Ein Kleid aus Rosen von Lady_Shanaee ================================================================================ Mein Kleid aus Rosen eine Originalstory von Er war schöner, als es ein Mann sein sollte. Ich sage das nicht, weil ich eine abgewiesene Geliebte bin oder sonst einen Groll gegen ihn hege. Es ist schlicht und einfach die Wahrheit. Niemand kann sich seinem Charme entziehen: Nicht die Mädchen unseres Jahrgangs, nicht die Jungen... weder die älteren Studenten, noch die Kursleiter. Tokiya hat einen geheimen Fanclub und einen, der aus seiner Bewunderung für ihn keinen Hehl macht. Fotos von ihm werden in den Pausen gehandelt wie Drogen auf dem Schwarzmarkt. Außerdem hat er mindestens zwei Stalker, sagt man. Wenn Tokiya lächelt, schmelzen die Herzen wie Butter in der Sonne. Wenn er wütend die Stirn runzelt, wird es schlagartig kälter im Raum. Eine Dozentin stürzte sich vom Dach des Hauptgebäudes, nachdem er ihr wiederholt und das letzte Mal ganz direkt eine Abfuhr vor aller Augen erteilt hat. Ein Mann aus dem Schulministerium soll sich in seinem Büro selbst erhängt haben, nachdem Tokiya seine Annäherungsversuche abgewehrt hat. Keiner von uns weiß Einzelheiten, außer Tokiya. Kein Erwachsener spricht darüber. Tokiya selbst zuckt nur lächelnd mit den Schultern, wenn man ihn danach fragt, und antwortet lächelnd: "Was meinst Du, das geschehen ist? Denk' dir was aus!" Die Gerüchte und Vermutungen blühen wie Unkraut im Frühlingsbeet. Wir sind alle keine Kinder mehr, sondern auf dem College und verschlingen dennoch gierig FanFictions über ihn mit beliebigen Partnern, je detailreicher und schmutziger, desto besser. Die schriftstellerische Freiheit ist grenzenlos. Wenn man Tokiya beschreiben will, muss man sich einen schlanken, aber muskulösen Jungen vorstellen. Seine Haut ist von der Sonne gebräunt, und seine Teammitglieder aus dem Kyûdôclub sagen, er habe weder den Ansatz eines Bartes noch Haare auf Brust oder Bauch. Er könne den Bogen eine halbe Stunde lang gespannt und völlig ruhig halten, um dann das Ziel mittig mit geschlossen Augen zu treffen. Tokiyas Augen sind grau, und es ist jedem selbst überlassen, ob er es als silbrig oder sturmwolkengrau sehen will. Sie sind von langen, schwarzen Wimpern umrahmt, die Schatten auf seine hohen Wangenknochen werfen, wenn die Sonne im richtigen Winkel auf sein Gesicht scheint. Auch sein Haar ist lang und schwarz, als wäre es mit noch feuchter Tinte auf seinen Rücken gemalt. Es ist völlig glatt, aber kein feines, sondern kräftiges Haar. Seine Brauen wirken wie mit einem Kohlestift nachgezogen, pechschwarz, aber schmal und dicht. Sie gehen von der Nasenwurzel schräg nach oben, um dann - nach etwa einem Drittel ihrer Länge - einen leichten Bogen zu beschreiben, der dann wieder nach unten abfällt. Man könnte meinen, sie seien gezupft, um die Nase in Szene zu setzen... eine schmale, gerade Stupsnase, um die ihn jedes Mädchen beneidet. Zusammen mit dem Mund, dessen Form sich für die Werbung für Lippenstift oder Glossy-Produkten geradezu anbietet, und dem ovalen Gesicht könnte man meinen, dass Tokiya sehr feminin aussieht, doch das stimmt nicht. Spätestens wenn er spricht, leise und dunkel, sind die letzten Zweifel ausgeräumt. Mich erinnert es an das Schnurren einer großen Katze. Woher ich das alles so genau sagen und beschreiben kann? Ich sitze in unseren gemeinsamen Kursen schräg hinter ihm, kann ihn also unbemerkt beobachten. Ihn zeichnen. Meinen Gedanken nachhängen... Was wäre, wenn... Der Leiter des Literaturkurses predigt immer wieder, man solle der