Secrets von Lenya_C_Sharizardon ================================================================================ Kapitel 17: Leave now --------------------- "Beeil dich!", sagte ich nachdrücklich. Red nickte und rannte augenblicklich davon in Richtung Pokémon-Center. "Ich warte hier vor dem Turm!" "Was soll ich tun?", heulte Reina, als ich sie losließ, und wischte sich die Tränen aus den Augen. "Du gehst zu den anderen und bittest sie um Hilfe. Ihr müsst das Tragosso finden. Ich habe so die Vermutung, dass das alles irgendwie zusammenhängt. Außerdem ist es, wie du gesagt hast. Alleine wird das Kleine nicht lange überleben. Außerdem wird es langsam dunkel. Ihr müsst es finden! Red und ich kümmern uns um Mr. Fuji." "Ist gut." Sie fasste sich wieder und eilte zurück zum Waisenhaus. Ich hoffte insgeheim, dass sie den Ernst der Lage erkennen und sich sofort auf den Weg machen würden. Die Sonne ging langsam unter, und im Dunkeln zu suchen, war eigentlich viel zu gefährlich. Besonders für jemanden, der keine starken Pokémon besaß, die ihn beschützen konnten. "Da bin ich wieder!", rief Red kurze Zeit später und kam auf mich zugerannt. "Ich bin bereit! Aber … kannst du mir vielleicht erklären, was genau jetzt eigentlich los ist?" "Das sag ich dir auf dem Weg. Los, komm." Ich ging voran und betrat als erste den Turm. Es herrschte vollkommene Stille. Eine Stille, die sogar ich unheimlich fand. Und Red schien es genauso zu gehen. "Ich fühle mich hier nicht sonderlich wohl … hier ist es außerdem total dunkel, man sieht die Hand vor Augen ja kaum … wieso wollte dieser Mr. Fuji überhaupt hierherkommen? Und wer ist er eigentlich?" "Mr. Fuji hat das hiesige Waisenhaus gegründet", erklärte ich und wandte mich zur Treppe. "Ich wohne bei ihm, und helfe ihm, mich um die Pokémon zu kümmern. Und er wollte hierherkommen, um etwas zu untersuchen. Und was das mit dem Licht angeht, das sollte das geringere Problem sein." Ich zog eine Taschenlappe aus einer meiner Hosentaschen hervor und schaltete sie ein. "Man kann nie gut genug vorbereitet sein." "Du denkst aber auch echt an alles." Wir stiegen langsam die Treppe hinauf. Ich wollte nicht gleich losstürmen, denn ich hatte schließlich so eine Ahnung, was sich hinter dieser ganzen Geschichte verbarg, und ich wollte absolut nicht riskieren, dass sie uns zuerst erledigten. Ich hatte die eine Hand nah an Fukanos Pokéball, um im Ernstfall gleich reagieren zu können. "Und was meinte dieses Mädchen vorhin, worüber ihr gestern gesprochen habt?", wollte Red wissen. Ich blieb möglichst kühl, um ihm nicht zu zeigen, welche Sorgen ich mir machte. Eigentlich hätte ich ihn gar nicht mitnehmen sollen, doch ich war mir nicht sicher, ob ich allein schon stark genug war. "Es ging um Geister." "Um Geister?" "Ja. Eine Frau war gestern hier und glaubte, sie hätte einen Geist gesehen. Scheinbar war das nicht die erste Geschichte in der Art, Mr. Fuji kam hierher, um sich um dieses Wesen zu kümmern. Entweder ist es ein Geist-Pokémon, oder eine rastlose Seele. Nach dem, was wir vorhin gesehen haben, glaube ich an Letzteres…" Wir gingen weiter und kamen dabei auch an Carninos Grab vorbei. Ich warf einen Blick darauf, doch im Dunkeln wirkte es tatsächlich unheimlich. Ich verspürte ein eigenartiges Gefühl im Magen. Carnino, wenn er uns doch jetzt nur helfen könnte… "Ich bin jetzt aber auch ganz froh, dass ich mein Team wieder bei mir habe", sagte Red und sah sich um. "Es ist ziemlich düster hier, und ziemlich