Secrets von Lenya_C_Sharizardon ================================================================================ Kapitel 1: A few years ago... ----------------------------- Es klopfte an der Tür. "Rei? Rei-Schatz, bist du da? Hörst du mich?" Ja. Ich höre dich. Aber ich will nicht antworten. Ich erinnere mich immer noch an meinen ersten Tag, als wäre es gestern gewesen. Es ist alles da in meinem Kopf, die Bilder vor meinen Augen, die Geräusche in meinen Ohren. Ich war etwa elf, fast zwölf, und lebte allein mit meiner Großmutter in Saffronia City. Sie war wie eine Mutter für mich. Nein, sie war mehr als das. Sie war meine ganze Familie. Alles, was ich noch hatte. "Rei, mein Liebes! Du musst aufstehen!" Langsam regte ich mich. Ich war doch noch so müde, warum wollte sie, dass ich aufstehe? Die Nacht war doch schon so lang gewesen, schließlich war ich stundenlang mit Fukano in einem kleinen Stückchen vor dem Wald gewesen, um zu trainieren. Schließlich war Fukano inzwischen auch alt genug dafür, und Zeit verlieren, das wollte ich bestimmt nicht. Je früher ich ihm das Kämpfen beibrachte, desto besser. Ich würde es schließlich brauchen. Ich würde ihn brauchen. "Ich komme jetzt rein, Liebes." So übermüdet wie ich war, realisierte ich kaum, wie meine Großmutter mit einem eigentlich unüberhörbaren Knarzen langsam die Tür aufschob und in mein völlig chaotisches und beinahe zerbombtes Zimmer trat. Wenigstens schien sie das nicht sonderlich zu stören. Sie räumte einfach wieder auf, wenn ich weg war, und wartete schließlich ab, bis es Tage später wieder so aussah. Tatsächlich bestand das meiste Chaos nur aus Büchern. Büchern über Mythologie, über Legenden und Geschichten über urzeitliche Pokémon, und Forschungen, Studien, die sich quer über den hölzernen Fußboden, Schreibtisch und nur noch vereinzelt in den Regalen ausbreiteten. An meinen Wänden hingen Landkarten und Malereien legendärer Pokémon und solcher, die ich besonders fand. Wie gern wollte ich unbedingt mal ein Dragonir sehen. "Rei-Schatz, wie sieht es denn nur wieder bei dir aus. Du befürchtest wohl, dass mir langweilig wird. Aber bei deinem klugen Kopf kann ich dir das einfach nicht übelnehmen, du kommst da ganz nach deinem Vater." Sie schaltete das Licht ein und der plötzliche Umschwung von Dunkelheit zu Licht schmerzte meine Augen. Ich zuckte zusammen und hielt schützend die Hand vor mein Gesicht, während ich allmählich aufwachte. "Granny, es ist noch früh … warum tust du das?" "Weil es sehr wichtig ist, mein Schatz." Während ich mir noch halb verschlafen die Augen rieb und mich aufrichtete, setzte sie sich zu mir aufs Bett. Soweit ich die Augen offenhalten konnte, sah ich einen Brief in ihrer Hand. Und auch ihr zum einen erfreutes und zum anderes besorgtes Gesicht entging mir nicht. "Was ist los?", fragte ich sofort und starrte auf den Brief, sobald ich die Augen ganz offenhalten konnte. "Von wem ist der? Ist was passiert?" "Nein, es ist nichts passiert", sagte sie und ließ den Blick von mir abgewandt auf den Brief sinken. Sie hielt ihn mir entgegen. "Das ist eben mit der Post gekommen. Es ist ein Brief von Professor Ōkido, er will dich unbedingt sehen." "Professor Ōkido?" Jetzt war ich definitiv wach. Ich kannte Professor Ōkido bereits. Dieser Wahnsinnige, der um jeden Preis versuchte, einfach alles über Pokémon herauszufinden und niederzuschreiben, besessen von der Vorstellung, eines Tages ein Gerät zu entwickeln, das die Daten zu jedem einzelnen Pokémon speichern sollte. Ich war ihm einst mal begegnet, als ich mit meiner Großmutter in Azuria City gewesen war, um einen alten Freund zu besuchen, der zusammen mit seinem Sohn ein Pokémon-Lagerungssystem entwickelt hatte. Und Professor Ōkido war ebenfalls vor Ort gewesen. Er hatte diese Idee nicht einfach nur anerkannt, sondern sie als größten Fortschritt unserer Zeit angepriesen und war ihnen beiden beinahe auf die Knie gefallen. Es war nicht so, dass ich die Idee nicht