Secrets von Lenya_C_Sharizardon ================================================================================ Kapitel 18: Lies ---------------- Es vergingen wenige Tage, in denen wieder Ruhe einkehrte. Die Geschichten über Geister, die im Turm herum spukten, waren endgültig beseitigt, Knogga war bestattet worden und die Stimmung war wieder um einiges fröhlicher als zuvor. Es gab nur noch zwei Dinge, die mich immer noch ein wenig beunruhigten: Red hatte die Geschehnisse offenbar noch nicht ganz überwunden, und Green verhielt sich nachwievor ein wenig seltsam. Nach Letzterem wollte ich natürlich nicht fragen, doch ein Teil von mir wollte es dennoch wissen. "Du gehst schon wieder?", fragte Mr. Fuji, als ich mich zur Tür wandte. Ich nickte, doch inzwischen konnte ich besser mit der Sache umgehen. "Ja. Aber ich will dort womöglich noch jemand anderen besuchen. Und mich von Carnino verabschieden." "Es ist also Zeit für dich, weiterzuziehen?" "Ja. Ich denke, ich bin so weit." Mr. Fuji lächelte und kam auf mich zu. "Rei. Ich weiß, dass du das womöglich nicht hören willst, aber du wirst uns fehlen. Wir hatten dich gerne bei uns. Und du sollst wissen, dass du jederzeit wieder herkommen kannst, wenn du hier bist." "Danke, Mr. Fuji", sagte ich ehrlich. "Danke für alles." Und zu meiner Überraschung schloss er mich plötzlich in seine Arme. "Du kommst wirklich sehr nach deinem Vater. Er wäre stolz auf dich. Auf alles, was du bisher getan hast. Pass auf dich auf." Er ließ mich wieder los. Und es wirkte beinahe so, als wären seine Augen mit Tränen gefüllt. Ich war mit der Situation ein wenig überfordert. Er schien mich wirklich gern zu haben. Ich wollte ihn erneut nach meinem Vater fragen, doch sein Blick verriet mir, dass ich nichts aus ihm herausbekommen würde. Also wandte ich mich langsam ab und verließ das Haus. Ich hätte nicht geglaubt, dass mir der Abschied so schwerfallen würde. Und es machte die Sache auch nicht besser, als ich ein letztes Mal Reina und die anderen besuchte. Sie wollte mich gar nicht erst gehenlassen. Doch es war nun mal das Beste, diese Stadt zu verlassen. Ich konnte nicht ewig hier bleiben. Es tat mir auf Dauer nicht gut. Und nicht nur mir… Also kehrte ich auch fürs Erste das letzte Mal in den Turm zurück. Ich wollte mich zumindest noch von Carnino verabschieden. "Du warst wirklich ein treuer Kamerad", sagte ich, als ich vor dem Grabstein niederkniete. "Es hat nie einen Partner gegeben wie du es warst. Ich werde dir das nie vergessen, was du alles getan hast. Und ich werde alles tun, damit du auch auf deinen Sohn stolz sein kannst. Du wirst immer in seinem Herzen bleiben, und auch in meinem." Ich stand auf und sah mich um. Jetzt war die Gelegenheit, um die Wahrheit herauszufinden. Aber irgendetwas in mir schien mich daran hindern zu wollen, als ob ich damit eine Grenze überschreiten würde. Überschritt ich damit denn wirklich eine Grenze, wenn ich mich an einem öffentlichen Ort umsah und zufällig etwas entdeckte, das lediglich meine Theorie untermalte? Oder sollte ich mich deshalb schlecht fühlen, weil es mich absolut nichts anging ich damit wirklich zu weit gehen würde? So oder so, es war mir nicht gleichgültig. Und ich wollte es wissen. Ich konnte es auch einfach für mich behalten, niemand musste je erfahren, dass ich hier war. Ich war niemandem Rechenschaft schuldig. Also konnte ich auch einfach so tun, als ob ich nie etwas gesehen hätte. Und dabei hatte ich ja noch nicht mal was gesehen. Ich atmete tief durch und wandte mich um. Keiner der wenigen Anwesenden achtete auf mich. Ich war also völlig unbeobachtet, und selbst wenn mir einer zusehen würde, würde er nichts sehen als einen Trainer, der sich einem Grab zuwandte. Und danach würde wohl niemand fragen. Langsam schritt ich an den Grabsteinen entlang. Aber nein. Ich konnte es einfach nicht. Ich hielt inne. Es war nicht an mir, ihm nachzuspionieren und herauszufinden, was er in diesem Turm gemacht hatte. Auch wenn ich es wissen wollte, es wäre etwas anderes gewesen, würde er es mir sagen. Vielleicht lag ich ja auch total falsch und interpretierte einfach zu viel in die Sache hinein. Ich sollte es am besten einfach lassen… Gut eine Viertelstunde später betrat ich das Pokémon-Center. Ich hatte mich entschieden, Red einen Besuch abzustatten. Ich wollte wissen, wie es ihm ging. Eigentlich war ich absolut nicht der Typ für Mitgefühl und Anteilnahme, die Welt war nun mal grausam und nicht so idyllisch, wie einige sie sich vorstellten. Damit musste man klarkommen. Und demnach war es mir auch recht egal, wie es anderen dabei ging, je früher man lernte, damit umzugehen, desto besser. Doch in diesem Fall war es anders. Es war mir nicht egal. Red war ein Freund, genau wie Green. Und auch wenn ich es mir absolut nicht eingestehen wollte … es ging mir näher als ich zunächst dachte. Ich stieg die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf und überlegte, wie ich zu suchen anfangen sollte. Red hatte mir schließlich