Secrets von Lenya_C_Sharizardon ================================================================================ Kapitel 20: Rainbow's colors ---------------------------- Es war früh am Morgen. Ich hatte mich bereits mehr oder weniger ausgeschlafen, ganz im Gegensatz zu jemand anderem, der immer noch seelenruhig dalag und fest schlief. Wir hatten am Abend noch lange geredet, vielleicht zu lange. Und so kurz die Nacht für mich letztendlich gewesen war, hatte ich seit Langem nicht mehr so gut geschlafen. Einen Moment lag ich einfach nur da, wandte den Kopf zur Seite und strich mir das vom Schlaf zerzauste Haar aus dem Gesicht. Green hatte mir den Rücken zugekehrt und schien wirklich fest zu schlafen. Vielleicht hatte er auch eine bessere Nacht verbracht im Gegensatz zu den letzten. Ich hoffe es für ihn. Vielleicht würde jetzt alles wieder besser werden… Ganz langsam setzte ich mich auf. Ich wollte ihn auf keinen Fall aufwecken, wenn er schon schlafen konnte. Also versuchte ich, langsam aufzustehen und möglichst keine Geräusche zu machen. Green regte sich ein wenig, doch er wachte nicht auf. Ich sah für einige Sekunden auf ihn herab. Auch sein Haar war vom Schlaf völlig zerzaust, doch selbst auf die Weise sah er immer noch gut aus. Ich musste mich tatsächlich fragen, wie er das eigentlich machte. Er war mir definitiv ein Rätsel. Ich wandte den Blick schließlich von ihm ab und sah mich um. Wenn ich schon so früh auf war, konnte ich wenigstens schon mal meine Sachen waschen. Dank des gestrigen Training hatten nicht nur meine Pokémon, sondern auch ich des Öfteren im Dreck gelegen. Wie gut, dass wir unser Lager gleich nahe eines Flusses aufgeschlagen hatten. Vorsichtig schlich ich mich hinüber zu meinem Rucksack, neben dem ich meine Klamotten hingelegt hatte, und warf dabei einen flüchtigen Blick über die Schulter. Doch Green schlief immer noch weiter und schien nicht zu bemerken, dass ich bereits auf den Beinen war. Ich war froh darum. Ich konnte mir schließlich auch gut vorstellen, dass er die letzten Wochen eher weniger Schlaf bekommen hatte, wie Red und ich wahrscheinlich auch. Ich nahm Hose, Top und Jacke vom Boden und wandte mich Richtung Fluss, der ein Stück hinter den Bäumen und Sträuchern lag. Besser ich kümmerte mich so schnell wie möglich darum, damit wir schleunigst weiterziehen konnten. Ich wollte Granny eigentlich so schnell wie möglich wiedersehen, es war einfach so viel passiert… Es knackte unter meinen Füßen. Ich zuckte zusammen und sah hinab. Durch meine inzwischen recht ausgeprägte Unaufmerksamkeit war ich auf einen Ast getreten, der nun unter lautem Knacken zerbrochen war. Ich biss die Zähne zusammen und wandte den Kopf. Green zuckte, drehte sich zur Seite und öffnete schließlich langsam die Augen. Verdammt, eigentlich hatte ich das vermeiden wollen. "Rei…?", fragte er noch halb verschlafen und starrte mich verdutzt an. Dann bemerkte er wohl, dass auch ich ihn anstarrte, und zog sich hastig die Decke über den Kopf. "Verdammt, was wird das?!" Ich war verwirrt. "Was wird was?" "Sieh mich nicht so an!" "Wie seh ich dich denn an?", fragte ich immer noch verwirrt. Er hob die Decke ein Stück an, sodass er mich gerade so böse anfunkeln konnte, und mir ging ein Licht auf. Ich legte den Kopf schief und grinste. "Sag bloß, weil ich dich mal nicht ganz so großartig gesehen habe wie sonst? Nun … dann ist es wohl zu spät, ich hab deine zerzauste Frisur bereits gesehen. Und dieses Bild wird für immer in meinem Gedächtnis bleiben." Er gab ein unzufriedenes Geräusch von sich und sah mich weiterhin böse an. Ich verschränkte die Arme und starrte ihn belustigt an. "Jetzt sei nicht so ein Mädchen. Ich hab's gesehen, ob