Let's Run!!! von Mezzo ================================================================================ Kapitel 1: was ist das für 1 postbohte??? ----------------------------------------- /montag_   Der Montagmorgen hatte ausnahmsweise ruhig begonnen. Keine aufgebrachten Anrufe von Benutzern, die das ganze Wochenende über nicht auf die Idee gekommen waren, einfach mal ihren Rechner neu zu starten. Keine Serverausfälle, die zu hysterischen Massenpaniken geführt hatten. Und leider auch keine Antworten auf seine Bewerbungen als Spieleentwickler, um endlich das machen zu können, was er auch studiert hatte, anstatt sich tagein tagaus als Mitarbeiter einer Support-Hotline mit cholerischen Idioten herumzuplagen. Zumindest nicht in seinem E-Mail-Eingang. Wieso war denn die Post heute so spät?   Das einzige Gute an Rans momentaner Situation war, dass er von zu Hause arbeiten, nebenher an seinen eigenen Spieleideen rumprogrammieren und seinen Let’s-Play-Kanal auf YouTube betreiben konnte. Nicht dass der bisher besonders erfolgreich gewesen wäre. Aber seine Chancen, als YouTuber berühmt zu werden, waren vermutlich nicht geringer als die, eine Anstellung in der Games-Branche zu finden.   Vielleicht sollte er aufhören, sarkastisch zu sich selbst zu sein.   Ran setzte zu einem tiefen Seufzer an, als er die Klingeln der Wohnungen über, unter und neben sich, die um diese Uhrzeit alle leer waren, hörte. Mehrmals. Immer wieder. Hektisch und durcheinander. Bis dann alle Klingeln gleichzeitig gedrückt wurden – inklusive seiner eigenen.   „Ja?“, hob er verwirrt den Hörer von der Sprechanlage ab. War das ein dummer Klingelstreich?   „DIE POST IST DA!!!“, hörte er die enthusiastischste Stimme, die er jemals am frühen Morgen gehört hatte, gutgelaunt in die Sprechanlage singen (okay, so früh war der Morgen mittlerweile auch gar nicht mehr). „Lasst mich reiiiii~n!!“   Ran drückte skeptisch den Türöffnerknopf, immer noch nicht ganz sicher, ob es wirklich die Post war, und öffnete seine Wohnungstür.   „Halloooo~! Wo muss ich hin? Wer hat mir aufgemacht??“, hörte er jemanden durchs Treppenhaus poltern. Er wagte einen Blick in die Lücke zwischen den Treppen und sah einen offensichtlich neuen Postboten mit hochstehenden blonden Haaren und einem ganzen Stapel an Päckchen auf dem Arm etwas zu übermotiviert die Treppen hochhüpfen. Wie schräg war der Typ denn bitte drauf?   „Hier oben“, machte er sich bemerkbar und sah im nächsten Moment auch schon den neuen Postboten mit seinem trendigen Sidecut, dessen Mittelpartie den Eindruck machte, als wäre er frisch aus dem Bett gefallen und hätte dabei mit der Hand in die Steckdose gegriffen – ein klein wenig außer Puste, aber mit genau dem Strahlen von einem gepierceten Ohr zum anderen, das seine Stimme hatte erahnen lassen. Die gelbe Uniform unterstützte den sonnigen Eindruck nur noch mehr. „Hi, ich bin Dash. Ich bin neu auf der Strecke. Genau genommen ist es meine erste eigene Strecke. Ich muss wahrscheinlich ein paar Päckchen für die Nachbarn bei dir lassen, wenn das in Ordnung ist.“    Ran musste lachen. „Du bist der erste Postbote, der sich persönlich bei mir vorstellt.