nicht gesagt, welches Zimmer er bewohnte. Und da ich weder eine Verwandte noch die Polizei war, würde mir wohl kaum einer Auskunft darüber geben. Also musste ich mir etwas anderes überlegen. Am oberen Treppenabsatz angekommen wandte ich mich zu beiden Seiten des Ganges. Es musste unzählige Zimmer hier geben, genau das richtige zu finden, würde wohl nahezu unmöglich sein. Doch ich war schließlich niemand, der leicht aufgab. Also machte ich mich auf die Suche. Einige Türen standen offen, hin und wieder eilte ein Trainer durch den Gang und von einer Tür zur anderen. Ich ließ den Blick an ihnen vorbeischweifen, doch Red schien bisher nicht dabei zu sein. Ich bog um die Ecke und ging den nächsten Gang entlang. Eigentlich war es wirklich aussichtslos, doch ich wollte nicht umkehren. Vielleicht würde ich ja Glück haben. Ich wollte zumindest wissen, wie es ihm ging. Schließlich … waren wir doch irgendwo Freunde. "Na sieh mal einer an." Ich schreckte zusammen und hob den Kopf. Ganz in Gedanken verloren wandte ich mich zu demjenigen um, der dort im Türrahmen eines der Zimmer stand und mich mit hochgezogenen Brauen musterte. "Was verschlägt dich denn hierher?" "Hey, Green", sagte ich und versuchte hastig, nicht allzu abwesend zu wirken und meine Haltung zu bewahren. "Ich dachte, ich könnte mal schauen, ob ich Red finde. Wollte mal sehen, wie es ihm geht." Greens Gesichtszüge erschlafften ein wenig. "Nun … nicht besonders gut. Du weißt ja, wie er ist." "Ihn nimmt das alles ganz schön mit, was?" Er nickte. "Warst du schon bei ihm?", fragte ich. Green versetzte mir einen vielsagenden Blick. "Natürlich. Aber er wollte lieber alleine in seinem Zimmer bleiben und hat mir gesagt, ich solle ihn in Ruhe lassen." Er trat zu mir in den Flur und zog die Tür hinter sich zu. "Gehst du weg?" "Nur ein bisschen die Beine vertreten", gab er ziemlich knapp zurück, und ohne mich anzusehen. "Ich will schließlich nicht den ganzen Tag hier drinnen hocken. Wenn du Reds Zimmer suchst, einfach den Gang lang bis zum Ende, dann rechts und die zweite Tür. Er wird dich nur wahrscheinlich nicht rein lassen." "Das lass mal meine Sorge sein." Green versetzte mir einen ziemlich finsteren Blick. "Ich mein es ernst. Es geht ihm gar nicht gut. Also erwarte nicht zu viel." "Ich hab selten hohe Erwartungen", gab ich zurück. "Ich werd sehen, was ich tun kann." "Gut." Er wandte sich ab und ging davon. "Viel Glück." Ich sah ihm nach, bis er um die Ecke bog und verschwunden war. Was trieben wir alle hier eigentlich für ein Spiel? Wieso machte es den Eindruck, als ob bloß einer dem anderen gleich die nächste Lüge auftischte? Irgendwie klang im Augenblick für mich nichts mehr glaubwürdig. Als wäre unser Leben nichts weiter als ein verlogener Haufen Müll. Es widerte mich an. Ich folgte Greens Beschreibung und stand schließlich vor der Tür, hinter der sich Red wohl völlig allein zurückgezogen hatte. Wahrscheinlich wollte er wirklich niemanden sehen, doch ich hatte meine Mittel und Wege, mich würde er nicht so schnell abwimmeln können. Allerdings bezweifelte ich auch, dass es Green wirklich egal war. In seinen Worten hatte ein eigenartiger Tonfall gelegen, als ob er mich sogar fast um Hilfe bitten würde… Ich klopfte an. Keine Reaktion. Ich klopfte wieder. Drinnen konnte ich Geräusche hören, doch es tat sich nichts. "Red, mach auf. Ich weiß, dass du da drin bist." Ich wartete. Doch immer noch tat sich nichts. Ich seufzte und hob die Stimme. "Entweder machst du mir die Tür auf und lässt mich rein, oder du musst damit leben, dass ich ganz plötzlich und unerwartet in deinem Zimmer stehe. Ich hab nicht nur Survival Trainings gemacht, ich kann auch sowas wie Schlösser knacken." Wieder wartete ich. Doch diesmal drangen lautere Geräusche durch, als ob jemand vom Bett aufstand und in Richtung Tür schritt. Und tatsächlich, nur wenige Sekunden später wurde innen ein Schlüssel rumgedreht und die Tür öffnete sie sich. Ich sah in Reds Gesicht, musterte ihn. Doch er sagte kein einziges Wort. Er sah mich bloß flüchtig an, wandte sich um und machte kehrt, ohne die Tür wieder zu schließen. Ich fasste dies als Einladung auf. Ohne zu zögern betrat ich das Zimmer, schloss die Tür hinter mir und wandte mich um. Zu beiden Seiten des einzigen Fensters im Raum standen zwei Hochbetten, und auf der rechten, unteren Matratze saß Red, die Beine halb angewinkelt und den Kopf an die Wand gelehnt. Er sah mich immer noch nicht wirklich an, nahm einen Gameboy vom Nachttisch und fixierte sich vollständig auf das Spiel, als ob ich überhaupt nicht im Raum wäre. Jetzt wusste ich, was Green gemeint hatte. Red schien völlig verschlossen, er machte nicht einmal den Anschein eines Versuchs, irgendetwas an sich heranzulassen. Doch so einfach würde ich nicht aufgeben, ich würde diesen Raum nicht verlassen, ohne ihn zum Reden zu bringen. "Was spielst du?", fragte ich, um ein Gespräch zu eröffnen. "Pokémon", gab er bloß zurück, ohne Blick davon abzuwenden. So deprimierend und drückend die Stimmung auch war, ich musste lächeln. "Das überrascht mich eigentlich nicht." Red sagte nichts. Ich holte tief Luft, wandte mich zur anderen Seite des Raumes und ließ mich auf der freien Matratze nieder, die Arme auf meine Knie gestützt. "Hör zu, Red. Ich komme gleich zur Sache, ich will nicht groß drum herum reden. Was in den letzten Tagen und Wochen hier passiert ist, geht uns allen nah. Sowas geht nicht spurlos an einem vorbei, an niemandem. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass solche Ereignisse uns aus der Bahn werfen." "Diese Mistkerle haben dieses arme, unschuldige Knogga zu Tode geprügelt, weil es sein Kleines beschützen wollte", sagte Red mit halb erstickter Stimme und hob den Kopf, sah mich jedoch immer noch nicht an. "Ich hab seinen toten Körper im Gras liegen sehen, wie soll sowas einen nicht aus der Bahn werfen?" "Ich weiß…" Ich konnte so sehr mit ihm fühlen. "Deshalb wollte ich auch nicht, dass du das siehst." "Dir hat es wohl weniger ausgemacht…" "Red", sagte ich scharf und sah ihn nun so durchdringend an, dass es ihn dazu veranlasste, mich wenigstens kurz anzusehen. "Jetzt hör mir mal zu. Das hat auch bei mir Spuren hinterlassen. Aber ich habe schon Schlimmeres durchgemacht und gesehen, als dass ich mich davon groß beeinflussen lassen könnte." "Schlimmeres?", wiederholte Red und riss die Augen auf. Ich befürchtete fast, dass er gleich losweinen würde. Hoffentlich nicht. Reden konnte ich ganz gut, wenn ich wollte, aber auf ausgewachsene Emotionen war ich nicht vorbereitet. Und seine Augen wirkten jetzt schon so gerötet, dass ich bereits mit dem Schlimmsten rechnete. "Was gibt es denn noch Schlimmeres?" "Frag mich bitte nicht…" Meine Stimme verlor sich. Es versetzte mir einen Stich. Ich wollte über ihn reden, nicht über mich. Kein bisschen. "Ich weiß inzwischen, dass dein Vater eine Art Held war und du verdammt stolz darauf bist. Aber ich bin nicht so knallhart wie du! Ich kann solchen Menschen nicht verzeihen, die so grausame Dinge tun, und ich werde sie auch niemals verstehen!" Ich senkte den Blick auf den Boden. Seine Worte trafen mich. "Was glaubst du eigentlich … denkst du, ich finde es cool, so hart zu sein? Bestimmt nicht. Ich tu das, weil ich es muss. Würde ich alles an mich heranlassen, jede kleinste Grausamkeit, die in dieser Welt geschieht, jede Ungerechtigkeit, dann wäre unfähig, überhaupt ein Trainer zu sein." "Tut mir leid, dass ich dann wohl zu schwach dafür bin", sagte Red mit einem gespielten Auflachen und wandte sich nun wieder seinem Spiel zu. Ich hätte ihn dafür ohrfeigen können. Es machte mich wütend, wenn jemand glaubte, ich wäre bloß eine gefühllose Kampfmaschine. Wäre das der Fall, dann wäre ich doch überhaupt gar nicht erst hergekommen! Und ich hasste es noch mehr, wenn sich Menschen grundlos fertigmachten. Dieser Idiot! "Red", setzte ich an, bemüht, nicht loszuschreien und meine zittrige Stimme im Zaum zu halten. "Ich sage nicht, dass du dich zu einem emotionslosen Mistkerl entwickeln sollst. Du sollst nur nicht alle Dinge so nah an dich heranlassen. Ich weiß, es ist nicht einfach. Absolut nicht. Aber wenn du dich in jede Situation reinhängst, gehst du nur selber dran kaputt. Was geschehen ist, ist geschehen. Wie mit diesem Knogga. Ja, es ist grausam und unverzeihlich, was Team Rocket getan hat! Aber Knogga ist tot. Egal, wie sehr du mitfühlst, es wird nie wieder zurückkehren. Es ist vorbei. Wir haben getan, was wir tun konnten. Wir haben dafür gesorgt, dass Knoggas Seele ihren Frieden gefunden hat und das Junge in Sicherheit ist. Und glaub mir, bei Mr. Fuji ist es in den besten Händen. Ich weiß, dass Reina sich darum kümmert." "Und was ist mit Team Rocket…" "Das überlässt du mir", antwortete ich selbstsicher. Meine Stimme hatte ihre Festigkeit wiedergewonnen. Zum Glück. "Ich hege einen persönlichen Groll gegen Team Rocket, belass es aber bitte dabei. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um diese Mistkerle zur Strecke zu bringen. Koste es, was es wolle." "Dafür hast du auf jeden Fall meine Unterstützung", sagte Red, nun etwas ruhiger, und tatsächlich lächelte er. Ich tat es ihm gleich. "Das ist lieb von dir. Aber zu deinem Besten, halt dich da raus. Ich meine es nur gut. Diese Typen im Turm, die waren nicht besonders stark. Und wir waren zu dritt, es war ein fairer Kampf. Aber die werden nicht immer fair kämpfen. Je gefährlicher wir werden, umso weniger werden die sich an irgendwelche Regeln oder Sitten halten. Wenn nötig, werden die uns auch mit allen Pokémon gleichzeitig angreifen. Ich muss hart trainieren, um sie schlagen zu können, und das so schnell wie möglich. Dass ich für die bloß ein Kind bin, ist mein Vorteil. Jetzt unterschätzen sie mich noch. So lange, bis sie wissen, dass meine Motive reichen, um mich anzutreiben, und ich ihnen eine gewisse Stärke voraushabe." "Glaubst du wirklich, das schaffst du?" Er wandte den Kopf und sah mir direkt in die Augen, besorgt. Ich erwiderte seinen