du das wahrhaben willst oder nicht. Es bringt nichts, wenn du dich jetzt versteckst." "Warum tust du das?" "Warum tu ich was?" "Du weißt genau, was ich meine!" Und schließlich zog Green doch noch die Decke von sich und setzte sich auf, sodass seine zerstörte Frisur erneut gut zur Geltung kam. Verärgert wandte er mir das Gesicht zu. "Wenn du das irgendjemandem erzählst…!" "Mach ich nicht. Versprochen." "Ich meine das ernst!" "Hey, glaubst du, ich lüge dich an? Ich werd niemandem was sagen. Ich finde trotzdem, du siehst - " "Noch ein Wort…!" Ich gluckste. "Tut mir leid. Aber du siehst echt knuffig aus." Er warf mir einen letzten trotzigen, beinahe vernichtenden Blick zu, und wandte sich ab. Wenig später hatte ich mich am Ufer niedergelassen und genoss die angenehme Morgenluft. Ich hatte schon fast vergessen, wie sie sich anfühlte. Zu lange hatte ich in einem Bett geschlafen, zu viel Zeit hatte ich in irgendwelchen Gebäuden verbracht, fern der Natur. Ich hatte einiges aufzuholen. Ich schloss die Augen, genoss das Gefühl des angenehmen, leichten Windes auf meiner Haut, die ersten Sonnenstrahlen… Wie schön es doch war, endlich wieder lebendig zu sein. Ich öffnete die Augen und griff nach meinen Sachen. Je schneller ich damit fertig war, umso eher waren sie wieder trocken und ich müsste den ganzen Tag halbnackt rumlaufen. Fukano wollte ich besser noch nicht als Hilfe benutzen, ich war mir nicht sicher, ob er sich wirklich unter Kontrolle haben und nicht doch am Ende alles in Brand setzen würde. Also legte ich gleich los. Währenddessen überlegte ich, wie ich eigentlich weiter vorgehen wollte. Die Vorfälle hatten mich so aus der Bahn geworfen, dass ich meine Ziele für eine gewisse Zeit völlig aus den Augen verloren hatte. Dank Green waren mein Team und ich halbwegs wieder fit, doch ich brauchte noch andere würdige Gegner, um mir dessen wirklich sicher zu sein. Ein Arenaleiter wäre gut. Und die nächste Arena befand sich sogar in Saffronia City, ich konnte also gleich Granny besuchen. Sie würde sich sicher freuen, mich zu sehen. Schließlich hatte ich mich schon lange nicht mehr bei ihr gemeldet. Und von den Ereignissen der letzten Wochen ahnte sie sicher noch nichts … es war vielleicht auch besser so, sie hätte sich sonst definitiv Sorgen gemacht. Und ich wollte sie nicht beunruhigen. Besser, sie erführe erst jetzt davon, wo alles vorbei war und es mir gutging. Ich stand auf und warf das Top über einen der Äste eines Baumes, damit es trocknen konnte. Blieb noch die Hose. Verdammt, warum hatte man mich auch so durch die Gegend jagen lassen müssen, dann wäre mir das erst mal erspart geblieben. Andererseits, hätte ich mein übliches Training fortgesetzt, wäre es mir wohl kaum besser ergangen. Schließlich gehörte voller Körpereinsatz dazu. Ohne Körpereinsatz kein gutes Training. Ich saß gerade wieder am Ufer, um mich nun der Hose zu widmen, als ich Schritte durchs Gras auf mich zukommen hörte. Green kam gerade um einen der Sträucher herum, als sein Blick auf mich fiel und er sich erschrocken die Hände vor den Mund schlug und hastig wieder umdrehte. "Verdammt, Rei, wieso sagst du nichts?!" "Was?", fragte ich verwirrt und starrte auf seinen Rücken. "Was ist denn mit dir nicht in Ordnung?" "Du hättest doch sagen können, dass du so gut wie nichts anhast!" Ich blinzelte einen Moment verdutzt. "Ist das dein Ernst? Na, du bist ja drauf. Sag bloß, du hast noch nie ein halbnacktes Mädchen gesehen." "Nein?!", rief er entsetzt und blieb weiterhin von mir abgewandt. "Da, wo ich herkomme, lernt man Anstand!" "Hach, manchmal kannst du echt süß sein. Was ist nur los mit dir?", sagte ich amüsiert und wandte mich wieder der Hose zu. "Hätte