Kalendertage von sakemaki (Der Tag, an ...) ================================================================================ Kapitel 27: 27 – Der Tag, an dem die Masken tanzten --------------------------------------------------- Der Januar hatte meinem Privatleben einen absolut desaströsen Monatsabschluss beschert, so dass ich mit den Auswirkungen noch den lieben langen Februar beschäftigt war. Natürlich war ich erwartungsgemäß meinen Küchenjob losgeworden. Es war nicht so, dass mich meine Chefin nicht mochte oder gar behaupten würde, ich hätte schlechte Arbeit abgeliefert. Ganz im Gegenteil: Sie war sehr zufrieden gewesen. Doch sie war dem Aberglaube stark verbunden und fest davon überzeugt, den übelsten Dämon in mir gesehen zu haben. Und einen Oni wollte man nicht im Hause haben, sondern vertrieb ihn mit geworfenen Bohnen. Ein Schalk, wer Böses dabei dachte, da am 3. Februar passend dazu das Bohnenfest im gesamten Feuerreich abgehalten wurde. Glück im Unglück, dass ich mir an jenem Tage eine dicke Erkältung eingefangen und beschlossen hatte, das Bett nicht zu verlassen. So ersparte ich mir, zur Zielscheibe von Bohnenmunition zu werden. Viel schlimmer aber war, dass es mindestens immer eine Person gab, die zur falschen Zeit am falschen Ort war. So lief just zu dem Augenblick eine ehemalige Mitarbeiterin aus meinem Kontor durch die Straßen, als ich von den ANBU ins Gefängnis abgeführt wurde. Und ausgerechnet dieses Weib war eine Klatschpresse vor dem Herrn. Da sie alles live mit angesehen hatte, machte meine Inhaftierung schnell bei allen die Runde, die mich kannten. Es ging sogar soweit, dass ich aus meiner Heimat angerufen wurde, ob das Gerücht denn wahr wäre. Es war eine harte und langwierige Arbeit, die ganze Geschichte richtig darzustellen. Und ich lernte, dass ein Gerücht längere Beine hatte und viel spannender war, als hingegen die Wahrheit, die ach so langweilig und uninteressant war. Von wegen: Lügen haben kurze Beine. Pfff... Das hatte ich nun am eigenen Leibe begriffen. Sicherlich hätten mich diese beiden herben Rückschläge sehr aus der Bahn geworfen, denn die kalte Wohnung und das graue Wetter taten obendrein ihr Übriges, alles negativ zu sehen. Doch Kakashis Worte hatten mich beflügelt. Ich strahlte heller als die Sonne und schwebte gefühlt einen guten Meter über dem Boden. So leicht und unbeschwert fühlte ich mich. Es war wie ein zweiter Liebesschub, der mich durchfahren hatte. Da vergaß ich doch glatt alles um mich herum, hatte nur noch hormongesteuerte Gefühlsduseleien und versaute Begierden im Kopf und dachte nicht an Morgen. Man gut, dass ich derzeit kaum soziale Kontakte in meiner näheren Umwelt hegte. Bestimmt wäre ich allen nur auf die Nerven gegangen. Und bestimmt hätte ich mich überall verplaudert. Ebenso wie der Januar endete, ging es munter im Februar weiter. Das Wetter bescherte uns nur einen kurzen Aufwind an milden Temperaturen. Der Schnee taute einige Tage lang ab, nur um in der Monatsmitte bei der nächsten Kaltfront zu dicken Eisschichten zu gefrieren. Da passte es doch wie die Faust aufs Auge, dass Yuuki sich auf dem Wege zur Schule den Knöchel brach. Chakrakontrolle wollte nun einmal gelernt sein. Und so sauste er von einem vereisten Dach hinab in die Tiefe. Kinder hörten einfach nicht auf Verbote von Erwachsenen, wenn man ihnen sagte, es wäre besser, bei solch einem Wetter nicht über die Dächer zu springen. Warum