dabei aber etwas zu erreichen. Anyas einziger Kommentar: „Sinnlos. Du kannst ihn nicht durch Monstereffekte zerstören, kapiert?“ „Und du leidest schon an Alzheimer. Oder hast du Victorys zweiten Effekt vergessen?“ Dünne, fast unsichtbare Nadeln wuchsen aus seinem ganzen Leib. Anya schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Selbstverständlich nicht. Für jedes Worm-Monster auf deinem Friedhof erhält er 500 Angriffspunkte.“ „Und da liegen genau zwanzig Stück! Das heißt, [Worm Victory] hat ungeschlagene 10000 Angriffspunkte!“, feixte Zoey größenwahnsinnig.   Worm Victory [ATK/0 → 10000 DEF/2500 (7)]   Ein desinteressiertes „Hmpf!“ war alles, was Anya dazu beizutragen hatte. „Verlässt dich wohl auf deine verdeckte Karte, was?“, murmelte ihre Cousine gereizt. „Dann zeig mir mal, was da liegt! Los, [Worm Victory], greif' diese Missgeburt von Drachen an! Viscotinction!“ Ihre hässliche, rote Wurmkreatur schwang alle sechs Arme gleichzeitig aus und schleuderte damit Wellen an zähem Schleim, bespickt mit den winzigen Nadeln seines Körpers auf [First Of The Dragon]. Anya rollte mit den Augen. „Als ob. Falle!“ Sofort sprang jene vor ihr auf und errichtete eine unsichtbare Barriere, an der die Flüssigkeit abprallte und eine gewaltige Explosion erzeugte, die die zahlreichen Nadeln in alle Himmelsrichtungen verteilte. „[Negate Attack] beendet die Kampfphase sofort.“ „Pah! Mehr war das nicht? Langweilig“, raunte Zoey. Entgegen ihres Hochmuts zeigten die tiefen Falten auf ihrer Stirn, dass sie überhaupt nicht zufrieden war. „Zug beendet! Du weißt genau, dass du nächste Runde noch viel größere Probleme bekommst!“ „Ist das so?“, hakte Anya unbeeindruckt nach und zog eine Karte. Sie könnte jetzt [Worm Barses] angreifen und Zoey etwas Schaden reindrücken – wenn sie es darauf anlegte zu verlieren, verstand sich. Ein Treffer von [Worm Victory] und das war's. Nein, sie würde warten. Auf das entsetzte Gesicht ihrer dummen Cousine. „Ich wechsle [First Of The Dragons] in Verteidigung.“ Passend dazu drehte sie seine Karte auf der schwarzen Duel Disk. „Zug beendet.“ Ihr Monster landete hinter ihr und schlug seine Schwingen um sie, sodass ihre Flanken damit gesichert waren.   First Of The Dragons [ATK/2700 DEF/2000 (9)]   „Ist das dein Ernst!?“ Zoey bekam einen regelrechten Lachanfall. „Du weißt, was dich erwartet und spielst nicht mal ein weiteres Monster als Schutz!? Na wenn du meinst!“ Schwungvoll zog sie von ihrem gestohlenen, orangen D-Pad eine Karte und streckte den Arm nach vorne aus. „Jetzt ist es soweit! Durch den Effekt von [Future Fusion] wird das Fusionsmonster beschworen, für das ich all meine Würmer geopfert habe!“ Das Mädchen richtete die Arme nach oben. „Komm und zeig' dich, [Worm Zero]!“ Über ihr öffnete sich der Fusionssog und stieß eine weiße, schleimige Masse aus, aus der dünne Stränge in den Asphalt des Parkplatzes schossen. Mit vier dieser Stützen bildete sich ein riesiger Kokon, der fast wie ein Mond wirkte.   Worm Zero [ATK/? → 10000 DEF/0 (10)]   „Du kennst ihn bestimmt noch. [Worm Zero] erhält für jede Spezies, die für seine Fusion verwendet wurde, 500 Angriffspunkte. Denk' dran, dass ich zwanzig Stück von meinem Deck abgelegt habe!“, prahlte Zoey ziemlich von sich überzeugt. Damit stand Anya nun gleich zwei Monstern mit fünfstelligem Angriffswert gegenüber. Aber sie zuckte nur mit den Schultern. „Diesmal wird dich keine verdeckte Karte retten!“ Ihre Cousine schwang ihren Arm aus. „Los, [Worm Zero], vernichte diese Drachenmissgeburt endlich! Zero Dissolver!