Secrets von Lenya_C_Sharizardon ================================================================================ Kapitel 16: Little's mother --------------------------- Ich hatte mich absolut nicht auf diesen Abend gefreut. Kaum war ins Haus zurückgekehrt, verbarrikadierte ich mich wieder im Gästezimmer und ließ mich aufs Bett fallen. Ich umklammerte meine Beine und versuchte, irgendwelche Antworten in meinem Kopf klarzukriegen. Doch er war leer. Völlig leer. Ich legte den Kopf auf meine Knie und schloss die Augen. Ich wollte nichts sehen. Ich wollte, dass es endlich aufhörte, dass diese Bilder endlich aus meinem Kopf verschwanden. Sie sollten einfach nur verschwinden, für immer… Es klopfte an der Tür. Ich schrak so heftig zusammen, dass ich aufsprang. "Ja?" Die Tür öffnete sich und Mr. Fuji kam ins Zimmer. "Ah, dann hab ich dich doch reinkommen hören. Das Essen ist gleich fertig, vielleicht kannst du mir noch ein wenig helfen." "Ja, natürlich", sagte ich, und wischte mir dabei hastig die Tränen aus dem Gesicht. "Ich komme." Mr. Fuji nickte. Er sah mich einen Moment lang an, dann trat er ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ich fragte mich, was jetzt kommen würde. Mein Magen verkrampfte sich. Er sollte nicht schon wieder dieses Thema ansprechen, bitte… "Rei", sagte er ernst und sah mich durchdringend an. Ich konnte seinem Blick nicht einmal wirklich ausweichen. "Es wird irgendwann aufhören, glaub mir. Ich werde dir nicht sagen, was du tun sollst. Aber du brauchst hier für niemanden die Starke zu spielen. Für niemanden." "Aber ich bin stark!", entgegnete ich wütend. "Das weiß ich, Rei. Das weiß ich." Er wandte sich ab und ging wieder zur Tür. Und in diesem Moment kochte auf einmal alles wieder hoch, ich war so geladen, dass ich mich nicht mehr halten konnte, die Verzweiflung und die Angst überwältigten mich. "Mr. Fuji!" Er drehte sich langsam wieder zu mir um. "Ja?" Ich starrte ihn an, erneut den Tränen nahe. "Woher kannten Sie meinen Vater?" Eine Pause trat ein. Eine sehr lange Pause, in der wir uns bloß gegenseitig anstarrten. Ich wartete, voller Hoffnung und Angst. Mr. Fuji öffnete den Mund, sagte jedoch nichts. Und wieder herrschte eine lange Pause. Dann legte Mr. Fuji die Hand auf die Türklinke und wandte sich zum Gehen. "Nicht jetzt, Rei. Früher oder später wirst du alles erfahren, aber das ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Nicht jetzt. Eines Tages wirst du es verstehen, glaub mir." Und weg war er. Ich starrte auf die noch halb offene Tür. Ich verstand nichts mehr. Gar nichts mehr. Warum konnte er mir nicht einfach die Wahrheit sagen? Das Haus war wieder einmal voll. Wir waren locker ein Dutzend Leute am Tisch, die sich größtenteils angeregt unterhielten und überwiegend begeistert von ihren Schützlingen sprachen, um sie sich im Waisenhaus sorgten. Ich zog es jedoch vor, gar nichts zu sagen und mich allein auf mein Essen zu konzentrieren. Dabei hatte ich nicht einmal Hunger. Überhaupt nicht. Ich hörte ihnen nicht einmal zu. Mein Blick war stur auf den Teller gerichtet, während mir unzählige Gedanken durch den Kopf schossen. Ich bekam diese Bilder nicht aus dem Kopf. Je mehr ich es versuchte, umso klarer wurden sie. Und auch der Gedanke an Green konnte sie nicht fortwischen, nein, es machte alles nur noch schlimmer. "Hey, Rei!" Meine Sitznachbarin, ein Mädchen namens Reina, stieß mich an. Sie gehörte zu den wenigen, die tatsächlich jeden Tag ins Waisenhaus kamen, um sich intensiv um die Pokémon zu kümmern. Und sie war auch so ziemlich die einzige Person außer Mr. Fuji, mit