nicht gedacht, dass dich das so verstört. Ich mein, wen kümmert in dieser Welt schon bitte Anstand? Offenbar niemanden. Außer dich natürlich." "Red würde das genauso sehen!" "Gut, der auch. Aber ich kann dir versichern, dieser Anblick wird nicht dein Leben zerstören. Außerdem wäre das jetzt gar nicht nötig gewesen, wenn du mich gestern nicht so durch die Gegend gescheucht hättest, unser Kampffeld hat sich ja schön weit ausgedehnt. Also stell dich nicht so an. Übrigens, wie wäschst du denn bitte deine Sachen, wenn dich diese Situation schon so verschreckt?" "Es gibt eine Reinigung?!" "Für sowas gebe ich doch kein Geld aus." Ich stand auf und warf die Hose auf den nächsten freien Ast, dann ging ich hinüber zu Green, immer noch amüsiert über sein Verhalten. "So, meine Sachen müssen jetzt erst mal trocknen, also was willst du tun? Dich den ganzen Morgen weigern, mich anzusehen? Na bitte, wenn du willst." Ich hüpfte gut gelaunt an ihm vorbei und ließ mich neben meiner Tasche ins Gras fallen. Dabei warf ich einen weiteren Blick auf Green, der inzwischen rot geworden war und nun wieder verlegen in eine andere Richtung sah. "Hättest du nicht wenigstens so lange noch deine Schlafsachen anbehalten können?!" "Die hängen da drüben", sagte ich und deutete auf den Baum, an dem ich alles zum Trocknen aufgehängt hatte. "Braucht noch eine Weile." "Wozu hast du ein Fukano, das dir helfen kann?!" "Ich bin doch nicht wahnsinnig!" "Soll ich dir meins ausleihen?" "Untersteh dich!" "Du machst mich fertig…" Ich seufzte, zog eine Decke von meinem Schlafplatz und warf sie mir um. "So besser, Mr. Ōkido?" "Danke", sagte er und klang dabei sogar wirklich ein wenig verärgert, doch wenigstens hörte er auf, wie unter Zwang in eine andere Richtung zu starren. "Was ist nur los mit dir?" "Was meinst du?", fragte ich unbekümmert und begutachtete die Sträucher neben mir, um mir ein paar genießbare Beeren zu pflücken. Tatsächlich hatte ich Glück. "Du bist total aufgedreht!", bemerkte Green und fixierte mich. Ich konnte seinen durchdringenden Blick spüren und ließ langsam die Hand sinken, mit der ich gerade ein paar der Beeren abgepflückt hatte. "Ich fange gerade wieder an, zu leben. Sowohl äußerlich als auch innerlich. Green, ich will dir nichts vorhalten, aber ich bin vor ein paar Wochen fast gestorben. Es grenzt fast an ein Wunder, dass ich immer noch lebe. Mit der Zeit hat sich mein Körper erholt, aber Lavandia ist einfach nicht der richtige Ort, um sich von seelischen Verletzungen zu erholen. Es war gut, dass wir die Stadt verlassen haben. Nicht nur für mich, für dich genauso." "Ich hatte meine Gründe, weshalb ich dort war." "Ich auch. Mr. Fuji hat mich davor gewarnt, und trotzdem habe ich jeden Tag Carnino besucht. Es ist nichts falsch daran, den Toten die Ehre zu erweisen. Aber auf Dauer macht es einen kaputt. Wenn ich das nächste Mal in Lavandia bin, werde ich Carnino wieder besuchen. Aber ich werde diese Stadt dann auch so schnell wie möglich wieder verlassen. Es mag diese eigenartige Aura sein, eine von Felsen umzingelte, kleine Stadt, umgeben von all den Toten … sie tut uns nicht gut. Und manchmal muss man sich eben von den Dingen entfernen, die einem nicht guttun, auch wenn es einem schwerfällt." "Lass uns besser nicht mehr darüber sprechen", bat er und senkte den Blick auf den Boden. "Sonst hätten wir auch gleich in Lavandia bleiben können…" "In Ordnung." Einen Moment lang herrschte Schweigen und die einzigen Geräusche drangen vom Wasser des Flusses her, vom Wind, der durch die Blätter raschelte, und dem Zwitschern der Vögel. "Ich geh mich frisch machen", sagte Green schließlich und wandte sich ab. Ich nickte. "Ist gut." Er ging um