Pretty Boy von Serato ================================================================================ Kapitel 20: Teil 20- Alte Narben -------------------------------- Pretty Boy   Teil 20- Alte Narben   Lautlos spielt die x-te Wiederholung von einer Gameshow im Fernseher, die ich gern als Kind sah. Als ich noch an ein unbeschwertes Leben und daran, tatsächlich etwas im Leben gewinnen zu können glaubte. Mir ist egal was sie sagen. Die Show ist vielleicht zwanzig Jahre alt. Schon damals habe ich nur die Wiederholungen gesehen, während mir meine große Schwester immer versuchte beim Antworten zuvor zu kommen. Wir haben hundert Leute gefragt, was verbinden sie mit... Mein Blick rückt auf Haruno, der sich unter der dünnen Decke rührt. Die Schmerztabletten machten ihn schläfrig und er ist nach dem zweiten Film eingeschlafen, den hat Miyu nicht ganz geschafft. Auf ihrer Matratze vor der Couch liegt sie ziemlich zerwühlt, in alle Himmelsrichtungen zeigend und träumt sicherlich von ihrem perfekten Leben mit Haruno. Ich lehne meinen Kopf zurück auf die Stütze des Sessels, in dem ich es mir bequem gemacht habe und starre weiter auf die nichts sagenden euphorischen Familien im Fernseher. Mom ist vor einer Weile schon nach Hause gekommen. Sie wollte nicht länger bleiben als nötig bei ihrem wöchentlichem Buchclubtreffen. Meist bleibt sie bis weit nach Mitternacht weg und kommt angeheitert vom Wein zur Haustür rein geschlichen. Dieses mal lief es anders, schließlich hat sie einen Patienten auf der Couch liegen, nach dessen befinden sie sich noch Informiert hat, bevor sie hoch gegangen ist um sich nachtklar zu machen. Von ihr ist aber nichts mehr zu hören. Sie wird jetzt auch schlafen. Wieder fällt mein Blick auf Haruno. Er hat sich nicht ein einziges mal beschwert seit er hier ist. Weder über Schmerzen, noch über mangelnde Verpflegung oder Aufmerksamkeit. Selbst Mishiro hat sich noch kurz mit ihm unterhalten, während Miyu den nächsten Film aussuchte. Er hat sich bei ihr bedankt, dass sie ihm zur Hilfe gekommen ist. Sie ließ anmerken, dass sie nicht ihm sondern Shiba geholfen hat. Doch wahrscheinlich wäre Shiba mit allen vier fertig geworden. Schließlich ist er kräftig genug um mit einem Schlag einen Mann nieder zu strecken. Das Danke blieb darauf unangenehm im Raum stehen. Eine Folge löst die nächste mit einer Werbeunterbrechung ab und ich schaue abermals auf mein Handy. Leider ist dieses auch stumm. Seit Montag schicke ich immer wieder Nachrichten an Susu. Er antwortet nicht, dabei würde ich so gerne mit ihm reden. Wobei ich mir denken kann, was er davon halten wird mich mit Haruno und Shiba zu entfreunden. Sollte er je wieder mit mir reden, sollte ich das vielleicht nicht erwähnen. Ich will sie doch nur schützen. Wer weiß welches Schicksal noch auf sie zu kommt, wenn sie mit mir befreundet bleiben. Ich muss alles tun, dass meine Vergangenheit sich nicht wiederholt. Nie wieder darf sich so etwas wie mit Akira wiederholen. Zaghaft klopft es an der Tür und ich sehe automatisch auf die Uhr neben dem Fernseher. Fast ein Uhr morgens. Leise stehe ich auf und schleiche zur Haustür. Miyu werd ich nicht wecken können. Wenn sie schläft, schläft sie. Selbst ein Bombenangriff könnte sie nicht aus ihren wundervollen klein Mädchenträumen reißen. Wie fest Harunos Schlafvermögen ist kann ich nicht abschätzen. Dieses mal schaue ich erst durch den Türspion bevor ich sie öffne. Ich halte mein Zeigefinger auf die Lippen, damit er versteht leise zu sein. „Alle schlafen schon.“ Shiba nickt und kommt herein. „Ich hab das Licht des Fernsehers im Fenster flimmern sehen, sonst hätte ich nicht geklopft.