der ich mehr als nur ein paar kurze Worte wechselte. "Was ist?", fragte ich und wandte ihr das Gesicht zu. Reina sah mich besorgt an. "Das frag ich dich. Du bist die ganze Zeit so komisch." "Was, ich? Nein", sagte ich hastig und widmete mich wieder meinem Essen. "Ich hab bloß nachgedacht." "Worüber?" "Über Machollo. Ich musste es ins Pokémon-Center bringen, es ist bei einem Kampf heute besiegt worden." Wow. Es war nicht einmal gelogen, und dennoch entsprach es nicht der Wahrheit, dass ich mir darüber Gedanken machte. Doch ich musste überzeugend geklungen haben. Denn Reina schien mir zu glauben. "Oh. Das tut mir leid. Hast du den Kampf verloren?" "Nein." "Aber wirklich glücklich wirkst du nicht darüber." Ich antwortete nicht gleich. Ich wollte sie nicht anlügen, zumal sie so unheimlich nett zu mir war, doch die Wahrheit sagen konnte ich auch nicht. Und selbst wenn … ich wollte es nicht. "Ach, der Kampf war einfach nicht so besonders. Und, na ja … Machollo und ich kommen langsam was besser miteinander klar, aber ich muss eben echt mit ihm trainieren. Ich kann es für einen richtigen Kampf noch nicht einsetzen." "Ach, das wird noch", meinte Reina zuversichtlich und wandte sich nun auch wieder ihrem Essen zu. "Ihr versteht euch doch schon ganz gut. Dann wird das mit dem Training auch kein Problem sein. Ich hoffe, es ist schnell wieder fit." "Ich soll morgen Mittag im Pokémon-Center vorbeischauen. Bis dahin müsste es wieder fit sein." "Was, tatsächlich?", sagte ein Mann an der anderen Seite des großen Tisches, so laut, dass Reina und ich ihm sofort unsere Blick zuwandten. Eine Frau ihm gegenüber nickte eifrig. "Ja! Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen!" "Aber … ich meine, wieso - ?" Der Mann schien schockiert. "Was ist denn los?", wollte Reina wissen und beugte sich vor, damit die Frau sie sehen konnte. Sie wandte den Kopf. "Es geht um den Pokémon-Turm. Seit gestern geschehen dort nämlich seltsame Dinge." "Seltsame Dinge?", wiederholte ich und wurde nun hellhörig. "Wie darf ich das verstehen?" Die Frau zögerte. "Nun - ich war gestern dort und dachte, ich hätte etwas Seltsames gehört. Ich hab mich umgedreht, aber da war niemand. Also dachte ich, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Aber ich bekam ein ganz komisches Gefühl. Ich hatte das Gefühl, dass noch jemand dort war. Ich hab mich immer wieder umgedreht, aber ich war völlig allein." "Vielleicht hast du den Wind gehört", sagte der Mann nachdenklich. "Sowas kann manchmal echt gruselig klingen." "Nein, es war nicht der Wind! Das ist ja noch nicht mal alles!" Jetzt hingen alle am Tisch an ihren Lippen. "Vorhin, da war ich auch wieder im Turm. Ich wollte sichergehen, ob da nicht doch irgendwas war, und da hab ich es gesehen!" "Was gesehen?", fragte ein Junge neugierig. Ich wartete gespannt. Dann sagte die Frau angsterfüllt: "Einen Geist!" Einige am Tisch hielten vor Schreck den Atem an. Reina klappte der Mund auf und ich hatte den Blick wie gebannt auf die Frau geheftet, die nun selbst über ihre eigenen Worte erschrocken schien. "Ja, es war tatsächlich ein Geist! Ich hab geschrien und bin sofort davongelaufen! Ich werde nicht mehr in diesen Turm gehen, da drin spukt es!" "Hm", machte Mr. Fuji und faltete nachdenklich die Hände zusammen. "Und sonst hast du nichts bemerkt?" "Nein, gar nichts. Warum?" "Nun … es ist ungewöhnlich." "Was ist ungewöhnlich?" "Es gibt keine Geister, die einfach so nach Lust und Laune durch die Gegend spuken", mischte ich mich lautstark ein. Alle Blicke wandten sich nun mir zu. Ich starrte zurück. "Was denn? Ich