Kalendertage von sakemaki (Der Tag, an ...) ================================================================================ Kapitel 10: 10 - Der Tag, an dem alles zu weit ging --------------------------------------------------- Die beschissenste Nacht war grundsätzlich die Nacht, in der man einfach keinen Schlaf fand. Man wälzte sich von einer Bettseite auf die andere, strangulierte sich mit der Bettdecke bis zur Atemnot und erstickte dann aber im Kopfkissen. Nebenbei aalte man sich im eigenen Schweiße bis das Nachthemd und des Bettzeug klatschnass waren und man vor sich selbst Ekel empfand, weil es nur noch ungemütlich war und man sich selbst auch nicht mehr riechen konnte. Auch in dieser Nacht war es so, und es gab da genau zwei Dinge, die mich in diese Misere trieben. Und nein, ich brütete definitiv keine Erkältung aus. Da war zum Ersten eine ganz subtile Sache. Morgen war Monatsmitte, und die Belegschaft erhielt ihre wohlverdiente Lohntüte. Voller Vorfreude würden die schon morgens alle vor meiner Bürotür Schlange stehen, um ihren Lohn in Empfang zu nehmen. Und genau da steckte das Problem. Es könnte so einfach sein, wenn man für jeden Mitarbeiter nur eine bloße Überweisung tätigen würde. Doch das Hauptkontor hatte uns Nebenstellen einst angewiesen, immer am 15. eines Monats für jeden Angestellten eine Barauszahlung nebst Abrechnung auszuhändigen. Ich musste an dieser Stelle gestehen, dass mich die Ereignisse dieses Sommers ziemlich beschäftigt hatten und ich daher meine Arbeit hatte schleifen lassen. Mir ging die Arbeit weit weniger gut von der Hand wie sonst. Meine Gedanken schweiften häufig ab. Es war überhaupt nicht meine Art, mich so gehen zu lassen. Selbst meine Mitarbeiter merkten das schon und munkelten Dinge, die ich gar nicht so genau wissen wollte. Und so waren in diesem Falle zwar die Abrechnungen alle termingerecht fertig, doch den Weg zur Bank hatte ich noch nicht geschafft. Ich würde also mein Team morgen früh vertrösten müssen, bis ich meinen Dienstweg zum Bankschalter am Vormittag vollbracht hätte. Begeistert wären die allesamt sicherlich nicht von dieser stundenweisen Zeitverzögerung, doch es war halt nicht zu ändern. Langsam drehte ich meinen Kopf zum Radiowecker, dessen Ziffernanzeige mir unmissverständlich klar machte, dass der neue Tag bereits wenige Stunden jung war. Bald würde das Ding losplärren und mich endgültig aus dem warmen Bett treiben. Aber eben war mein Bett vom Schweiße klitschnass und eh kein bisschen warm und gemütlich. Also sprang ich widerwillig auf, riss die Bezüge und das Laken runter und schmiss sie in hohem Bogen in die Ecke, wo ich in der Dunkelheit den Wäschekorb vermutete. Dann bezog ich den ganzen Kram wieder mit frischer Bettwäsche und schlich mit einem sauberen Nachthemd unter dem Arm in Richtung Bad. Eine reinigende Dusche würde mir sicherlich gut tun und mich ablenken. Zu meiner Verwunderung war der Flur schwach beleuchtet. Es rührte dann aber daher, dass die Wohnzimmertür halb geöffnet war. Durch sie drang der Schein der Stehlampe, welche beim Sofa stand. Ich änderte meinen Kurs und steuerte auf die Tür zu. Ich konnte gar nicht genau sagen, was mich auf diesen Kurs gebracht hatte. Vermutlich war es die reine Neugier, oder die Hoffnung, Inu mal anzustarren, wenn er es nicht wüsste. Da war es nämlich: Mein zweites Problem, welches mich schlaflos machte. Man kann einfach nicht ruhig in einem Bett liegen und schlafen, wenn der Kerl, für den man mittlerweile gewisse Gelüste hegte, auf der anderen Seite der Wand im Nebenzimmer hockte. Und noch schlimmer war es, dass man nicht einfach mal so an ihm rumsabbern durfte. Mal ehrlich, das war doch echt zum Ausrasten! Noch zwei oder drei Schritte weiter und ich hätte die Tür erreicht. Hätte ... „Kannst du nicht schlafen, Nina-chan?