machte man ihnen eigentlich überhaupt Verbote? Glücklicherweise bremste ihn ein Balkon und verhinderte das Allerschlimmste. Man gut, dass ich nicht Augenzeuge dieses Unfalls gewesen war. Ich wäre wohl tausend Tode gestorben. So erhielt ich nur einen sachlichen Anruf des Krankenhauses mit der nüchternen Aussage, mein Sohn würde gerade mit einem komplizierten Knochenbruch behandelt werden. Ich sollte doch bitte einmal vorbeikommen und noch ganz nebenbei einen Haufen Formulare ausfüllen. Und ein bisschen Geld für die Arztrechnung wäre auch nicht schlecht, wenn ich das anbei hätte. Ohje, das hätte ein heftiges Loch in die Haushaltskasse gerissen. Aber alles Jammern vor Ort half bekanntlich nichts. Das Kind musste ja versorgt und gesund werden. Doch ein paar Tage später erhielt ich eine Gutschrift vom Krankenhaus: Einheimische hätten Anspruch auf kostenlose Versorgung. Nur alle Auswärtigen hätten zu zahlen. Das wusste ich bis dato gar nicht. Aber da lobte ich mir wieder die richtige Entscheidung, Yuuki hier in Konoha eingetragen zu haben und nicht irgendwo im Erdreich. Wie dem auch sei: Ich war noch nie so schnell über Eisflächen geschlittert, wie an dem besagten Morgen, der so grau und nasskalt war. Er passte einfach auf unser familäres Formtief wie die Milch in den Kaffee. Yuuki blieb einige Tage stationär zur Beobachtung, denn Dank Chakraheilung, war der Bruch schon nach wenigen Stunden abgeheilt, aber noch nicht stabil. Ich wünschte, ich hätte auch so ein Chakra im Körper. Nun stand ich da also mit meiner überschäumenden Energie und einer sturmfreien Bude. Nicht nur das: Ich war sogar Strohwitwe, wenn ich mich überhaupt so nennen durfte, denn ich war zwar nicht verheiratet, aber total allein. Kakashi war weit, weit weg. Auf irgend so einer Sitzung in „Dingenskirchens-du-weißt-schon“. Ich hatte mir den Namen nicht merken können, doch auf der Landkarte lag das am Arsch der Welt, und bis Hokage-sama hier jemals wieder aufkreuzen würde, wären mindestens eine ganze Woche gelaufen. Voller Tatendrang aber ohne Plan schlenderte ich durch das vereiste Konoha und suchte nach Beschäftigung. Zum Glück war der Februar ein kurzer Monat, auch wenn sich selbst schlanke 28 Tage finanziell gesehen wie Kaugummi ziehen konnten. Meine Hand spielte in meiner Jackentasche mit der Geldbörse und klimperten mit dem bisschen Inhalt herum. Nur noch wenige, kleine Geldscheine und Münzen steckten in meinem Portmonee. Das musste noch bis zum Monatsende reichen, und das waren noch gut acht Tage und Nächte. Im Kopfe überschlug ich, was ich noch an Lebensmittel für die letzten Tage benötigen würde und stellte ernüchtert fest, dass ich mir von dem Restgeld nur einen klitzekleinen Sprung leisten konnte. Argh, das war hart. Ich trauerte den Tagen nach, wo ich ohne Sorgen nach Herzenlust shoppen gehen konnte ohne den Taler zweimal umdrehen zu müssen. Wenigstens änderte sich das Wetter mal in die Richtung, wie es für den Februar im Erdreich angemessen war: Der Himmel riss auf. Die Sonne erwärmte die Luft auf milde 15° Celsius und taute den Boden auf. Herrlich. Es roch schon nach Frühling, obgleich die Kirschbäume bis zu ihrer Blüte bestimmt noch gute zwei, wenn nicht sogar drei Wochen bräuchten. Im Eingangsbereich der Touristeninformation wanderten meine Augen über das Veranstaltungsbrett und blieben an einem Flyer hängen. Ein Matsuri in Otafuku! Genau heute. Das klang doch mal