Blick und nickte. "Ja. Das schaffe ich. Ich wollte auch eigentlich schon aufbrechen und das Training wieder aufnehmen, aber ich wollte auch nach dir sehen, deshalb bin ich hier." "Ja, jetzt bist du hier…" "Ja. So sind Freunde nun mal. Im Ernst, es ist wirklich nur ein gutgemeinter Rat von mir. Du hast ein großes Herz, vor allem für Pokémon. Das ist auch gut. Aber lass nicht jedes tragische Schicksal an dich ran. Diese Welt verlangt von uns, dass wir viel zu schnell erwachsen sein. Die wirklich guten Trainer durften auch nie wirklich Kind sein." "Ich hatte eigentlich eine recht glückliche Kindheit…", sagte Red nachdenklich, während er wieder weiterspielte, sich diesmal jedoch gleichzeitig auch voll und ganz auf unser Gespräch zu konzentrieren schien. "Ich kann mich zwar an meinen Vater kaum erinnern, aber ich hab immer glücklich mit meiner Mutter zusammen gelebt." "Und mit Green als besten Freund wohl auch", erinnerte ich ihn. Er nickte. "Ja, das auch … wir waren eigentlich schon befreundet seit ich denken kann…" "Siehst du?", sagte ich und lächelte amüsiert. "Du hast ein nettes Zuhause an einem ruhigen Ort, du hast einen guten Freund, deine Mutter, die dich sicher liebt, was willst du also? Ich für meinen Teil bin bloß ein armseliges Großstadtkind, das in eurem Dorf wohl bloß die Aufmerksamkeit aller und viel negative Kritik auf sich ziehen würde, dieses komische Kampfweib mit dem bösen Blick, das die ganze Zeit nur von Partnern und Kamerdschaft faselt und redet, als wären wir alle im Krieg." Ich hatte es geschafft. Red musste lachen. Ich war ungeheuer erleichtert. "Ja, manchmal bist du aber auch echt seltsam. Ich hab dich anfangs kein Stück verstanden. Und ehrlich gesagt, versteh dich immer noch nicht so wirklich." "Das macht nichts. Aber du willst wissen, warum ich so bin?" Jetzt fiel es mir um einiges leichter, über persönliche Dinge zu sprechen. Zumindest so weit, dass es nicht an meiner kaputten Gefühlswelt kratzte. "Wie du inzwischen ja rausgefunden hast, ja meine Familie hat zum Teil mit dem Militär zu tun. Mein Vater war Soldat, er hat vielen Menschen das Leben gerettet, unter anderem wohl auch Major Bob, wie ich jetzt weiß." Red ging offenbar ein Licht auf. "Dann habt ihr in der Arena über deinen Vater geredet?" "Ja. Die beiden haben mal zusammen gedient." "Deshalb warst du so seltsam … wir haben uns schon gewundert, wieso du so schnell abgehauen bist. Wir haben dich noch gesucht, aber du warst spurlos verschwunden." Ich nickte und versuchte, einen entschuldigenden Blick aufzusetzen. "Tut mir leid, es war einfach alles etwas viel. Ich hab ein paar Dinge erfahren, das musste ich alles erst mal in meinen Kopf kriegen. Er ist schon langer Zeit verschwunden und ich folge jedem kleinsten Hinweis, der mich zu seiner Arbeit und schließlich auch zu ihm führt." "Das muss hart für dich sein…" "Glaub mir, das ist es. Aber das hindert mich nicht daran. Würde es dich sicher auch nicht. Du würdest an meiner Stelle womöglich dasselbe tun." "Wahrscheinlich…" "Wie auch immer. Wenn ich ihn irgendwo in dieser Welt finden will, wo ihn nicht einmal die Polizei und das Militär gefunden hat, dann muss ich verdammt an mir arbeiten und trainieren, bis es kein Morgen mehr gibt! Ich muss Dinge ausblenden, Prioritäten setzen, stark sein. Nicht nur in der Einheit mit meinem Team, sondern auch in meinem Innern. Wenn ich innerlich Schwäche zeige, dann kann auch mein Team nicht stark sein. Pokémon spüren sowas noch besser als wir." "Ja, das tun sie", stimmte er mir zu. "Aber es ist eben nicht einfach, immer stark zu sein…" "Das ist richtig. Vielleicht wird von uns allen auch einfach viel zu viel verlangt. Ich sagte ja schon, diese Welt verlangt von uns, dass wir viel zu schnell erwachsen werden. Ich verlange nichts von dir. Aber bitte versprich mir, dass du dich von der Menschheit nicht unterkriegen lässt, okay? Bitte." Eine Weile sahen wir uns bloß an. Ich wusste nicht, was in ihm vorging. Ich hatte wirklich keine Vorstellung. Doch dann nickte er. "Gut, ich verspreche es." "Sehr gut", sagte ich und schenkte ihm ein ermutigendes Lächeln. "Du bist gut. Du hast das Talent, um mal ein großer Trainer zu werden. Lass dir das niemals nehmen." Ein Lächeln stand ihm deutlich besser als diese Traurigkeit, die bis vorhin noch in seinen Augen geflackert hatte. Jetzt wirkte es auch nicht mehr so deprimierend, wie er dort auf dem Bett saß und Pokémon spielte, tatsächlich schien er nun eifriger dabei zu sein, als bisher. "Bist du gut?", fragte ich und nickte in seine Richtung. "Es geht", gab er abschätzend zurück. "Ich arbeite mehr daran, alle Pokémon zusammenzukriegen, als andere Trainer herauszufordern." "Sieht dir echt ähnlich. Ich würde ja eher durch die Gegend ziehen und alle plattmachen." "Willst du auch mal?", fragte Red plötzlich und hielt mir seinen Gameboy hin. "Ich hab noch mehr als genug zum Trainieren." "Gerne", sagte ich, streckte die Hand aus und nahm ihm den Gameboy ab. "Verdammt, ich hab das schon