“ Der Kokon über Zoey öffnete sich und präsentierte zahllose, regelrecht zufällig verteilte Zähne und einen schier endlosen Schlund, aus dem eine grüne, flimmernde Säure schoss. Der Strahl traf ihren [First Of The Dragons] am Kopf und löste eine Explosion aus. Die ätzende Flüssigkeit verteilte sich dabei in alle Richtungen. „Tch. Langweilig.“ Anyas Drache brüllte zornig auf, blieb ansonsten aber unverletzt. Das Mädchen im Inneren seiner Schwingen erklärte: „Wenn du ihn im Kampf besiegen willst, dann nur mit normalen Monstern. Und von denen hast du keine im Deck. Pech für dich.“ „Du willst mich verarschen!?“, fauchte Zoey und ballte eine Faust. „Fein, Wechsel in Main Phase 2! [Worm Zero] hat drei Effekte, je nachdem, wie viele Worm-Monster verschiedener Arten für seine Beschwörung benutzt worden.“ Die ein Jahr Ältere nickte. „Yeah. Du kannst Würmer in Verteidigung von deinem Friedhof beschwören, einen Wurm von dort verbannen, um eines meiner Monster auf den Friedhof zu schicken und mit dem letzten Effekt eine Karte ziehen.“ Da selbst jener nur sechs Monster benötigte, konnte Zoey alle davon nutzen. „Genau so ist es. Zuerst ziehe ich!“ Was sie auch schwungvoll tat und somit auf drei Handkarten kam. Beim Anblick der neuen Karte grinste sie. „Heh! Und jetzt der erste Effekt! Ich rufe [Worm Millidith] vom Friedhof verdeckt aufs Feld!“ Unterhalb des Kokons öffnete sich etwas, das Anya nur als Anus bezeichnen konnte. Ein Stück grauer Schleim klatschte vor Zoey auf den Boden und nahm die Form einer Duel Monsters-Karte in horizontaler Lage an.   Worm Millidith [ATK/400 DEF/1600 (4)] Worm Victory [ATK/10000 → 9500 DEF/2500 (7)]   „Jetzt aktiviere ich den Zauber [Book Of Taiyou], welche ein verdecktes Monster in die Angriffsposition zwingt!“ Zoey rammte die Magie in ihr D-Pad, woraufhin die gesetzte Monsterkarte vor ihr um 180 Grad wirbelte und die Kreatur aus ihr hervor trat. Es war eine blaue, insektoide Kreatur mit Flügeln und acht Beinen, aus deren Maul grüne Säure austrat. Jene stieß sich plötzlich vom Boden ab, flog auf Anya und ihren Drachen zu und klammerte sich an dessen Kopf fest, sodass sie direkt über dem Mädchen lauerte. „Wenn Millidith aufgedeckt wird, wird er zur Ausrüstungskarte für eines deiner Monster.“ „Schon vergessen? [First Of The Dragons] ist gegen Monstereffekte immun.“ Zoey aber behielt ihr hämisches Grinsen bei. „Hab ich nicht, wirst du schon sehen. Zug beendet.“   „Draw!“, rief Anya und zog eine Karte. In dem Moment ergoss sich über ihr ein wahrer Säureregen aus dem Maul der blauen Kreatur. Zischend wich das Mädchen zurück.   [Anya: 5000LP → 4600LP / Zoey: 4000LP]   „Stimmt schon, dein Monster bleibt unberührt von Monstereffekten. Aber -du- nicht. Am Anfang jedes Zuges fügt Millidith dir 400 Schadenspunkte zu“, lautete Zoeys Erklärung dazu. „Aber es ist so lange her, dass wir uns das letzte Mal duelliert haben, weshalb du das vermutlich längst vergessen hattest.“ Anya protestierte wütend gegen den unterschwelligen Vorwurf: „Hey, jetzt hör' endlich auf mit dem Scheiß! Ich kann nichts dafür, dass du weg musstest!“ „Aber du hast mich vergessen!“ „Hab' ich nicht!“ „Und warum hast du irgendwann einfach aufgehört dich zu melden!?“, wollte Zoey wissen und ihre Stimme zitterte dabei spürbar. War das wirklich von ihr ausgegangen, überlegte Anya erschrocken. „I-ich-!“ „Ich will's gar nicht hören! Deine neuen 'Freunde' scheinen mich ja gut zu ersetzen“, zischte ihre Cousine verbittert, „und jetzt, wo du deinen 'Traum' endlich leben kannst, wäre ich sowieso nur im Weg!