“ Wo hätte er sonst hin gekonnt? Sein Haustürschlüssel ist hier. Ich hinterfrage es nicht. Auch nicht warum und ob er immer so spät arbeitet. Stattdessen zeige ich ins Wohnzimmer. „Haruno schläft auf der Couch. Miyu ist bei ihm. Du kannst im Bett von Hina schlafen, dass ist frisch bezogen.“ Er schüttelt den Kopf. „Ich will bei Ren bleiben.“ Schulterzuckend gehe ich ein paar Schritte zur Treppe. „Soll mir recht sein. Dann überlass ich dir meinen vorgewärmten Sessel. Gute Nacht.“ Ein lautes Grollen hindert mich am erklimmen der Stufen. Mit mir hadernd klammere ich mich ans Geländer und lausche. Er geht ins Wohnzimmer und das Grollen folgt ihm. Ergebend seufzend winke ich ihn zu mir. Sein zögern ist nicht zu übersehen. „Meine Mutter wird fuchsteufelswild wenn sie erfährt das ich dich hungrig schlafen schicke. Komm wir haben noch was vom Abendessen übrig.“ Auch jetzt scheint er noch über mein Angebot nach zu denken. So ein Dickkopf. Doch das nächste grollen seines Magens lässt ihn weich werden und mir folgen. „Kann ich bei irgendwas helfen?“ „Ja, steh nicht im Weg und setzt dich.“ Ich hab bereits angefangen die Reste aus dem Kühlschrank zu holen, bis er es über sich bringt sich zu setzen. In völliger stille, bis auf das ständige Magen knurren, bereite ich eine Portion für ihn zu. „Das hört sich an als würde dein Magen gleich dich essen. Wann hast du das letzte mal was gegessen?“ Ich hab keine Antwort erwartet, eher vor mich hin geredet, da sich diese Stille unangenehm anfühlt. Er sieht auf die Uhr über der Tür beim reden, als würde er Stunden zählen. „Montag. Von deiner Bento Box.“ Sprachlos starre ich ihn an, doch sein Magen knurren holt mich schnell zurück. Gut, noch etwas was ich nicht hinterfragen werde. Schnell wärm ich alles auf und serviere ihm das Hausgemachte Rindfleischcurry meiner Mom. „Möchtest du noch was dazu?“, frage ich während ich mich ihm gegenüber setze. Hätte erwartet das er sich wie ein hungriger Wolf über die Schüssel her macht, doch er hält sich zurück und schaut eher beschämt auf sie hinunter. „Du musst mir keine Gesellschaft leisten. Geh schlafen.“ „Ich bezweifle das dir eine Schüssel reicht. Iss, ist genug da.“ Beim zurücklehnen verschränke ich die Arme vor der Brust und sehe in die Stube rüber, von der ich nicht viel erkenne. Scheint aber keiner wach geworden zu sein. Aus den Augenwinkeln sehe ich wie Shiba sich über das lecker riechende Curry lehnt und die ersten zaghaften Bissen nimmt, bemühe mich jedoch dem nicht weiter zu folgen. Ich will ihn auch gar nicht ansehen. Er hat noch immer die Sachen von Dad an. Es ist schwer genug standhaft zu bleiben und nicht zu nett zu werden, aber dann sieht er auch noch so... na so aus! Wie ein Zotteliger Gott auf zwei Beinen. Mehr gephotoshopt, als das das alles echt sein könnte. Wenn ich mich jetzt fest kneife, wach ich dann aus einen langen Traum auf und bin wieder in der Mittelschule? „Was machst du da?“, fragt er mich, als er sieht wie ich mich in den Arm kneife. „Nichts.“, erwider ich schnell, mit roten Wangen und lege beide Hände flach auf meine Oberschenkel, als wäre nichts gewesen. Wir verfallen wieder ins schweigen, bis er seine Schüssel von sich schiebt und aufsteht. „Möchtest du noch was?“ Er schüttelt den Kopf. „Schon gut geh schlafen.“ Mürbe stöhne ich und schnappe mir die Schale. „Haruno hat recht, man muss dich wirklich bemuttern.“ Zurück am Kühlschrank tu ich ihm eine zweite Portion auf. Wenigstens hält er seine Proteste diesmal für sich. Warm gemacht stell ich sie vor ihm auf den Tisch, dabei ruht sein Blick auf mir statt dem Essen. Ein Schauer durchläuft mich, vom Haaransatz bis zu den Zehen. Das ist unfair. Wenn ich so eine Wirkung auf ihn hätte, wäre er mir sicher nicht so lange Böse. „Was?