die Sträucher herum und streckte noch einmal den Kopf zurück. "Und du bleibst, wo du bist!" "Keine Sorge, ich bin doch kein Spanner", erwiderte ich und fing an, die Beeren zu essen. Ich musste grinsen. Was glaubte er denn. Als ob ich ihm gleich nachlaufen und ihn beobachten würde. Ein klein wenig Anstand besaß sogar ich. Immer noch in die Decke eingewickelt ließ ich mich ins Gras fallen und schloss wieder die Augen. Warum wollte ich eigentlich überhaupt in die Stadt gehen? Hier hatte ich doch alles, was ich wollte, was also brauchte ich mehr? Ich war viel zu lange von alldem ferngeblieben… "Wie sind eigentlich deine Pläne?", fragte Green einige Zeit später, als er zurückkam und anfing, seine Sachen zusammenzupacken. "Weiß nicht", sagte ich achselzuckend. "Eigentlich würde ich gerne ein wenig hier bleiben, andererseits hänge ich ziemlich zurück, ich sollte mich der nächsten Herausforderung stellen." "Also suchst du wie ich nach einer Arena", schloss er und ließ sich mir gegenüber im Gras nieder. Er sah nun wieder so perfekt aus wie immer. Tatsächlich fragte ich mich für einen Moment, wie um alles in der Welt er das eigentlich jeden Tag schaffte. Allein für die Haare hätte mir schon die Geduld gefehlt. "Das trifft sich jedenfalls gut, dann machen wir uns auf in die nächste Stadt, ich hab erst drei Orden, fehlen noch ein paar…" "Hast du vor, zur Liga zu gehen?", fragte ich und streckte die Hand aus, um ihm ein paar Beeren anzubieten. Green beäugte mich misstrauisch. "Hey, die sind schon nicht vergiftet! Ich habe mehr als genug Zeit in der Natur verbracht, um genau zu wissen, was man essen kann und was nicht. Jetzt nimm schon." "Na gut, auf dein Wort." Und er nahm sich welche. "Und ja, will ich. Dafür brauche ich nun mal alle acht Orden. Du sammelst die doch auch, oder nicht?" "Mehr oder weniger", sagte ich abschätzend. "Ich weiß nicht mal, wo genau ich sie habe. Für mich ist so ein Orden bloß ein Stück Metall, die Dinger sind mir eigentlich egal. Es geht mir vielmehr um die Erfahrung. Um stärker zu werden, muss man auch gegen starke Gegner kämpfen. Und die Arenaleiter eignen sich da nun mal ziemlich gut." "Hm. Dann würdest du sogar zur Liga gehen, nur wegen der Erfahrung?" "Jep. Sollte ich jemals den Wunsch verspüren, mich den Top Vier zu stellen, dann wohl nur aus diesem Grund. ich hab keine Interesse am Titel des Champs. Zu viel Aufmerksamkeit und zu viel Verantwortung. Ich bleibe lieber unscheinbar und unabhängig. Außerdem bin ich echt nicht scharf darauf, den Weltretter zu spielen, sollte mal irgendwas in Kanto passieren." Darauf musste Green lachen. "Das glaube ich dir aufs Wort. Die Rolle der Heldin steht dir auch nicht gerade." "Danke", erwiderte ich mit einem Lächeln. "Das war glaub ich das Netteste, was du bisher an diesem Tag zu mir gesagt hast." "Gerne doch." Er grinste. "So bin ich eben." "Wie auch immer, was die Arenen angeht…", setzte ich an, um auf das eigentliche Thema zurückzukommen, "In Saffronia City gibt es die nächste. Vielleicht sollten wir da ansetzen. Außerdem kann ich dann auch meine Großmutter besuchen, ich hab sie schließlich schon lange nicht mehr gesehen." "Stimmt, du kommst ja aus Saffronia. Hatte ich ganz vergessen, das hat Opa ja erwähnt…" Mir entging dieser seltsame Unterton in seiner Stimme nicht. Ich hielt inne. "Was ist das eigentlich zwischen dir und dem Alten?" Green sah zu Boden, zeichnete mit dem Finger wahllos Linien ins Gras und zuckte bloß unbekümmert die Achseln. "Was soll da sein." "Du weißt genau, was ich meine", sagte ich ernst und sah ihn durchdringend an, damit er mir nicht ausweichen konnte. "Was hat er gegen dich?" "Woher soll ich das wissen?", entgegnete er