ebenso gut gefunden hatte wie er. Nur hatte es mein Gedächtnis nie verlassen, wie er beinahe geheult hatte vor Glück und den guten Mann in seine Arme geschlossen hatte wie seinen eigenen Bruder, völlig überwältigt von der Fähigkeit, sich mit Technik auseinanderzusetzen. Von mir erhält der gute Mann heute noch Respekt, das gleiche gilt für seinen Sohn. Aber für Professor Ōkido? Nein, wohl eher nicht. Die Krönung des Ganzen war ja schließlich erst danach gefolgt. Er hatte noch die Nerven aufgebracht, mir eine Predigt über das Zusammenleben von Menschen und Pokémon zu halten, als ob ich das nicht schon längst gewusst und auch begriffen hätte. Mein Vater war schon in der Forschung gewesen, da war ich noch nicht mal geboren. Er hatte mir damals alles hinterlassen, beinahe seine ganzen Aufzeichnungen. Damals, als er mich verlassen hatte… "Gib mal her", sagte ich und nahm meiner Großmutter den Brief aus der Hand. "Liebe Rei, entschuldige bitte, dass ich dir diesen Brief zukommen lasse und damit deine Freizeit störe, doch es gibt wichtige Dinge, über die ich unbedingt mit dir sprechen möchte. Daher bitte ich dich, sobald wie möglich aufzubrechen und mich in meinem Labor in Alabastia zu besuchen. Es ist wirklich sehr wichtig. Liebe Grüße, Yukinari Ōkido. Ist das sein Ernst?" "Sei doch nicht so feindlich gesinnt, mein Liebes", sagte meine Großmutter und schenkte mir ein Lächeln, als sie meine Hand in die ihre nahm. "Er wird schon seine Gründe dafür haben, Rei. Geh einfach zu ihm hin und hör dir an, was er zu sagen hat. Vielleicht ist das hilfreich für dich." "Er wohnt in Alabastia!", erinnerte ich sie und starrte sie ungläubig an. "Wir leben in Saffronia City! Sag mir, wie viele Tage soll ich denn unterwegs sein? Selbst mit dem kürzesten Weg müsste ich immer noch drei Routen, zwei Städte und den Digda-Tunnel durchqueren! Wie soll ich das denn bitte schaffen, ohne Tage unterwegs zu sein?" "Darüber können wir immer noch reden. Jetzt zieh dich erst mal an und komm frühstücken, je früher du dich auf den Weg machst, umso schneller bist du wieder da." "Und wenn ich gar nicht hinwill?" "Rei-Schatz, red doch keinen Unsinn. Ich weiß, dass du Professor Ōkido nicht sonderlich magst, aber hör ihn dir doch wenigstens an." "Und wenn es etwas total Belangloses ist und es mich nicht interessiert?" "Du bist immer so stur, Rei!" Ich hatte sie wohl wieder etwas wütend gemacht. Ihr tadelnder Blick fiel auf mich herab, während sie sich langsam erhob und rückwärts Richtung Tür verschwand. "Ich mach dir ein paar Sandwiches. Den Rest kannst du dir dann auf deinen Weg mitnehmen. Ich leihe dir mein Tauboss aus, damit du rüber fliegen kannst. Dann bist du vielleicht auch schon etwas weniger gefrustet." "Ich bin nicht gefrustet!" Doch sie reagierte nicht darauf und zog einfach die Tür wieder hinter sich zu. Kopfschüttelnd starrte ich mit wütendem Blick auf die Tür. Dieser Ōkido. Wenn er nichts zu erzählen haben würde, dann würde er Fukanos Glut zu spüren bekommen. Und meine noch dazu. Er sollte bloß nicht auf den irrsinnigen Gedanken kommen, mit irgendwelchem Schwachsinn meine kostbare Zeit zu rauben! Aber irgendwie hatte sie auch Recht. Ich hatte absolut keine Lust darauf, mich mit ihm zu treffen, weil ich ihn einfach nicht mochte. Doch es half nichts. Wenn er irgendwelche Informationen hatte, die mir nützen würden, dann sollte ich ihn zumindest anhören. Also durfte ich keine Zeit verlieren. Ich sprang aus dem Bett und warf mein Kopfkissen in die Ecke, packte meine Klamotten vom Stuhl und beeilte mich, das Wichtigste so schnell wie möglich in meine Tasche zu packen. Nur wenige Minuten später stand ich unten in der Küche, fertig angezogen und den Rucksack gepackt. Meine Großmutter sah mich freudig an, während sie einen Teller mit Sandwiches zum Tisch trug. "Ich wusste doch, dass du zur Vernunft kommst. Jetzt stärk dich und beeil dich, damit du schnell nach Alabastia kommst." "Aber nicht ohne meinen