“, werde ich unruhig. Für einen Moment senkt er seinen Blick, unschlüssig ob er etwas darauf antworten soll, doch Stück für Stück arbeitet seine Augen sich wieder zu mir hoch. „Bist du sauer auf mich oder auf das was heute passiert ist?“ Befangen wende ich mich ab. Es fühlt sich scheiße an gemein sein zu wollen, aber ich muss durch halten. Wie lange kann das schon dauern mich mit ihnen zu entfreunden. Sicher nicht so lang wie die kurze Zeit die wir uns erst kennen. „Ich weiß nicht was du meinst.“ Lahme ausrede. Wahrscheinlich denkt er jetzt nur das ich gereizt bin weil ich ins Bett möchte. Das kann ich besser. „Du bist doch sauer auf mich. Kommt dir doch nur gelegen, wenn ich auf Abstand gehe.“ Seine Augen weiten sich. „Ich möchte überhaupt nicht das du auf Abstand gehst.“ Er springt von seinem Platz auf und ich weiche einen Schritt zurück. Erstarrt hält er inne. Nicht sicher was er tun soll sieht er ängstlich zu mir. Schmerzlich zieht sich mein Herz zusammen und lässt mich jeden Schlag unerträglich langsam spüren. „Weißt du was, du weißt wo die Mikrowelle steht, mach´s dir selber warm.“ Ich ertrage diesen Blick nicht, es tut zu sehr weh. Darum mache ich das, was ich am besten kann und ergreife die Flucht. „Nein. Misaki! Es tut mir leid“, höre ich ihn hilflos rufen, während ich die Stufen hoch sprinte. Die Tür fällt hinter mir knallen ins Schloss und meinem Kopf hämmere ich gleich hinterher dagegen. Ich hasse mich!       Kein Auge hab ich die kurze Nacht zu bekommen und so wie Shiba aussieht er auch nicht. Mom tobt wie ein Wirbelwind um alle aus dem Haus zu bekommen, ohne ein Chaos zu hinter lassen. So wird Haruno kurzer Hand von der Couch geschmissen, damit sie alles wegräumen kann. Er kann sich besser bewegen als befürchtet. Zwar bewegt er sich bedächtig und fleht darum ihn nicht zum lachen zu bringen, aber um ehrlich zu sein gibt es diesen Morgen nicht viel zu lachen. Shiba ist stiller als vorher. Selbst mit Haruno redet er nur das nötigste. Anders als sonst hört er allerdings auch nicht zu oder beobachtet alles ganz genau, mit seinem Kopf muss er ganz wo anders sein. Als ich ihn frage, ob er Kaffee möchte, reagiert er erst als ich ihn schon einschenke, nachdem ich mehr als einmal Fragen musste. Mir ist heute nicht einmal nach meiner Lieblings Tasse. Die fröhlich hopsenden Hasen fühlen sich falsch an, an einen so bitteren Morgen. Miyu ist im Bad und macht sich für die Schule fertig. Von Mom hab ich ausnahmsweise Geld bekommen, damit sollen wir uns für die Schule was vom Konbini holen. Der kleine Supermarkt, der nie schließt, hat nicht die beste Auswahl, aber zum satt werden reicht es. Wir haben heute alle ein wenig verschlafen. „Eure Couch ist fast so bequem wie mein Futon“, witzelt Haruno und beißt von seinem Sandwich ab, um dann mit vollem Mund weiter zu sprechen. „Vielleicht können wir ja mal wieder so eine Übernachtungsparty machen. Unter anderen Umständen natürlich. Was haltet ihr davon?“ Erwartungsvoll sieht er abwechselnd zu mir und Shiba. Wie sage ich auf die nette Art nein? „Bloß nicht.“ Das war nett. Eigentlich wollte ich scheiße nein sagen. Nicht weil mir die Übernachtungsidee nicht gefällt, aber selbst wenn, würde ich es unter keinen Umständen noch mal mit meiner Mutter oder meinen Schwestern unter einem Dach zulassen. Dank dieser Umstände durfte Haruno schließlich auf der Couch schlafen, statt in meinem Bett. Haruno schmunzelt jedoch. „Dann vielleicht mal wieder bei uns? Das war doch auch ganz nett.