nach Abwechselung. Man muss dabei erwähnen, dass in Otafuku immer irgendwie „Party“ war. Viele Touristen kamen in den nicht weit von Konoha entfernten Ort, um zu feiern, sich die vielen Verkaufsstände anzusehen oder einfach nur viel Geld beim Glücksspiel zu lassen. Aber bei dem Matsuri war es etwas anders. Da wurde nach dem, was ich so gehört hatte, eine feierliche Prozedur im und am Schrein abgehalten. Ich hatte so etwas noch nie gesehen oder dem gar beigewohnt. Also war ich gespannt wie ein Flitzebogen. Meine kurzzeitig geknickte Stimmung nach dem Kassensturz hellte sich sofort wieder auf. Ich beschloss in einer Kurzschlusshandlung all mein letztes Geld zusammenzukratzen und einen Bahnfahrkarte zu kaufen. Also ging es schnurstracks nach Hause, um in einer großen Tasche etwas Verpflegung und Krimskrams einzupacken. Keine halbe Stunde später hatte ich am Ticketschalter eine Fahrkarte erstanden und saß zu meinem Leid im total überfüllten Zug. Obwohl ich mich wie eine Ölsardine in der Fischbüchse auf meinem Platz quetschte, blieb ich guter Dinge und zückte mein Handy. „Ich fahre jetzt nach Otafuku! :-) Und was treibst du so?“ „Was willst'n da? o_O“, kam es prompt zurück, doch die Antwort blieb ich Kakashi schuldig, denn der Zug erreichte keine fünf Minuten später den Zielort. Und es war voll. Selbst den kleinen Bahnsteig hätte man wegen Überfüllung schließen können. So viele Menschen hatte ich selten an einem Ort erlebt. Es war ein Drücken und Schieben von Menschenleibern und ein gegenseitiges auf die Füße treten. Nun wusste ich auch, warum man trotz der frischen Temperaturen Yukata tragen konnte. Frieren war bei dieser aufgezwungenen, körperlichen Nähe unmöglich. Die Straßen waren festlich mit bunten Fähnchen-Girlanden geschmückt. Überall standen Verkaufsbuden herum und boten Fingerfood, Trödel und Glücksspiel an. Das war an sich nicht ungewöhnlich, doch heute gab es eine Besonderheit. Ich ließ mich vom Strom der Menschen treiben und schnappte in dem Stimmengewirr alle notwendigen Einzelheiten zu diesem Matsuri auf. In dem Schrein inmitten des Ortes wurde die Göttin der glücksbringenden Zahlen verehrt. Eine Zahlen-Göttin. Was es nicht alles gab. Ich staunte. Am letzten Wintervollmond wurde ihr zu Ehren ein feuchtfröhliches Fest veranstaltet. Es begann mit einem lautstarken und trinkfestem Umzug durch die Straßen und endete dann im Schrein, wo ein ganzer Tag und eine ganze Nacht lang am Stück getanzt wurde. Und zum Abschluss wurde aus der Lotterie eine sechsstellige Zahl gezogen, die dem Gewinner einen großen Jackpot bescheren würde. Aha, alles klar. Kein Wunder, dass hier der Bär los war. Ein Geldsegen war immer brauchbar. Und dann ging es auch schon los. Unzählige Männer traten aus dem Schrein heraus und schleppten auf ihren Schultern eine schwere Bahre aus Holz mit sich herum, welche über und über mit bunten Spruchbändern und Ema-Tafeln behängt war. Wer Ema-Tafeln nicht kannte: Es waren Holzplättchen, auf denen man Wünsche schrieb und hoffte, dass sie in Erfüllung gingen. In diesem Falle standen nur sechsstellige Nummern auf den Schildern. Die Schreiber erhofften sich wohl, dass es die Glücksnummer zum Jackpot wäre. Trommeln schlugen einen wilden treibenden Rhythmus, der durch Mark und Bein ging. Lautstarker monotoner Gesang dröhnte aus den Kehlen der Feiernden und wurde von kräftigem Applaus begleitet. Der Geruch von Shôchû benebelte die