still. Etwas unheimlich…" Nur ein Stück weiter hatte Green gestanden. Mir gingen Reds Worte vom Mittag durch den Kopf, denn sie waren berechtigt gewesen. Was hatte er dort gemacht? Er war doch schließlich nicht aus purer Langeweile hergekommen. Wenn man diesen Turm betrat, dann doch wohl nur aus einem guten Grund. Aber wen hätte Green hier besuchen sollen? "…wie gut, dass ich Schiggy und Bisasam wieder eingepackt habe. Mit Rattfratz wäre ich wohl eher aufgeschmissen…" Ich blieb stehen. Meine Augen waren starr ins Leere gerichtet. Mein Herzschlag erhöhte sich mit einem mal, als mir klar wurde, was hier eigentlich los war. Und ich meinte nicht die Sache mit den Geistern oder dem Knogga … sondern den Grund, weshalb sich Green so seltsam benahm. Ich ließ den Blick über die Gräber schweifen, an denen Green gestern gestanden hatte. "Was ist los?", fragte Red sofort und sah mich an, als ob er sich tatsächlich sorgte. Ich schüttelte hastig den Kopf. "Ach, nichts, alles gut! Ich dachte nur, ich hätte da was gesehen. War wohl bloß ein Schatten. Los, gehen wir weiter." Ich beschleunigte meine Schritte und beeilte mich, zur nächsten Treppe zu gelangen. Ich hatte das Gefühl, mein Herz wirklich laut schlagen zu hören, und hoffte insgeheim, dass Red nichts bemerkte. Mir war es soeben klar geworden. Doch wenn meine Vermutung richtig war, dann wollte ich sie nicht unbedingt vor jemand anderem ausbreiten, auch nicht vor Red. Erst recht nicht vor Red. "Glaubst du, es gibt diese Geister wirklich?", fragte er schließlich. Ich schüttelte den Kopf. "Nein. Ich sagte ja, entweder ist es ein Geist-Pokémon oder eine rastlose Seele. Die Frage ist vielmehr, ob es sich zeigen wird…" "Was das angeht, da sind wir vorbereitet." "Wie meinst du das?" Red grinste. Er ließ den Rucksack von seinen Schultern gleiten und über den einen Arm baumeln, dann öffnete er ihn und zeigte mir etwas im Innern. "Das ist ein Silph Scope. Das hab ich von Professor Ōkido bekommen, als Dank für das Paket, du weißt schon. Ihr wart ja so nett und habt das mir überlassen." "Höre ich da eine Unzufriedenheit raus?", entgegnete ich und grinste. "Verdammt, du bist ein unverschämter Glückspilz. Das muss man dir echt lassen." "Tja, Professor Ōkido meinte, ich könnte wohl Verwendung dafür haben." Er machte den Rucksack wieder zu und setzte ihn auf, dann setzten wir unseren Weg fort. Ich musste zugeben, dass Red ein Silph Scope besaß, war unheimlich nützlich für uns. Wieder herrschte eine Weile Schweigen. Dann flüsterte Red plötzlich: "Sag mal, was vermutest du hier eigentlich? Ich meine, was da oben vorgeht?" Einen Moment lang sagte ich nichts. Es war vielleicht nicht gut, ihm alles zu sagen. Ich wusste schließlich, wie sehr ihm allein der Anblick des toten Knogga zugesetzt hatte, ich wollte es nicht noch schlimmer machen. Aber es brachte auch nichts, ihm zu verschweigen, was ich dachte. "Ich denke, dass dieses Team Rocket dahintersteckt." "Was?!" Wie erwartet war Red schockiert. "Du meinst … diese Typen, die wir am Mondberg getroffen haben? Die diese Fossilien haben wollten?" Ich nickte. "Genau die. Das ist für mich die einzige logische Erklärung." Red richtete den Blick auf die nächste Treppe. "Ich kann solche Menschen nicht verstehen … wie kann man so böse sein?" "Das hat nichts mit böse zu tun, Red. Die haben tiefgründiger Motive, von denen wir vielleicht nicht einmal was ahnen. Schlag dir dieses Gut-und-Böse-Denken aus dem Kopf. Früher oder später wirst du merken, dass