“, fragte er mich ruhig und so unerwartet, dass ich zusammenzuckte, als hätte man ein Kind beim Bonbon klauen erwischt. Scheiß-Ninja! Woher wusste der, dass ich mitten auf dem Flur gestanden hatte? Ich war doch echt mal leise gewesen. Der schlechte Lauschangriff war aufgeflogen und ich nun extremst maulig. Ich hatte mir soviel Mühe beim Anschleichen gegeben. Bei einem Normalsterblichen hätte das unter Garantie geklappt. Also legte ich die letzten Meter im Normalschritt zurück, stubbste das Türblatt an, auf dass sich die Tür sich noch ein Stück weiter öffnete und stand bedröppelt im Türrahmen. Auf dem Sofa saß Inu umringt von unzähligen Dokumenten und Schriftrollen, weil der Couchtisch für die Masse an Unterlagen wohl nicht ausreichte. Während er die Akten durchsah, notierte er gelegentlich etwas auf einem Block oder fütterte seinen Laptop mit irgendwelchen Daten, denn er tippte ständig darauf herum. Ziemlich viel Papierkram, was so ein Ninja anscheinend abzuarbeiten hatte. Ich wunderte mich schon ein wenig darüber. Aber er würde wohl schon wissen, was er da zu tun hätte. Von seinem ärmellosen Sweatshirt mit Kapuze und einer kurzen Stoffhose hatte er sich noch nicht befreit, aber die restliche Kleidung lag fein säuberlich auf einem Stapel neben seiner Futonmatte, welche einen Platz nahe des Fensters gefunden hatte. Das war nicht viel nackte Haut von ihm, was es zu sehen gab, aber mir reichte das schon wieder, um mich schwach werden zu lassen. „Ja, also … ich wollte nur mal Duschen...“, stotterte ich mir zusammen. Meine Güte, das klang ja schon fast wie eine Entschuldigung, mitten in der Nacht das Bad zu blockieren. Das hier war meine eigene Wohnung. Ich musste mich vor niemanden rechtfertigen. Daher machte ich auf dem Absatz kehrt und nahm eine selbstbewusste Pose ein. Der sollte bloß nicht denken, dass ich neugierig gewesen war, auch wenn es der Wahrheit entsprach. Aber vermutlich hatte er auch diese Tatsache durchschaut und lachte sich unter seiner Kapuze gerade ins Fäustchen. Über die dumme Nina-chan, die ganz durcheinander war und die man so herrlich verschaukeln konnte. Wenn es um Inu und meinen Gefühlscocktail ging, war mittlerweile hin- und hergerissen zwischen total verfallen und extremst sauer. Im Bad schob ich meinen Duschhocker zurecht, suchte mein Lieblingsshampoo aus dem Regal und drehte die Dusche weit auf. Vor ein paar Jahren hatte ich den Standardduschkopf gegen eine Regendusche ausgetauscht. Nun tropften unzählige dicke, heiße Tropfen wie bei einem Sommerregen auf mich hernieder. Herrlich! Sie wuschen den Schweiß aus den allerletzten Poren, entwirrten meine zerzauste Lockenpracht und massierten meine Schultern und Nacken. Während es so auf mich entspannend herabregnete, hatte ich mich mit dem Rücken an die Wand gelehnt. In den ersten Sekunden waren die Fliesen abstoßend kalt und ließen mich jedes Mal zusammenzucken. Doch schon einen Wimpernschlag später erwärmten sie sich durch die eigene Körpertemperatur und ließen diese entspannte Sitzhaltung zu. So hätte ich stundenlang auf meinem Hocker unter der Dusche sitzen können. Mit geschlossenen Augen spüren, wie das Wasser Ruhe brachte, die Sorgen weg wusch und einen schläfrig machte. Leider endete die Duscherei viel zu früh damit, dass die Wassertherme leer war. Das heiße Wasser war nur noch lauwarm. Kurz darauf floss es kalt nach. Müde drehte ich den Wasserhahn zu. Ich war in keinster Weise motiviert, mich von meiner Bequemlichkeitshaltung zu erheben, die Haare zu trocknen und dann wieder ins Bett zu gehen. Wie spät mochte es mittlerweile sein? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer. Vermutlich würde es schon bald dämmern. Ich fröstelte, wie ich aus meiner Duschkabine hinausstieg, föhnte die Haare nur soweit, dass sie zwar noch feucht, aber nicht nass waren, zerrte mir das Nachthemd über und war unschlüssiger Dinge. Ob Inu mit seinem Papierkram langsam mal fertig wäre? Mit dicken Backen starrte ich mein Spiegelbild an und beobachtete, wie ich die Luft von einer Backe in die andere schob und wieder zurück. Alberne Grimassen voller Langeweile. Oder würde Inu schon schlafen? Nein, völlig ausgeschlossen bei dem Doppelzentner Kaffeekonsum. Eine Mischung aus Seufzen und Schnaufen entfuhr mir unkontrolliert laut. Doch es war mir gleich. Einerseits war ich totmüde, anderseits total aufgekratzt, dass ich kaum einschlafen könnte. Unzufrieden mit meiner Stimmungslage wechselte ich zur Küche. Ein Mitternachtssnack würde meine Gehirnzellen anregen und mir eine Idee geben. Meine Augen durchforschten den Kühlschrank von oben bis unten, aber da war nichts, was meinem holen Zahn Befriedigung verschaffen könnte. Wieder schnaufte ich genervt auf. Diese Nacht war echt mal zum Kotzen. Ein Grummeln entwuchs mir aus unbekannten Gefilden meines Gefühlssystems. Ich hatte schlechte Laune und steckte voller überschäumender Energie. Die musste man doch zu irgendetwas gebrauchen können. Ich entkorkte eine Rotweinflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Diese Sorte hatte ich neu beim Weinhändler entdeckt und schmeckte sogar noch besser, als das Etikett versprach. Zufrieden leckte ich mir über die Lippen, schmeckte das Aroma von Sauerkirschen und träumte dem Bouquet von Sommerwind hinterher. Passend zu der heißen Regendusche von Außen, wärmte dieser Traubenjahrggang auch herrlich von Innen. Ein wohliges Kribbeln zog sich von meiner Bauchgegend durch meinen ganzen Körper und entspannten ihn auf eine ganz eigene Art und Weise. Ich fühlte mich super und abenteuerlustig. Also wohin mit der Energie? Der Teufel ritt mich, als ich zum Wohnzimmer ging, die Tür sachte aufstieß und in dem Moment beschloss, meine Energie einfach an meinem selbst eingeladenen Gast auszulassen, indem ich den einfach ein bisschen ärgern würde. Immerhin war er der Übeltäter meiner schlaflosen Phasen. Inu war gerade dabei, seine ganzen Papierstapel wieder zu einem tragbaren Haufen zusammen zu schichten, als seine Kapuzenöffnung zu mir aufsah. Obwohl er nichts sagte, glühte ein imaginäres Fragezeichen über seinem Kopf, wie ich da so in der Tür stand und ihn wie ein gefundenes Fressen anstierte. Dabei störte es mich keineswegs, wie ich hier nur mit einem Nachthemd bekleidet und einer Pulle Rotwein in der Hand stand. Zur Erinnerung: Das hier war MEINE Wohnung! Da konnte ich machen, was ich wollte. „Was machst du da eigentlich?“, fragte ich, um meinen Überfall zu rechtfertigen. „Nichts, was ich dir erzählen dürfte,“ war die zuvorkommende Antwort, die nichts aussagte. „Hm, hab' ich mir fast gedacht.“, gab ich mich übertrieben grummelig und setzte mich einfach ganz ungeniert dreist neben ihn, zog dabei die Knie an und balancierte mich am langen Weinflaschenarm aus. Mehr Peinlichkeit und Plumpheit ging eigentlich nicht. Doch was soll's? Das war immerhin mein Sofa. MEINES! Dabei unternahm ich den halbherzigen Versuch, ihm über die Schulter auf den Laptop zu schauen. Natürlich gelang es nicht wie gedacht, da er in dem Moment zur Seite rutschte, den Laptop zuklappte und er es sich selber einhandelte, dass meine Bewegungslegasthenie mich nur noch näher an ihn heranbrachte. Ich fiel nämlich wie ein Mehlsack zur Seite und landete mit meiner Wange an seinem Oberarm. Mein Haut vereinte mich mit seiner Haut. Was mich bei der Annäherung durchfuhr, war ein elektrisches Prickeln, wie ich es seit langem nicht mehr gespürt hatte. Es war aufregende und erregend zu gleich. Und erst jetzt wurde mir bewusste, wie sehr ich es auch in all den Jahren des Alleinseins vermisst hatte, berührt und liebkost zu werden. Mein peinliche Berührtheit überspielte ich mit einem unbeholfenen Schluck aus der Weinflasche. Der knallroter Kopf sollte ja nicht darauf hinweisen, wie verlegen ich war, sondern dass die Gesichtsfarbe eindeutig vom Alkohol stammte. Sollte er doch von mir und der Weinflasche denken, was er wollte. Ewig hätte ich hier liegen können, jedoch irritierte mich Inus Verhalten. Der war nämlich urplötzlich zu Salzsäule erstarrt und gab keinen Ton von sich. Weder, ob es in Ordnung war, oder ob er mein Anschmiegen absolut daneben fand. Also nuschelte ich mir ein „Tut mir leid.