Gregors Necronomicon von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 6: Bakekujira --------------------- Entgegen dem, was manch übervorsichtige Mutter oder schwer besorgter Vater vielleicht einwenden mag… entgegen dem, was einige – und wohlbemerkt, völlig zu Recht – ängstliche junge Burschen und Mädels wohl meinen mögen: Das Abenteuer lässt sich nicht nur im eigenen Dorf finden. Gewiss, es ist eine spannende Sache. Was stellt der Hund wohl an, sollte er sich wirklich irgendwann erfolgreich in den Hühnerstall graben können? Wie sieht das eigentlich aus, wenn des Nachts so ein Wolfsrudel einfällt und ein Schaf reißt? Manches Dorf mag sogar an irgendeiner gefährlichen Stelle errichtet worden sein. Vielleicht tauchen dann und wann Risse auf, grässliche Dämonen strömen durch oder Teufel in Menschengestalt versuchen, die Einwohner zu Sünden und Verrat zu verführen. Oder ein Magier baut seinen Turm in der Nähe. Und während ich keineswegs bestreiten will, dass das alles Abenteuer sind – manche größer als andere -, so sind es doch nicht die Abenteuer. Die wirklich Großen. Die, nach denen sich viele sehnen – oftmals, bis sie Hals über Kopf in eines hineinstolpern und sich ihre Prioritäten plötzlich maßgeblich verschieben, oftmals zu einem ‚Hilfe, Hilfe, Hilfe, ich will hier schnellstmöglich weg, ich will wieder heim!‘ Ich muss gestehen – mir ging es auch gelegentlich so. Abenteuer sind gefährlich. Je größer, desto gefährlicher werden sie. Bis zu einem Punkt, an dem ein normaler Verstand wie deiner, werter Leser, oder auch meiner, nicht mehr abzuschätzen fähig ist, wie gefährlich es eigentlich ist. Auf wie viele Arten es gefährlich ist. Und dennoch gibt es furchtlose – oder dumme, wirklich, die Linie dazwischen ist nicht so breit, wie mancher gern behaupten mag – Gestalten, die es stets aufs Neue wagen, die es kontinuierlich weiter in die Ferne zieht. Das ist auch der Grund, warum ich mich eines hübschen, sonnigen Tages – oder vielmehr in der lauwarmen Nacht darauf – in einer Taverne in Sundergrad wiederfand. Ich war nicht etwa auf der Suche nach Abenteuern, die ich, um sie zu erleben, lediglich auf mein Zimmer mitnehmen musste. Auch wenn das war, womit ich endete. Was ich suchte, war eine Gelegenheit zur Überfahrt. Mir war damals ehrlich gesagt völlig egal, wohin es ging. Lumiél hatte seinen Reiz, gewiss. Es gab viele interessante Ecken. Aber Lumiél war, allem zum Trotz, eben doch nur ein Land. Eines. Dort draußen aber gab es dutzende Nationen und Völker und Regionen, Gebirge, Seen und Magiertürme, Bibliotheken, Städte und Geheimnisse. Eine ganze Welt, die noch darauf wartete, erkundet zu werden. Nein, ich war nicht knapp bei Kasse. Überhaupt nicht. Aber man führt nicht ein Leben wie das Meine, ohne sich gewisse Gewohnheiten zuzulegen. Wenn sich eine Möglichkeit erbot, ein paar Münzen zu sparen – warum dann nicht nutzen? Und solche Gelegenheiten boten sich eigentlich immer, man musste nur danach suchen, die Augen offen halten. Gerade in Sundergrad. Das ist ja gewissermaßen die Stadt der Möglichkeiten – im Guten wie im Schlechten. Ich fand meine Chance in einer Aasimar. Willy war ihr Name. Natürlich nicht ihr richtiger Name. Aber sie war Piratenkapitän, hatte ein eigenes Schiff, segelte für Shandra, ihre Fürstin, und ihre Crew schien ihr loyal und zugetan. Sowas ist wichtig. Wenn es auf See erstmal zu einer Meuterei kommt, dann will man ganz sicher nicht der Passagier sein, der die letzte bewusste Entscheidung des Kapitäns symbolisiert. Ich meine, gut, vielleicht hätte ich mir auch eine zuverlässig sichere Überfahrt auf einem gewöhnlichen Schiff organisieren können. Aber vom Preis ganz abgesehen, mal ehrlich – Piraten! Hallo?! Willy war anders. Damit meine ich nicht ‚anders als alle anderen Frauen‘, nein. Anders als andere Aasimare. Denen begegnet man ja selten. Sie hatte keinen Heiligenschein. Ihre Haare waren dreckig. Ihr Atem roch nach Schnaps. Sie schwitzte. Sie betrog beim Kartenspiel. Immer und immer wieder. Und ich kann bestätigen, dass sie anatomisch in jedweder Hinsicht mehr Mensch war als alles andere. Mit einer rühmlichen Ausnahme, die trotz der dünnen Blutlinie offenbar verblieben war: Diese riesigen, weißen