Stolen Dreams Ⅶ von Yukito ================================================================================ 9. Kapitel ---------- Luca hatte damit gerechnet, dass Marius sich nicht erpressen lassen und irgendein krummes Ding abziehen würde, aber die folgenden Tage verliefen recht friedlich, wenn man davon absah, dass immer noch eine gewisse Spannung im Haus herrschte. Antonia, der nichts entging, bemerkte diese Spannung und fragte, was passiert sei, aber niemand wollte oder konnte ihr eine hilfreiche Antwort geben, weshalb ihr nichts anderes übrig blieb, als die gelegentlichen Blicke des Misstrauens zwischen Marius und Luca zu ignorieren. Letzterer ließ sich endlich auf seine Psychotherapeutin ein, aber er war immer noch davon überzeugt, dass sie nichts bringen würde und eine Therapie reine Zeitverschwendung wäre. Oft zog er sich in sein Zimmer zurück und hörte dort deprimierende Musik, die seine ohnehin schon düstere Stimmung noch düsterer machte. Antonia schickte Fabian zu Luca, in der Hoffnung, dass der Junge ihn aufheitern oder aus seinem Zimmer holen würde, aber alles, was sie damit erreichte, war, dass die beiden nun gemeinsam in Lucas Raum versauerten. Jedes Mal, wenn Antonia an dem Zimmer vorbeikam, hörte sie die Soundtracks von Kriegsfilmen, Dramen oder Tragödien und – seitdem Fabian dabei war – auch einige Werke von Max Richter, die zwar schön, aber auch verdammt traurig klangen. „Okay, es reicht jetzt“, sagte sie ungefähr eine halbe Woche nach einem gewissen Vorfall, von dem sie nichts erfahren hatte. „Ihr könnt nicht den ganzen Tag in diesem Zimmer verbringen.“ „Anscheinend doch“, erwiderte Luca, ohne von seinem Handy aufzusehen. Er lag bäuchlings quer über seinem Bett. Fabian lag im rechten Winkel zu ihm, aber auf dem Rücken, und nutzte den Brustkorb des Älteren als Kopfkissen, womit dieser kein Problem zu haben schien. Normalerweise hasste Luca den Körperkontakt mit anderen Menschen, aber Fabian war anscheinend eine Ausnahme. „Was haltet ihr davon, wenn wir zusammen das Mittagessen kochen?“, schlug Antonia vor und schaltete die Musik ab, bei der jeder früher oder später Depressionen bekommen würde. „Warum sollten wir das tun, wenn wir eine Köchin haben?“, murrte Luca, während Fabian umblätterte und vollkommen in sein Buch vertieft war. Antonia konnte nicht sagen, ob der Junge sie bewusst ignorierte oder ob er von der Handlung so gefesselt war, dass er von der Realität nichts mehr wahrnahm. „Weil es Spaß machen kann. Oder wir tun etwas anderes – Hauptsache, ihr beiden kommt endlich aus diesem Zimmer raus und geht mal an die frische Luft.“ Luca stöhnte genervt und tat so, als hätte er Antonia nicht gehört. Erst als Fabian ihn fragte, ob er Lust hätte, zum Strand zu gehen, erhob er sich und verließ mit dem Jungen das Zimmer. Antonia sagte dazu nichts. Sie war es gewohnt, von Luca so behandelt zu werden, und hatte mit der Zeit eine Immunität gegen seine sarkastischen und verbitterten Sprüche und sein abweisendes Verhalten entwickelt. Außerdem wusste sie, dass er die bösartigen Sachen, die er manchmal sagte, in neun von zehn Fällen gar nicht so meinte und dass es ihm eigentlich leidtat. Antonia ging in die Küche, machte sich einen Kaffee und setzte sich anschließend auf eine der Liegen im Garten. Von hier aus hatte man einen großartigen Ausblick auf den Strand, der quasi direkt hinter Marius' Villa lag und nur sehr selten von Touristen besucht wurde. Im Sommer kam es durchaus vor, dass die ein oder andere Familie ihren Sonnenschirm am Strand aufbauen wollte und nur wenige Minuten später von Marius' Männern vertrieben wurde, aber jetzt, im November, musste man sich zum Glück nicht mit Menschen herumschlagen, die das Wort ''Privatgrundstück'' nicht verstanden. Antonia nippte an ihrer Tasse und genoss die angenehm kühle Luft, die nach Salz und nach Meer roch. Eine leichte Brise streifte die Gräser auf den Dünen, die sich links und rechts neben der Villa befanden. Die Landschaft hier war wirklich traumhaft und-- „Was machen die beiden da?