meine, es muss dann schon irgendeinen Grund geben." "Es sind Geister", flüsterte die Frau zornig. "Ich glaube kaum, dass die einen besonderen Grund brauchen, um durch die Gegend zu spuken, wenn es ihnen einfach Spaß macht, Leuten Angst einzujagen." "Warum sollte es ihnen Spaß machen?", entgegnete ich zunehmend gereizter. "Wieso glauben Menschen eigentlich, dass sowas Spaß macht? Und außerdem, es gibt keine richtigen Geister." "Doch, die gibt es!" "Nein, gibt es nicht." "Doch!" "Sie hat nicht ganz Unrecht", sagte Mr. Fuji plötzlich und hob die Hand, um uns zum Schweigen zu bringen. "Es gibt keine Geister im klassischen Sinne. Wenn dort irgendetwas ist, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten." "Entweder ein Pokémon Typ Geist", sagte ich. "Oder die Seele eines Pokémon", sagte Mr. Fuji. Die Blicke der anderen am Tisch wanderten von Mr. Fuji zu mir und wieder zurück. Eine Weile sagte keiner ein Wort. Dann mischte sich Reina wieder ein: "Die Seele eines Pokémon? Ihr meint … eines Pokémon, das bereits verstorben ist?" Ich begann, weiter zu essen, verfolgte das Gespräch aber weiterhin wie gebannt. "Aber warum sollte die Seele eines Pokémon Leuten Angst einjagen?", fragte der Mann verunsichert. Ich zuckte die Achseln. "Vielleicht wollte es das ja gar nicht. Vielleicht hat es ja einen Grund, weshalb es auftaucht, und ist dann zufällig einem Menschen begegnet." Die Frau öffnete den Mund, um mich wieder anzugiften, doch Mr. Fuji brachte sie mit einer erneuten Handbewegung zum Schweigen. "Ich glaube auch, dass Rei Recht hat. Dass dort oben etwas ist, das vielleicht sogar gar nicht dort hingehört, mag ich nicht anzweifeln. Aber es ist mit Sicherheit kein Geist, der dort rum spukt, um uns Angst einzujagen. Mir sind inzwischen auch ein paar Dinge zu Ohren gekommen, die meine Vermutung stark bekräftigen, dass es sich wirklich um die Seele eines Pokémon handelt. Und wenn das der Fall ist, dann muss etwas passiert sein. Eine Seele kehrt nur ins Jenseits ein, wenn sie ihren Frieden findet. Entweder hat eine Seele dort noch lange nicht ihren Frieden gefunden, oder es geht dort irgendetwas vor, wodurch sich diese Seele gestört fühlt." "Und wenn es bloß ein Pokémon vom Typ Geist ist?", fragte der Junge und seine Augen leuchteten, als ob er ganz scharf darauf wäre, es selbst zu sehen. Reina funkelte ihn böse an. "Du bist doch nur scharf drauf, dir eines zu fangen! Vergiss es, du traust dich da doch nicht mal rein!" "Sei nett, Reina", mahnte Mr. Fuji. Dann wandte er sich wieder der Frau zu. "Was auch immer es ist, es muss untersucht werden. Ich werde mich selbst darum kümmern. Macht euch also keine Sorgen. Wenn es wirklich eine rastlose Seele ist, dann werde ich alles tun, damit sie ihren Frieden findet." Sein Tonfall machte deutlich, dass diese Angelegenheit damit erledigt war. Alle wandten sich nun wieder voll und ganz ihrem Essen zu, doch ich konnte die zornigen Blicke der Frau dennoch spüren. Es kümmerte mich nicht, dass sie wütend auf mich war. Sollte sie doch. Ich wusste, dass ich Recht hatte. Und entweder sah sie es ein oder eben nicht. Das sollte nicht mein Problem werden. Und trotzdem war ich froh, als Mr. Fuji und ich gut eine halbe Stunde später mit Aufräumen fertig waren und ich mich endlich zurückziehen konnte. Ich konnte diese ganzen Menschen einfach nicht mehr ertragen. So schnell ich konnte zog ich mich ins Gästezimmer zurück und warf mich mit dem Gesicht voran aufs Bett. Wäre Green doch wenigstens hier gewesen … dann hätte ich wenigstens einen Freund bei mir gehabt. Dann wäre es bestimmt viel leichter gewesen, all