“ Er wackelt mit den Augenbrauen und bringt mich zum grinsen. Verdammt! „Iss auf, wir müssen los“, lenke ich ab, um nicht antworten zu müssen. Gestern Nacht habe ich keine neue Nachricht mehr an Susu geschrieben. Ich rede mir selbst ein damit alleine klar zu kommen. Erst glaubte ich mir selbst nicht. Wie könnte ich auch. Ich habe noch nie irgendetwas erfolgreich abgeschlossen. Nur, je öfter ich es mir sage, desto fester wird meine innere Stimme und mein Entschluss. Und so wurde das kleine Mädchen in mir kurzer Hand geknebelt und in einen unbedeutenden Winkel meines inneren weg gesperrt. Ich komm klar. Ich schaff das. Ich erschaffe ein Monster in mir, dass alles an sich abprallen lassen kann. Das hätte ich viel früher machen müssen. Dann wäre ich jetzt nicht so zerstört. Es ist meine freie Entscheidung mich von ihnen zu entfreunden. Endlich etwas was ich bestimmen werde. Keine Lage in die ich unweigerlich hinein stolpere. Ich bin der, der es so will und es auch umsetzt. Nur warum fühlt es sich dann so falsch an?   Ich winke Mom zum abschied, die mit Miyu zur selben Zeit los geht wie wir. Langsam schreiten wir voran, mit Haruno in unserer Mitte, zu dem Ort, an dem ich jetzt an wenigstens sein möchte. Nein, das wäre gelogen. Einer der Orte an denen ich jetzt am wenigsten sein möchte. Mir fallen mindestens noch zwei ein. Meine ehemaligen Schulen und alles in der nähe von Akira. Leider fühl es sich so an, als würde ich gleich beides auf einmal tun. Gut das wir nur schleichend voran kommen. Ich hab es nicht eilig. „Ihr habt euch also immer noch nicht versöhnt?“, bemerkt Haruno und spricht damit uns beide an. Shiba zuckt mit den Schultern. Ich schweige. „Das ist ja wie im Kindergarten hier.“ Haruno greift nach unseren Händen und während er Shibas zu fassen bekommt, ziehe ich meine weg. Überrascht sieht er mich an. „Shiba hat sich gestern entschuldigt.“ Seine Verwirrung wird nur größer. „Und wo ist denn dann das Problem?“ „Das würde ich auch gern wissen“, zischt der Panther. Toll, was jetzt? Kometeneinschlag wo bist du wenn man dich mal braucht?! Ich buddle den vergrabenen schlechten Schauspieler in mir heraus und taste erschrocken tuend meine Taschen ab. „Verdammt, ich hab das Geld fürs Frühstück vergessen. Geht schon mal vor. Ich hole euch sicher wieder ein.“ In ungeahnter Geschwindigkeit drehe ich mich in die Richtung aus der wir kommen und eile davon in der Befürchtung mir anhören zu müssen wie unglaublich schlecht ich tatsächlich improvisiere. Ich will sie nicht anlügen. Ich will ihnen aber noch weniger die Wahrheit gestehen. Erst befürchte ich Shiba rennt mir hinterher, weil ich mir sicher bin, dass er gesehen hat wie ich das Geld in meine Schultasche steckte. Vor ihm kann man nichts verheimlichen, auch wenn er heute früh eher in sich gekehrt war. Gefährlich für meine Lage. Doch er bleibt bei Haruno. Seinem wahren Freund. Die beste Wahl die er treffen konnte. Über mich selbst schimpfend gehe ich, ohne zu halten, am pinken Albtraum vorbei. Wenn ich zu Hause bin wenn Mom kommt macht sie nur wieder ein haltloses Theater. Ich verdiene ihr Mitleid nicht und ich ertrage es gerade nicht. Kurz überlege ich bei meiner Schwester auf der Arbeit auf zu tauchen, doch wer weiß welche Buschtrommeln sie wieder in Gang setzt, um allen zu Berichten, dass ich mich wieder wie ein Idiot aufführe und allen Beistand benötige den meine Familie aufbringen kann. Susu hätte sicher Zeit für mich. Doch würde ich ihn überhaupt finden? Ich bezweifle selbst den Weg zu seinem Zelt finden zu