“ Sie verschluckte sich fast an ihrem Kaffee, als Marius plötzlich hinter ihr erschien. „Einen Spaziergang, schätze ich“, antwortete sie und stellte die Tasse auf dem kleinen Tisch neben sich ab. „Was ist los?“ Marius verzog das Gesicht zu einer grimmigen Fratze und knirschte mit den Zähnen. „Mir gefällt das nicht“, knurrte er, den Blick starr auf Fabian und Luca gerichtet, die vermutlich miteinander redeten. „Luca soll später mal meine Position einnehmen... und jetzt gibt er sich mit diesem Sklaven ab.“ „Ich denke, es tut ihm gut, jemanden in seinem Alter zu haben, der--“ „Er hat Chiara.“ „... ihn nicht wie einen Feind behandelt“, beendete Antonia ihren Satz. „Schau sie dir doch an. Die beiden verstehen sich.“ Marius rümpfte die Nase und schüttelte empört den Kopf. „Ich hätte diesen verdammten Bengel in Russland lassen sollen“, zischte er und ging zurück ins Haus. Antonia seufzte und leerte ihre Tasse. Es kostete sie etwa eine Minute, die Tasse in die Küche zu bringen und dort in die Spüle zu legen, und in dieser einen Minute hatten Luca und Fabian es geschafft, sich nicht nur ins Meer zu schmeißen und bis auf die Knochen zu durchnässen, sondern auch im Sand zu wälzen, der nun an ihrer Kleidung und Haut haftete. „Ich habe euch etwa sechzig Sekunden alleine gelassen“, sagte Antonia, die nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. „Wie zur Hölle...?“ Während sich Fabian verlegen die Sandkörner vom Leib klopfte, verschränkte Luca die Arme vor der Brust und sah Antonia gespielt herausfordernd an. „Du bist unzufrieden, wenn wir drinnen sind, und du bist unzufrieden, wenn wir draußen sind. Was willst du eigentlich von uns?“ „Schon gut. Geht einfach duschen und entschuldigt euch später bei der Putzfrau.“ Etwa eine halbe Stunde später saßen Luca und Fabian mit noch feuchten Haaren im Esszimmer und genossen ihr Mittagessen. Während der Junge hungrig zulangte, war der Ältere vielmehr an Teddys Lockenpracht interessiert, die im nassen Zustand nicht nur glatt, sondern auch ziemlich lang war. „Du siehst so ganz anders aus“, murmelte Luca verträumt und wickelte sich eine der braunen Strähnen um den Finger. „Du hast keine Ahnung, wie sehr ich meine Haare hasse“, erwiderte Fabian, den es anscheinend nicht störte, dass jemand mit seinen Haaren herumspielte. „Ich wünschte, ich hätte von Natur aus glatte. So wie du.“ Luca wollte etwas hinzufügen, aber genau in diesem Moment kam Marius ins Esszimmer. Ihm war anzusehen, dass er am liebsten jemanden zurechtweisen oder anschreien würde, doch er beherrschte sich und nahm sich schweigend eine Portion Spaghetti Carbonara. „Sag mal, Luca, wie sieht es gerade bei dir und Chiara aus?“ Antonia, die im Türrahmen stand und ihren zweiten Kaffee trank, verspürte plötzlich den starken Drang, sich selbst gegen die Stirn zu schlagen. Die Stimmung am Tisch war so locker und friedlich gewesen, bis er diese falsche Schlange erwähnt hatte. „Sie... sie hat mir eine Nachricht geschickt, aber ich habe sie noch nicht gelesen“, antwortete Luca zögernd. Er verschränkte die Finger ineinander und schaute betrübt auf sein Wasserglas. „Junge, das ist doch keine Art und Weise, wie man mit einer Dame umgeht.