Sinne, obwohl man noch gar keinen Tropfen dieses stark alkoholhaltigen Getränkes konsumiert hatte. Ich schloss mich der Lebensfreude an, die hier bedingungslos herrschte, und vergaß alles, was mich traurig machte und stresste. Ich vergaß für den Moment Yuukis Knöchel, meine Arbeitslosigkeit, die leere Haushaltskasse und wie oft mich Kakashi kommentarlos und unzähligen Rätseln allein ließ. Längst hatte ich mir auch eine Flasche Shôchû organisiert und kippte sie völlig unkontrolliert in mich hinein. Das war eine fatale Sache. Immerhin wohnten gute 45% diesem Branntwein inne. Nebenbei kaute ich an einigen würzigen Grillspießen, die so feurig waren, dass man gezwungen war, große Mengen an Shôchû zu trinken. Aber es war so verdammt lecker. Mein Zeitgefühl war verloren. Es war wohl noch nicht einmal eine gute Stunde vergangen, da war ich schon voll wie zwanzig Haubitzen und fühlte mich selig. Das Vibrieren und Klingeln meines Handys in der Jackentasche bemerkte ich nicht mehr. Der Menschenstrom kam nun samt heiliger Bahre am Schrein wieder an und wanderte schnurstracks hinein. Dort wurde sie in einer großen Gebetshalle aufgestellt. Alle drängten hinein, und als ich mich auch endlich durch das Eingangstor gequetscht hatte, sah ich, dass dort am anderen Ende der Halle eine kleine Bühne aufgebaut worden war. Daneben war hinter einem Vorhang eine provisorische Garderobe untergebracht. Ich suchte mir eine Nische und beobachtete stumm die ganze Zeremonie. Man zelebrierte hier ohne Pause Tänze, die immer einer bestimmten heiligen Ziffer gewidmet waren. Das sollte Glück bringen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass diese Ziffern auch morgen tatsächlich gezogen wurden. Dazu trugen die Tänzer eine weiße Yukata aus schwerem Stoff und kunstvoll geschnitzte Holzmasken in Weiß, Schwarz und Rot. Sie zeigten die unterschiedlichsten Gefühlswelten von Männern und Frauen. Da war Traurigkeit und Fröhlichkeit, Wut und Frieden, Hass und Liebe zu finden, und noch so viele mehr. Jeder könnte mittanzen, wenn man denn wollte. Tanzschritte gab es nicht. „Express yourself“ war die Devise. Den Takt gaben die Sanduhrtrommeln vor. Die Melodie quietschte aus Drachenflöten und Hichiriki-Blasinstrumenten. Ein Rausch an Farben und Tönen. Eine totale Reizüberflutung der Sinne. Irgendwer packte mich sanft an den Händen, zog mich mit sich. Plötzlich hatte auch ich eine weiße Yukata am Leibe und eine Holzmaske im Gesicht. Ich war fast blind durch die Maske und bewunderte in der Sekunde Kakashi und Tenzô, wie die beiden mit solch ähnlichen Masken, wie es sie bei der ANBU gab, überhaupt etwas von ihrer Umwelt erkannten. Der Gedanke war schon wieder verpufft, als ich ins Rampenlicht trat. Zu welcher Ziffer ich auf der Bühne zwischen anderen Leuten ungelenk hampelte, war mir schleierhaft, aber es war ein riesiger Spaß und zugleich doch sehr schweißtreibend. Also war ich froh, als ich wieder in einer Wandnische erschöpft auf dem Boden kauerte. Wie durch eine Nebelwand starrte ich in das tanzende Gewusel. Meine Ohren waren von den schrägen Tönen der Musik längst taub. Plötzlich stupste mich etwas in die Seite, doch ich reagierte zuerst gar nicht, da man zwischen den vielen Feiernden immer irgendeinen Ellenbogen zwischen die Rippen bekam oder ein fremder Fuß auf die eigenen Zehen trat. Doch das Stupsen hörte nicht auf und verstärkte sich sogar. Durch den Alkohol motorisch eingeschränkt drehte ich mich aus meiner Sitzposition mit zu viel Schwung herum und landete auf allen Vieren wie ein Hund. Und genauso so einem Geschöpf blickte ich nun direkt in die Augen. Ein Hund. Ein Rotbrauner. Mit langer weißer Schnauze und einem Verband um Kopf und Brustkorb. Als Halsband trug er ein Konoha-Stirnband. Sein Rücken wurde von einer blauen Weste mit Henohenomoheji-Abzeichen verhüllt. „Ûhei!