und hatte dabei wieder denselben gereizten, krampfhaft unbekümmerten Gesichtsausdruck wie an unserem letzten Morgen in Lavandia. Es gefiel mir nicht. Absolut nicht. "Gut, lassen wir das", sagte ich hastig und sprang auf, wobei ich sorgfältig darauf achtete, die Decke festzuhalten. "Vielleicht sollte ich dein Angebot doch annehmen und dein Fukano zur Hilfe nehmen. Mein Partner hat leider seine Gefühlsregungen noch nicht hundertprozentig im Griff, ich traue ihm durchaus zu, dass er vor Begeisterung gleich alles abfackelt. Und je schneller wir aufbrechen, desto besser. Wir haben in den letzten Wochen viel Zeit verloren." Und damit hatte ich ihn wohl wieder zum Lachen gebracht. Ich war ungeheuer erleichtert. Vielleicht sollen wir wirklich aufhören, über Persönliche Dinge zu sprechen. Gerade das Thema Familie schien bei uns beiden nicht gerade beliebt zu sein. Umso dankbarer war ich, dass ich eine gute Möglichkeit hatte, um wieder abzulenken. So zog ich mich wenig später - dank der Hilfe von Greens Fukano - wieder an und wir packten wir unsere restlichen Sachen zusammen, damit wir so bald wie möglich aufbrechen konnten. Und so machten wir uns schließlich auf den Weg weiter über die Route 8 in Richtung Saffronia City, Richtung Heimat. Ich konnte einfach nicht anders, als Green unterwegs viel über die Stadt zu erzählen. Es gab schließlich auch viel zu erzählen, über das Karate-Dojo, das auch einst mal als Arena galt, den Sitz der Silph Co. und über die offizielle Arena und den Geschichten über ihre angeblich merkwürdige Leiterin… Ich war so voller Vorfreude, endlich wieder nach Hause zu kommen. Eigentlich war ich gerne unterwegs, wie früher, als ich beinahe täglich mit meinem Vater unterwegs gewesen war, wenn er ich nicht gerade im Einsatz gewesen war. Aber jetzt bemerkte ich, wie gern ich dennoch wieder nach Hause kam. Allein wegen Granny. "Da vorne ist der Eingang zur Stadt", sagte ich plötzlich und deutete auf das große Durchgangshaus nur noch wenige Meter von uns entfernt. Auf einmal stieg die Vorfreude in mir auf, ich würde wieder nach Hause kommen, und Granny wiedersehen. "Das ist also die berühmte Stadt Saffronia City", sagte Green und neigte abschätzend den Kopf, den Blick auf die unzähligen hohen Gebäude hinter den Mauern gerichtet. "Und da wohnst du?" "Jep." "Hm. Ein ziemlicher Kontrast zu unserem kleinen Dorf." "Zweifellos." Ich lachte und schenkte ihm einen vielsagenden Blick. "Hier weiß wenigstens niemand, was du tust. Es ist ein Wunder, wenn deine Nachbarn dich überhaupt kennen. Ich bin jedenfalls froh, dass sie mich nicht kennen, ich würde ihnen gut Gesprächsstoff bieten." "Wieso?", fragte er, und wir erreichten das Durchgangshaus. Ich hielt an der Tür inne und sah ihn mit geweiteten Augen an. "Na, sieh mich doch an. Ich bin hier das Soldatenkind und Kampfweib, was glaubst du, wie interessant die Leute sowas finden. Menschen brauchen immer guten Gesprächsstoff, und meine Familie kommt denen da sicher gelegen. Wie gut, dass sie es nicht wissen. Ich glaube, die einzige, die mich wirklich kennt und sogar meinen Namen weiß, ist die Nachahmerin." "Die Nachahmerin?" "Jep", gab ich gut gelaunt zurück und stieß die Tür auf. "Eine Bekannte von mir. Wir können sie ja auch mal bei Gelegenheit besuchen, wenn du willst." Wir betraten das Durchgangshaus und schritten geradewegs auf die andere Seite zu. "Halt!" "Was ist?" Ich wandte mich um. Der Wachmann hatte sofort die Hand gehoben, kaum hatten wir die Mitte des Hauses erreicht. Green und ich blieben beide stehen und starrten ihn verwirrt an. "Ich schiebe hier Wache", betonte er lautstark und warf sich in die Brust. "Und hier ist kein Durchgang!" "Wieso nicht?", fragte