Between evil voices and innocent hearts von Platan (Weltenträume) ================================================================================ Kapitel 4: Vincent wartet doch auf uns -------------------------------------- Hier saß ich nun, in einem protzigen Luxuswagen, einer großen Familienkutsche. Obwohl ich ein Kerl bin, verstehe ich nicht viel von Autos. Wer im Waisenhaus aufwuchs, der konnte froh genug sein, wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren durfte, denn war die Schule in der Nähe, mussten die Kinder laufen, um Geld zu sparen. Deshalb kam ich in der Vergangenheit selten in den Genuss, von vier Rädern durch die Gegend kutschiert zu werden. Trotzdem ahnte sogar ich als Laie, dass dieser geräumige Wagen gewiss nicht billig gewesen sein konnte. Ein Blick auf die zahlreichen Funktionen und Extras, die das Armaturenbrett zu bieten hatte, bestätigte diese Vermutung. Besonders das eingebaute Navigationssystem und der kleine Bildschirm, dank dem es sich leichter rückwärts einparken ließ, brachten mich zum Staunen. So etwas hatte ich noch nie gesehen, für mich war das die reinste Science-Fiction. „Anschnallen“, forderte der Fahrer neben mir. Der war ein regelrechter Zwei-Meter-Mann, mit den körperlichen Eigenschaften einer Ziehharmonika. Im Ernst, es war mir ein Rätsel, wie jemand von solcher Größe sich in ein Auto zwängen konnte, erst recht auf der Fahrerseite, wo es durch das Lenkrad und allen anderen Steuerelementen noch beengter sein musste. Vielleicht besaß der Typ keine Knochen und bestand nur aus Gummi, aber seine Haltung sah überraschend normal aus. Zwar mochte dieser Wagen angenehm groß sein und mehr Platz bieten als manch anderer, doch es sollte normalerweise dennoch nicht einfach für ihn sein, hier drin zu sitzen. Wie auch immer, eigentlich konnte mir das egal sein, nur sah ich einen derart hoch gewachsenen Mann heute ebenfalls zum ersten Mal in meinem Leben. Zu viele neue Eindrücke an einem Tag. „Stimmt etwas nicht?“, fragte er plötzlich. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ihn die ganze Zeit schweigend anstarrte. Nicht gerade höflich, wie ich wusste, auch wenn ich gute Gründe dafür aufzählen könnte, warum ich ihn so genau musterte. Hoffentlich fühlte er sich nicht in irgendeiner Form beleidigt von meinem Starren. Hastig schüttelte ich den Kopf. „Nein, nein. Alles okay.“ „Gut.“ Der Klang seiner tiefen Stimme war ebenso melodisch wie bei Kieran, das musste bei denen in der Familie liegen. „Wenn du dich dann anschnallen würdest, könnten wir endlich losfahren.“ „Oh, ja klar. Sorry.“ Zügig kam ich seiner Forderung nach, er selbst war schon längst bereit und wartete nur noch auf mich. Anscheinend hatte ihn also nicht mein Starren gestört, sondern mein tatenloses Herumsitzen. Immerhin wollte er mich nach Hause fahren, zu Vincent, obwohl er garantiert bessere Dinge zu tun hätte, als sich um einen Ausreißer zu kümmern. Dabei hatte ich versichert, alleine zurechtzukommen, aber weder er noch Kieran waren davon begeistert gewesen. Sie mussten glauben, ich würde die Chance dazu nutzen, nochmal abzuhauen. Also hatte ich nachgeben müssen, zumal ich es mir ausgerechnet mit dieser Person nicht verscherzen wollte. Bei meinem Fahrer handelte es sich nämlich um Hiwa Belfond, den Vater von Kieran und diesem unheimlichen Ciar. Muskulös war er nicht, eher etwas schmächtig, was sein ellenlanges, dunkelbraunes Haar gut kaschierte. Das pflegte er bestimmt nicht selbst, so ordentlich wie es aussah. Diese Haarpracht machte wahrlich jeder Frau ernsthafte Konkurrenz. Hiwa wäre schon wieder jemand in meinem Umfeld, der locker als Model arbeiten könnte – ich kam mir langsam wie das schwarze Schaf in der Herde vor. Sein Gesicht wirkte aber eher wie