können, wenn ich ihn in Ni-chóme nicht ausfindig machen sollte. Und was würde ich ihm sagen? Würde er überhaupt mit mir reden? Er selbst meldet sich nicht seit Tagen, trotz meiner wiederholten Nachrichten. Tiefe Verzweiflung erklingt in meinem seufzen, als ich mich auf eine Bank an einer Bushaltestelle setze. Die Stadt ist voll von Menschen und ich habe niemanden dem ich mich anvertrauen kann? Mit beiden Händen scrolle ich durch die Kontakte im Telefonbuch meines Handys. Mein Finger schwebt über den Kontakt meines Vaters. Dank des Zeitunterschieds ist für ihn immer noch Gestern und er steckt mitten in der Arbeit. Sicher würden seine Wort mich beruhigen, doch würde ich ihm Sorge bereiten, so weit weg von mir. Das wäre nicht fair. Ein dünnes lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als ich Yamadas Namen lese. Der auch der letzte Kontakt in meiner Liste ist. Susus Kleiner. Ob er weiß, was mit Susu ist? Er folgt und sucht ihn doch wie ein überdimensionaler Schoßhund. Doch auch er wird jetzt auf dem Weg zu Uni sein. Ich lehne mich zurück und beobachte das Treiben auf den Straßen. Es wirkt alles so Chaotisch, wie die Unmengen an Menschen sich ignorierend aneinander vorbei gehen um schnell und ohne Umwege an ihr Ziel zu gelangen. Ein paar Hochhäuser weiter, auf der anderen Straßenseite, sitzt ein schlecht gekleideter Mann dessen Haare fettig im Gesicht kleben. Er bietet ein abstraktes Bild, wie er da sitzt mit einer Geige in den Händen, dessen Musik ich bis hier her hören kann. Er ist geübt und spielt Klassiker der Filmmusik. Nur den Menschen um ihn herum scheint das egal zu sein. Auch ihn ignorieren sie und verlieren ihr Ziel nicht aus den Augen. War für Bewunderung ihrer Willenskraft in mir weckt, aber vor allem trauer über die Menschen, die solch Talent nicht zu würdigen weiß. Auf dem Weg hier her habe ich einen Supermarkt gesehen. Ich beschließe von dem Geld das Mom mir gab lieber ihm etwas zu essen zu holen. Mit einem guten Gefühl im Bauch springe ich auf und gehe die paar Straßen zurück. Die Mechanik zischt beim aufgleiten der Türen. In weniger als einer Sekunde rammt ein Amboss alles in mir nieder, was ich mir mühselig im letzten Jahr aufbaute, als ich den jungen Mann vor mir erblicke, der mit Schuld an all meinem Elend ist. Er braucht einen zweiten Blick und deutlich sehe ich die irritierende Erkenntnis in seinem Gesicht, als er mich auch erkennt. „Watanabe?“ Jede einzelne Silbe meines Namens, den er so verächtlich ausspricht, kratzt über meine Haut und scheint alte Narben aufzureißen, die längst verdrängt geglaubt waren. In seiner Gegenwart wage ich es nicht zu atmen, nicht einmal zu blinzeln. Jede Art der Bewegung führt zu einer Provokation, wie ich schmerzhaft lernen durfte. Wieder gefangen im Körper des kleinen Jungen aus der Mittelschule, der nichts mehr wollte, als zu verstehen, warum gerade er die Wut und den Ekel allen anderen abbekommt für etwas was er nicht kontrollieren kann. Seine Augen huschen an meinem Körper hinab. „Fuck. Bist du von Schwuchtel auf Transe gewechselt? Denkst du das macht den kranken Scheiß besser?“ Angewidert rümpft er die Nase und seine Abneigung sorgt für ein wenig Abstand. Doch eine Erkenntnis schießt ihn durch den Kopf, als der ehemalige Freund Akiras und Herdenführer der Hasstiraden meiner alten Schule die Augen verengt. „Moment, dass ist eine echte Schuluniform oder?