Green unberührt. Der Wachmann funkelte ihn böse an. "Sei nicht so vorlaut! Oh, ich bin so durstig…" "Trinken hilft", bemerkte ich und klang dabei ebenso unberührt wie Green, was den Wachmann offensichtlich nur noch weiter provozierte. "Und für dich gilt das auch! Was seid ihr denn für vorlaute, unverschämte Kinder!" "Wir wollen einfach nur hier durch", sagte ich ruhig und wies ausladend auf die Tür zur anderen Seite. "Einfach nur nach Hause, ich wohne hier." "Das ist mir egal!", rief er plötzlich laut und gestikulierte wild mit den Armen. "Ich stehe den ganzen Tag hier und bin am Verdursten, da muss ich mir nicht auch noch Sprüche von frechen Kindern anhören! Der Durchgang ist gesperrt! Und jetzt raus hier!" Und ehe wir noch irgendetwas sagen konnten, hatte er uns bereits zur Tür hinausgeschoben und sie hinter uns zugeschlagen. Vollkommen perplex standen wir wieder draußen auf der Route 8 und tauschten Blicke. "Was war denn mit dem los?" "Keine Ahnung." Ich warf einen wütenden Blick hinüber zur Tür. "Und so frech waren wir nun auch wieder nicht! Was kann ich denn dafür, wenn er so dämliche Aussagen macht?!" "Frag mich nicht. Für ihn waren wir aber scheinbar besonders frech." "Dieser - verdammte - Mistkerl!", stieß ich aus und trat bei jedem Wort gegen die Hauswand. "Was bildet der sich ein?! Nur, weil er am Verdursten ist, weil er zu blöd ist, um sich vor seiner Schicht eine Flasche Wasser zu kaufen, lässt er uns nicht durch?!" "Rei…" "Was ist das für ein Mistkerl?! Am besten wäre für ihn, er würde dort an seiner eigenen Dummheit verrecken!" "Rei." "Ich will verdammt nochmal einfach nur durch diese Tür! Vielleicht sollte Fukano ihm mal was Feuer unterm Hintern machen!" "Rei!" "Was?!" Ich wandte blitzschnell den Kopf und verknackste mir damit beinahe den Nacken. Green musterte mich mit einem stechenden Blick. "Du drehst durch." "Ja, das tue ich! Problem damit?" Er grinste. "Davon wird dieser Wachmann dich auch nicht durchlassen." Ich versetzte ihm eine beinahe vernichtenden Blick. "Hör auf mit diesem Mist, das weiß ich selbst. Ich bin einfach nur sauer! Verdammt, ich hab Granny schon so lange nicht mehr gesehen … ich glaube zwar nicht, dass sie irgendwie von den Ereignissen der letzten Wochen erfahren hat, aber ich will trotzdem, dass sie es weiß. Ich muss mit ihr reden, ich bin ihr zumindest eine Erklärung schuldig." "Ich versteh dich ja. Aber willst du ernsthaft den Wachmann angreifen und dich mit der Polizei anlegen? Das bezweifle ich." "Ach, lass mich doch einfach mal wütend sein", fauchte ich und ging an ihm vorbei in die andere Richtung. "Komm, lass uns gehen. Ich will hier keine Wurzeln schlagen und noch mehr Zeit verlieren." "Und was schlägst du vor?" Ich wandte mich zu ihm um und hob die Arme. "Wenn dieser Typ uns nicht nach Saffronia rein lässt, dann gehen wir eben nach Prismania City! Dort gibt es auch eine Arena, und wir müssten nicht einmal groß über lange Routen spazieren, wir nehmen einfach den Tunnel, der unter der Stadt herführt. Der Ausgang liegt direkt am Rand von Prismania, ich bin hin und wieder dort gewesen. Ich war oft um Saffronia unterwegs, wie du dir sicher vorstellen kannst, ich kenne die Gegend gut." "Genauso gut wie Saffronia City?", fragte er mit einem Lächeln. Ich hielt seinem Blick stand. "Fast. Saffronia kenne ich natürlich besser. Wieso?" "Weil du die ganze Zeit auf dem Weg hierhin nur von Saffronia City geredet hast, und ich damit rechne, dass du über Prismania genauso viel reden kannst. Kenn ich gar nicht von dir, dass du so gesprächig bist. Aber ich muss zugeben, dass mich die Sache mit der Arenaleiterin schon interessiert. Was hat es mit der auf sich?" "Das erklär ich