Federschwingen. Ich kann dir sagen, lieber Leser – das sind ziemlich empfindliche Dinger. Das mag in manchen Bereichen wirklich spaßig sein und glaube mir, ich bemühte mich in jener Nacht, davon so viel wie möglich auszukosten. Aber wenn man erstmal zur Ruhe kommt, dann wird es kompliziert. Wohin mit den Dingern? Auf dem Rücken liegen empfand sie als unbequem. Bevorzugt schlief sie auf dem Bauch, die Flügel ausgebreitet. Aber die mussten natürlich nach so viel Rauferei erstmal gerichtet und gepflegt werden. Und dann, dann waren da Flügel auf mir. Nicht mal das ungewohnte Gefühl hielt mich wach, sondern das gelegentliche Zucken, wenn sie träumte – und bei Telete, waren die verdammten Dinger warm. Willy und ich, wir hatten es von Anfang an gut getroffen. Ich trat ein, mein Blick flog über den Schankraum und traf ihren. Wir starrten uns eine Weile an, bis ich zum Tresen ging, mir einen Krug Bier bestellte und zu ihr rüber ging. Vielleicht kam es mich am Ende sogar teurer zu stehen, mich von ihr abzocken zu lassen, als mich die normale Überfahrt gekostet hätte. Aber das ist in Ordnung. Denn all die Geschichten, die diese Leute erzählen können…! Die hört man auf anständigen Schiffen von anständigen Seemännern nicht. Vielleicht wissen das die Seemonster auch und lassen sich deshalb mehr bei Piraten blicken? Willy war es ziemlich egal, das ich war, was ich war. Obwohl Aasimare ja in einem gewissen Ruf stehen. Im Gegenteil – sie erließ mir von dem ohnehin geringen Preis für die Überfahrt die Hälfte, sollte ich meine Magie unterwegs sinnvoll einsetzen können, um Gefahren abzuwenden. Und da, da war ich ja zuversichtlich. Mir war nur nicht klar, dass sie da eine ganz bestimmte Gefahr im Hinterkopf hatte. Wir fuhren am späten Morgen nach einem guten Mahl also los und die ersten Tage war auch wirklich alles prächtig. Ihre Mannschaft teilte Geschichten mit mir – und Rum. Ich erlebte sogar aus nächster Nähe einen Überfall. Natürlich hatte ich mir extra ein Schiff der Rotflaggen gesucht, mir war nicht sonderlich danach, all das Blutvergießen miterleben zu wollen. Es war erstaunlich, wie präzise und schnell sie vorgingen. Ein Raubüberfall ohne Tote. Klar, Säbel wurden gezogen und eifrig gerasselt, ein paar Bolzen wurden gefeuert, aber das war alles mehr oder minder Einschüchterungstaktik. Beide Mannschaften waren auf See – Wunden zu versorgen war hier so viel schwerer, also legte es niemand darauf an, überhaupt erst welche davon zu tragen. Dann aber, am… oh, es muss die dritte Woche gewesen sein? Auf den Tag, so fürchte ich, werde ich es nicht mehr eingrenzen können. Da saß ich oben im Krähennest und, wie der Zufall es so wollte, erzählte mir der Schiffsjunge im Ausguck gerade von Willys größtem Triumph – und ihrer größten Niederlage, zugleich. Lieber Leser, du kennst sicherlich die Geschichte von Noah und dem Wal, oder? Von Raserei verzehrt hörte der Gute einfach nie auf, das Tier zu jagen. Sie jagten einander, irgendwie. Bis es zum tragischen Ende kam. (Wobei, um ehrlich zu sein, man hier darüber streiten könnte, für wen das nun eigentlich wie sehr tragisch war oder eben auch nicht.) So oder so kann ich das Buch nur empfehlen – gute Lektüre, gehört in jede anständige Sammlung! Willy hatte ihren eigenen Wal. Ein gigantisches Ungetüm, ein Geschöpf der See, ein Tier von Eumenes. Sie hatte den Koloss tagelang, wochenlang gejagt. Es war das größte und prächtigste Tier, das sie je gesehen hatte – der musste also einiges wert sein. Und wenig überraschend gelang ihr auch, ihn zu erlegen. Sie war ja schon gute anderthalb Jahrhunderte Piratin, da lernt man den einen oder anderen Trick, schätze ich. Der Wal blieb aber nicht tot. Keine Woche, nachdem sie den Wal getötet hatten, nachdem sie ihn ausgeschlachtet und seine Reste dem Meer übergeben hatten, nachdem sie in einem Hafen angelandet waren und all die Beute gegen reichlich gutes Geld verkauft hatten, da wurde ihr Schiff angegriffen. Gerammt. Sie konnten die Bestie abwehren, bis sie in den glücklicherweise nicht weit entfernten Hafen zurückkehren konnten. Und ein halbes Dutzend Mal probierten sie die unterschiedlichsten Finten und Manöver aus, um dem Tier zu entkommen. Bis sie nicht nur die