“ Die rote Alarmsirene in meinem Kopf strahlt so hell und kräftig, dass sie mit einem Knall durchbrennt. Ich renne. Mit Tunnelblick durch die Straßen und renne jeden um der mir im weg ist. Bringe das Chaos der Straßen noch mehr durcheinander. Die Luft die ich dabei hektisch einsauge brennt in meinen Lungen. Ist er hinter mir her? Ich wage es nicht mich umzudrehen. Weg! Ich muss weg von ihm. Ich renne, ohne zu wissen wohin. Renne um Häuserecken und durch Seitengassen. Renne bis mein untrainierter Körper vor schmerzen schreit und renne dennoch weiter. Neben Mülltonnen in einer Seitengasse breche ich mit zitternden Beinen zusammen und verstecke mich hinter dem stinkendem Sichtschutz. Der Schmerz pulsiert durch meinen sonst tauben Körper. Voller Furcht warte ich darauf das er jeden Augenblick um die Ecke kommt und mir jede Sekunde meiner erbärmlichen Vergangenheit wieder vor Augen führt. Wie ertaubt lausche ich und höre dennoch nichts. Keine Autos, keine Menschen, kein einzigen Ton. Nur mich. Mein hektischer Atmen, der noch immer nicht genügend Luft zu bekommen scheint. Mein rauschenden Puls, der droht jede Ader in meinem Körper auf zu reißen. Das klappern meiner Zähne, die ich nicht davon abhalten kann aufeinander zu schlagen. Was mache ich nur sollte er mich wirklich finden? Immer wieder jagt ein schütteln durch meinen Körper, der das Zittern für einen Wimpernschlag ablöst. Mit größter Mühe hole ich mein Handy hervor und drücke wahllos auf eine der zuletzt benachrichtigten Nummern. Drei unendlich lange Freizeichentöne erklingen und höre dann eine Stimme die ich nicht zu zuordnen weiß. Allein das ich jemanden am Telefon habe der mich hört wenn mein Peiniger um die Ecke kommt lässt einen ungeahnten brocken Erleichterung fallen. Weinend umklammere ich das Handy mit beiden Händen und weiß nichts anderes zu sagen als Hilfe. Hilfe, Hilfe, immer wieder, bis es aus meiner feuchten Händen rutscht und ich mich kauernd auf den Boden lege und meinem Kopf umschlungen halte. „Hilfe... bitte...“     Krachend fällt neben mir der Deckel auf die Tonne und erschrocken sehe ich in das Gesicht eines alten Mannes in Unterhemd und kurzer Hose die seine dürren Beine zeigen. Er sieht nicht weniger erschrocken aus. Ich brauche einen Moment um mich zurecht zu finden und heraus zu finden wo oben und unten ist. Es ist als hätte mein Hirn einen Kurzschluss und mit nichts außer einer Rolle Gaffa Tape müsste ich es flicken und zum laufen bringen, als wäre ich MacGyver. Er sagt etwas das ich nicht verstehe. Unruhig sammle ich meine Sachen vom Boden und rapple mich kraftlos auf. Taumelnd finde ich zurück zur Straße und alles strahlt unerträglich hell im Schein der Neonröhren und überproportionalen Werbetafeln. Selbst der Himmel scheint bei dieser Helligkeit nicht zur Ruhe kommen zu können und zeigt statt schwarzer Nacht und Sterne einen ungesunden dunkelbraunen Ton, der alles Licht oberhalb der Atmosphäre verschluckt. Verwirrt sehe ich mich um, doch nicht ein Orientierungspunkt verrät mir wo ich bin, weil nichts mir hier bekannt vorkommt. Hinter mir taucht der alte Mann auf und jagt den nächsten Schrecken durch mich. Konzentriert setze ich einen Fuß vor den anderen und entferne mich von ihm. Er bleibt in der Gasse und sieht mir kurz nach, ehe er sich umdreht. Erleichtert atme ich tief durch. Meine Brust krampft dabei, als hätte ich seit Stunden keinen Atemzug mehr genommen. Mein Herz hingegen krampft beim Anblick der Straßen. Das Chaos der wimmelnden Menschen hat nicht nachgelassen. Die Zeit verging und nichts hat sich geändert. Nach wie vor sind alle geschäftig und verfolgen ihre Ziele. Von A nach B. Jeden Tag. Beachten niemanden der Hilfe braucht. Beachten mich nicht. Mein Kopf dröhnt. Der Straßen Lärm intensiviert es nur. Auf der Suche nach Ruhe irre ich weiter durch den