“, brüllte ich voller Freude heraus und gegen den Krach an. Dabei schlang ich für Ûhei so überraschend meine Arme um ihn, dass er kaum noch Luft bekam. Seine Zunge hing ihm aus dem Hals, die Lefzen schlackerten. Ich knuddelte ihn zur Begrüßung wie einen Teddybären. Als dann mein Kuschelopfer wieder Herr seiner Sinne war, bekam ich zu hören: „Du bist nicht ans Telefon gegangen. Da sollte ich mal nach dir schauen, meinte Kakashi. Du ziehst wohl das Pech an, wie ein Magnet...“ „Wie bitte?!?“, fiel ich ihm lallend ins Wort, denn ich fühlte mich super und konnte garantiert gut auf mich selber aufpassen. Aber war doch niedlich, dass er sich Sorgen machte. Dann kramte ich nach dem Handy in der Tasche. Hui, 19 ungelesene Nachrichten und 11 Anrufe in Abwesenheit. Pff, man könnte glatt den Eindruck bekommen, um mich wurde sich nicht gesorgt, sondern ich wurde kontrolliert, weil weit weg in der Ferne jemand tierische Eifersuchtswellen schob. Aber auch das fand ich in meiner Besoffenheit irgendwie total niedlich. So viele Nachrichten und Anrufe … Da hatte ich ja etwas verpasst in der kurzen Zeit. Moment mal! Kurze Zeit? Ungläubig starrte ich auf die Uhranzeige. Es war bereits mitten in der Nacht, und ich war doch gegen Mittag hier angekommen. Da war doch glatt der halbe Tag an mir vorübergezogen und ich hatte es gar nicht gemerkt. Hier in der Halle war noch dieselbe Stimmung wie zu Beginn. Mühelos und ungezwungen tanzte man hier weiter vor sich her, als wäre man noch taufrisch. Ûhei zerrte mit der Schnauze an meinem Ärmel und kläffte dann: „Lass uns mal rausgehen!“ Ich torkelte ihm hinterher, erreichte die Eingangstür und wurde von der kühlen Nachtluft getroffen wie ein Faustschlag in die Magengrube. Der Effekt war derselbe. Mein Mageninhalt machte eine Kehrtwende und suchte seinen Weg obig wieder hinaus und verschönerte nun das Hofpflaster mit einem stinkenden Fleck. Boah, war mir schlecht. Feiern und saufen hatte ich seit Jahren nicht mehr gemacht. Die Auswirkungen spürte ich nun am eigenen Leibe. „Du solltest nach Hause fahren und die ausruhen...“, schlug meine tierische Begleitung vor. Ich schüttelte den Kopf. Der letzte Zug nach Konoha war sicherlich schon längst abgefahren. Außerdem wollte ich die Ziehung der Lotterie nicht verpassen. Gegen Ûheis Willen schlürfte ich über den Schreinvorhof durch das Torî und dann in Richtung Ortskern. Mich selbst tröstend stellte ich fest, dass ich wohl nicht die einzige Schnapsleiche war. Auf dem Platz hatten sich so einige angesammelt, die besoffen waren und auf dem viel zu kalten Boden ihren Rausch ausschliefen. Ich fand in einem spartanisch eingerichteten Imbiss noch einen freien Platz, setzte mich und legte dann den Kopf auf die Tischplatte. Müde starrte ich mit leerem Blick umher. Ich wollte mich nicht mehr bewegen. Wenigstens gab es Spannendes zu beobachten. Gegenüber auf der anderen Straßenseite hatten sich am Eingang einer dunklen, schmalen Hinterhofgasse zwei Liebende gefunden. Und das nicht zu knapp. Wild küssten