letzte Gulde ihres Gewinns in Reparaturen und Vorbereitung ihrer Flucht investiert hatten, sondern sogar Schulden aufnehmen mussten. Es gelang ihr letztlich, zu entkommen. Aber der Wal blieb hartnäckig. Er kam immer wieder. Irgendwie… fand er Willy. Stets aufs Neue. Bis es selbst unter Piraten hieß, das sie verflucht sei und sie kaum noch den Hafen verlassen konnte. Das tat mir dann wieder fast schon leid. Naja, bis ich aus der Geschichte gerissen wurde, weil das Schiff gerammt wurde. Jetzt stell‘ dir mein Gesicht vor, mein Freund, als ich aus dem Krähennest nach unten schaue und da dieses Ding sehe. Genau das Ding aus der Geschichte, die ich gerade eben noch hörte. Ein gewaltiges Biest, wahrlich, aber den Wal erkannte man nur schwerlich wider. Das Monstrum bestand nur noch aus Knochen, aber war umgeben von einer dunklen Wolke aus altem Blut und Verwesungssäften, die das Wasser fast schwarz färbte. Nach der ersten Ramme zog sich der weiße Knochenriese zurück in die Tiefe. Er gab auf, hoffte ich. Er wendet, schrien alle anderen. Sie machten sich kampfbereit und bis heute muss ich mich doch ehrlich fragen: Was macht man gegen solch einen Knochengiganten eigentlich? Als er das zweite Mal auftauchte, da stieß er einen Laut aus, den ich meinen Lebtag nicht vergessen werde. Es klang ganz entfernt verwandt mit den sonst so ruhigen, friedlichen Walgesängen, die man auf See sicherlich dann und wann zu hören bekommt. Aber so viel… zorniger. Getragen, gespeist von Hass und Wut und Raserei. Ich sah unten Holz bersten und ein paar der Seemänner umkippen, aus Augen und Ohren blutend, reglos liegen bleibend. Ich bekam es zugegeben furchtbar mit der Angst zu tun – erst Recht, als der Riese wieder abtauchte und wenig später in einiger Entfernung zu sehen war. Wie er Anlauf nahm. Als er diesmal das Schiff rammte, da brach es. Er zerschmetterte die äußere Hülle und der ganze verdammte Kahn begann zu kippen. Ich sah ein paar der Piraten in ihrer Verzweiflung ins Wasser springen und was ich da zu sehen bekam, das bereitete mir nur noch mehr Übelkeit. Diese Wolke? Die war lebendig! Darin waren dutzende, vielleicht hunderte kleiner Seetiere. Fische und Krabben und Quallen. Sogar Seevögel. Allesamt untot. Wie ein gieriger Schwarm aus Schnäbeln, Scheren und Mäulern fielen sie über jeden her, der den Fehler beging, die Wolke um den Wal auch nur zu streifen. Ich sah, wenn ich ehrlich bin, meinen Tag gekommen. Willy war auch dort unten. Sie heilte ihre Leute. Sie warf mit Feuer nach einer Kreatur, die im Wasser schwamm. Sie konnte schlicht und ergreifend nichts tun. Niemand konnte etwas tun, als die dritte Ramme das Schiff in der Mitte durchbrach. Wir alle gingen baden, unweigerlich. Und dort unten, im Wasser, da wartete er. Der untote Wal und seine Wolke aus totem Getier. Wie ich das wohl überlebt haben mag, das fragst du nun, was? Die Antwort ist etwas beschämend. Der Angriff erfolgte keine zwei Tagesreisen von unserem Zielhafen entfernt. Ein Fischerboot las mich aus dem Wasser auf, nachdem ich zum Weiterschwimmen keine Kraft mehr gehabt hatte. In jenem Hafen fand ich auch andere aus Willys Mannschaft wieder, die es ebenfalls irgendwie geschafft hatten. Der Wal hatte sie verschont. Er hatte sich für keinen von ihnen interessiert. Nur für Willy. Wer in die Wolke kam, natürlich, der war tot. Wurde zerfressen. Aber der Wal jagte nicht das Schiff oder seine Besatzung, er jagte nur sie. Bakekujira. Das ist der Name dieser Monster, von denen es – wie ich später erfuhr – sogar einige geben soll. Der Name entstammt Yǔyán, der Sprache, die man in Shou Lang spricht. Man sagte mir, dass das tatsächlich am ehesten mit Geisterwal übersetzt werden könne. Ich mochte Willy. Und hätte ihr ein besseres Ende gewünscht als das. Ob Noah auch von einem wütenden Geisterwal verfolgt worden wäre, hätte er seinen Wal tatsächlich umbringen können? Lass dir gesagt sein, guter Leser: Nur weil man ihnen nicht oft begegnet, heißt das nicht, das sie nicht da wären oder existieren würden. Untote gibt es in allen Farben, Formen und Größen – und an jedem Ort. Jedem. Selbst auf See, wo man ihnen schrecklich wenig entgegensetzen kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)