das eines Totengräbers oder Politikers, der seine Seele an den Teufel verkauft hatte. Die Augenbrauen blieben dauerhaft zusammengezogen und seine Mundwinkel hingen weit unten. Alles an Hiwas Mimik war verhärtet und strahlte einen Ernst aus, der den Tod persönlich einschüchtern könnte. Einzig seine braunen Augen besaßen etwas Weiches, sogar Warmes, das beruhigend wirkte. Sie erinnerten mich stark an die von Kieran, weshalb ich seinen Vater nur mögen konnte. Dabei kannten wir uns erst seit etwa zehn Minuten. Hiwa redete nicht viel, habe ich schon festgestellt. Eine Brille würde ihm voll stehen, dachte ich für mich. Passend zu seinem Business-Anzug. Mich würde brennend interessieren, was für einen Beruf Hiwa ausübte, dass er sich und seiner Familie solch ein luxuriöses Leben bieten konnte, aber ich wollte ihn nicht noch mehr nerven. Gut möglich, dass er deswegen so ein ernstes Gesicht machte, weil ich in seinen Augen ein Störenfried war. Traurigerweise wäre Hiwa somit die erste Person, die vernünftig war und schlechte Menschen auf den ersten Blick erkannte, statt all ihre Energie und Zeit vergeblich in jemanden hineinzustecken. Wäre ich mit Kieran zusammengekommen, anstelle von Faren, hätte ich Hiwa irgendwann unter anderen Umständen kennengelernt. Spätestens ab dem Zeitpunkt wäre unsere Beziehung bestimmt auseinander gebrochen. Wie sollte jemand wie ich Hiwa von sich überzeugen? Ich hatte die Schule abgebrochen, keine Ausbildung in Sicht und stammte aus dem Waisenhaus, aus dem ich einfach geflohen war. So sah nicht gerade der Partner aus, den man sich für sein Kind wünschte. Meine Liebe zu Kieran hätte so oder so keine Chance gehabt. Reiß dich zusammen!, ermahnte ich mich selbst, bevor diese Gedanken ausarten konnten. Es ist vorbei, damit habe ich mich abgefunden. Das Gefühl der Liebe ließ sich aber leider nicht so leicht abstellen. Ich wollte das nicht aufgeben. Seit den letzten Jahren war es nach langem etwas Gutes gewesen, das ich erlebte. Jetzt endete es zwar in Kummer, doch ich wollte nicht endgültig loslassen. Sonst käme ich nur wieder zu dem Schluss, dass mich niemand mehr bräuchte. Abwesend warf ich einen Blick aus dem Fenster. Inzwischen fuhren wir bereits durch die Stadt, nach Spießerhausen. Wann hatte Hiwa den Motor gestartet? Der Wagen bewegte sich derart geschmeidig, beinahe schwebend, dass ich keinerlei Bewegungen wahrnahm, als würden wir immer noch stehen. Draußen rauschte aber die Außenwelt an uns vorbei, wie ein schneller Fluss, der neben uns ins Unendliche führte. „Ich hasse ihn. Warum tue ich mir das überhaupt an?“ Sofort huschte mein Blick zu Hiwa, doch er konzentrierte sich auf den Verkehr. Er hatte nichts gesagt. Es sei denn, er konnte seine Stimme verstellen und auf einmal wie eine Frau klingen. Irritiert sah ich nochmal nach draußen und überlegte, was ich eben gehört haben könnte. Das Radio lief nicht und die Fenster waren allesamt geschlossen, am Morgen blieb man noch von der Hitze verschont. Instinktiv holte ich mein Handy hervor, doch es war noch nicht wieder aufgeladen worden und somit stumm. Bildete ich mir etwas ein? Ich hatte vorhin klar und deutlich eine Frau sprechen hören, als stünde sie direkt neben mir und würde mit mir sprechen. Mir kam das Monster von letzter Nacht in den Sinn. Falls das wirklich passiert war, könnte so etwas dann auch am Tag auftauchen? Nein, sonst wäre das schon längst aufgefallen und die Medien wären voll davon. „Kotzt mich das an, ey! Ich könnte die Alte echt abstechen!“ „Wenn ich eh nur Abschaum bin, kann ich auch einfach klauen.“ „Soll das Mistvieh doch an der nächsten Straßenecke verrotten.