sie sich. Man sah nicht nur ihre nackten Schultern, sondern auch ihre wohlgeformte, schmale Oberweite, wo sie gierig massiert wurde. Als ihr Mund in die Tiefe fuhr und er voller Erregung die Augen schloss, so war es doch mehr als eindeutig. Spätestens als er sie dann schnell und heftig von hinten nahm und vereinzeltes Stöhnen über die Straße herüberwehte, war es nicht mehr zu verbergen, womit man sich dort drüben auf der anderen Straßenseite beschäftigte. Und es schien die beiden auch nicht zu stören, dass sich ein kleines Publikum gefunden hatte, dass aus allen Ecken und Winkeln verschämt hinüber blinzelte und und mit hochroten Köpfen zusah. Es war keineswegs billiges Gerammel, sondern hatte eine gewisse Erotik und Leidenschaft inne, wie sie es dort drüben trieben. Da hatten zwei wirklich Spaß. Ich konnte meinen Blick vor Antriebslosigkeit und Neugier zugleich gar nicht abwenden, kaute auf meiner Unterlippe und kämpfte gegen das verlangende Brennen meines Unterleibes an. So was wollte ich auch! Jetzt sofort! Mein Körper gehorchte mir gar nicht mehr. Mit glasigen Augen lag ich auf der harten Holztischplatte und hing versauten Gedanken nach. Spürte die strähnigen Haare in meinem Gesicht. Spürte, wie mir Sabber aus dem Mund lief, weil ich vor Müdigkeit und Schwindel kaum noch den Unterkiefer bewegen konnte. Spürte, wie die Feuchtigkeit meinen Slip durchnässte. Ich musste aussehen wie eine billige Straßennutte. Oder wie es Ûhei passend kommentierte: „Wie eine läufige Hündin. Ich dachte immer, der Gipfel der Perversion wäre es, wenn man mit dem Flirtparadies öffentlich rumläuft. Aber du schlägst echt alles, Sherenina!“, wurde ich von einem Hund getadelt, der sich gerade im Fremdschämen übte und sich unter den Tisch verzogen hatte, damit ihn niemand sah und einen Zusammenhang zwischen mir und ihm herstellte. Von da unten ergänzte er noch: „Jetzt weiß ich aber, was euch beide verbindet!“ „Mir doch egal!“, blaffte ich zurück unter den Tisch und verlor mich in meinen Wünschen. „Warum ist er nicht da?“, plärrte ich dann laut los. Nach der Trunkenheit kam die Depression. Ûhei legte nur nachdenklich den Kopf schief. Ein Fragezeichen glühte über seinem Kopf auf. Mit den Abgründen der menschlichen Seele konnte ein Hund ebenso wenig anfangen wie mit der speziell weiblichen Sprunghaftigkeit. Da hing ich einer Erinnerung nach, als ich eines nachts in meinem Bett erwachte. Ich wusste gar nicht mehr so genau, was mich geweckt hatte. Mein Blick blieb an Kakashi hängen, der neben mir bäuchlings lag und schlief. Sein Gesicht halb im Kissen versenkt. Sich selbst irgendwie in der Bettdecke verheddert. Haare, die wie üblich in alle Richtungen standen und seinem Namen alle Ehre machten. Daran schloss sich sein langer Rücken an, der bis auf wenige kleine Narben so gut wie makellos und durchtrainiert war. Und das ganze endete bei seinem Knackarsch. Was war eigentlich passiert, dass sich ausgerechnet so ein Topmodel in mein Bett verirrt hatte? Zu mir, der Sofakartoffel namens Serenina. So was hatte ich nie und nimmer verdient. Ich fühlte mich so schlecht neben ihm. Total grundlos. Aber es trieb mir trotzdem eine Träne in die Augen. In meinem Wachtraum küsste ich seine Haut. Angefangen beim Nacken und … PLOPP! Meine Traumblase war geplatzt. Gerade in dem Augenblick, als ich blöd von der Seite angequatscht wurde. „Kann ich der holden Schönheit etwas Trost spenden?