“ heraus und wollte mich aufrichten, vergaß aber die Pulle in meiner Hand. Ein roter Weinschwall platschte heraus. Auf meinen Teppich, mein Sofa und mich und Inu. Es traf seine Handinnenfläche. Und auf einen Schlag kippte die Stimmung von Schönwetter auf unheimlich düster. Es war nicht so, dass er sich wegen des roten Traubensaftes aufgeregt hätte. Aber die rote Flüssigkeit musste ein Kopfkino der Superlative bei ihm losgetreten haben. Der Wein tropfte wie dunkelrotes Blut aus seiner Hand heraus und er stierte und stierte. Sein Atem ging plötzlich so schwer und keuchend, dass es nicht zu übersehen war. Und wenn ich vorhin gemeint hätte, er wäre zur Salzsäule erstarrt, dann gab es nun noch eine Steigerung hin zu stocksteif. Unerwartet heftig ballte er die blutrote Hand so fest zusammen, dass sich die Fingernägel ins Fleisch bohrten und sich der letzte Tropfen Wein aus dem Inneren herauspresste. Dabei drehte er den Kopf zur Seite, als fühlte er tiefste Schuld und Traurigkeit. Auf keinen Fall wollte er seine Faust erblicken. Er nahm nichts mehr wahr. Alles um ihn herum schien weit weg und außerhalb seines Traumas zu liegen. Das war gruselig. Schockiert sprang ich auf, entschuldigte mich mehrmals völlig überfordert und schaffte es dann echt noch mit meiner Hektik, dass die Weinflasche entzwei ging und ich eine Schnittwunde hatte, die passend zum Weinblut nun richtig blutete. „Sherenina, du dusselige Kuh, was machst du denn da?“, schallte ich mich die ganze Zeit selbst tonlos. „Inu hat einen Traumaausbruch und du machst alles nur noch viel schlimmer.“ Ich kannte solche Traumata aus meiner alten Beziehung. Die kamen und gingen, wie sie wollten. Immer unerwartet. Die Ninja-Bande konnte noch so eine unberührte, so emotionslose und hartgesottene Fassade aufbauen und präsentieren, innerlich gab es sie das gar nicht. Da waren viele seelische Wunden, die zwar vernarbten, aber nie verheilten. Es gab eine ganz unscheinbare Sache, die alte Erinnerung zu Kurzschlusshandlungen auslösten und dann war meist Land unter. Aber so schlimm hatte ich es noch nicht miterleben müssen. Ich stratzte zur Küche, um wenigstens einen feuchten Lappen zum Aufwischen zu holen und meine Hand verbinden zu können. Wie Inu aus seiner Bedrollie entkommen würde, machte mir Angst und ich betete, dass er das auch von allein könnte. Ich kannte die Vorgeschichte zu dieser Reaktion nicht, und so wusste ich auch nicht, wie man ihm hätte helfen können. So unglaublich sauer auf mich selbst, diesen Stress produziert zu haben, suchte ich einen Eimer und einen Lappen zusammen. Der Schnitt auf der Haut war nicht tief. Er würde schnell verschorfen und abheilen. Für die Weinflecke würde ich wohl Salz benutzen müssen. Und Inu? Ich hatte keinen Plan. Als ich wieder zurück ins Wohnzimmer kam, war der Spuk schon wieder vorbei. Inu hatte die Scherben so weit es möglich war auf einer alten Zeitung aufgelesen. Schweigend kniete ich mich dazu und drückte auf den Rotweinflecken auf dem Teppich herum, bevor ich Salz darüber gab. Ob es die Farbe des Teppichs mit heraussaugen würde, war mir eben gerade Zweierlei. „Mir sollte es leid tun, nicht dir. Zeig her!“, forderte er mich betroffen auf und griff nach meiner Hand. „Das ist jetzt nicht so mein Spezialgebiet.“, folgte der Versuch einer Entschuldigung, die gar nicht gebraucht wurde. Seine Worte hatten mich verwirrt und so wartete ich stumm ab, was nun passieren würde. Ein paar wenige Fingerzeichen und seine Finger leuchteten grün. So etwas hatte ich noch nie gesehen und fand es total abgefahren, wie dieses grüne Licht Besitz von meiner Wunde nahm, als seine Fingerspitzen darüberfuhren. Es brannte ein wenig, konnte aber nicht als unangenehm bezeichnet werden. Kurz darauf verschloss ein dickes Schorf den Hautschnitt. Ich war so erstaunt, dass ich gar nichts sagen konnte. Doch Medizinprofis mussten diese Technik wohl besser beherrschen, denn ich wurde rasch aufgeklärt: „Ich habe das nie so richtig trainiert. Und du hast kein Chakra. Sonst wäre der Schnitt nun verschwunden.