“ Antonia hätte dem gerne zugestimmt und hinzugefügt, dass ''Dame'' das mit Abstand letzte Wort war, mit dem sie Chiara beschreiben würde. „Ich weiß“, murmelte Luca. „Ich kümmere mich später darum.“ „Das will ich hoffen“, grunzte Marius, ehe er seinen Teller leerte und anschließend aufstand. „Komm, Antonia, wir müssen los.“ „Wo gehen die beiden hin?“, fragte Fabian, sobald Marius und Antonia das Esszimmer verlassen hatten, sodass er mit Luca alleine war. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich zu einem Treffen mit Geschäftspartnern und Freunden. Das kommt öfters vor.“ „Und mit wem treffen sie sich? Mit anderen Bossen?“ Luca lachte. „Mein Vater ist kein Boss. Er... du kennst dich mit der Struktur solcher Familien nicht aus, oder?“ „Nein. Wo soll ich so etwas auch gelernt haben?“ „Gut, hör zu: Ganz oben gibt es den Boss. Das ist der mächtige Obermacker, dem du nicht ans Knie pinkeln solltest. Dann kommt dessen Berater und Stellvertreter. Was die machen, müsste klar sein. Und dann, etwa in der Mitte, wenn man alle nach Macht sortieren würde, kommt der Capo. Das ist jemand, der eine kleine Familie und einige Soldaten anführt. Es gibt mehrere von ihnen und sie sind die Ansprechpartner des Bosses.“ „Und Marius ist ein Capo?“ „Richtig. Dem Capo folgen die Soldaten und dann gibt es noch die Assoziierten. Das sind Menschen, die nicht wirklich zur Familie gehören, aber mit denen wir in Verbindung stehen. Banker, Politiker, Drogendealer, Zuhälter – solche Leute eben. Wie du siehst--“ „Ich glaube, das reicht jetzt“, wurde er von Antonia unterbrochen, die plötzlich ihren Kopf ins Esszimmer steckte. „Luca, wir sind in einer Stunde wieder da. Stell nichts Blödes an. Du weißt, an wen du dich wenden kannst, falls etwas passieren sollte. Außerdem hast du meine Nummer.“ Sie verschwand, aber tauchte direkt danach wieder auf. „Und kein Wort mehr zu dem Thema, das ihr gerade besprochen habt.“ „Reg dich ab, ich hätte ihm eh nicht mehr als das gesagt“, erwiderte Luca, aber Antonia und Marius hatten das Haus bereits verlassen. Er seufzte genervt und schob seinen Teller, der er nicht angerührt hatte, zu Fabian, der nervös schluckte. Seitdem er hier war, hatte es für ihn meistens nur Wasser und Brot zu essen gegeben, weil Marius es so gewollt hatte. „Hier. Ich will es nicht und es wegzuwerfen, wäre Verschwendung.“ „Dein Vater wird mich umbringen“, sagte Fabian nicht sehr überzeugend, da er gerade seine Gabel in den Nudeln versenkte. „Schon gut, er wird es nie wissen.“ In den folgenden Tagen kam es immer wieder vor, dass Luca sein Essen an Fabian weiterreichte. Nur einmal wurde er dabei erwischt, aber das war von Antonia, die versprach, niemanden etwas zu sagen, wenn Luca ausnahmsweise auch etwas aß, was der junge Mann nur höchst widerwillig tat. Er hatte Chiaras Nachricht immer noch nicht gelesen und besaß die unschöne Vermutung, dass sein Vater irgendetwas ausheckte. Der Stress und die Angst um Teddy, mit dem er die meiste Zeit verbrachte, schlugen ihm auf den Magen und ruinierten seinen Appetit, was Antonia entweder nicht verstehen konnte oder nicht verstehen wollte. Luca hatte mit ihr nicht über das gesprochen, was zwischen Fabian und Marius vorgefallen war, und das hatte er auch nicht vor, denn sobald Marius' Geheimnis ans Licht kommen würde, hatte Luca nichts mehr gegen ihn in der Hand und das wäre sowohl für ihn als auch für Teddy höchst ungünstig. „Verdammt, Antonia, ich bin 23 und selbstständig. Hör auf, mich wie ein Baby zu behandeln!