dir später mal", erwiderte ich, packte ihn am Arm und zog ihn mit mir, als ich mich gleich in Richtung eines winzigen Hauses wandte. "Dahinten müssen wir rein, der Tunnelpfad führt komplett unter der Stadt durch, wir sind also zügig auf der anderen Seite, wenn wir uns ein bisschen beeilen." "Du hast es ja so gar nicht eilig…" "Ich bin eben immer noch sauer!" Wir erreichten das kleine Haus. Ich ließ Green los und stieß die Tür so prompt auf, dass ich mich schon vor mir selbst erschreckte. Ich war wegen dieses Wachmanns immer noch völlig aufgeladen, er machte mich so wütend. Ich hätte Granny wiedersehen können, schon bald … doch jetzt mussten wir einen völlig anderen Weg einschlagen, nur weil dieser verdammte Idiot nichts zu Trinken bei sich und uns frech und unverschämt gefunden hatte. Dieser Mistkerl! "Gut", sagte ich schließlich und atmete tief durch. "Ich bin mies gelaunt. Du wirst jetzt dran glauben müssen, ich entschuldige mich also schon mal im Voraus dafür." Green hob die Brauen. "Ich muss also dran glauben, ja?" "Ja!", sagte ich und stieg als erster die Treppe hinunter in den Tunnelpfad. "Um auf deine Vermutung zurückzukommen, ja, über Prismania City kann ich dir auch einiges sagen! Und wenn es mich davon abhält, diesem Wachmann den Hals umzudrehen, wenn ich davon erzähle, dann tu ich das! Und zwar so lange, bis ich mich wieder beruhigt habe und wir ganz weit von diesem Mistkerl weg sind!" "Geht in Ordnung", sagte er unbekümmert und folgte mir durch den Tunnel. "Wie es aussieht, ist der Weg ziemlich lang. Nun, leg los. Ich bin ganz Ohr." Ich starrte ihn verdutzt an, doch er lächelte. Es amüsierte mich. "Nun, gut. Du bist es selber schuld." "Ich weiß. Also los, hau raus." Ich holte tief Luft, während wir wieder nebeneinander hergingen, und begann schließlich: "Prismania City ist die größte Stadt Kantos. Sie liegt zwischen der Route 7 und Route 16, die auch zum berühmten Radweg führt. Prismania City wird auch als die Stadt der Regenbogen-Träume bezeichnet, sie gilt als die bunte Stadt, in der Menschen und Pokémon zusammenleben. Klingt idyllisch, nicht? Es gibt einiges Nennenswertes in Prismania, da wäre zum einen das riesige Einkaufszentrum mit einer riesigen Auswahl an TMs, Bällen, Medizin und vielem mehr. Meine Großmutter liebt dieses Einkaufszentrum, wir sind hin und wieder mal für einen Nachmittag rübergegangen, zum Einkaufen vor allem. Du kannst mir glauben, es war jedes Mal ein ganzes Stück Arbeit, sie da wieder rauszukriegen. Sie liebt Einkaufen. Ganz im Gegensatz zu mir." "Was ist so schlimm da dran?" Ich versetzte ihm einen skeptischen Blick. "Erzähl du mir nicht, dass du gerne einkaufen gehst!" "Ich hab nur gefragt, was dich daran stört." Ich starrte ihn weiterhin an. "Okay, sag nichts weiter dazu. Du bist mir echt suspekt. Und was so schlimm daran ist? Was ist bitte nicht schlimm daran, sich unter eine Menge von materiellen Dingen besessener Menschen zu begeben, um sich die Masse an unnötigen Dingen anzusehen, für die man Geld zum Fenster rauswerfen kann? Den Großteil dieser ach so tollen Auswahl würden wir im Grunde niemals brauchen, und das ist es auch nicht wert. Ich kriege bloß Aggressionen, wenn ich zusehe, wie die Menschen vor irgendwelchen Klamotten stehen und darüber jammern, wie gern sie die doch haben würden und dass sie kein Geld dafür hätten. Den meisten scheint nicht klar zu sein, wie gut wir es haben. Zumindest, wenn nicht gerade umherzieht, wir haben alle ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch, die Menschen sollten aufhören, wegen solch belangloser Sachen zu jammern." Green blinzelte überrascht. "Über sowas machst du dir Gedanken?" "Ja! Du nicht? Okay, du bist