ewig nicht mehr gespielt. Wenn ich nur wüsste, wo ich meinen hingetan habe…" Ich merkte nicht einmal, wie die Zeit verging. Red schien wieder fröhlich, wir redeten viel über Pokémon, während ich einige auf seinem Spiel trainierte, als wäre nie etwas gewesen. Ich hoffte insgeheim, dass er sich meine Worte zu Herzen nahm und wirklich nicht länger alles an sich heranließ. Es würde ihm sicher guttun, nicht mit allem mitzufühlen. Red war wohl einer derjenigen, von denen man zu Recht sagen konnte, dass sie zu gut für diese Welt waren. Hoffentlich würde diese Eigenschaft für ihn in Zukunft nur positiv ausfallen… Die Sonne verschwand allmählich am Horizont und der Himmel verdunkelte sich, doch keiner von uns achtete darauf. Tatsächlich wusste ich nicht einmal, wie spät es war oder wie ich letztendlich wohl eingeschlafen sein musste. Irgendwann öffnete ich die Augen, einen Moment verwirrt, dass ich mich auf einem Bett wiederfand, das mir nicht vertraut war. Es brauchte eine Weile, bis ich mich erinnerte, dass ich im Pokémon-Center und dort in Reds Zimmer war. Ich warf einen Blick hinüber zum anderen Bett. Red schien tief und fest zu schlafen. Es musste schon sehr spät sein. Und eigentlich sollte ich gar nicht mehr hier sein. Ich war wohl noch beim Spielen eingeschlafen. Der Gameboy lag inzwischen ausgeschaltet wieder auf dem Nachttisch. Großzügig von Red, mich nicht einmal aufzuwecken. Ich setzte mich vorsichtig auf, um möglichst keine Geräusche zu machen. Vielleicht konnte ich mich davonschleichen, ohne dass jemandem auffiel, dass ich hier war. Also stand ich langsam auf und ging auf Zehenspitzen in Richtung Tür. Es konnte klappen. Ich musste einfach nur aus der Tür huschen und wäre dann so gut wie verschwunden. Doch - Ich schlug mir die eine Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien, als ich über etwas stolperte, mit der anderen Hand griff ich nach der Türklinke, um nicht auf den Boden zu fallen. Der Schreck saß noch, als ich mich umsah, um zu erkennen, worüber ich gestolpert war. Es war Reds Rucksack, den ich bei Tageslicht nicht einmal wirklich wahrgenommen hatte, und der jetzt umgekippt dalag, ein paar Pokébälle kullerten über den Teppich. "Verdammt", murmelte ich und sammelte die Pokébälle wieder ein. Ich wollte gerade den letzten greifen, als dieser plötzlich aufsprang. "Nein … nicht das auch noch…" Doch es war zu spät, um rechtzeitig zu reagieren. Das Rattfratz war aus seinem Pokéball gehüpft und sauste nun davon, gleich durch den schmalen Türschlitz, für den praktischerweise auch ich verantwortlich war, da ich mich ja unbedingt and er Türklinke hatte festhalten müssen, um mich aufzufangen. Na großartig. Hastig warf ich einen Blick hinüber zu Red. Er drehte sich gerade rum und kehrte mir so den Rücken zu. Doch seinem gleichmäßigen Atmen nach, war er nicht aufgewacht. Dem Himmel sei Dank. Ich war wütend auf mich selbst. Gut, das war dann wohl jetzt mein Problem. Also musste ich da durch. Ich nahm den leeren Pokéball vom Boden, warf einen letzten Blick hinüber zu Red, und huschte dann durch die Tür in den stockdunklen Flur. Ich konnte kaum etwas sehen. Das Zimmer war wenigstens noch durch das Fenster und die Laternen an der Straße beleuchtet gewesen, doch hier in den Gängen gab es keine wirkliche Lichtquelle. Ich schlich mich durch den Flur und tastete mich dabei an der Wand entlang. Es war stockdunkel. So würde ich wohl kaum ein Pokémon finden, vor allem nicht dieses Rattfratz. Warum um alles in der Welt musste er es auch wieder dabeihaben?! Die Minuten verstrichen, und es kam mir vor, als würde ich Stunden umherirren. Langsam gewöhnten sich meine Augen mehr und mehr an die Dunkelheit, doch eine besonders gute Sicht bot sich mir trotzdem nicht. Ich konnte zudem wohl kaum für Licht sorgen, ohne die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass hier jemand umherschlich, der gar nicht hier sein sollte. "Rattfratz, du bist echt anstrengend. Verdammt, wo bist du…" Ich war bestimmt schon eine halbe Stunde in diesen Gängen unterwegs, zum Glück ohne jemandem zu begegnen, es hatte also noch niemand bemerkt, dass irgendwas los war. Und dennoch warf ich jedes Mal, wenn ich an der Treppe zum Erdgeschoss vorbeikam, einen Blick hinunter und erwartete beinahe, dort jemanden zu sehen. Doch es war niemand da. Ich suchte jede Ecke ab, wagte es letztendlich sogar, die Treppe hinunterzugehen und dort nachzusehen. Doch außer einer ziemlich müde aussehenden Schwester Joy war niemand dort. Ich befürchtete fast, sie würde mich bemerken, als ich versehentlich mit dem Blick durch den Raum schweifend an eine Blumenvase stieß, doch genau in diesem Moment gähnte sie herzhaft, was das Geräusch wohl übertönte. Hastig eilte ich zurück, die Stufen hinauf und wieder durch die Gänge. Ich musste dieses Rattfratz finden, wie sollte ich Red bitte erklären, was passiert war? Mir fiel auf der einen Seite nichts anderes ein, als in Reds Zimmer zurückzukehren, schließlich konnte ich doch nicht