“, fauchte er aggressiv, als Antonia ihn darüber informierte, dass sie und Marius gleich weggehen und frühstens am nächsten Morgen wiederkommen würden. Sie sagte ihm solche Sachen immer bei der letzten Gelegenheit, damit Luca davon überrascht wurde und keine Möglichkeit bekam, etwas Bestimmtes zu planen. „Sollte etwas passieren, kannst du mich oder Marius jederzeit anrufen“, fuhr sie fort und wich der Fernbedienung, die Luca nach ihr warf, geschickt aus. „Warum bestellst du nicht gleich einen Babysitter?“, zischte er, woraufhin sie genervt seufzte und sich von ihm abwandte. „Bis morgen.“ „Komm nie wieder.“ Sie ignorierte seine Worte, machte die Haustür hinter sich zu und gesellte sich zu Marius, der bereits im Auto wartete. „Man könnte meinen, die beiden sind ein Paar“, sagte Fabian, während er beobachtete, wie das Auto die Einfahrt verließ. „Antonia ist verheiratet“, erwiderte Luca und hob die Fernbedienung auf, um sie an ihren rechtmäßigen Platz zurückzulegen. „Und Marius... das weißt du ja.“ Sie wechselten das Thema und unterhielten sich ein wenig, bis es Mittagessen gab, das Luca nicht anrührte. „Sicher, dass du nichts willst?“, fragte Fabian, der nicht verstehen konnte, wie man lecker gewürzte Flügel vom Huhn ablehnen konnte. „Ja. Ich hab' keinen Hunger.“ Mit diesen Worten ging Luca in sein Zimmer und las Chiaras Nachricht, die entgegen seiner Erwartung nicht voller Anschuldigungen und Schimpfwörtern war, sondern nur den Wunsch beinhaltete, sich mit ihm zu treffen. »Wollen wir etwas Bestimmtes machen?«, schrieb er zurück und erhielt wenige Minuten später eine Antwort. »Ich hätte Lust, essen zu gehen. Hier in der Nähe gibt es ein kleines Restaurant, das den Stil eines Diners kopiert. Wann hast du Zeit?« Die beiden einigten sich auf nächsten Samstag. Luca war heilfroh, dieses Gespräch hinter sich gebracht zu haben, aber trotzdem ging es ihm miserabel. Ihm war schlecht und obwohl er in den letzten Tagen kaum etwas gegessen hatte, verspürte er das Bedürfnis, sich zu übergeben. Sein Unwohlsein verdrängend ging Luca in die Küche. Auf dem Weg dorthin sah er die Überreste von Fabians Mittagessen im Esszimmer; ein Teller mit einigen Reiskörnern und einem kleinen Haufen dünner Knochen. Luca nahm den Teller und war im Begriff, die Essensreste in den Müll zu schütten, als ihm etwas Seltsames auffiel, das im Mülleimer lag und-- Luca verstand sofort, dass etwas nicht stimmte. Was er dort zwischen einer alten Bananenschale und einer schimmelnden Tomate gefunden hatte, war eindeutig eine Packung Schlaftabletten der starken Sorte. Um so etwas zu kriegen, musste man dem Kerl oder der Frau in der Apotheke entweder einen Attest vom Arzt oder ein paar Geldscheine in die Hand drücken. Solche Medikamente gab es in diesem Haus nicht, weil – zurecht – befürchtet wurde, dass Luca früher oder später versuchen würde, sich mit den Dingern umzubringen. Was hatten diese Schlaftabletten also hier zu suchen? Luca schaute sich die Verpackung aus Pappe genauer an. Die Bedienungsanleitung und die Behälter für die Tabletten waren da, aber die Tabletten selbst fehlten und zwar jede einzelne von ihnen. Mit so einer Dosis könnte man sogar einen Menschen, der drei Zentner wog, dauerhaft ruhigstellen. Doch warum sollte jemand--? „Teddy!“, rief Luca alarmiert und ging in den Flur, weil er eine größere Reichweite hatte, wenn er sich in die Mitte der Villa stellte. „Fabian, antworte mir!“ Er rechnete damit, jeden Moment Fabians Stimme zu hören, aber alles, was er erhielt, war unheimliche Stille. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)