die Welt sich so nicht einteilen lässt. Jeder von uns tut im Leben sowohl gute als auch böse Dinge. Auch du wirst vielleicht irgendwann mal was tun, was nicht gut ist. Genau wie ich. Wie jeder andere." Wieder ein Moment der Stille. Dann: "Rei, ich weiß nicht, ob es dir beim ersten Mal aufgefallen ist, aber die hatten sogar Peitschen bei sich. Ich meine, wozu brauchen sie die?" "Besser, du fragst mich nicht danach", sagte ich ehrlich und ging an ihm vorbei, um als erster die nächste Treppe erreichen und hoch zu leuchten. "Es würde dich nur verstören. Glaub mir, es gibt Dinge, die muss man nicht wissen. Viel wichtiger ist, dass du nicht dasselbe tust wie sie." "Ich - ich könnte nie sowas tun!", entgegnete er entsetzt. "Ich könnte niemals ein Pokémon für meine Zwecke missbrauchen! Pokémon sind Freunde, keine Werkzeuge!" Ich wandte ihm das Gesicht zu und lächelte. "Das weiß ich doch. Und diese Einstellung darfst du niemals ablegen, hörst du? Egal, was passiert. Versprichst du mir das?" Er sah mich eine Weile lang verständnislos an, doch dann nickte er. "Ja, ich versprech es. Für mich werden Pokémon immer Freunde bleiben." "Sehr gut." Ich wandte mich wieder um und stieg die Treppe empor zur nächsten Ebene. Wir mussten schon recht weit oben sein. Inzwischen war es so dunkel geworden, dass wir ohne Licht tatsächlich gar nichts hätten sehen können. Bald mussten wir Mr. Fuji finden, oder ein Mitglied von Team Rocket. Oder, wie ich auch vermutete, eine rastlose Seele. Plötzlich packte mich Red am Arm und brachte mich so zum Stehen. "Was ist?", fragte ich. Er legte den Finger an den Mund und deutete hoch zur Decke. Er senkte die Stimme: "Ich habe etwas gehört. Es klang wie Schritte. Wir sind also tatsächlich nicht allein." Auch ich lauschte nun gespannt. Doch ich hörte nichts. "Ich bin mir sicher, da war was", flüsterte Red und sah weiterhin konzentriert zur Decke. Ich war ganz froh, dass er wenigstens keine Angst hatte. Sonst wäre ich womöglich durchgedreht und würde allein weitergehen. Ich hatte hier schließlich etwas wichtiges zu tun, und dafür brauchte ich Unterstützung. "Okay, wir müssen vorsichtig sein", sagte ich mit gedämpfter Stimme und machte vorsichtig einen Schritt in Richtung der nächsten Treppe. "Besser, uns bemerkt möglichst niemand. Sonst erledigen sie uns, bevor wir sie erledigen können." Red nickte mit sicherer Miene. "Ist gut. Dann los." Wir wollten gerade weitergehen, als plötzlich ein Entsetzensschrei durch den Turm hallte, der mir beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich sah Red an, der nicht minder schockiert war. "Was geht da oben vor?!" "Keine Ahnung. Aber das klang überhaupt nicht gut. Wir sollten uns beeilen." Doch das sollte nicht nötig sein. Kaum hatten wir den Blick auf die Treppe auf der anderen Seite des Raumes gerichtet, da hörten wir schon schnelle Schritte, die eben diese Treppe hinuntergerannt kamen. Und zu unserer beider Verblüffung gehörten sie zu jemanden, den wir ziemlich gut kannten und auch Reds Blick nach zu schließen wir beide hier nicht erwartet hatten. "Green!" Völlig perplex sah ich zu, wie er geradewegs auf uns zugerannt kam, und schließlich Red umarmte, der genau wie ich überhaupt nicht zu begreifen schien, was hier vor sich ging. "Green! Was tust du hier?!" Green zitterte am ganzen Körper und klammerte sich nur noch fester an ihn. Ihm stand die Angst ins Gesicht geschrieben, und er war offensichtlich noch zu entsetzt, um sprechen zu können. "Green! Was