einfach verschwinden, und andererseits egal wie, ich musste dieses Rattfratz um jeden Preis wieder einfangen! Also tastete ich mich weiter voran, schlich an den Zimmern vorbei und suchte dabei den Boden ab. Ich bog gerade um eine Ecke, da hörte ich etwas. Doch es klang nicht nach einem Rattfratz. Ich konnte es zunächst nicht zuordnen. Es war ein Geräusch, das aus einem der Zimmer drang. Ich kam vorsichtig näher, bemüht, bloß keinen Laut von mir zu geben und damit womöglich jemanden aufzuwecken, schlich die Türen nacheinander entlang, bis ich die richtige erreichte. Ich legte den Kopf an die Wand, um es besser hören zu können. Und jetzt wusste ich, was es war. Es klang, als ob dort jemand weinte. Nicht laut, doch gerade so, dass ich es hören konnte. Zudem hatte ich ein recht gutes Gehör. Ich seufzte lautlos. Es gab wohl noch andere Trainer außer uns, deren Leben gerade nicht so gut zu verlaufen schien. Aber da sollte ich mich nicht reinhängen. Ich hatte schließlich mit mir und den Jungs schon genug Probleme. Außerdem musste ich mich jetzt um dieses Rattfratz kümmern. Ich stieß mich von der Wand ab, warf noch einen kurzen Blick zur Tür und wandte mich ab. Doch genau in diesem Moment wandte ich mich erneut zur Tür um. Ich besah mir die Zimmernummer und ließ den Blick langsam durch den Flur schweifen. Mir gefror das Blut in den Adern. Wie gebannt starrte ich auf die Tür und hoffte, dass ich mich irrte. Im Dunkeln sah schließlich alles völlig anders aus als bei Tageslicht. Vielleicht irrte ich mich. Vielleicht aber auch nicht. Nein, eigentlich war ich mir sicher, dass… Ich schritt langsam auf die Tür zu, hob die Hand, die jetzt zitterte, und legte sie auf die Klinke. Es schoss mir alles durch den Kopf, ich wusste nicht, was ich tun oder sagen konnte. Wenn ich Recht hatte, dann… Ich zog die Hand zurück. Nein. So sicher ich mir auch war, ich wollte es nicht wissen. Wenn es wirklich sein Zimmer war, und er dort drinnen saß … dann wollte er so bestimmt nicht von irgendjemandem gesehen werden. Es war wohl das Beste, einfach so zu tun, als ob nichts wäre. Und dennoch, die Vorstellung, wie Green womöglich allein in diesem Zimmer saß und weinte … ich konnte mir weder die Situation vorstellen, noch den Grund. Schließlich handelte es sich um Green, dem arrogantesten und selbstgefälligsten Trainer, der mir je begegnet war. Widerwillig entfernte ich mich von der Tür und schritt rückwärts davon, den Blick jedoch nicht abgewandt. Ich ging so weit zurück, bis ich das Weinen nicht mehr hören konnte, dann wandte ich mich, den Blick immer noch auf die Tür geheftet, langsam ab und bog um die Ecke. Seit dieser Nacht habe ich angefangen, Green mit anderen Augen zu sehen. Ob ich nun Recht hatte oder nicht, es spielte keine Rolle. Je mehr ich an ihn dachte, umso klarer wurde mir, dass er deutlich mehr verbarg, als Red und ich vielleicht ahnten. "Rei." Ich zuckte zusammen und sah erschrocken auf. Es war Red, der jetzt den Kopf aus seinem Zimmer gestreckt hatte. "Was ist los?" "Ich hab Mist gebaut", flüsterte ich verärgert und bemühte mich, das eben Gehörte für diesen Moment komplett aus meinem Kopf zu verbannen. "Ich bin über deine Tasche gestolpert und dein Rattfratz ist wieder abgehauen, ich hab mich an der Türklinke festgehalten und die Tür dabei aufgerissen, ich Idiot. Jetzt suche ich schon seit bestimmt fast einer Stunde nach ihm." "Oh je", sagte Red leise und trat ebenfalls in den Flur. "Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe, ausgerechnet dieses Rattfratz zu fangen … suchen wir es besser, bevor es noch was anstellt…" Ich war noch ziemlich müde, als ich zum Frühstück ging. Kein Wunder, denn der Vorfall von letzter Nacht hatte mir echt den Schlaf geraubt. Immerhin hatten wir Rattfratz letztendlich unter einer alten Kommode im Flur gefunden und erfolgreich in seinen Pokéball zurückbefördert und wir hatten es doch für das beste gehalten, die Nacht einfach in Reds Zimmer zu bleiben, doch hatte die verbliebenen Stunden kein Auge zugetan. Red saß bereits als einziger von uns am Tisch und beschäftigte sich mit seinem Frühstück. Offenbar war Green dann noch in seinem Zimmer… "Morgen, Rei…", sagte Red bloß, als ich mich mit meinem Tablett ihm gegenübersetze. Er sah ebenfalls so aus, als ob er die Nacht kaum geschlafen hätte. Die Augen nur halb offen kaute er langsam an seinem Frühstück, während ich mich mit meinem ihm genau gegenübersaß und mir den diesmal wirklich sehr kurzen Schlaf aus den Augen rieb. "Du siehst auch nicht gerade wach aus", bemerkte ich und begann, zu essen. Er schüttelte bloß den Kopf und machte ein Gesicht als wollte er sagen: "Lass uns bloß nicht mehr drüber reden." "Gut", sagte ich bloß. Eine Weile herrschte Schweigen, doch es war erdrückend. Natürlich wusste Red nichts von dem, was ich letzte Nacht gehört hatte, und ich hatte gewiss nicht vor, mit ihm darüber zu reden, doch ich brauchte irgendein Gesprächsthema, irgendetwas, das bitte diese drückende Atmosphäre