Authentiziät wegen nur über das schreiben, was man kennt und liebt. Mein Kunstprofessor sagt, in wahre Kunst fließe immer auch ein Teil der Seele ihres Schöpfers ein. Solche Worte machen mir Angst. "Es ist zwar schmeichelhaft, so im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, aber wenn die Produkte daraus nur Schrott und als Liebesroman verpackte Pornos sind, ist das eher beleidigend", reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken, die mir gleichzeitig eine Gänsehaut verursacht. Ich habe noch nie erlebt, dass eine Stimme, ein Ton, sich so anfühlt, als würde mir jemand mit dem Finger über die nackte Haut streichen. Am Rücken, die Wirbelsäule herunter... Meine Hände zittern, als Tokiya mir den Zeichenblock vom Schoß nimmt und sich durch die Skizzen blättert. Sein Gesichtsausdruck verändert sich von Belustigung zu Erstaunen. Ich starre ihn nur an wie hypnotisiert, zu schockiert darüber, dass er mich von sich aus angesprochen hat und scheinbar Interesse an dem hat, was ich in meiner Freizeit tue. Plötzlich fällt mir ein, dass ich die anzüglichsten Bilder von ihm - Tokiya nach der Dusche, nur mit Handtuch bekleidet, zum Beispiel - gestern abend aussortiert habe. Dennoch starre ich ihn an, ohne mich rühren zu können, und so fällt mir erst nach einer kleinen Ewigkeit auf, dass Tokiya meine Bilder mit einem merkwürdigen Ausdruck ansieht. Ich höre, wie er mit den Fingern über das Papier streicht. Seine Lippen formen Worte, die ich nicht verstehe... ein leises Murmeln, als spräche er nicht mit einer Zeichnung, sondern mit jemandem, der ihn aus dem Bild heraus ansieht. Eine Stimme in meinem Kopf wispert, dass sowas komisch ist, doch noch bevor der Gedanke völlig in mein Bewusstsein dringen kann, hebt Tokiya den Kopf, und sein Blick nagelt mich am Boden fest. Ich spüre meinen Herzschlag in meiner Kehle, mein Kopf ist wie leergefegt. Die Welt wird plötzlich klein, als gäbe es sonst nichts außer diesem Gesicht mit den stahlgrauen Augen und dem sinnlichen Mund, um das der Wind pechschwarze Haarsträhnen flattern lässt, als wäre Tokiya einer der Erzengel. "Wie machst du das?", fragt er heiser. Ich höre seine Worte, aber sie ergeben für mich keinen Sinn. Als könnte ich meine eigene Sprache nicht mehr. Zu sehr in seinen Bann geschlagen kann ich nicht einmal mehr sprechen und schlucke mühsam. Tokiya dreht den Block zu mir herum und zeigt auf eine Bleistiftstudie seines Gesichts, der ich mit schwarzer Aquarellfarbe so viel Tiefe geben konnte, dass sie aussieht wie ein Foto. Nun ja, fast jedenfalls. "Dieses Bild lebt", flüstert Tokiya nun, nachdenklich über die Wange seines Ebenbilds streichend. Tatsächlich. Es kann nicht sein, und doch ist es, als blicke mich das Gesicht auf dem Papier an, als wäre mein Block eine Glasscheibe... ein Fenster, durch das ich nun hindurchschaue, um jenen anderen Tokiya zu sehen. Wie hat... er das... gemacht? Was... hat er gemacht? "Ich will mehr von dir", sagt Tokiya dunkel und kommt so nah, dass ich sehen kann, wie seine Augen plötzlich einen blauen Schimmer bekommen haben. Wow... Sie erinnern mich an eine Gasflamme, und der Blick ist so intensiv, dass ich zu spüren glaube, wie er sich bis auf meine Haut brennt. Mir wird heiß. Ich weiß nicht, ob ich nicke, doch mein Körper sackt in sich zusammen, als Tokiya sich umdreht und davongeht - mit meinem Zeichenblock unter dem Arm. Es kommt mir nicht einmal ansatzweise in den Sinn, ihn zurückzuverlangen.... Den Rest des Tages verbringe ich wie im Rausch. Das Gefühl für Raum und Zeit verschwimmt und manifestiert sich erst wieder, als ich ihm am nächsten Tag in der Mittagspause auf dem Hof gegenüberstehe. Wortlos strecke ich Tokiya meine zweite Zeichenmappe entgegen, in der alle kolorierten Bilder aufbewahrt sind. Lächelnd nimmt er sie an sich und umgreift mein Handgelenk. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren, als wollte er mich warnen. "Komm' mit", schnurrt Tokiya. Ohne eine Antwort abzuwarten, zieht er mich sanft aber stetig hinter sich her, vorbei an gaffenden Leuten, vom Hof, die Straße hinunter, vorbei an Wohnhäusern, Geschäften und Parks, weiter, immer weiter, hinaus aus der Stadt. "Ich kann nicht mehr", stöhne ich, als sich am Horizont die Nacht ankündigt. Meine Füße schmerzen, doch sie gehen wie von selbst weiter. Schritt für Schritt folgen sie Tokiya, der mein Handgelenk nur sanft umfasst hält. Dennoch kann ich seine Finger nicht lösen, starre auf seinen Rücken und erkenne plötzlich, dass ich völlig die Orientierung verloren habe. Angst steigt in mir auf. Hektisch sehe ich mich um, auf der Suche nach etwas - irgendetwas - das mir vertraut erscheint. Doch das einzige, was ich erkenne, ist der sich schwarzblau färbende Himmel und der riesige, weiße Vollmond, dessen Licht Tokiyas - und damit auch meinen - Weg erhellt. "Schneller", unterbricht Tokiyas Stimme mein atemloses Keuchen, und die Unerbittlichkeit seiner Umklammerung zerrt mich hinter ihm her in die pechschwarze Dunkelheit eines Waldes. Ich sehe so gut wie nichts, doch überdeutlich laut erscheint mir das Rauschen des Windes, der durch die Bäume fegt und das Knacken ihrer alten, morschen Äste. Es riecht nach nasser Erde und verrottendem Laub, meine Knöchel streifen kalt gegen niedrige Pflanzen, und ich erschauere vor Ekel... Manche von ihnen sind scharf und schneiden in meine Arme und Beine, wo das Sommerkleid sie nicht bedeckt. Zweige verfangen sich in meinen Haaren, Wurzeln lassen mich stolpern und taumeln. "Schneller!", fordert Tokiya und beschleunigt seine Schritte. Der Schrei einer Eule und das Jaulen von Wölfen verursachen mir eine Gänsehaut. Etwas Glitschiges streift meine Wade. Schreckliche Seitenstiche machen mir das Atmen zu einer Qual, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte. In einem amerikanischen Horrorfilm wäre die Frau jetzt sicher vor Panik am Kreischen, doch Tokiyas Eile und meine eigene Erschöpfung lassen mir gar keine Zeit für solchen Luxus. Irgendwann brechen wir durch das Unterholz und treffen auf eine Lichtung, die vom Mond in ein silbriges Licht getaucht wird. Tokiya bleibt so abrupt stehen, dass ich gegen ihn taumele und falle. Glücklicherweise ist das Gras erstaunlich weich. "Wo... wo sind wir?", frage ich, als ich endlich wieder etwas zu Atem gekommen bin. Tokiya hat meine Mappe geöffnet und betrachtet geistesabwesend die Zeichnungen darin. Wieder hat er diesen erstaunten Ausdruck im Gesicht, mit dem er gestern behauptet hat, meine Bilder würden leben. Meine Frage beantwortet er nicht. Im Gegenteil: Allem Anschein nach hat er sie nicht einmal gehört. Er steht hoch aufgerichtet da, im knöcheltiefen, silbernen Gras der Lichtung, der Wind hat sein langes Haar gelöst und schwenkt es, wie ein siegreiches Heer das eroberte Banner des Gegners... Für mich sieht er aus wie der Fürst der Nacht persönlich. Erneut von ihm wie verzaubert starre ich vom Boden zu ihm hoch, während meine Hand durch das Gras streicht. Wieder fällt mir auf, wie weich es ist und nun schaue ich zum ersten Mal genauer hin: Es fasst sich nicht nur so an wie Menschenhaar... zu meinem namenlosen Schrecken muss ich