ist los?!", fragte Red erneut und packte ihn an den Armen, um ein Stück von sich wegschieben und ihn ansehen zu können, doch Green ließ nicht locker. "Was ist passiert?", fragte ich nun, da ich wirklich nicht sonderlich scharf darauf war, den beiden beim Kuscheln zuzusehen und außerdem dringend Mr. Fuji helfen musste. Vielleicht war er in Gefahr … wenn Team Rocket wirklich hinter der Sache mit dem Knogga steckte, dann waren sie es mit großer Sicherheit, die hier ihr Unwesen trieben und vielleicht sogar die Seelen der Verstorbenen damit störten. "Ich - ich hab einen G-geist gesehen!", brachte Green schließlich hervor. Er zitterte immer noch. Ich starrte ihn ungläubig an. "Das ist nicht dein Ernst!" "Doch, ich hab ihn gesehen!" "Du hast Angst vor Geistern?!" Völlig fassungslos starrte ich ihn an, wie er am ganzen Leib zitternd immer noch Red umklammerte, als ob dieser ihn beschützen konnte. Green funkelte mich an. "Das ist nicht lustig!" Doch ich musste mir tatsächlich das Lachen verkneifen. Ich hatte alles erwartet, aber das nicht. Ich grinste. "So so. Der großartige Green Ōkido hat also Angst vor Geistern." "Hey!" Ich stellte mich hinter Red und öffnete seinen Rucksack, um das Silph Scope herauszunehmen. "Gut, solange ihr zwei hier kuscheln wollt, gehe ich schon mal hoch und mache der Sache ein Ende." Bei diesen Worten ließ Green ihn so plötzlich los, als ob er gerade einen Stromschlag bekommen hätte. Er steckte die Hände in die Hosentasche und wandte sich verlegen ab, während ich mit dem Silph Scope an den beiden vorbeiging und den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte. "Ich denke, ich weiß genau, was hier los ist. Ich werde mich um diese Sache kümmern. Inzwischen bin ich mir absolut sicher. Team Rocket steckt hinter der ganzen Sache." "Ich hab gesehen, wie einer von denen hier reingegangen ist", sagte Green, der sich jetzt zunehmend bemühte, seine Fassung wieder aufrecht zu erhalten. Wir beide starrten ihn an. "Wie bitte?!" "Ja! Deshalb bin ich doch überhaupt hier rein", erklärte Green und warf uns nur flüchtige Blicke zu. "Ich bin durch die Stadt gegangen und hab dann diesen Rüpel gesehen. Ich wollte wissen, was er hier treibt, und bin ihm gefolgt. Dann ist er hier in den Turm gegangen, nur deshalb bin ich überhaupt hier." "Das ist nur die Bestätigung. Gut, ich werde jetzt da raufgehen." "Das - das meinst du nicht ernst?!" "Doch, das tue ich. Es wird Zeit, dass eine rastlose Seele endlich ihren Frieden findet." "Aber - der Geist!" "Es gibt keine Geister", rief ich amüsiert und stieg die Treppe hinauf. Ich konnte es nicht fassen. Dass ausgerechnet Green Angst vor Geistern hatte, das hätte ich wirklich niemals vermutet. Aber scheinbar musste auch so ein großartiger Typ wie Green Ōkido zumindest eine kleine Schwäche haben. Ich war nun fast im obersten Stockwerk angekommen. Dort hinten musste die letzte Treppe sein. Und hier sollte dann vermutlich auch dieser Geist sein, von dem sie alle sprachen. Und der Green beinahe zu Tode erschreckt hatte. Ja, es amüsierte mich unheimlich. Ich näherte mich langsam der Treppe und leuchtete durch den Raum. Doch ich konnte absolut nichts Ungewöhnliches erkennen, das auf die Anwesenheit eines anderen Lebewesens hindeutete. Dabei musste es hier sein, hier irgendwo… "Rei!" Ich wandte mich um. Die beiden waren mir also doch noch gefolgt, wenn auch Green etwas widerwillig. Vielleicht waren sie auch einfach nachgekommen, weil sie sonst allein im Dunkeln gestanden