beseitigte. Doch leider fiel mir nur etwas Persönliches ein. "Sag mal … du meintest ja, du kannst dich kaum an deinen Vater erinnern. Was … ist denn mit ihm passiert?" Red hielt inne. Er warf mir nur einen flüchtigen Blick zu. "Er ist tot." Er versetzte mir einen Stich. Ich schluckte. "Oh … tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen, das war dumm von mir." "Schon gut", winkte er ab und widmete sich wieder seinem Frühstück, ohne mich anzusehen. "Ich hab ja noch meine Mum. Wir kamen zu zweit immer sehr gut klar, ich habe keinen Grund, mich darüber zu beschweren. Na ja … ich wünsche mir zwar trotzdem manchmal, dass er noch da wäre … aber immerhin habe ich es besser als Green, seine -" Er brach ab und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich wollte er es sagen, aber nicht unbedingt die Familiengeschichte seines besten Freundes ausplaudern. Verständlich. Ich öffnete den Mund, um ihm etwas zu sagen, doch in genau diesem Moment stieß jemand dazu: Green. Im Gegensatz zu uns verschlafenen Geschöpfen war Green ordentlich angezogen und seine Frisur saß nahezu perfekt. Tatsächlich machte er den Eindruck, als hätte er keinen Schlaf nötig gehabt und sich lieber seinem Aussehen gewidmet. Red schien das Gleiche zu denken, denn er starrte ihn mit halb offenem Mund an, als wäre er nahezu schockiert. "Was ist?", fragte Green und nahm neben mir Platz. "Hab ich was im Gesicht?" "Nein…", murmelte Red und wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Ich konnte mir ein belustigtes Lächeln nicht verkneifen, doch sogar das war zu anstrengend. Ich spürte Greens Blick und sah hastig woandershin. Ich wollte nicht, dass er mir ansah, was ich letzte Nacht mitbekommen hatte. Es war tatsächlich das Beste, so zu tun, als ob nie etwas vorgefallen wäre. "Wie um alles in der Welt kannst du morgens aufstehen und SO aussehen?" Red platzte so plötzlich damit raus, dass ich zusammenzuckte und eine Teil meines Essens vom Tisch warf. Green musterte mich nachdenklich. "Na du bist aber wohl ganz mit dem falschen Fuß aufgestanden. Und was meint er damit?" "Er meint", erklärte ich, während ich die Überreste vom Boden aufhob, "dass normale Menschen, die morgens aufstehen, in Etwa so aussehen wie Red und ich im Moment. Du hingegen passt da überhaupt nicht ins Bild." Green zögerte. Er blinzelte, starrte mich einen Moment lang an, dann sagte er irritiert, als ob wir von selbst darauf hätten kommen müssen: "Es kann ja nicht jeder so großartig aussehen wie ich." Wäre ich in besserer Verfassung gewesen, hätte ich sogar lachen können. Doch ich verzog keine Miene. Mir war nicht nach Lachen zumute, absolut nicht. "Und, wo wart ihr gerade?", fragte Green beinahe gut gelaunt und es war klar, dass er auf unser Gespräch anspielte. Wahrscheinlich hatte er uns schon von Weitem reden sehen. "Wir waren beim Thema Eltern", sagte ich trocken und sah Green flüchtig an. "Genau genommen bei deinen." Er hielt inne. Ganz langsam wandte er sein Gesicht zunächst an Red, sah ihn wütend an, dann an mich. "Kümmer dich um deinen eigenen Kram." "Das war meine Schuld…", sagte Red entschuldigend und starrte auf seinen Teller. "Ich hätte nicht davon anfangen sollen, tut mir leid." Green versetzte ihm einen durchdringenden Blick. Mir wurde nur noch schlechter, als mir ohnehin schon war. Scheinbar hatten wir gerade auch noch einen wunden Punkt getroffen. Ich hatte wohl im Augenblick ein Talent dafür, sorgfältig in den Wunden anderer herumzustochern. Wirklich ganz großartig. "Ich hab nichts erzählt!", sagte Red hastig. Er musste sich wirklich elend fühlen. Doch Green ging absolut nicht darauf ein, wandte sich bloß seinem eigenen Frühstück zu und fragte mit recht kühler Stimme: "Hast du gestern Nachmittag auch noch Post von Opa gekriegt? Er beschwert sich, dass ich im Augenblick nicht vorankomme und wohl nur auf der faulen Haut liege." "Ja, den hab ich auch gekriegt … aber er hat mich bloß gefragt, wie es bei mir mit dem Pokédex läuft und ob ich vielleicht Tipps brauche, er könnte mir noch ein paar Ratschläge geben." "Hätte mir eigentlich klar sein müssen…" Ich sprang auf und schob mein Tablett weiter in die Mitte des Tisches. Die anderen beiden starrten mich an. "Was ist los, Rei?", fragte Red erschrocken. Doch ich schüttelte nur angewidert den Kopf. "Vergesst es, ich krieg sonst noch das Kotzen." Ich packte meinen Rucksack vom Boden, warf ihn mir über und verließ zügig das Pokémon-Center. Ich hatte mich nicht einmal mehr zu den beiden umgedreht. Ich hatte es satt, so verdammt satt. All diese Lügen, die Schauspielereien, nichts davon war wirklich ehrlich. Ich hatte es endgültig satt. Eigentlich hatte ich mir geschworen, ihm nicht nachzuspionieren, doch im Augenblick war mir alles egal. Ich rannte zurück in den Turm, vorbei an neugierigen Blicken der Leute, die gerade ihre Liebsten besuchten, die Stufen hinauf bis hin zu der Stelle, an der ich Green zum ersten Mal in Lavandia getroffen hatte. Ich versuchte, mich möglichst genau zu