das zu ertragen… Ich wachte wieder einmal schweißgebadet auf, von der Angst völlig der zerfressen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wo ich war. Dass ich nicht mehr im Felstunnel war, sondern in Lavandia, hier, im Haus von Mr. Fuji. Ich hatte diese Alpträume satt. So verdammt satt… Es brauchte erst eine kühle Dusche und eine gute Stunde, bis mein Kopf wieder halbwegs klar war. Ich war um einiges erleichtert, als ich zum Frühstück nur Mr. Fuji vorfand. Ich hätte im Augenblick auch keine anderen Menschen ertragen. Es war schon schlimm genug, überhaupt mit jemandem am Tisch zu sitzen, der einem das Gefühl gab, etwas sagen zu müssen. Doch ich schwieg, und er tat es glücklicherweise auch. Vielleicht wusste er, dass ich nachwievor nicht reden wollte. Erst, als ich aufstand, sprach er: "Ich werde mich gleich auf den Weg machen, um herauszufinden, was in diesem Turm vor sich geht. Bleib so lange besser dort weg, Rei. Ich hab ein ungutes Gefühl bei der Sache." "Ist gut", erwiderte ich nur und wandte mich ab. "Ich muss eh erst mal ins Pokémon-Center. Mal sehen, wie es Machollo geht. Vielleicht trainiere ich ein bisschen mit ihm, wenn es ihm besser geht." "Gut, dann tu das." Ich sah ihn flüchtig an. Dann nickte ich, warf mir die Jacke über und verließ das Haus. Ich war vielleicht ein bisschen früh dran, doch ich wusste nichts Besseres mit mir anzufangen. Ich sollte mich schließlich fürs Erste vom Turm fernhalten, was vielleicht auch ganz gut so war. Ich wusste, dass ich mir mit meinen täglichen Besuchen keinen großen Gefallen tat… "Dein Machollo ist wieder topfit!", sagte Schwester Joy fröhlich, als ich wenig später im Center stand und mich nach meinem neuen Teampartner erkundigte. Sie reichte mir den Pokéball und lächelte. "Es musste sich einfach nur etwas auskurieren, es ist also alles wieder in Ordnung." "Gut", sagte ich bloß, nahm ihr den Pokéball ab und legte ihr die Münzen hin. "Danke." "Vielen Dank! Komm jederzeit wieder bei uns vorbei!" Ich nickte, wollte mich gerade umdrehen, um das Center zu verlassen, da ließ mich ein lauter Knall gefolgt von einem Aufschrei zusammenzucken. Ich wirbelte herum. Ein paar Leute hatten sich an der Treppe versammelt, die hinauf zu den Zimmern führte, in denen einige Trainer sich für die Nacht einquartierten, und sahen ziemlich erschrocken zu Boden. "Ist alles in Ordnung mit dir?" "Ist dir was passiert?" "Nein, alles gut", antwortete eine Stimme am Boden, und jemand stand in der kleinen Menge auf und richtete sich. Damit hatte ich nun nicht gerechnet. Ich legte den Kopf schief und musterte diesen Jemand, der mich in diesem Moment sogar beinahe zum Lachen brachte. "Ach, nein. Das konntest ja nur du sein, was?" "Wie?" Er sah auf. "Rei, was machst du denn hier?!" "Hallo, Red", sagte ich amüsiert, verschränkte die Arme und schritt langsam auf ihn zu, während die Menge sich nun wieder im Center verteilte, da offenbar nichts Ernstes passiert war. Ich blieb vor ihm stehen. "Hätte nicht gedacht, dass ich dich ausgerechnet so wieder treffe." "Na ja", begann er und kratzte sich verlegen am Kopf. "Ich bin manchmal einfach ziemlich eilig unterwegs…" Ich hob die Brauen. "So eilig, dass du dafür gleich die Treppe runterfällst?" "Nun - ja…" Ich musste tatsächlich fast lachen. "Du bist echt ein Tollpatsch, ist dir das mal aufgefallen? Wie auch immer, bist du schon lange hier?" "Wie man's nimmt. Ich bin viel unterwegs, ich habe inzwischen so viele Pokémon gefangen, die ich alle trainieren muss. Schließlich muss ich den Pokédex doch vollkriegen. Eigentlich wollte ich auch gerade