hätten, was Green mit Sicherheit durch die Anwesenheit eines Geistes wohl nicht unbedingt beruhigt hätte. Red hingegen sah mir entschlossen ins Gesicht. "Du musst da nicht allein durch, wir kommen mit! Ich kann mir inzwischen auch denken, was hier vor sich geht. Und ich will, dass Team Rocket dafür bestraft wird!" "Sehr gut", sagte ich erleichtert und wandte mich der letzten Treppe zu. "Und wo hast du diesen Geist gesehen, Green?" "Da", sagte er bloß und deutete mit zittriger Hand auf die Treppe, die nur wenige Meter entfernt war. "Ich wollte nach oben gehen, und dann -" "Verstehe", sagte ich und lächelte. "Ihr müsst euch womöglich keine Sorgen machen." "Was? Keine Sorgen?!" "Das alles wird einen Grund haben, Green", hörte ich Red hinter mir sagen, während ich auf die Treppe zuging. Ich machte langsam einen Schritt vor den anderen. "Rei, tu das nicht!", rief Green, doch ich reagierte nicht. Und dann geschah es. Am Fuß der Treppe angekommen sah ich, wie etwas wie aus dem Nichts auftauchte. Langsam entstanden unheimliche Umrisse, die keine richtige Form zu haben schienen, und ein paar unheimlicher Augen sah mich wütend an. "Verschwinde von hier!" "Nein", sagte ich bestimmt, und setzte das Silph Scope auf. "Ich habe so eine Ahnung, wer du bist. Und das werde ich jetzt endgültig klarstellen." "Rei, was tust du da?!" Die Umrisse veränderten sich, als ich das Silph Scope einsetzte. Sie wurden klarer und nahmen allmählich eine Form an. Die Form eines Pokémon. Ich lächelte. "Du bist es also. Knogga." Hinter mir wurde es plötzlich still. Ich wandte mich zu den beiden um. "Es konnte nur diese eine Möglichkeit geben. Ich hab viel darüber nachgedacht, und es erschien mir nur logisch. Dieser Geist, von dem alle sprechen, ist die rastlose Seele eines Knogga. Dem Pokémon, dass wir vor der Stadt gefunden haben." "Du meinst - das ist gar kein echter Geist - sondern die Seele eines verstorbenen Pokémon?" "Genau, Green", sagte ich und wandte mich wieder dem Knogga zu, das mich misstrauisch beäugte. Doch ich verspürte keine Angst. Zumindest nicht vor ihm. "Wir haben deinen Körper draußen vor der Stadt gefunden. Danach sind wir sofort hierhergekommen. Im Augenblick sind bestimmt ein Dutzend Leute da draußen und suchen dein Junges. Ich habe Reina, ein Mädchen vom Waisenhaus, gebeten, sich sofort darum zu kümmern. Sie werden nicht ruhen, bis sie es gefunden haben. Es wird sich jemand um das Kleine kümmern. Darauf hast du mein Wort." Knogga hob den Kopf und beäugte mich weiterhin misstrauisch, doch weniger feindselig als zuvor. Es musste unheimlich aufgebracht sein und einen Hass auf die Menschen haben. Und dagegen musste ich etwas tun. "Sie sind dort oben, nicht wahr?", fragte ich und nickte mit dem Kopf in Richtung Decke. "Die, die dir das angetan haben. Die wahrscheinlich an dein Junges wollten, das du mit deinem Leben beschützt hast." Knogga nickte. "Gut." Ich zog Fukanos Pokéball vom Gürtel und wandte mich zu den anderen beiden um. Green hatte sich an Reds Arm geklammert und starrte wie gebannt auf den Geist, der sich für ihn nicht offenbarte. "Ich brauche eure Hilfe. Team Rocket hat dieses Knogga getötet, und das auch noch auf grausamste Weise. Red, du hast mich eben etwas bezüglich Team Rocket gefragt. Du kannst dir jetzt denken, wofür sie es brauchen. Um so etwas anzurichten wie das." Red schluckte. Ich nahm das Silph Scope ab und reichte es ihm. "Hier, bitte. Schließlich gehört es dir. Es gibt keinen Grund, weshalb wir