feststellen, dass es auch welches ist! Eine Strähne hat sich gelöst, und der Vollmond ist hell genug, dass ich den Schädel, zu dem es gehört, sehen kann! Wir stehen auf... einem Friedhof! Schreiend springe ich auf, doch das Haar ist überall. Panisch versuche ich irgendwo hinzutreten, wo nicht diese schrecklichen Haare sind, doch unmöglich. Als ich zurückweichen will, greift Tokiya blitzschnell nach meinem Handgelenk. Egal, wie sehr ich versuche, mich loszureißen - sein Griff wird nur noch fester. "Was soll das?", frage ich, während mir Tränen der Angst über das Gesicht laufen. "Wo sind wir?" "Auf einem alten Schlachtfeld, jenseits von Raum und Zeit", antwortet Tokiya, die Stimme grollend wie der Donner eines Gewitters. "Zehntausende fanden hier den Tod, als sie für den König der Rosen in den Kampf zogen." Ist der verrückt?! Tokiyas Erklärung ist so absurd, dass ich kurz aus meiner Panik herausgeholt werde. Dann beginnt er zu rennen, über dieses schreckliche Gras aus Haar an Schädeln, von denen uns einige aus hohlen Augen hinterherstarren. Ich stolpere mehr als dass ich laufe und habe Mühe, mit Tokiya Schritt zu halten. Er rennt und rennt, so schnell, dass er mir fast den Arm aus der Schulter reißt. Seine Haarsträhnen streifen sanft mein Gesicht... Meine Füße tun so weh wie noch nie in meinem Leben... Derart abgelenkt bemerke ich nicht gleich, wie wir an einem schmiedeeisernen Zaun vorbeikommen und einen Park betreten, dessen Blumenbeete und Alleen längst verdorrt und vermodert sind. Welke Blätter lösen das schreckliche Gras ab. Rascheln unter unseren hastigen Schritten. Am Ende des riesigen Parks entdecke ich nach einer Weile eine alte Villa. Völlig von altem Gestrüpp überwuchert, das einmal Efeu hätte sein können. Die Fenster haben kein Glas mehr und starren blind in die Nacht, wie tote Augen in einem Gesicht. Das Hauptportal sieht massiv und riesig aus und ist nur über zwei seitliche Aufgänge zu erreichen. Überall ist der helle Putz abgebröckelt und gibt den Blick auf den dunklen Stein darunter frei... Irgendetwas ist mit diesem Haus, ich fühle es. Es... ruft. Tokiya zerrt mich die Treppe des linken Aufgangs hoch und zwingt meine Hand, den wie poliert glänzenden Türknauf zu berühren. Er hat die Form einer Rosenblüte... Der Knauf ist heiß, und mein eigener Schmerzensschrei gellt in meinen Ohren wider. Aus dem Knauf schießen dornige, goldene Ranken, umschlingen meine Hand, meinen Arm und brennen sich in meine Haut. In irgendeinem Winkel registriert mein entsetztes Gehirn, dass aus den Ranken blutrote Rosen wachsen. Sie leuchten... ...und wachsen immer weiter, bis sie mich völlig umschließen. Ich trage ein goldenes Kleid aus rot blühenden Blutrosen. Mein verzweifelter Seitenblick auf Tokiya verrät der bewegungslosen Statue, zu der ich geworden bin, dass dieser begeistert ist. Seine Augen leuchten wieder in diesem gasblauen Ton, sie glühen, und seine Wangen sind vor Aufregung gerötet. "Du bist es", flüstert er, und das verzückte Lächeln in seinem Gesicht wird breiter. "Ich wusste es." Teuflisch. "Endlich." Alle Kraft verlässt meinen Körper, und ich erkenne plötzlich, dass ich sterben werde. Mein Rosenkleid zehrt mich aus, während sich die Villa und der Park erneuern und zum Leben erwachen. Es riecht plötzlich nach Rosen und frischem Grün... Bevor meine Augen sich für immer schließen, spüre ich Tokiyas Lippen warm, fest und sanft auf meinen. Mein erster Kuss... und mein letzter. "Ich danke dir", sagt er leise. Dann wird es dunkel um mich herum. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)