Stadtteil. Von weiten erkenne ich die Farben des Regenbogens. Magisch scheinen sie mich anzuziehen und ich folge ihnen. Eine Bahn fährt an mir vorbei und ich zucke schmerzlich zusammen. Bedächtig betrete ich die Rainbow Bridge. Tokios schönste Brücke. Keine zwei Stunden Fußmarsch von Ni-chóme entfernt. Endlich weiß ich mich wieder zu Orientieren. Ruhig ist es auch hier nicht, doch die in bunten Farben beleuchtete Brücke strahlt einen Ruhepol aus den ich auch in den vergangenen Jahren stets besuchte. Mit langen gedankenverlorenen Blicken in die Tiefe nach jedem harten Tag. Jetzt hat der Kerl es wieder geschafft mich hier her zu treiben. Fest umklammere ich das Geländer der Brücke und sie erzittert als ein LKW an mir vorbei donnert. Von hier hat man einen schönen Blick auf die Stadt. Der Tokio Tower sticht hervor und erinnert mich an einen Kommentar von Susu, dass nur untervögelte Männer auf die Idee kommen können einen Spitzen aufragenden Turm zu bauen. Das das ganze nur ein Fernseherturm ist lässt er dabei völlig außen vor. Beim Gedanken an Susu fällt mir mein Handy ein. Wen habe ich angerufen? Ich drücke auf den Knopf an der Seite und das Display schreit mir geradezu zweiundsiebzig verpasste anrufe entgegen. Ganz zu schweigen von den vielen Nachrichten auf unterschiedlichsten Wegen. Erstaunt keuche ich über diese Nachrichtenflut. Doch darum kümmere ich mich später. Ich wische ein paar mal und sehe das allein Yamada mich knapp fünfzig mal anrief. Er war es den ich um Hilfe bat, sehe ich tiefer im Protokoll. Ich sollte mich für den Anruf entschuldigen, damit er weiß, dass ich okay bin. Nur bin ich das? Bin ich okay? Ein gedankenversunkener Blick in die Tiefe der Brücke straft mich Lügner. Für den Anruf wird ein Okay ausreichend sein müssen, mehr kann ich nicht hervor kratzen. Interessanterweise bin ich der Einzige dem ich erfolgreich etwas vorlügen kann. Ich atme tief durch bevor ich die grüne Taste betätige. Es Piept einmal. „Was zum Teufel ist da bei dir los?!“, schreit es mir haltlos entgegen. „Ich bin krank vor Sorge! Warum gehst du nicht an das verdammte Telefon?! Wofür hast du das Scheißding eigentlich?!“ Erschrocken sehe ich aufs Display. Ich hab mich nicht verwählt. Ich habe Yamada angerufen. Vorsichtig nähere ich mein Ohr wieder dem Handy. „Susu?“ „Fuck, ja! Wo bist du? Wir holen dich ab.“ „Wir?“, frage ich erstickt. Alarmiert erwäge ich wieder auf zu legen. Ich kann meiner Familie so aufgewühlt nicht unter die Augen treten. Mom würde in Zukunft mich jeden Tag zur Schule bringen und abholen statt meine kleine Schwester. Hina würde mir bei allem Händchenhaltend daneben stehen und Miyu würde mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit auslachen was für ein Weichei ihr großer Bruder ist. Sie ist mehr Kerl als ich und sie ist zehn. Was sagt das über mich? „Ja, wir“, betont Susu erneut. „Der Kleine hat ein Auto.“ Kurz beiße ich mir auf die Unterlippe, bevor ich unsicher erneut nachfrage. „Mit wir meinst du nur euch beide?“ „Soll ich noch den ganzen Christopher Street Day mitbringen oder was? Wo bist du?!“ Erleichtert erlaube ich mir die Augen zufallen zu lassen. „Ich bin... auf der Rainbow Bridge.“ Scharf höre ich Susu die Luft einsaugen. „Mach keine Dummheiten. Wir sind gleich da.“ „Ich hab dich lieb Susu.“ Meine Stimme bebt bei den Worten. Zu sehr habe ich meinen Freund vermisst. „Ich dich auch Schatz. Bleib einfach am Telefon und red mit mir. Wir kommen.“ Ich nicke, wobei mir erst hinterher einfällt das er es gar nicht sehen kann. „Okay.“   Ende von Teil 20   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)