uns fürchten müssten. Wenn wir Team Rocket von hier fortjagen und sicherstellen, dass Tragosso in guten Händen ist, dann wird auch Knogga seinen Frieden finden. Und das ist jetzt das Wichtigste, neben der Rettung von Mr. Fuji." "Also tun wir's!", sagte Red zuversichtlich und tat ein paar Schritte auf mich zu, dann wandte er sich an den letzten. "Und was ist mit dir?" "Nun -", setzte Green an und sein Blick wechselte zwischen uns und dem Geist hin und her. "Na ja … ich kann euch ja schlecht allein lassen, oder?" Ich grinste. "Natürlich nicht. Sonst würde es ja so aussehen, als ob du Angst hättest." "Ich hab keine Angst!" "Natürlich nicht", erwiderte ich amüsiert und atmete tief durch. "Gut. Dann gehen wir jetzt da hoch. Machen wir der Sache ein Ende, dann wird auch für alle wieder Frieden einkehren!" Ich war dankbar. Undendlich dankbar. Ich konnte es ihnen nicht sagen, weil sie es niemals verstehen würden, ohne dass ich ihnen meine ganzen Gefühle offenbarte … doch ich war so dankbar, dass sie mich nicht alleinließen. So ließ Knogga uns vorbei und sah uns in seiner Geister-Gestalt nach, wie wir zu dritt die Treppe hinaufstiegen. Dabei ließ Green es keine Sekunde aus den Augen und hielt so weit wie möglich Abstand. "Hey!", rief ich durch den Raum und hob die Taschenlampe. Ich war erleichtert. Am Ende des Raumes am Boden saß Mr. Fuji, gefesselt und geknebelt, doch er lebte, und er schien auch keine Verletzungen davongetragen zu haben. "Mr. Fuji!" Er wollte etwas sagen und schüttelte heftig den Kopf. Mir war klar, was er meinte. Ich hatte sie schließlich schon längst gesehen. Drei Rüpel traten aus der Dunkelheit und bauten sich vor uns auf. "Na sieh mal einer an", sagte der erste von ihnen und neigte den Kopf. "Da haben es doch tatsächlich welche zu uns geschafft." "Und dann auch noch drei Kinder", sagte der zweite und lachte. Der dritte nickte eifrig. "Na dann haben wir zumindest etwas, womit wir uns die Zeit vertreiben können." Mr. Fuji versuchte verzweifelt, sich aus den Fesseln zu befreien und schüttelte noch heftiger den Kopf. Doch ich konnte nicht umkehren. Nicht jetzt. Und auch vorher nicht. Ich hätte es nie gekonnt. "Ich bin nicht hier, um meine Zeit zu verschwenden. Ich will, dass ihr von hier verschwindet." Jetzt lachten sie alle. "Ach, und warum sollten wir das tun?", fragte der zweite und grinste bösartig. "Nur, weil du das sagst? Denkst du, wir haben Angst vor dir? Willst du uns wehtun?" "Wenn es sein muss", erwiderte ich scharf und hob den Pokéball hoch. "Wenn es sein muss, dann werde ich euch alle besiegen. Jeden Einzelnen. Stück für Stück." "Haha, was glaubst du denn, wer du bist?", lachte der erste. Meine Augen verengten sich. Eigentlich wäre es nicht klug gewesen, es ihnen zu sagen, doch mir war klar, dass sie längst von mir wussten. Demnach war meine Identität kein Geheimnis mehr, sondern die einzige Waffe, die ich neben meinem Team hatte. "Ich bin Lt. Katagiris Tochter." Das Lachen hörte schlagartig auf. Ich grinste unheilvoll. Meine Worte hatten ihre Wirkung getan. "Jungs, ich würde sagen, jeder von uns nimmt sich einen vor, was sagt ihr?" "Einverstanden", sagte Green und zog nun ebenfalls einen Pokéball. "Nichts lieber als das!", erwiderte Red und ließ an seiner Stimme erkennen, wie wütend er auf sie war. Zwei der Rüpel taten ein paar Schritt rückwärts, nur der erste starrte mich entsetzt an. "Du - du bist die Tochter von Lt. Katagiri?!" "Ja", sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. "Leibhaftig." "Du