Stolen Dreams Ⅶ von Yukito ================================================================================ 12. Kapitel ----------- Das letzte Mal, dass Fabian sich so hilflos gefühlt hatte, war an dem Tag gewesen, an dem ihm Dinge angetan worden waren, die eigentlich nur Mädchen passierten. Seine Gefühle und Gedanken hatten wie ordentlich sortierte Glasperlen auf einem Tablett gelegen und Luca hatte es mit einem einzigen Satz aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Perlen flogen kreuz und quer durch den Raum, man wusste gar nicht, wo man zuerst hinsehen sollte, und das Tablett fiel laut klappernd zu Boden. Dort, wo sich eben noch beruhigende Harmonie befunden hatte, herrschte nun absolutes Chaos. „Ich habe jemanden umgebracht.“ Fabian konnte sich nicht vorstellen, dass Luca wirklich einen Mord begangen hatte. Das passte einfach nicht zu ihm. Ja, er konnte manchmal schlecht drauf sein oder fiese Sprüche von sich geben, aber einer anderen Person das Leben zu nehmen, war eine Grenze, die er nicht überschreiten würde. Außerdem hatte sein aufgelöster Zustand von vorhin gezeigt, dass irgendetwas Luca erschüttert hatte. Fabian wollte an Lucas Unschuld glauben, aber er besaß die unschöne Vermutung, dass das bloß seine kindliche Naivität war, die sich an ihre Vorstellung einer heilen Welt klammerte, in der es nur gute und böse Menschen und nichts dazwischen gab. Denn man durfte die Wahrheit nicht aus den Augen verlieren – Lucas Familie bestand aus Verbrechern und er selbst war wahrscheinlich auch einer. Zwar hatte er das nie gesagt, aber er hatte es auch nie geleugnet. Fabian hielt das nicht mehr aus. Ein Teil von ihm wollte Luca in Schutz nehmen, ein anderer zählte all die Dinge auf, die der junge Mann ihm verheimlicht haben könnte, ein dritter schlug vor, dass man keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte, und der Rest von Fabian wollte schreien, weinen und sich irgendwo verstecken. Der Junge stand so sehr unter Stress, dass er begann, sich selbst Ohrfeigen zu verpassen, aber was ihm ansonsten beim Beruhigen half, machte es diesmal nur noch schlimmer. Schließlich konnte er sich nicht mehr länger beherrschen und verließ sein Zimmer, in das er sich zurückgezogen hatte, nachdem Luca nach Hause gekommen war. Er steuerte direkt auf Lucas Zimmer zu, vor dessen Tür Antonia hin und her tigerte. Als sie Fabian bemerkte, zögerte sie nicht lange, sondern packte ihn am Oberarm, damit er nicht an ihr vorbeirennen und in den Raum stürmen konnte. „Lass mich los!“, rief Fabian aufgebracht. „Ich muss zu Luca!“ „Komm wieder runter. Wir brauchen jetzt keinen Stress“, sagte sie bestimmt, aber Fabian hörte nicht auf sie. Er versuchte sich vergeblich von ihr loszureißen und gab erst auf, als Antonia die Nase voll hatte und ihn grob von sich wegstieß. „Es reicht jetzt, Fabian. Wir werden uns schon darum kümmern.“ „Um was kümmern? Luca würde so etwas niemals tun! Er--!“ „Dafür, dass du ihn erst seit wenigen Wochen kennst, lehnst du dich ziemlich weit aus dem Fenster, weißt du das?“ „Soll das heißen, du würdest ihm das wirklich zutrauen?!“ Antonia schwieg. Sie seufzte und blickte ratlos zu der Tür, hinter der vermutlich momentan ein Gespräch zwischen Marius und Luca stattfand. „Nein“, sagte sie schließlich. „Er mag bereits als Kind seine Mitschüler zusammengeschlagen haben, aber ein Mord... nein, so etwas würde er nicht tun.