“ Nervös sah ich suchend aus dem Fenster. Noch mehr Stimmen, jede klang nach einer anderen Person. Ein Mann. Ein Kind. Noch ein Mann. Mein Griff um das Handy wurde schwächer und es fiel mir auf den Schoß, was ich nicht bemerkte. Wie versteinert saß ich da und wollte meinen Augen nicht trauen. Zwischen den Menschen, die schon in der Stadt unterwegs waren und Einkäufe erledigten oder anderen Pflichten nachgingen, gab es einige Leute, deren Anblick mich zutiefst verstörte. Wie selbstverständlich bewegten sie sich zwischen ihren Artgenossen und taten so, als seien sie ganz normal. Womöglich wussten sie nicht mal, wie ihre wahre Gestalt aussah. Statt normalen Gesichtern sah ich bei einigen nur verschwommene Fratzen, mit tiefen Augenhöhlen, aus denen eine schwarze Flüssigkeit wie Tränen nach draußen floss. Sie blieb an ihren Körpern haften und breiteten sich wie Wurzeln aus, je mehr von dieser Substanz hervorkam. Ich sah eine Gestalt, die fast vollständig von der flüssigen Masse in einen klebrigen Kokon eingehüllt worden war, doch sie lief weiter, als würde sie das nicht einschränken. „Der Arsch wird schon sehen, was er davon hat, mich zu betrügen!“ „Ich will nicht nach Hause, wenn Papa da ist ...“ „Scheiß auf alles, ich halte das ohne Alkohol und Drogen nicht aus.“ Aus den verzogenen Mündern dieser Gestalten kamen diese Stimmen, sie sagten diese beängstigenden Dinge. Mal war es ein bestialisches Maul, ein breites Grinsen mit scharfen Zähnen oder nur ein tiefer Schlund aus Trauer und Verzweiflung. „Fuck, was ist das?!“, sprach ich ungewollt laut aus, wobei ich versuchte so weit wie möglich von dem Fenster wegzurücken. Hiwas Stimme ertönte neben mir, der dunkle Klang und der geduldige Tonfall war wie ein Segen zwischen den kranken Aussagen der Gestalten. „Was ist los? Fühlst du dich nicht gut?“ Hilfesuchend wandte ich den Blick zu ihm und deutete zitternd nach draußen. „Diese komischen Dinger, ich meine ... keine Ahnung, was das ist, aber irgendetwas stimmt da nicht.“ Ich sah in seinen Augen keine Skepsis oder gar Abscheu, stattdessen schien ein Funken Sorge aufzuflackern, doch seine Mimik blieb vollkommen ernst. Prüfend warf er einen Blick in sämtliche Richtungen, ohne sich vom Verkehr ablenken zu lassen. „Tut mir leid, ich sehe nichts Ungewöhnliches.“ „Nicht?“, brachte ich heiser hervor. „Soll ich anhalten?“ „Nein!“ Mir war bewusst, wie panisch ich wirken musste, deswegen versuchte ich, etwas gefasster weiterzusprechen. „Nein, das passt schon. Fahr einfach weiter, Vincent wartet doch auf uns.“ „Bist du sicher?“ Einen Moment lang hielt Hiwa inne. „Wie du meinst, aber sag Bescheid, falls ich doch anhalten soll.“ Murmelnd versicherte ich ihm, dass ich das tun würde, und rutschte tiefer in meinen Sitz. Angespannt starrte ich nur noch in den Fußraum und vermied es, nochmal nach draußen zu schauen. Dummerweise half das nicht gegen die Stimmen, die weiterhin mein Gehör erreichten. „Wie mich diese Bettler und dreckigen Schmarotzer anwidern, die sollte man alle wegsperren.“ „Ich möchte wissen, wie sich das anfühlt, lebendes Fleisch zu zerschneiden.“ „Wenn ich diese scheiß Einrichtung in Brand stecke, hab ich endlich meine Ruhe.“ Meine Hände vergruben sich in dem Stoff meiner Hose und ich wagte kaum zu atmen, um nicht bemerkt zu werden. Keine Ahnung, ob diese Gestalten mich überhaupt wahrnehmen könnten, aber ich wollte es nicht riskieren. In ihren Worten lag so viel Hass, Trauer, Wut und Verzweiflung, dass es schon beim Zuhören erdrückend war. Hatten die etwas mit dem Wesen aus Teer zu tun? Woher kamen die plötzlich? Bin ich denn wirklich schon so im Arsch, dass mein Verstand sich schon in der Zwischenhölle verirrt hatte? „Vincent“, flüsterte ich verängstigt. „Hilf mir.