“ So ein Schwachsinn! Warum sollte in ihrem Leben kein Platz für Zoey sein!? Aber Anya war es nicht möglich, diesen Gedanken auszusprechen. Etwas hinderte sie daran. Bloß was? Stattdessen nahm sie einfach nur eine Fallenkarte aus ihrem Blatt und legte sie in ihre Duel Disk ein. Mit einem leisen Surren tauchte die zu ihren Füßen auf. „Zug beendet …“   Zoey zog und rief: „Millidth!“ Jener spie wieder Säure auf Anya, die erneut ausweichen musste. „Bah!“   [Anya: 4600LP → 4200LP / Zoey: 4000LP]   „[Worm Zeros] Effekt! Ich kann nochmal ziehen!“ Was das Mädchen im blauen Pullover auch sofort tat. Dann rief es: „Ich opfere [Worm Barses] und beschwöre [Worm King] als Tributbeschwörung! Auch wenn er der Stufe 8 angehört, kann er mit nur einem Opfer gerufen werden, wenn dieses ein Wurm ist!“ Die kleinste der außerirdischen Kreaturen löste sich auf und machte einer größeren, vierbeinigen Platz. Dieses gelbe Ungetüm besaß nicht nur vier Arme, sondern auch ein Paar leuchtender Augen mitten im unteren Teil seines Torsos, der wie ein zweites Gesicht wirkte. Worm King [ATK/2700 DEF/1100 (8)] Worm Victory [ATK/9500 → 10000 DEF/2500 (7)]   „Zeros nächster Effekt! Ich beschwöre [Worm Apocalypse] vom Friedhof!“ Wieder klatschte grauer Schleim aus dem unteren Ende des Kokons vor Zoey auf den Boden und wurde zu einer Karte. Welche von einem der Arme des Königs gegriffen wurde und sich als dürre, hellrote Kreatur mit langen Tentakelarmen entpuppte. „Aber er bleibt nicht lange! Ich opfere ihn, um [Worm Kings] Effekt zu aktivieren und eine deiner Karten zu zerstören!“ Zoey zeigte auf Anyas verdeckte Karte, da sie ja [First Of The Dragons] nicht auswählen konnte. Mit voller Wucht warf das gelbe Reptil seinen Artgenossen auf das Ziel, was bei Kontakt in einer lauten Explosion unterging. Dann nahm die Jüngere einen Zauber aus ihrem vier Karten umfassenden Blatt. „Auch wenn ich deinen scheiß Drachen nicht zerstören kann, krieg' ich dich trotzdem klein! Ich aktiviere den Zauber [Worm Invasion]!“ Ihre drei außerirdischen Kreaturen begannen allesamt grünlich zu leuchten. Dann schleuderte Victory eine rote Flüssigkeit, King eine gelbe und Zero grauen Schleim auf Anya, welche durch die Schwingen ihres Drachen geschützt wurde. Trotzdem gab es eine Explosion.   [Anya: 4200LP → 2700LP / Zoey: 4000LP]   „[Worm Invasion] fügt dir 500 Schadenspunkte für jedes Worm-Monster zu, das ich kontrolliere“, erklärte Zoey und schob ihre letzten beiden Handkarten in den Friedhofsschlitz, „und wenn ich zwei Handkarten abwerfe, kann ich den Effekt ein zweites Mal aktivieren, indem ich auf meine Battle Phase verzichte. Los!“ Anya sah sich einer zweiten Welle an bunten Flüssigkeiten ausgesetzt, die zwar an [First Of The Dragon] abprallten, das Mädchen aber in giftigen Nebel hüllten. „Kch!“   [Anya: 2700LP → 1200LP / Zoey: 4000LP]   „Damit und mit [Worm Millidith'] Effekt ist es nur eine Frage der Zeit, bis du einknickst.“ Ihre Cousine grinste fies. „Zug beendet!“   Anya runzelte ärgerlich die Stirn, als sie aufzog und auch von oben wieder mit Säure zu kämpfen hatte.   [Anya: 1200LP → 800LP / Zoey: 4000LP]   So ungern sie es zugab, hatte ihre Cousine Recht. Wenn sie ihren nächsten Zug einleitete, würde der Parasit an ihrem Drachen ihre restlichen Lebenspunkte auslöschen. Anya kniff die Augen böse zusammen. Andererseits war längst alles für ihren finalen Schlag vorbereitet. Levrier dachte ähnlich, hörte sie ihn in ihrem Kopf sagen: Es ist Zeit, dieses Spiel zu beenden, findest du nicht?   „Yeah. Hat etwas gedauert, aber das war es wert.“   Ich hätte nicht gedacht, dass du selbst darauf kommen würdest, Anya Bauer. Wobei ich nur hoffe, dass wir auch wirklich an dasselbe denken …   „Shesh, lass mich mal machen.“ Zoey blinzelte irritiert, wie sie Anya reden hörte. „Was macht sie da?“ „Ich? Ich wechsle erstmal [First Of The Dragons] in den Angriffsmodus!“ Selbstbewusst drehte Anya das Monster auf ihrer Duel Disk in die Vertikale. Daraufhin hob ihr vom Parasiten Millidith befallener Drache ab und stieg in die Lüfte.   First Of The Dragons [ATK/2700 DEF/2000 (9)]   Zoey begann zu lachen. „Ha, bist du lebensmüde!? Ich habe zwei Monster mit 10000 Angriffspunkten, wenn dich nur eines davon erwischt, war's das mit deiner Karriere!“ Als ob, dachte sich Anya jedoch besonnen. „Soll ich dir was sagen? Die Falle, die du vorhin zerstört hast … das war genau mein Plan.“ „Huh!?“ „Ich brauche [Brilliant Spark] in meinem Friedhof, um ihren Effekt zu aktivieren“, erklärte die Blonde weiter und zeigte eine Monsterkarte vor, „wenn ich eine Gem-Knight-Karte abwerfe, kann ich sie nämlich zurück auf meine Hand bringen.“ „Na und? Dann zerstöre ich sie eben erneut!“ „Das Monster, das ich abwerfe, ist [Gem-Knight Obsidian]“, ließ Anya sich davon aber nicht beirren und schob jenen in den Friedhofsschacht. Kurz darauf tauchte vor ihr ein durchsichtiger, schwarzer Ritter mit riesiger Perlenkette um der Schulter auf. Jener streckte die flache Hand nach vorn und stieß einen Schrei aus. „Wird er durch einen Karteneffekt auf den Friedhof gelegt, kann ich ein normales Monster von dort reanimieren! Und Zwillingsmonster wie Sardonyx werden im Friedhof als solche behandelt! Komm zurück!“ Anya nahm sich sowohl ihre Falle, als auch die Karte ihres Ritters zurück aufs Blatt und knallte letztere auf die Duel Disk. Keinen Moment später stand der rot-weiße Krieger mit dem Morgenstern an der Kette vor ihr.   Gem-Knight Sardonyx [ATK/1800 DEF/900 (4)]   „Aber ich bin noch nicht fertig!“ Anya zeigte noch ein Monster vor. „Ich aktiviere [Gem-Knight Jasper] mit dem Pendelbereich 2!“ Links neben ihr schoss eine hellblaue Säule aus dem Boden, in der ein massiger, roter Ritter mit langer Hellebarde in der Hand aufstieg.   <2> Anyas Pendelbereich   Zoey aber machte sich nichts daraus und feixte weiter. „Nur eine Pendelkarte? Damit kannst du keine Pendelbeschwörung durchführen!“   Das arme Mädchen. Sie ahnt gar nicht, was auf sie zu kommt.   „Yeah. Kaum zu glauben, dass ich früher auch so war“, erwiderte Anya auf Levriers Einwurf. Nebenbei legte sie zwei Karten aus ihrem Blatt in die Duel Disk ein, die daraufhin zischend zu ihren Füßen erschienen.   Zum Glück bist du imstande, dich weiterzuentwickeln. Zoey Bauer dagegen wird Zeit brauchen. Ihr Herz ist verschlossen, genau wie deines, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.   War das wirklich so, fragte Anya sich. Darüber hatte sie sich nie den Kopf zerbrochen. Was bedeutete das überhaupt? Was war es gewesen, das sie verändert hatte? Ugh, eigentlich kannte sie die Antwort, wollte sie aber nicht so einfach aussprechen. „Wir kriegen sie schon irgendwie wieder hin …“ „Was soll das!?“ Ihre Cousine funkelte sie verständnislos an. „Mit wem redest du da!?“ „Niemandem.“ Anya streckte den Arm aus. „Sieh' lieber zu und lerne! Ich greife deinen [Worm King] mit [First Of The Dragons] an! Burst Stream of Origin!“ Gehorsam stieß der Drache, trotz des Parasiten an seinem Hals, einen wallenden, roten Lichtstrahl aus. „Gegenangriff! King's Gaze!