“ „Hat er schon erzählt, was genau passiert ist?“ „Marius redet gerade mit ihm. Ich weiß noch nichts, aber ich würde meine rechte Hand darauf verwetten, dass Chiara keine Nebenrolle in dieser Sache spielt.“ „Und was machen wir jetzt?“ „Schauen, was passiert ist, und gewisse Maßnahmen ergreifen, falls das nötig sein sollte.“ Fabian spürte, wie er sich langsam wieder beruhigte. Sein Herz schlug so hastig, als wäre er einmal zum Strand und zurück gerannt, und sein ganzer Körper zitterte vor Aufregung, aber es wurde allmählich besser. Er lehnte sich gegen die Wand, atmete tief durch und wartete ungeduldig darauf, dass Marius aus Lucas Zimmer kam, was eine ganze Ewigkeit zu dauern schien. Als der Alte dann endlich erschien, winkte er Antonia zu sich und gab ihr ein Zeichen, mit ihm zu kommen. Sein Blick blieb kurz an Fabian hängen und für den Bruchteil einer Sekunde schien er zu überlegen, ob er den Jungen wegschicken sollte, aber er machte bloß eine wegwerfende Geste und ignorierte ihn. Kaum waren die beiden Erwachsenen hinter der nächsten Ecke verschwunden, betrat Fabian das Zimmer von Luca, der auf seinem Bett saß und die Hände ineinander verankert und in seinen Schoß gelegt hatte, als würde er beten. Sein Blick haftete am Boden, irgendwo zwischen einem getragenen T-Shirt und einer leeren Zigarettenpackung. „Wie geht es dir?“, fragte Fabian vorsichtig, doch Luca gab keine Antwort. Stattdessen verkrampfte er die Hände, sodass seine Knöchel weiß hervorstachen, und schluckte nervös. „Oh Luca.“ Fabian kam näher und platzierte seine zierliche Hand, die zur Hälfte von dem Ärmel seines Pullovers verschluckt wurde, auf Lucas Schulter. Der Ältere zitterte leicht und besaß eine kleine Schürfwunde an seinem rechten Handrücken. Teddy könnte schwören, dass diese Wunde vor wenigen Stunden noch nicht existiert hatte. „Was ist da passiert?“ „Sorry, aber wenn du Antworten möchtest, bist du umsonst gekommen.“ „Das ist okay, Luca. Du musst nicht darüber reden.“ Für einige Augenblicke herrschte Stille. Fabian war sich nicht sicher, ob er hierbleiben oder weggehen und Luca in Ruhe lassen sollte. Er überlegte, was jetzt angebracht wäre, als sich plötzlich ein bebender Arm um seine Taille legte und ihn in die Richtung des Dunkelhaarigen zog. Teddy ging sofort darauf ein und schlang beide Arme um Lucas Hals. Er spürte, wie der Ältere die Stirn gegen seine Brust drückte und zu weinen anfing. Sein Körper erzitterte und gelegentlich war ein leises Schluchzen zu vernehmen. Das war nicht das erste Mal, dass Fabian Luca weinen sah, aber es war das erste Mal, dass es ihm richtig bewusst wurde. Luca weinte. Er ''flennte'', er ''heulte'', er tat das, was Dad immer als unmännlich und für einen Kerl absolut inakzeptabel genannt hatte. Fabian wusste überhaupt nicht, wie er mit dieser Erkenntnis umgehen sollte. Er fühlte sich von diesem Mann, den er erst seit wenigen Wochen kannte, viel besser verstanden als von dem Mann, der ihn großgezogen hatte. Als Fabian am nächsten Morgen aufwachte, lagen er und Luca Rücken an Rücken im Bett. Er richtete sich langsam auf und versuchte Luca wachzurütteln, aber das war gar nicht nötig. Der Größere war bereits wach und seinen Augenringen nach zu urteilen hatte er keine einzige Sekunde geschlafen. „Wie geht es dir?