wieder los zum Training, willst du vielleicht mit? Ich muss nur noch eben an meine Boxen und die aufnehmen, die ich noch entwickeln muss." "Na gut, warum nicht." Ich hatte ohnehin nichts Besseres vor. Also folgte ich Red hinüber zum PC und lehnte mich dagegen, währen er sich daran zu schaffen machte. "Ich hab nicht mehr viele übrig, die ich durch bloßes Leveln entwickeln kann … hm … ich hätte noch ein männliches Nidoran übrig, das ich zu Nidorino entwickeln kann … einen Mondstein für Nidoking hab ich nicht mehr übrig, aber dann muss ich damit noch warten." "Du hast deinen Pokédex schon ganz schön voll, was?", fragte ich belustigt. Der alte Ōkido wäre sicher stolz auf ihn. Wenn Red sich ranhielt, würde er bestimmt noch den Traum es Alten erfüllen. "Ich habe so ziemlich alles gefangen, was mir auf dem Weg bis hierhin begegnet ist", fing er an und seine Augen weiteten sich wieder vor Begeisterung. "Ich hab mich wirklich rangehalten und jede Ecke und Winkel abgesucht, bis ich mir sicher war, dass ich sie wirklich alle gefangen habe. Ja, und dann hab ich vor ein paar Wochen angefangen, sie zu trainieren, damit ich ihre Weiterentwicklungen auch im Pokédex habe. Die meisten Pokémon entwickeln sich durch bloßen Levelaufstieg, manche früher, manche später. Käfer-Typen zum Beispiel scheinen sich schneller zu entwickeln, Raupy und Hornliu haben sich unheimlich schnell entwickelt. Es gibt aber eben auch welche, die sich durch den Einfluss bestimmter Steine entwickeln, wie zum Beispiel dem Mondstein. Es gibt auch noch weitere, allerdings -" "Red", unterbrach ich ihn und sah ihn scharf an. "Ich weiß ja, dass du ein ziemlicher Freak bist, wenn es um Pokémon geht. Aber du redest zu viel." "Oh, tut mir leid…" Er ließ den Kopf hängen. Und plötzlich war seine Stimmung völlig anders. Ich hatte es doch nicht mal böse gemeint, doch seine übermäßige Begeisterung und die Freunde hatten sich auf einmal in etwas sehr Trauriges gewandelt. Ganz, als ob ich ihm etwas Schlechtes gesagt hatte. Ich überlegte hin und her, was an meiner Wortwahl vielleicht falsch angekommen war. Dann - "Hast du Green gesehen?" "Ja, habe ich", gab ich verwirrt zurück. "Ich hab ihn gestern im Turm getroffen, wir haben gegeneinander gekämpft und dann ist er wieder gegangen. Wieso?" "Im Turm?", wiederholte Red, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Auch seine Stimme klang merkwürdig verändert. "Was habt ihr da gemacht?" Ich hob die Schultern, unsicher, worauf genau er hinauswollte. Und außerdem wollte ich ihm nicht offenbaren, weshalb ich da gewesen war. Also sagte ich bloß: "Nun, ich wollte mich einfach mal umsehen und bin deshalb rein gegangen. Und ich hab Green zufällig getroffen, keine Ahnung, was er dort wollte. Ich hab ihn nicht gefragt." "Verstehe…" "Wieso, was ist?" "Wir können", sagte Red so plötzlich, als ob nichts gewesen wäre, holte die ausgesuchten Pokémon aus der Box und wandte sich nun wieder ebenso fröhlich wie zuvor mir zu. "Auf geht's! Ich will den Pokédex in diesem Leben schließlich noch vollkriegen." Gut gelaunt hüpfte er zur Tür hinaus, ich folgte ihm. Ich war wohl nicht die einzige, die sich im Augenblick äußerst seltsam benahm. Erst Green, der seine Arroganz und Überheblichkeit vollkommen abgelegt hatte, und dann auch Red, dessen Stimmung schneller zu wechseln schien als das Wetter. Mich ließ der Gedanke nicht los, dass irgendetwas geschehen war, von dem ich nichts ahnte. "Okay, legen wir los!", rief Red motiviert, als wir uns einen Platz auf einer Route vor der Stadt ausgesucht hatten, und zog seinen ersten Pokéball. "Wir werden hier bestimmt auf wilde Pokémon treffen. Vielleicht entdecken wir ja sogar neue, wer weiß?" "Mach du mal", sagte ich belustigt und ließ mich auf einem Stein nieder, um ihm zuzusehen. Er war wirklich mit voller Leidenschaft dabei. Er suchte nach wilden Pokémon, gegen die er mit seinen kämpfen konnte. Ich bewunderte ihn ein wenig für seine unerschöpfliche Energie. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass auch er im Augenblick bloß etwas vorspielte. Als Erstes war sein Nidoran an der Reihe. Ich tat so, als würde ich Red einfach bloß zusehen. Doch ich sah in Wahrheit nichts von seinen Kämpfen. Mein Kopf war immer noch nicht klar genug, um vernünftig zu denken. Vielleicht war ich aktuell einfach nur schwer von Begriff. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf. Er wechselte zu Kleinstein. Natürlich, Red war scheinbar von Natur aus ein lieber und netter Junge, der Pokémon über alles liebte. Daher hatte es mich doch eigentlich gar nicht gewundert, dass er so viel darüber reden wollte, und vielleicht auch gerne sein Wissen teilte. Hatte ich vielleicht einfach nur überreagiert? Hatte ich mich im Ton vergriffen, nur weil ich es nicht leiden konnte, wenn jemand so viel mit mir redete? War ich vielleicht einfach nur zu empfindlich und stieß deshalb anderen Leuten vor den Kopf? Nach einiger Zeit wechselte er wieder zu Nidoran. Nein. Es lag vielleicht nicht an mir. Ich war doch für meine Verhältnisse freundlich gewesen, und Red wusste doch, wie ich war. Er musste wissen, dass ich es nicht böse gemeint hatte. Aber wenn ihm das doch klar gewesen war … wieso war seine Stimmung dann plötzlich so verändert gewesen? Hatte es vielleicht mit etwas ganz anderem zu tun? Aber womit? Er schaffte es schließlich, Nidoran zu entwickeln, und freute sich beinahe wie ein kleines Kind, das eine besonders große Kugel Eis geschenkt bekommen hatte. Er warf einen Blick in seinen Pokédex und jubelte. "Super, dann brauch ich nur noch einen Mondstein, dann habe ich auch ein Nidoking!" Er entschied sich als nächstes für ein Habitak. Irgendetwas war hier faul. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht. Ich wusste nur nicht, was. Red hatte so merkwürdig geklungen, als er nach Green gefragt hatte. Aber warum? Wieso hatte diese merkwürdige Traurigkeit in seiner Stimme gelegen? Es hatte beinahe geklungen, als ob Red sich nicht einmal freute, dass er hier war. Dabei waren die beiden doch Freunde. Red wechselte wieder zu Kleinstein. Verdammt, wieso kam ich nicht drauf? War es irgendwas, von dem ich vielleicht keine Ahnung hatte? War irgendwas zwischen den beiden passiert? Hatte es vielleicht Streit zwischen den beiden gegeben? Aber warum? Mein Kopf wollte scheinbar keine Antwort. Je mehr ich nachdachte, umso mehr wurde mir klar, dass ich absolut nicht begriff, was hier vor sich ging. Doch irgendetwas musste passiert sein, sie waren alle beide so völlig verändert, als ob sie nicht mehr sie selbst wären. Er wechselte zu einem Rattfratz. Ich beobachtete Red, wartete darauf, dass er seinem Pokémon eine Anweisung gab, doch er zögerte. Ich wandte den Blick ab. Was stimmte nicht mit ihm? "Rattfratz, hey! Komm zurück!" Ich hob den Kopf, um zu sehen, was passierte. Das Rattfratz war einfach davongerannt und huschte durchs Gras, Red ihm hinterher. "Hey! Bleib stehen!" "Was treibst du da?", fragte ich und stand auf. Ich lief ihm nach, zwischen kleineren Felsbrocken, Bäumen und Sträuchern entlang. "Hey, wo bist du?!" "Ich bin hier!", hörte ich seine Stimme aus den Tiefen des hohen Grases. "Ich hab dieses Pokémon vor Ewigkeiten gefangen