“ Aus den gelben Augen am Unterkörper des vierbeinigen Wurmkönigs drangen grelle Laserstrahlen, die in der Mitte des Feldes auf den Odem trafen. Anya rief: „Kannst du vergessen! Mein Drache kann im Kampf nicht durch Effektmonster zerstört werden!“ Und so drängten die Flammen den Angriff ihres Widersachers zurück und versengten jenen binnen kürzester Zeit. Zoey rümpfte die Nase. „Na und? Da beide dieselbe Angriffskraft haben, erleide ich nicht mal einen Punkt Schaden!“ „Ich bin noch nicht fertig!“ Anya zückte ihre letzte Handkarte, einen Schnellzauber. „Ich aktiviere [Flash Fusion] und verschmelze meine beiden Monster auf dem Feld …“ Jetzt wurde ihre Cousine hellhörig. „Eine weitere Fusion!? Ein neuer Gem-Knight!?“ „… sowie eine Zauber- und eine Fallenkarte von meinem Feld …“ Über Anya öffnete sich ein gelb-grüner Vortex, der erst ihren Drachen, Sardonyx und dann die beiden gesetzten Karten in sich hinein zog, welche sich als [Particle Fusion] und [Brilliant Spark] entpuppten. „W-was!? Seit wann nutzt man für eine Fusion Zauber und Fallen als Materialien!?“ „… um ein ganz besonderes Monster zu rufen!“ Anya streckte ihren Arm in die Höhe. Ein Blitz schoss aus dem Wirbel über ihr und schlug vor ihren Füßen ein. „Zerstöre, [Murciélago The Thunderblade Bull]! Klingenbespickte Hufe setzten vor ihr auf den Asphalt auf. Der massive, schwarze Stier, dessen Nackenhaar zu Zöpfen geflochten war, erstrahlte regelrecht im Licht der elektrischen Ladungen, die sich um ihn schlängelten. Statt Hörner besaß er gelb leuchtende, gebogene Klingen, die letztlich denselben Furcht einflößenden Effekt besaßen. Selbst Zoey musste schlucken.   Murciélago The Thunderblade Bull [ATK/0 DEF/0 (9)]   Zumindest bis sie bemerkte, dass es ihm offensichtlich an Angriffskraft mangelte. „Was!? Du rufst ein Monster mit 0 Angriffspunkten?“ „Angriff auf [Worm Victory]“, befahl Anya tonlos. „Catastrophe Rampage!“ Genau einmal scharte das Ungetüm mit dem hinteren, rechten Huf aus. „Du willst es selbst beenden? Wie geni-“ Dann zischte es in einer Geschwindigkeit auf das sechsarmige, rote Alien zu, die für das menschliche Auge kaum mehr sichtbar war. Es donnerte und knallte, da der Stier eine Schar von Blitzen in seinem Lauf um sich herum einschlagen ließ. Als er auf den Wurm stieß, versuchte der mit allen sechs Armen, den Bullen an den Hörnern und den Schultern zu packen, wurde jedoch gnadenlos überrannt. Ein weiterer Blitz schlug über Zoey in deren Kokon ein. Die reckte wie in Zeitlupe den Kopf nach oben und sah nur noch brennenden Schleim hinabfallen. Ihre Augen weiteten sich. Als Anya den Mund aufmachte, tauchte Murciélago wie aus dem Nichts wieder vor ihr auf. „Im Kampf kann er weder zerstört, noch verletzt werden. Im Gegenteil, nachdem er angegriffen hat, zerstört er bis zu zwei deiner Karten. [Worm Victory] und [Worm Zero]. Dabei erhält er im Anschluss noch 1000 Angriffspunkte pro Karte.“ Ihre Cousine sah wieder zu ihr herüber, als die letzten Überreste ihres Wurms um sie herum nieder klatschten und als kleine Flammenkörper liegen blieben. Derweil verstärkten sich die Entladungen um den Stier so sehr, dass die Luft um ihn herum flimmerte.   Murciélago The Thunderblade Bull [ATK/0 → 2000 DEF/0 (9)]   „Unmöglich“, stammelte Zoey. Dabei bemerkte sie die Brandspuren, die sich über den Asphalt zu ihr hinzogen. „W-was …?