“, fragte Fabian und platzierte seine Arme auf Lucas Seite. „Beschissen“, murmelte der Ältere und starrte ausdruckslos die Wand an. „Ich habe einen Penner abgemurkst, der Chiara bedroht hat, ohne zu wissen, dass das einer von Dads Geschäftspartnern war, und jetzt ist Dad ziemlich angepisst, weil nicht nur mein, sondern auch sein Ruf darunter leiden könnte.“ Fabian runzelte verwirrt die Stirn. Marius erfuhr, dass sein Sohn jemanden umgebracht hatte, und seine einzige Sorge war, dass das seinem Ruf schaden könnte?! „A-aber... du hast es nicht mit Absicht gemacht, oder? Der Mord, meine ich. Es war ein Unfall, nicht wahr?“ „Ja, ein Unfall. Das scheiß Messer ist ganz zufällig in seiner Brust gelandet“, murrte Luca, ehe er den Jungen wegschob und sich aufrichtete. „Es tut mir leid, okay? Mir hat es übrigens keinen Spaß gemacht, zum Mörder zu werden und dich zu enttäuschen. Ich wollte nicht, dass so etwas passiert.“ Fabian kam das nicht ganz koscher vor. Luca verbarg etwas. Die Art und Weise, wie er redete und sich verhielt, sagte mehr als tausend Worte; ihm war anzusehen, dass er am liebsten geschrien hätte und seine Gefühle mit allen Mitteln zurückzuhalten versuchte. „Ich glaube dir nicht“, sagte Fabian ruhig. „Du bist kein Mörder. So etwas würdest du niemals tun.“ „Wie ich bereits sagte: Es tut mir leid, dich enttäuscht zu haben.“ In Lucas Stimme lag tatsächlich Reue, aber Fabian konnte spüren, dass dieses Gefühl nichts mit dem Mord zu tun hatte, sondern damit zusammenhing, dass Luca ihn anlog. Er wollte ihm die Wahrheit erzählen, aber konnte oder durfte es nicht, und Fabian wusste nicht, wie er Luca beweisen konnte, dass er für ihn da war. Der Ältere verließ wortlos sein Zimmer und ging ins Esszimmer, wo Marius und Antonia bereits am Tisch saßen. Fabian folgte Luca und setzte sich neben ihn. Es herrschte Schweigen, bis Marius schließlich das Wort ergriff. „Irgendein Mann, der heute Morgen vor der Arbeit seinen Hund ausgeführt hat, hat Nandos Leiche entdeckt und die Polizei gerufen. Ich habe meine Kontakte spielen lassen; die Ermittlungen wurden abgebrochen. Es gibt also nichts, weshalb wir uns Sorgen machen müssten. Außerdem--“ „Was soll das?“, unterbrach Fabian ihn aufgebracht. „Lassen Sie die Ermittlungen doch laufen. Dann können wir herausfinden, was wirklich passiert ist.“ Marius verdrehte genervt die Augen. „Das hier ist kein Videospiel, bei dem es darum geht, den wahren Täter zu finden. Wenn Luca sagt, dass er es getan hat, dann hat er es auch getan. Warum sollte er lügen?“ „Um jemanden zu schützen. Habt ihr schon mit Chiara geredet? Was sagt sie zu--?“ „Halt meine Freundin aus der Sache“, fauchte Luca so gereizt, dass Fabian erschrocken zusammenzuckte. „Sie hat damit nichts zu tun. Es ist nicht ihre Schuld, dass er sie belästigt hat.“ „Ich kannte Nando persönlich“, mischte sich Antonia ein. „Er ist nicht der Typ, der die Privatsphäre einer Frau ignorieren würde.“ „Sei still!“, zischte Luca. „Zum letzten Mal: Ich habe Nando umgebracht, nicht Chiara. Sie weißt nicht einmal, was passiert ist.“ „Okay“, erwiderte Antonia ruhig. „Könntest du vielleicht ein bisschen näher ins Detail gehen? Was genau ist passiert?“ Luca seufzte. „Chiara und ich waren in einem Restaurant. Sie wollte zur Toilette. Er ist ihr gefolgt und hat sie belästigt. Ich bin eingeschritten.“ „Und dann? Du bist wütend geworden und hast ihn erstochen, oder was?