vielleicht auch in einer etwas anderen Gegend aufgewachsen, wenn ich das mal so sagen darf. Glaub mir, hier laufen die Dinge ziemlich anders. Früher oder später wirst du das noch merken. Ich bin im Allgemeinen nicht sonderlich gut auf Menschen zu sprechen. Ich kann Menschen nicht ausstehen." "Das ist mir auch aufgefallen." "Wie auch immer, das Einkaufszentrum ist ja nur eine Sache, da wären natürlich noch das Pokémon-Center, die Spielhalle, die Arena…" "Letzteres würde uns ja wohl am ehesten interessieren." Ich nickte abschätzend. "Ja, da müssen wir so oder so hin. Beziehungsweise du, ich brauche diesen Orden nicht. Es wäre halt nur schade um die Herausforderung, die ich mir entgehen lassen würde. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob das überhaupt eine richtige Herausforderung wird." "Wieso?" "Weil es sich bei der Prismania Arena meines Wissens um eine Pflanzen-Arena handelt. Mit Fukano würde ich da locker durchkommen, und du mit deinem und Tauboga noch eher." Er grinste zufrieden. "Na, dann werde ich mir wohl mal meinen nächsten Orden abholen." "Ach, werden wir wieder überheblich?" Doch ich musste lachen. So gefiel er mir tatsächlich viel besser. Er setzte wieder sein selbstgefälliges Grinsen auf und sagte bloß: "Ich bin eben der Beste, was erwartest du?" "Schon klar", gab ich augenzwinkernd zurück, um ihn zu bestätigen. "Ich habe nichts anderes erwartet. Du bist eben großartig." Einige Minuten später erreichten wir das Ende des Tunnelpfads und stiegen die Treppe hinauf. Wir verließen das kleine Haus und traten erneut ins Tageslicht, nur wenige Meter vom Eingang der Stadt entfernt. Mein Blick fiel auf das Durchgangshaus, das sich ein Stück weiter zur anderen Seite befand und ebenfalls nach Saffronia City führte. Vielleicht sollten wir es von hier aus versuchen. "Und?" "Und was?" Ich wandte mich um. Green musterte mich abschätzend, als ob er auf etwas wartete. "Fühlst du dich besser?" Ich schwieg und senkte den Blick lieber auf den Boden, um ihn nicht ansehen zu müssen. Doch Green schien ganz genau zu wissen, was in mir vorging. "Weißt du … du hast allein am heutigen Tag mehr geredet als in der Zeit, seit ich dich kenne. Ich wusste gar nicht, dass du so gesprächig sein kannst." "Keine Angst. Das wird sich ganz schnell wieder legen", erwiderte ich kühl. Doch im selben Moment tat es mir wieder leid. Er konnte schließlich nichts dafür, dass ich so war wie ich war… "Ja, ich fühl mich besser. Viel besser." Green schenkte mir ein zufriedenes Lächeln. "Bestens. Dann hat es ja was gebracht." Einen Moment lang sahen wir uns bloß an. Ich wusste nicht, was ich sagen konnte. Ich war nicht der Typ, der sich groß dankbar zeigte oder dies überhaupt irgendwie deutlichmachen wollte. Also räusperte ich mich schließlich und wandte mich in Richtung Prismania City, die nun direkt vor uns lag. "Also, willkommen in Prismania City, der Stadt der Regenbogen-Träume! Und? Wo willst du als Erstes hin? Ich würd ja sagen, wir schauen einmal kurz im Center vorbei und sehen dann weiter", schlug ich vor. Green ließ den Blick nachdenklich durch die große Hauptstraße schweifen. "Klingt sinnvoll. Danach können wir uns ja was umsehen und mal in der Arena vorbeischauen. Je schneller wir den Sieg in der Tasche haben, desto besser." "Ich würde damit zumindest noch bis morgen warten. Ich würde gern noch ein bisschen trainieren, bevor ich mich diesem Kampf stelle. Aber es gibt ja weitaus genug in Prismania, das man sich ansehen kann. Gibt es irgendwas, das dich besonders interessiert?" "Nun …" Er zögerte. "Also, dieses Einkaufszentrum fände ich schon ganz interessant." Ich seufzte. 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