“ Holde Schönheit? Der meint doch garantiert nicht mich. Was für eine niveaulose Anmache! Verpiss' dich bloß, Idiot! Nein, der sah nicht schlecht aus, aber nicht so lecker wie mein Topmodel und überhaupt. Nichts konnte Kakashi ersetzten! Nichts und niemand! Ich versuchte, mit stumpfer Ignoranz das Problem zu lösen, doch der notgeile Typ ließ sich nicht abwimmeln. Ganz im Gegenteil. Da wurde doch glatt mein Handgelenk gepackt. „Alter, zieh Leine! Mein Freund ist Shinobi. Der kloppt dir das Hirn aus dem Schädel! Der kann das ohne mit der Wimper zu zucken!“, keifte ich in meiner üblichen Manier los, dass sich blitzartig alles in dem Imbiss zu uns umdrehte, was anwesend war. Hätte ich damals gewusst, welch Wahrheit in meinem letzten, unbedachten Satz lag, der traurige Inhalt hätte mich wohl schockiert. Aber zudem Zeitpunkt war ich noch unwissend. Und sowieso betrunken und neben der Spur stehend. Plötzlich jaulte der Unbekannte auf. Sämtliche Zähne, die Ûhei in seinem Maul zu bieten hatte, bohrten sich in das Handgelenk des Mannes. Nie hätte ich gedacht, dass ein Hund so viele Zähne in der Schnauze aufzuwarten hatte. Der Kerl suchte sofort das Weite, sobald Ûhei sein Maul wieder öffnete. Meine gute Stimmung war nun vernichtet. Und ich war wieder hellwach. Etwas in meinem Innersten trieb mich nun, endlich mal meine ganzen Nachrichten abzuarbeiten. Zwischen den Zeilen war wirklich herauszulesen, wie eifersüchtig und angepisst der war. Aber das würde er niemals zugeben. Niemals. Ich wollte Kakashi eine Nachricht tippen. Doch meine Finger trafen nicht die Buchstaben, sie ich gerne gehabt hätte. Die Worterkennung produzierte nur Müll. Entnervt gab ich auf. Ein Blick auf die Uhr plante meinen Tagesablauf neu. Viertel nach Vier in der Frühe. In einer Viertelstunde konnte man im Schrein seine Glücksnummer abgeben und hoffen, dass sie gezogen wurde. Angesäuert, von so einer Dumpfbacke belästigt und um einen schönen Traum gebracht worden zu sein, zog ich am Halsband Ûhei hinter mir her zurück zum Schrein. Dort angekommen nahm ich einen der blanko Losezettel, notierte so gut wie es eben ging Name und Adresse und grübelte über die sechsstellig Ziffer nach. Ich nippte an einer neuen Shôchû-Flasche und hoffte um Flaschengeisterleuchtung. Sollte ich ein Geburtsdatum nehmen? Hm, das würden sicherlich viele machen. Nein, das war blöde. Ich grübelte weiter. Dann kam es mir wie ein Blitzeinschlag. „Ûhei, hilf' mir doch mal auf die Sprünge!“, bat ich den Hund. Dann kritzelte ich die angepeilte Zahl auf den Zettel und gab ihn ab. Zuvor schlabberte ich noch einen großen Knutscher auf das Los, dass es das Schreinmädchen gar nicht annehmen wollte, weil sie sich ekelte. Große Chancen rechnete ich mir nicht aus, denn es kam dreimal dieselbe Ziffer in meiner Glückszahl vor. Trotzdem setzte ich mein komplettes Geld als Einsatz. Bescheuert, oder? Zum Glück hatte ich schon ein Rückfahrticket für den Zug im Voraus gekauft. So käme ich wenigstens nach Hause und müsste die zwölf Kilometer bis Konoha nicht zu Fuß laufen, wenn ich nachher mein ganzes Geld im Spiel verlieren würde. Übermüdet ließ ich mich auf der umlaufenden Veranda des Schreins nieder und schlief ein. Im Saal war es mittlerweile zu heiß und zu stickig. Die Luft dort stand förmlich und hätte scheibchenweise mit einem Spaten abgestochen werden können. Mein Körper brauchte Schlaf, und der wurde nun eingefordert. Gegen Mittag