und es seitdem in meiner Box gelassen. Es mag mich wohl nicht besonders…" "Also, ich weiß echt nicht mehr, was ich dazu sagen soll." Ich stemmte die Hände in die Hüften und sah auf Red hinab, der die Arme vor ausgestreckt bäuchlings im Gras lag und die Hände um sein Rattfratz klammerte. Er sah auf. "Na ja, es hatte von Anfang an irgendwie die Angewohnheit, einfach wegzulaufen. Ich hatte die Hoffnung, wenn es sich erst mal entwickelt, hört das vielleicht auf…" Ich sah ihm eine Weile zu, wie er angestrengt versuchte, irgendwie an den Pokéball von Rattfratz zu kommen. "Brauchst du vielleicht Hilfe?" "Nun … schon möglich", gab er zurück und hielt sein Pokémon weiterhin fest, das wie wild umher zappelte, um bei der nächsten Gelegenheit schon wieder davonzulaufen. "Welcher ist es?", fragte ich und bückte mich. "Der vorletzte." "Alles klar." Ich nahm den Pokéball und streckte die Hand aus. "Hier, bitte." "Danke", sagte Red und versuchte angestrengt, Rattfratz näher zu sich zu ziehen, doch es wehrte sich viel zu sehr, als dass er loslassen konnte. "Okay, ich nehm ihn gleich!" "Bist du sicher, dass es funktioniert?" "Auf dich wird es wohl noch weniger hören als auf mich." Er wartete den richtigen Moment ab, dann zog er blitzschnell eine Hand weg, ergriff den Pokéball und rief Rattfratz zurück. Es funktionierte. Ich konnte nicht anders, als einzusehen, dass Red zum Teil wirklich mehr Glück hatte als eigentlich jemals erlaubt war. Ich hätte das vermutlich nicht so hingekriegt. "Oh je, das war wohl keine gute Idee", sagte Red und setzte sich auf. Ich machte ein paar Schritte rückwärts, während er langsam aufstand, und trat plötzlich auf etwas. Für einen kurzen Moment verlor ich das Gleichgewicht, fing mich jedoch gleich wieder. Ich senkte den Blick auf den Boden. War es das, wofür ich es hielt? Ich bückte mich, um es mir näher anzusehen. Und ich hatte Recht. Es war ein Knochen. Blitzschnell erhob ich mich wieder und sah mich um. Allein mein Gefühl sagte mir schon, dass etwas hier nicht stimmte. Und zwar ganz und gar nicht. "Ich dachte wirklich, ich könnte dieses Rattfratz in den Griff kriegen. Anscheinend muss ich noch eine Menge lernen…" Ich schritt langsam durchs hohe Gras und hielt Ausschau. Zunächst sah ich nichts außer Gras, Steinen und Büschen. Doch hier musste irgendwas sein. Vielleicht… "Ich werde das schon irgendwie hinkriegen. Vielleicht nur nicht jetzt." Er klopfte sich das Gras von den Klamotten. "Mit etwas Übung geht das alles! Was ist los, Rei?!" Ich hatte mir die Hand vor den Mund geschlagen. Ich hatte es gefunden. "Was ist denn?", fragte Red erneut und kam auf mich zu, doch ich wandte mich blitzschnell um und packte ihn, um ihn davon abzuhalten. "Bleib, wo du bist, sieh nicht hin! Glaub mir, das willst du nicht sehen." Doch es war zu spät. Reds Augen waren starr auf das gerichtet, was ich auf dem Boden gefunden hatte: es war der leblose Körper eines Pokémon. Jetzt war es Red, der sich die Hand vor den Mund hielt. Er drehte sich um und sackte wieder zurück ins Gras. "Red!" Ich hockte mich zu ihm auf den Boden und packte ihn an der Schulter. "Bist du okay?" Ich befürchtete, dass er sich gleich übergeben würde. Doch nach einiger Zeit ließ er die Hand sinken, die Augen immer noch starr vor Entsetzen, und sagte mit halb erstickter Stimme: "Das … ist ein Knogga … oder?" "Ja … und es sieht nicht danach aus, als wäre es eines natürlichen Todes gestorben…" "Wer … wer tut sowas?" Er stützte sich an einem Fels ab und schüttelte den Kopf. "Wer tut sowas Grausames?" "Ich weiß es nicht…", antwortete ich und warf einen