“ Dadurch bemerkte sie auch nicht, wie Anya den Kopf schüttelte. „Das war noch nicht alles. Pendelmonster sind zu mehr da, als nur Pendelbeschwörungen durchzuführen. In den Pendelzonen haben sie ganz eigene, besondere Effekte. Und der von [Gem-Knight Jasper] lässt mich einmal pro Zug eine Fusion beenden und Monster von meinem Friedhof beschwören, die für das Fusionsmonster als Materialien benutzt werden können.“ Sie griff nach zwei Karten, die ihr Friedhof auswarf und fuhr mit ihnen in den Händen über die Monsterkartenzonen ihrer Duel Disk, ließ sie dabei liegen. Ihr Ritter schwang seine Hellebarde nach unten aus, von der sich eine hellblaue Lichtsichel löste und Murciélago in den Rücken traf. „Kehrt zurück, [Gem-Knight Sardonyx] und [First Of The Dragons]!“ Der Bulle teilte sich in zwei durchsichtige Kopien seiner selbst auf, die dann feste Form annahmen und zu dem roten Ritter und dem gehörnten Drachen wurden.   First Of The Dragons [ATK/2700 DEF/2000 (9)] Gem-Knight Sardonyx [ATK/1800 DEF/900 (4)]   Ihre Cousine löste ihren Blick von den schwarzen Flecken auf dem Asphalt und starrte Anya entgeistert an. „Jetzt rechne, Zoey. Und rechne gut“, knurrte die Ältere düster. „Scheiße …“ „Jep. Ich habe dieses Duell gewonnen. Schluss mit deinem Bullshit!“ Wütend schwang Anya den Arm aus. „Direkter Angriff auf ihre Lebenspunkte, Sardonyx, [First Of The Dragons]! Beendet es!“ Während Letzterer seinen wallenden, roten Atem auf Zoey abfeuerte, ließ der Ritter seinen Morgenstern erst einige Male über den Kopf kreisen, ehe er ihn ausschwang. Das Mädchen gab einen letzten, entsetzten Schrei von sich, ehe sie getroffen wurde.   [Anya: 800LP / Zoey: 4000LP → 0LP]   „Hmpf.“ Anya verschränkte grimmig die Arme. Ich hoffe, sie ist jetzt ein wenig zur Vernunft gekommen.   „Als ob. Die tickt wie ich damals. Ein hoffnungsloser Fall.“   Ha ha. Ich erkenne die Ironie in deinen Worten. Du warst nie hoffnungslos, im Gegenteil.   „Heh, traurig, ich weiß …“ Als die Hologramme verschwanden, rührte sich Zoey nicht vom Fleck. Sie hob ihre Hände an, welche zitterten. „Traurig … yeah …“ Das Mädchen lachte hysterisch, geradezu verrückt. „Ja, klar, ich versteh's jetzt. Du brauchst mich nicht mehr, hast ja deine neuen Freunde.“ Sofort schrillten bei Anya alle Alarmglocken. Sag nicht, Zoey hatte irgendetwas in den falschen Hals bekommen. „Nein-“ „Und dann ist ja noch dein unsichtbarer Begleiter. Entweder bist du verrückt oder ich. Ha ha.“ Das Mädchen nahm einen Schritt zurück. „I-ist ja auch egal. Du bist jetzt was Besseres. Da wäre ich nur im Weg. Also werde ich tun, was du sagst und Livington verlassen.“ Das Mädchen wirbelte um, wobei eine Träne den Boden benetzte. „Leb wohl, Anya …“ Schon lief ihre Cousine Richtung Straße los. Anya streckte panisch ihre Hand nach ihr aus. „Zoey, warte! Das war nicht so gemeint gewesen!“ Sie wollte ihr hinterher rennen, als sie ein lähmendes Gefühl durchfuhr. Einen Moment später breitete sich ein grauenhafter Schmerz in ihrer Magengegend aus. „Shit! Nicht jetzt!“ Ihre Beine wurden schlapp und gaben nach. Die Blonde sank schwach in die Knie und krümmte sich von den Schmerzen, die der Fluch des Sammlers verursachte. Nur verschwommen sah sie, wie ihre Cousine vom Bürgersteig nach links abbog. Dann kippte Anya zur Seite, hielt sich den Magen. „Shit … Zoey …“     Turn 93 – A Queen Of Times Past Nachdem Zoey am nächsten Tag nicht auftaucht, macht Anya sich auf die Suche nach ihr. Statt aber ihre Cousine zu finden, trifft sie auf eine Frau namens Cynthia, die von sich behauptet, eine ehemalige Duel Queen zu sein. Und sie macht Anya ein interessantes Angebot, das jene jedoch nicht annehmen kann … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)