erinnern. Wo genau hatte er gestanden? Und wo hatte er hingesehen? Ich ließ den Blick über die Namen unzähliger Verstorbener wandern, über Daten und Inschriften, und mit jedem einzelnen fühlte ich mich unwohler. Ich sollte nicht nachspionieren. Doch wenn es wahr war … dann konnte ich nicht so tun, als ob nie etwas passiert wäre. Mir wurde eiskalt. Ich ging auf die Knie und betrachtete einen der Grabsteine. Rattikarl. Darunter die aktuelle Jahreszahl. Ich hob den Kopf und starrte ins Leere. Also hatte ich zumindest damit schon mal Recht gehabt. Das erklärte auch, wieso er hier gewesen war, und wieso er es nicht mehr im Team gehabt hatte. Natürlich hätte er es auch einfach ablegen können, doch daran glaubte ich nicht. Denn das wäre des Zufalls einfach zu viel gewesen. Viel zu viel. Ich hatte meine Entscheidung getroffen. Gut eine halbe Stunde später rannte ich ins Pokémon-Center zurück, eilte die Treppe hinauf und jetzt bei Tageslicht konnte ich auch viel besser erkennen, wo genau ich war. Ich ging an den Türen vorbei, zählte sie ab, bis ich mir sicher war, an der richtigen angekommen zu sein. Ich klopfte nicht einmal, jetzt war keine Zeit für Höflichkeiten. Es war zum Glück nicht abgeschlossen, sodass ich einfach ohne jede Vorwarnung ins Zimmer treten konnte. Mein ganzer Körper zitterte vor Anspannung. Green, der gerade noch zum Fenster hinausgesehen hatte, wandte sich um, als die Tür mit einem Schwung aufging. Mit hochgezogenen Brauen starrte er mich an. "Also da, wo ich herkomme, klopft man erst mal an." "Du glaubst gar nicht, wie verdammt egal mir das gerade ist!", entgegnete ich und bereute es nicht einmal. Ich war so aufgewühlt und wütend auf alles, dass mir mein Tonfall vollkommen egal war. "Pack deine Sachen, sofort!" "Bitte?!" Ich stieß mit dem Fuß die Tür zu, atmete einmal tief durch und versuchte es etwas ruhiger: "Ich mein das ernst. Pack deine Sachen, wir verschwinden von hier." "Seit wann hast du über mich zu entscheiden?" "Seit du scheinbar selbst keine Entscheidungen mehr über dich treffen kannst", sagte ich und musterte ihn mit durchdringendem Blick. "Im Ernst. Wir alle sind aus bestimmten Gründen hier und hängen an diesem Ort fest. Ich weiß das." "Tatsächlich." Er wandte sich wieder ab und sah aus dem Fenster. "Was weißt du denn schon. Was geht dich das überhaupt an." "Du brauchst mir nichts vormachen", sagte ich ernst, und nun wirklich um einiges ruhiger, und ging nun ebenfalls hinüber zum Fenster. Ich wandte Green das Gesicht zu, doch es kümmerte ihn nicht. Er war geradezu dabei, seine übliche Fassade mit aller Gewalt aufrecht zu erhalten. "Ich mache niemandem was vor." "Oh doch, das tust du! Ich hab diese Lügen langsam satt! Ich weiß, warum du immer noch hier bist, und glaub mir, es ist keine gute Idee, ich weiß genau, wovon ich rede!" "Einen Dreck weißt du." "Green, jetzt hör auf damit. Bitte. Pack deine Sachen, ich hole Red und dann verschwinden wir von hier. Endgültig." "Gib dir keine Mühe, Red ist schon längst weg." "Was?" Ich starrte ihn ungläubig an. Green wandte den Kopf und versetzte mir einen vielsagenden Blick. "Ja, nach dem Brief von meinem ach so tollen Opa ist er gleich auf und davon. Den Pokédex vervollständigen, nehme ich an." "Warum sagst du das in diesem Unterton?" "Weil auch ich es langsam satt hab", gab er kühl zurück und fing an, seine Sachen einzusammeln. Wenigstens schien es, als würde er auf mich hören. Ich musste ihn aus dieser Stadt kriegen, egal mit welchen Mitteln. Sie tat uns auf Dauer allen nicht gut, und Green scheinbar am wenigsten. "Und jetzt hör auf, mich ständig nach irgendwas zu fragen. Ich hab nicht vor, dir mein ganzes Leben auszubreiten." "Das musst du auch nicht", erwiderte ich und wandte mich wieder zur Tür. "Ich will ehrlich sein. Es ist besser, wenn wir diese Stadt so schnell wie möglich verlassen." "Du musst es ja wissen." "Green. Du brauchst mir nichts vorzuspielen." "Rei, ich -" Ich wusste, dass er etwas dazu sagen wollte, doch ich schüttelte den Kopf. Er brauchte die Worte nicht auszusprechen, es genügte, dass ihm klar war, dass ich es wusste. "Ich weiß. Diese Stadt tut uns nicht gut. Sie macht uns alle depressiv." Er sah mich einen Moment lang nur an, dann nickte er langsam und machte sich weiter daran, seine Sachen zu packen. Ich machte langsam ein paar Schritte zurück und wandte mich wieder zur Tür. "Ich warte unten auf dich." "Rei?" "Ja?" Ein letztes Mal drehte ich mich um. Green stand da und sah mich nun weniger kühl an, als ob er jemand völlig anderes wäre als der, zudem ich zuvor ins Zimmer geplatzt war. "Danke." Ich nickte bloß und lächelte leicht. Dann verließ ich das Zimmer, schlenderte durch den Flur und stieg die Treppe hinunter, um im Erdgeschoss auf ihn zu warten. Je schneller wir aufbrachen, umso besser. Völlig egal, welchen Weg wir einschlagen würden, Hauptsache weit weg von hier. In der Hoffnung, dass diese Lügen bald endlich aufhören würden… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)