bist ein Kind!" "Und dennoch hast du Angst vor mir?", fragte ich drohend und kam näher. "Na los, zeig dein wahres Gesicht. Ich mach euch alle fertig, wenn es sein muss. Ich habe keine Scheu, gegen euch anzutreten." Es trat eine lange Pause ein, in der nichts geschah. Ich wollte eigentlich erreichen, dass sie zuerst angriffen. Doch scheinbar hatten sie es tatsächlich mit der Angst zu tun bekommen. Und das bestärkte mich nur noch mehr, keine Miene zu verziehen und es ihnen heimzuzahlen. Es verstrichen lange Sekunden. Minuten. Sogar Mr. Fuji wurde wieder ruhig. Unsere Blicke trafen sich. Die Rüpel ließen uns keinen Moment aus den Augen. Und dann griffen wir beinahe alle gleichzeitig an. Die Rüpel warfen ein Smogon und zwei Zubat in den Kampf, wir hatten uns jeweils alle für unseren ersten Partner entschieden, sodass ihnen Schillok, Glutexo und Fukano gegenüberstanden. Es war einer der wenigen Momente, in denen Regeln keine Rolle mehr spielten. Wir warteten keine Sekunde ab, bis wir ihnen Aquaknarre, Glut und Biss befahlen, wir wollten ihnen keine Chance geben. Und glücklicherweise waren diese Rüpel tatsächlich nicht sonderlich stark. Auch ihr Golbat, Traumato und Rattfratz konnten den Attacken unserer Partner nicht standhalten. Es endete mit einer deutlichen Niederlage. Einer Niederlage, die den dreien noch mehr Angst jagte. "Wir - wir haben gegen ein paar Kinder verloren?!", brachte der erste heraus und starrte mich vollkommen schockiert an. Ich hielt seinem Blick stand. "Ja, das habt ihr. Und wir werden euch noch öfter das Handwerk legen, solltet ihr euch nicht zurückziehen. Ich weiß nicht, was euch antreibt. Und vielleicht will ich es auch nicht wissen. Aber ich will euch hier nie wieder sehen. Ist das klar?!" "Rei", begann Red hinter mir, doch ich streckte den Arm aus, den Blick weiter auf die Rüpel gerichtet. "Ich weiß, was ihr mit Tragossos Mutter gemacht habt. Und das ist unverzeihlich. Verlasst diese Stadt, und zwar für immer!" Die Rüpel tauschten Blicke. Dann wandte sich der erste wieder mir zu. "Gut, für dieses Mal habt ihr gewonnen. Aber wartet nur, das werden wir euch noch heimzahlen." "Ja, der Boss wird augenblicklich davon erfahren!", sagte der zweite und versuchte wohl, bedrohlich zu klingen. Doch er schüchterte mich nicht im Geringsten ein. Er brachte mir bloß ein amüsiertes Lächeln über die Lippen. "Na los, dann sagt es ihm. Sagt ihm, dass ihr von drei Kindern aufgehalten wurdet." Der dritte Rüpel sah nun noch entsetzter aus. "Niemals!" "Jetzt verschwindet von hier!", schrie ich beinahe und machte noch einen drohenden Schritt auf sie zu. Daraufhin schreckten sie zurück, und eilten den Blick immer noch auf uns geheftet vorbei hinüber zur Treppe. Wir sahen zu, wie sie verschwanden, als ich ihnen noch hinterherrief: "Sagt es ruhig eurem Boss! Und richtet ihm von mir aus, dass Rei Katagiri auf ihn warten wird!" "Rei, bist du verrückt?!", sagte Green fassungslos und starrte zuerst auf mich, dann auf die jetzt wieder leere Treppe, und wieder zu mir. "Du kannst es doch nicht wirklich darauf anlegen!" "Und ob ich das kann", entgegnete ich und lief los zum anderen Ende des Raumes. "Mr. Fuji!" Ich ließ mich vor ihm zu Boden fallen und befreite ihn von seinen Fesseln. Sobald er wieder sprechen konnte, legte er los: "Rei! Du bist vollkommen verrückt, du hättest niemals herkommen sollen!" "Aber jetzt bin ich hier", entgegnete ich und schnitt mit einem Messer die Fesseln durch. "Ich