“ Ich nahm freiwillig jede Pille zu mir, die er mir geben würde, wenn ich dafür diese Stimmen nicht mehr hören musste. Wie froh ich auf einmal war, dass wir gerade zu Vincent fuhren. Aus irgendeinem Grund kam es mir bei ihm sicher vor. Mit meinen eigenen Problemen und düsteren Gedanken konnte ich mich noch arrangieren, weil ich sie kannte und gewohnt war, diese fremden Einwirkungen jedoch machten mich wahnsinnig. Damit konnte ich nicht umgehen. Als aus heiterem Himmel mein Handy auf meinem Schoß vibrierte, zuckte ich so heftig zusammen, dass es geradewegs in den Fußraum fiel. Fluchend wollte ich mich danach bücken, zumindest so weit der Sicherheitsgurt es zulassen würde, doch ich kam nicht dazu. In meinem Augenwinkel blitzte kurzzeitig ein Teil der Vorderscheibe des Wagens auf, wodurch etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Mir wurde schlagartig schlecht, als ich das Wesen aus Teer erblickte, direkt vor dem Auto. Mit ausgebreiteten Armen stand es da und riss das Maul so weit auf, dass ein pechschwarzer Tunnel entstand, auf den wir zusteuerten. Ich vergaß jegliche Logik, meine Angst nahm Überhand. „Halt an!“, schrie ich. Tatsächlich reagierte Hiwa darauf mit einer scharfen Vollbremsung, durch die ich nach vorne geschleudert wurde, aber mein Gurt hielt mich im Sitz. Aufgrund dieser ruckartigen Bewegung wurde mir schwindelig und für den Bruchteil einer Sekunde schwarz vor Augen. Ich hatte das Gefühl, jeden Augenblick setzte mein Herz aus, so schnell schlug es. „Ferris, was ist mit dir?“, hörte ich Hiwa fragen. Blinzelnd erwiderte ich seinen Blick, etwas orientierungslos. „Da ... da war ...“ Mühevoll suchte ich nach Worten, aber meine Fähigkeit zu sprechen schien mir abhanden gekommen zu sein. Keinen anständigen Satz brachte ich zustande und konnte nur mit offenem Mund dasitzen, während Hiwa mich wartend ansah. Zögerlich schielte ich nach vorne, um zu überprüfen, ob vor uns immer noch eine Gefahr drohte. Natürlich geschah das, was kommen musste: Es war nichts mehr zu sehen. Ungläubig richtete ich mich etwas im Sitz auf und hielt nach diesem Wesen Ausschau, das hier in der Nähe sein musste. Ich hatte es doch gesehen! Aber nichts. Nur die friedliche, menschenleere Gegend von Spießerhausen. Wenige Meter weiter endete die Straße bei Vincents Haus, wir waren so gut wie da. „Schon gut“, beruhigte Hiwa mich und legte sachte eine Hand auf meine Schulter. „Wir können das letzte Stück zu Fuß gehen.“ Er musste mich für verrückt halten, so viel war sicher. In Hiwas Augen war ich völlig durchgeknallt, er wollte mich bestimmt nur noch so schnell wie möglich loswerden. Ehrlich gesagt verstand ich das sogar, denn ich wusste selbst nicht mehr, ob hier etwas Übernatürliches vor sich ging oder ich dringend in eine Klinik eingewiesen werden sollte. Ich stand komplett neben mir, nichts in meinem Kopf ergab mehr einen Sinn. Darum musste Hiwa mir beim Aussteigen helfen und mich die nächsten Schritte zu Vincents Haus führen, was er ohne Beschwerde auf sich nahm. Bevor wir unser Ziel erreichen konnten, kam uns bereits Vincent entgegen. Beim Bremsen musste ein lautes Quietschen entstanden sein, durch das er auf uns aufmerksam gemacht worden war. „Da bist du ja“, sagte er beruhigt, als er zu uns stieß. Dankend nahm er Hiwa die Aufgabe ab, mich zu führen, und legte einen Arm um meine Schultern. „Komm, wir gehen besser erst mal rein.“ Vincent stellte keine Fragen, sondern leitete mich zur Haustür. Unterwegs wechselte er einige Worte mit Hiwa, die beiden schienen sich zu kennen. Worüber genau sie sich austauschten, bekam ich nicht mit, so abwesend war ich. Im Moment wollte ich nur ins Haus und niemals wieder nach draußen gehen. Solange ich drinnen blieb, bei Vincent, der einen klaren Verstand besaß, kamen diese Stimmen und Erscheinungen hoffentlich nicht so bald zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)