weckte mich meine Hundebegleitung. Ich sollte dringend in die große Halle gehen und die Lotterieziehung verfolgen. Das müsste ich gesehen haben. Halbwegs wieder fit trabte ich dem flinken Tier hinterher. Ja, das musste man wirklich gesehen haben. Damit meinte ich nicht die Ziehung an sich, obgleich die spektakulär war. Eine Frau hatte sich als Göttin verkleidet und tanzte graziös zu einer eindringlichen Melodie. Vier junge Mädchen saßen um die tanzende Göttin und spielten auf traditionellen Instrumenten. Immer, wenn das Lied stoppte, zog die Göttin aus einer großen Glasurne mit verbundenen Augen eine Kugel. Es waren bereits schon drei Kugeln gezogen worden und mir stockte der Atem. Das war doch der Beginn meiner Glücksnummer! Ich konnte es nicht fassen und staunte Bauklötze. Kein Zweifel. Die drei Kugel, die dort schon präsentiert wurden, stimmten überein mit dem, was ich auf mein Los eingetragen hatte. Das Lied verstummt. Die nächste Kugel wurde gezogen. Schon wieder! Nun gab es für mich kein Halten mehr. Ich stürmte rücksichtslos durch die Menschen, dass Ûhei Mühe hatte, mich in der Masse nicht zu verlieren. Die Göttin tanzte und tanzte. Meine Güte, hört denn dieses Lied niemals auf? Die Spannung war unerträglich, meine Nerven lagen komplett blank. Man sagte ja „Glück im Spiel, Pech in der Liebe“. Musste ich mir etwa bei dieser einmaligen Glückssträhne Gedanken machen? Wie in Zeitlupe glitt die Hand der Göttin in die Urne, wühlte zwischen den Kugeln und hielt die fünfte Ziffer in die Höhe. Ein Raunen ging durchs Publikum. Einige verließen enttäuscht den Saal, waren es doch nicht ihre Treffer gewesen. Ich hingegen war schockiert. Ein Treffer! Das war zu schön um wahr zu sein. Der letzte Tanz kam mir wie eine Ewigkeit vor. Sie tanzte und tanzte. Die Mädchen musizierten und musizierte, als hätten sie eine Nonstop-Schleife eingebaut. Ich schrie die Anspannung hinaus. Ich brüllte die Hand der Göttin an, als würde sie sich durch meine Schallwellen zu der Kugel in der Urne bewegen, die jetzt noch gebraucht würde. Das war OK, denn alle hier waren allmählich närrisch geworden. Es gab wohl ein paar Kandidaten, die eine ähnliche Nummer wie die meine notiert hatten, aber sich wohl an der letzten Ziffer unterschieden. Sieg und Niederlage hingen nun von der allerletzten Kugel ab. Der letzte Ton verklang. Es wurde mucksmäuschenstill in der Halle. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Niemand wagte auch nur einen Laut von sich zu geben. Gebannt glotzen alle auf die zarte Hand, die gleich in Form einer Kugel das Schicksal in eben jener hielt. Langsam streckte sich die Hand der Göttin in die Höhe und präsentierte das Ende der Ziehung. Wieder zog sich ein Raunen durch die Masse. Doch es gab nur eine einzige Person, die freudig aufkreischte und dann heulend zu Boden ging. Schluchzend hielt ich Ûhei in den Armen, der die Welt nicht mehr verstand. Die Menschen und ihre Gefühle waren für ihn einfach unergründlich. Und solche Gefühlsausbrüche hatte er bei seinem Herrchen noch nie erleben dürfen und müssen. Ich war fix und fertig und konnte es einfach nicht fassen. Das war meine Zahl! Alle sechs Ziffern stimmten überein! „009720!“, wurde noch einmal laut hörbar die endgültige Siegesnummer verkündet. Kakashis Registernummer hatte mir Glück gebracht. Einen Scheiß auf „Glück im Spiel, Pech in der Liebe“! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)