habe ein Ehrgefühl, das mir sagt, was ich zu tun habe. Sie haben doch nicht ernsthaft geglaubt, dass ich Sie einfach hier oben lasse?" "Aber - Rei!" Er war fassungslos. Hinter mir hörte ich einen leisen Aufschrei, und als ich mich umwandte, drückte sich Green ein wenig verängstigt an die Wand. Knogga war zu uns hochgeschwebt und sah uns an. Mr. Fuji hob den Kopf. "Du bist also die Seele des armen Knogga, das sie getötet haben." Der Geist nickte. "Nun. Hoffentlich findest du schnell deinen Frieden. Ich werde alles tun, um dein Junges zu finden." "Nicht nötig", sagte ich und stand auf. "Ich habe Reina gebeten, die anderen zusammen zu trommeln und das Kleine zu suchen." "Ihr wusstet also davon?", fragte Mr. Fuji erschüttert und stand langsam auf. Red nickte. "Ja, wir haben das Knogga draußen vor der Stadt gefunden, Rei hat sofort verstanden, was hier vor sich ging." "Aber - wie?!" "Das ist eine lange Geschichte", sagte ich und sah erleichtert in die Runde. "Wir können später in Ruhe darüber reden. Ich bin erst mal froh, dass wir diese Mistkerle von hier vertrieben haben. Danke euch, Leute. Wirklich." Ich konnte ihre Blicke spüren, und sah rasch zu Boden. Keine weiteren Fragen. Bitte… "Auch ich danke euch, ihr habt mich gerettet", sagte Mr. Fuji dankbar. "Durch euch ist wieder Ruhe eingekehrt. Und Knogga kann bald endlich seinen Frieden finden. Lasst uns zurückgehen, wir werden sicher schon vermisst." Und so stiegen wir wieder hinab. Ich konnte kaum beschrieben, wie erleichtert ich war, wie froh ich war, dass wir alle heil aus der Sache rausgekommen waren. Wir verließen den Turm, und trennten uns wieder. Green musste sich erst mal von seiner Begegnung mit dem Geist erholen und auch Red musste wohl einiges verarbeiten. So ging ich allein mit Mr. Fuji zu seinem Haus, in dem wir schon erwartet wurden. Die anderen waren wieder zurück. Reina hatte das Tragosso gefunden und sich darum gekümmert. Auch den Körper des toten Knogga hatten sie sorgsam eingepackt und mitgebracht, um es im Turm zu bestatten. Somit konnte Knogga auch endlich seinen Frieden finden, und auch die Geschichten über die Geister hörten somit wieder auf. Es war also alles nochmal halbwegs gutgegangen. Halbwegs… Es gab ein großes Essen. Sie waren alle gekommen, weil sie sich um Mr. Fuji gesorgt hatten, und waren alle mehr als froh, dass er heil zurückgekehrt war. Natürlich freuten sie sich auch, dass mir nichts passiert war und dankten mir, doch ich konnte darauf nichts erwidern. Ich wünschte einfach, ich müsste nicht länger so allein bleiben… "Hey, Rei!" Ich sah auf. Die Frau, die am Vorabend von den Geistern erzählt hatte, kam ins Esszimmer und deutete in Richtung der Haustür. "Da ist jemand, der glaube ich zu dir gehört." "Zu mir?", wiederholte ich irritiert. Und dann trat jemand neben sie ins Esszimmer. Und ich konnte kaum beschreiben, wie ich mich freute. "Green!" "Ich dachte, ich komme einfach mal vorbei. Ich hoffe, ich störe nicht", sagte er und schenkte mir ein, wenn auch noch etwas erzwungenes, Lächeln. Ich lächelte verhalten zurück und zog den Stuhl neben mir zurück. "Setz dich. Bei Mr. Fuji wird so großzügig gekocht, es ist immer genug für alle da." Er kam um den Tisch herum und setzte sich. Er schien beinahe wie zuvor, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob er nun alles halbwegs wieder in Ordnung war oder ob er immer noch spielte. Ich war jedenfalls froh, dass er da war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)