erneuten Blick auf das tote Knogga. Sein Körper war mit Wunden übersät. Wunden, deren Ursache ich mir nur allzu gut vorstellen konnte. "Ich glaube ich weiß, wer sowas tut. Red!" "Was? Wer?" Er wandte mir das Gesicht zu. Er war kreidebleich geworden. Ich stand auf und packe ihn am Arm, um ihn hochzuziehen. "Ich denke ich weiß, wer das war! Komm, wir müssen sofort zurück nach Lavandia!" "Wieso?" "Jetzt frag nicht und komm!" Ich schaffte es irgendwie, ihn wieder auf die Beine zu bekommen. Wir rannten den Weg zurück durch das hohe Gras, zurück in die Stadt. Ich wollte zu Mr. Fuji, er musste es erfahren, er war sicher schon vom Turm zurück, doch wenn meine Befürchtungen wahr waren, dann musste er es erfahren. Doch kaum hatten wir uns dem Haus genähert, da kam auch schon jemand auf uns zu, völlig aufgelöst, die Panik ins Gesicht geschrieben."Rei!" "Reina! Was ist los?!" "Es ist schrecklich!" Sie kam vor uns zum Stehen, offenbar den Tränen nahe. "Mr. Fuji ist doch heute Morgen in den Turm gegangen, um diese Sache zu klären, über die wir gestern gesprochen haben." "Und? Was war es denn?" Doch Reina schüttelte den Kopf. "Mr. Fuji ist immer noch nicht zurückgekehrt!" "Was?!" Mich traf der Schlag. Es musste doch schon Stunden her sein, dass er sich auf den Weg gemacht hatte, er hätte längst zurück sein müssen. "Was ist passiert?!" "Keine Ahnung! Wir machen uns alle Sorgen, aber keiner traut sich, in diesen Turm zu gehen und nach ihm zu sehen. Wir haben ja nicht mal kampffähige Pokémon, deshalb hab ich die ganze zeit nach dir gesucht! Du musst ihm helfen, bitte!" "Es passt zu perfekt zu dem, was wir eben gefunden haben…" "Was?", fragte Reina und sah mich an, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie die Wahrheit hören wollte. "Was habt ihr gesehen?" "Ein totes Knogga", antwortete ich sofort, bevor Red mich aufhalten konnte. Natürlich war Reina noch jünger als ich, doch die Sache geheim zu halten, würde niemandem was bringen. Und wir brauchten ihre Hilfe. "Ein … Knogga? Tot?" "Ja. Es wurde scheinbar sogar von Menschen getötet." "Aber … das ist furchtbar! Die Knogga hier haben doch kürzlich erst ihre Junge bekommen! Dann muss da draußen irgendwo ein einsames Tragosso herumirren, das ist schrecklich! Es wird alleine niemals überleben!" "Was?!" Red war ebenso schockiert. "Du meinst also, dass das junge Tragosso jetzt ganz allein da draußen ist?!" Jetzt weinte sie wirklich. Es war eigentlich absolut nicht meine Art, doch in diesem Moment konnte ich nicht anders, als sie in die Arme zu schließen. Vielleicht, weil ich mir auch insgeheim wünschte, dass es jemand mit mir machen würde … Ich drückte sie fest und wandte mich an Red. "Ich brauche deine Hilfe. Hier geht eindeutig etwas nicht mit rechten Dingen zu, und ich hab so eine böse Vorahnung, was." "Was … was kann ich tun?", fragte er, immer noch kreidebleich im Gesicht. "Hol dein Team! Lauf so schnell du kannst ins Pokémon-Center und pack dein stärkstes Team ein! Ich hoffe, wir werden es nicht brauchen, aber ich will vorbereitet sein." "Was hast du vor?!" "Wir gehen in diesen Turm", sagte ich entschieden und richtete den Blick direkt auf das große Gebäude, während Reina sich an mir ausweinte. "Mr. Fuji braucht unsere Hilfe. Die meisten hier kümmern sich um die ausgesetzten und verwaisten Pokémon, aber keiner von ihnen ist ein wirklicher Trainer. Wir sind im Augenblick die einzigen, die etwas tun können. Ich habe diesem Mann einiges zu verdanken, das ist das Mindeste, was ich ihm schuldig bin." Hosted by Animexx e.V. 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