“ „Nicht ganz. Er hatte ein Messer dabei. Ich habe mich bedroht gefühlt und gewehrt. Es war keine Absicht.“ „Also war es doch ein Unfall!“, brach es aus Fabian heraus. „Vorhin hast du noch gesagt, es wäre keiner gewesen!“ „Hältst du jetzt endlich die Klappe?!“, fauchte Marius aggressiv. „Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt. Geh!“ „Erst wenn ich bewiesen habe, dass Luca unschuldig ist. Sie sind sein Vater – wie können Sie das einfach hinnehmen?!“ „Das sind Dinge, von denen du nichts verstehst. Jetzt geh, bevor ich dich rausschmeiße.“ Fabian schnaubte entrüstet und hoffte, dass Luca oder Antonia ihn in Schutz nahmen, aber keiner der beiden machte Anstalten, ihm zu helfen. Luca verschränkte die Arme vor der Brust und vermied Augenkontakt, während Antonia weggetreten auf den Tisch starrte und gar nicht wahrzunehmen schien, was um sie herum passierte. „Sie sind der schlechteste Vater, den ich je gesehen habe“, sagte Fabian, ehe er aufstand, das Esszimmer verließ und die Tür mit so einer Wucht zuknallte, dass die Wände wackelten. Es war offensichtlich, dass Luca etwas verbarg. Warum konnte das niemand außer ihm sehen?! Er ging in sein Zimmer und ließ seiner Wut freien Lauf, indem er sein Kissen verprügelte. Danach war er ein wenig ruhiger, aber noch lange nicht bereit, mit der Sache abzuschließen. Er sah, das mittlerweile fast eine halbe Stunde verstrichen war, überlegte kurz, was er jetzt tun könnte, und ging anschließend zu Luca, der in seinem Zimmer stand und betrübt aus dem Fenster schaute. „Geh weg, Teddy. Ich weiß, dass ich ein Arschloch bin und mich falsch verhalten habe, aber mich damit zu konfrontieren, wird nicht helfen. Verschwinde einfach. Ich habe deine Zeit nicht verdient.“ „Keine Sorge, ich wollte nur fragen, ob du einen Notizblock und einen Stift hast.“ „Wozu brauchst du das? Willst du Privatdetektiv spielen?“ „Nein. Ich möchte etwas zeichnen, um mich abzulenken.“ Luca seufzte, wühlte kurz in seinem Schreibtisch herum und überreichte Fabian die Sachen, um die er gebeten hatte. „Danke“, murmelte der Junge und kehrte in sein Zimmer zurück, wo er sofort anfing, sich Notizen zu machen. Er notierte sich die Zeiten, wann Luca gegangen und nach Hause gekommen war, dass er eine frische Wunde besaß und was er gesagt hatte, aber das war natürlich noch lange nicht genug. Fabian brauchte mehr Informationen und leider hatte er keine Ahnung, wie er sie erhalten könnte. Plötzlich klopfte es an der Tür. Teddy blätterte hastig um und tat so, als würde er versuchen, eine Spottdrossel zu zeichnen, während Antonia das Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. „Ist dir aufgefallen, dass Luca eine Schürfwunde an seiner rechten Hand hat?“, sagte sie. „Er meint, es wäre passiert, als er die Leiche im Wald versteckt hat, aber ich glaube, da steckt mehr dahinter.“ „Warum redest du mit mir darüber? Ich dachte, ich soll die Klappe halten.“ „Weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass du Recht haben könntest. Außerdem war Chiara dabei – kein Wunder, dass etwas Schlimmes passiert ist.“ Antonia seufzte. „Kann ich mich darauf verlassen, dass du nicht auf blöde Ideen kommst, wenn ich mit dir das Grundstück verlasse?“ „Ja. Ich werde nichts Dummes tun.“ „Gut, dann komm mit. Wir werden das Ganze genauer unter die Lupe nehmen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)