“ Perplex starrte ich immer noch auf meine Wunde und war trotzdem mehr als beeindruckt, auch wenn Inu meinte, es hätte nicht gut funktioniert. Zu zweit beseitigten wir meinen Weinflaschenunfall und standen nun etwas verloren im dunklen Flur herum, da Inu beim Verlassen der Küche das Licht gelöscht hatte und die Tür zum Wohnzimmer nur einen Spalt breit angelehnt war. Das schlechte Gewissen nagte an mir und war wohl auch in der Dunkelheit nicht zu übersehen. „Alles wieder gut, Nina-chan?“ „Nichts ist gut. Ich hab dir echt Stress bereitet.“ „Nein, hast du nicht. Eigentlich bin ich drüber hinweg. Und manchmal kommt es einfach wieder...“ Ich ließ ihn nicht ausreden, denn ich konnte nicht anders, als einfach meine Arme um seinen Hals zu schlingen. Diese Nacht war eh alles schon schief gelaufen. Was sollte da noch weiter schief gehen? Aber nun waren meine Antennen empfindsamer. Da war es wieder. Diese Salzsäulenhaltung bei Inu. Es war keine Ablehnung, sondern eine Überforderung. Warum auch immer war er es nicht gewohnt, so in den Arm genommen und getröstet zu werden. Das machte mich nun schon ein wenig traurig, weil ich mit meinem Sohn viele Gefühle teilten, um sie besser aushalten zu können. Zu meiner Familie gehörte Freud und Leid ebenso ganz dicht zusammen, wie man sich da auch zusammen wieder heraushalf. Deutlich konnte ich Inus aufgeregten Herzschlag spüren. Und als er zaghaft seine Arme und meine Hüften legte und seine Hände auf meinem Rücken ruhen ließ, war das etwas ganz unsicheres und vorsichtiges. Kurz darauf schmiegte er seinen Kopf an meinen. Am liebsten hätte ich ihn ewig so festgehalten. Aber ewig ist eine viel zu lange Zeit und einfach nicht machbar. „Ich will nicht allein in mein Bett zurück“, quengelte ich, weil ich diese Minuten in seinen Armen so kostbar fand und sie nicht aufgeben wollte. „Brauchst du auch nicht. Es dämmert schon. Hinlegen lohnt sich nicht mehr für dich.“, kam da der altbekannte Sarkasmus wieder bei ihm durch. Ich musste grinsen, löste meine Umarmung und strich mit einer Hand langsam über seine Schulterblätter. Dann wagte ich das Unmögliche. Ich fuhr mit meinen Fingern aufwärts, krallte sie in seinen Kapuzenstoff und zog langsam an jener, dass sie sein Haupt freigab. Die Dämmerung verwischte alle Konturen zu einem Grauschleicher. Sie hatte noch nicht die Helligkeit, die Farben in die Welt zu zaubern. Bis auf Inus Umrisse war da nichts zu erkennen. So konnte ich nur seine kurzen, strubbeligen Haare mit den Fingern ertasten, und Inu ließ es einfach so geschehen. Dann vergrub ich mein Gesicht an seiner Schulter und genoss still und leise. Es war das wilde Piepen des Radioweckers aus meinem Schlafzimmer, das uns trennte. Es war schrill und laut und nervig. Die Nacht war endgültig vorbei. Langsam wurde es heller und wir verabschiedeten uns wortlos. Gleich würde Yuuki verschlafen aus seinem Zimmer gekrochen kommen und in der Küche seine Müslischüssel suchen. Vielleicht würde er sich noch wundern, weshalb ich hier in einem Nachthemd auf dem Flur stehen würde. Aber kommentieren würde er das nicht. Aber vielleicht würde es ihn noch interessieren, ob unser Gast unsere spartanische Frühstückstafel mit seiner Anwesenheit bereichern würde. Ich glaubte nicht daran. Der morgendliche Alltagswahnsinn würde nur in wenigen Augenblicken wieder von uns allen Besitz ergreifen und gnadenlos in den Tagesablauf übergehen. Wie sollte ich nach so einer Nacht den kommenden Tag überleben? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)