Partner", gab ich bloß zurück und setzte mich, um zumindest ein bisschen zu essen. Ich sah hinüber in die Ecke, wo Fukano friedlich in seinem Körbchen schlief. Ja, er war mein Partner. Der einzige Freund, den ich wirklich hatte. Das Pokémon hatte wohl mal meinen Eltern gehört, soviel mir meine Großmutter erzählt hat. Nach ihrem Verschwinden war es meine Aufgabe geworden, mich um Fukano zu kümmern und es aufzuziehen. Und ich hatte nicht einen einzigen Tag versäumt, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. "Hier", sagte meine Großmutter und legte einen Pokéball auf den Tisch. "Dann bekommt es auch endlich mal ein bisschen mehr Bewegung. Stärk dich und dann macht ihr drei euch auf den Weg." Eigentlich hatte ich ziemlichen Hunger, doch irgendwie auch wieder nicht. Ich wollte unbedingt wissen, wieso Professor Ōkido diesen Brief an mich geschickt hatte und was denn so wichtig sein konnte, dass er mir das nicht auch in diesem Brief erklären konnte. Denn scheinbar konnte er das nicht. Nein, ich musste sogar zu ihm kommen, anstatt dass er sich mal auf den Weg machte. Doch das war nun mal die Pokémon-Welt… "Ich pack den Rest in meine Tasche", sagte ich schließlich und zog den Rucksack zu mir, um die übrigens Sandwiches zu verstauen. Auf dem Weg konnte ich sie sicher gut gebrauchen. Und außerdem liebte auch Fukano Sandwiches. "Hey, Fukano." Ich kniete mich vor sein Körbchen und strich mit der Hand sanft über sein weiches Fell. Fukano zuckte. Dann öffnete er die Augen, sah sich um, erkannte mich und setzte sich hechelnd auf, während seine Augen mir voller Freude entgegen strahlten. "Wir zwei gehen auf eine kleine Reise", erklärte ich ihm und streichelte ihm den Kopf. "Professor Ōkido möchte mich sehen und deshalb muss ich nach Alabastia. Tauboss wird mich hinfliegen, und du wirst mich begleiten." Fukano bellte freudig und wedelte mit dem Schwanz. Es brachte mich zum Lächeln. Fukano verstand wirklich besser als so mancher Mensch. Ich nahm seinen Pokéball vom Gürtel und ließ Fukano darin verschwinden. Dann stand ich wieder auf und warf mir den Rucksack um. "Willst du wirklich so gehen?", fragte meine Großmutter besorgt und musterte mich von oben bis unten. "Immer trägst du diese Kampfhosen und diese einfachen Tops. Warum ziehst du dir nicht was Hübsches an? Und warum immer diese Stiefel, du siehst aus, als willst du zur Armee…" "Granny", unterbrach ich sie und schenkte ihr ein Lächeln. "Ich will nicht hübsch aussehen, ich brauch was, das praktisch ich. Und das hier ist praktisch. Genau wie meine Handschuhe und meine Mütze." Ich zog mir beides über wandte mich zur Tür. "Also ich verschwinde dann mal. Je schneller ich das hinter mir hab, umso besser. Also mach's gut, Granny. Ich beeil mich." "Rei-Schatz?" "Ja?" Ich wandte mich noch einmal um. Meine Großmutter stand da, die Arme vor ihrem Körper hängend und die Hände übereinandergelegt, und betrachtete mich mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen, den ich damals nicht verstand. Heute versteh ich ihn. "Was ist denn?" "Mach's gut, Liebes", sagte sie, und kämpfte scheinbar mit den Tränen. "Ich weiß, das klingt merkwürdig. Aber mein Gefühl sagt mir, dass du so schnell nicht zurückkommst. Geh und finde deinen Weg. Finde die Antworten, nach denen du schon so lange gesucht hast. Und pass auf dich auf. Und auf Fukano." Eine Weile starrte ich sie einfach nur an. Dann nickte ich und verließ das Haus. Draußen ging gerade die Sonne auf. "Los, Tauboss!", rief ich und warf den Pokéball. Tauboss erschien und wurde neben mir zu dem einzigen anderen Geschöpft, das bereits auf der Straße war. Zielsicher strich ich ihm übers Gefieder. "Tauboss, du musst mich nach Alabastia fliegen. Und das so schnell wie möglich. Schaffst du das?" Tauboss ließ ein zuverlässiges, tiefes Gurren hören. Und kurz darauf flogen wir davon, weg von der aufgehenden Sonne in Richtung der blauen Dunkelheit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)