“ Wie absurd diese Situation doch war… Oder, war sie das? Ran wurde schlagartig bewusst, dass seine sozialen Kontakte im Reallife über das letzte Jahr echt mager gewesen waren und er es gar nicht mehr gewohnt war, kleine Alltagskonversationen zu führen. Genau genommen waren seine einzigen Kontakte im Moment seine Gamer-Freunde, die in allen Ecken der Erde verteilt waren und mit denen er sich nur über Discord unterhielt, und seine Schwester, die alle paar Wochen mal bei ihm vorbeischaute, um sich über seine jämmerliche Existenz aufzuregen.   „Woah, du bist es wirklich, oder?“ Dash schaute ihn mit offenem Mund an, sehr zu Rans Verwirrung. „Die Stimme kam mir doch gleich bekannt vor! Du bist Ran von Let’sRun!!“ Der Postbote ließ vor lauter Schreck die Päckchen, die er auf dem Arm trug, fallen. „Ich liebe deine Let’s Plays!!!“ Ran wusste nicht, ob er laut loslachen, vor Rührung weinen oder entgeistert den Kopf schütteln sollte. Es resultierte in einem Kopfschütteln mit amüsiert-gerührtem Gesichtsausdruck. Und einer Prise Ungläubigkeit. Jemand kannte wirklich seinen YouTube-Kanal? So gut, dass er ihn wiedererkannte? Er hatte sowas wie einen Fan? Er merkte, wie er rot anlief und wandte beschämt den Blick von Dash ab. Aber der störte sich gar nicht daran und redete einfach weiter. „Ich hab alle Episoden gesehen! Deine Pokémon-Glitch-Throughs sind so krass! Wenn ich Zeit habe, probier ich das auch alles mal aus.“ Dashs Mimik war so lustig, dass Ran es doch nicht länger schaffte, ihn nicht anzuschauen (ganz zu schweigen von seinen komischen Wangenpiercings, die man auch irgendwie nicht nicht anstarren konnte, manche Leute hatten echt keinen Geschmack…). Trotzdem war es schön, mal wieder eine Unterhaltung zu führen, bei der er sein Gegenüber auch sah und nicht nur hörte. Naja, eigentlich führte gerade nur Dash die Unterhaltung, mit nicht nachlassender Begeisterung. „Und das ganze Hintergrundwissen über die Spielmechanik, wie kommt man denn da drauf?! Wow. Such geek. Many amaze. Wow.“ Dieses Mal konnte Ran es sich nicht verkneifen, laut loszuprusten. „Warte…“, entgegnete er, „Sag nicht du bist der Typ, der mir immer die ganzen Memes in die Kommentare postet!“ Der einzige, der ihm regelmäßig kommentierte… Naja, sowas wie kommentierte. Dash grinste ihn breit an. „Ich hoffe du fühlst dich nicht getrollt von mir“, lachte er verlegen. „Nein…“ Ehrlich gesagt hatte er sich immer darüber gefreut und über den bescheuerten Humor lachen müssen. „Und wegen dem ‚Hintergrundwissen‘… Scheinbar war mein Studium ja doch zu was gut.“ Sarkasmus, du solltest doch in deiner Höhle bleiben.   „Woah“, schaute Dash ihn voller Bewunderung an, „Ich wünschte, ich hätte mein Studium auch durchgezogen. Was hast du denn studiert? Informatik?“ „Game-Development“, antwortete Ran, „Aber ich hätt wohl genau so gut Prinzessin-Sein studieren können, das hat schätzungsweise die gleichen Einstellungschancen.“ Dash lachte kurz auf, wurde dann aber für einen Moment ungewöhnlich ernst. „Oh … Das tut mir leid.“ „Schon okay“, versuchte Ran sich selbst zu trösten, „Ich hab ‘nen Job, von dem ich leben kann, ich darf nicht meckern.“ Dash schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Und offensichtlich einen, bei dem du um elf noch im Schlafanzug zu Hause sitzen kannst“, merkte er spitzfindig an. Plötzlich schämte Ran sich ein bisschen, aber irgendwie heiterte ihn der Gedanke tatsächlich auch ein wenig auf. „Ich, äh, arbeite von zu Hause, ja.“   „Astrein“, freute sich Dash. „Dann weiß ich ja, wo ich meine ganzen Päckchen immer abgeben kann, wenn sonst alle auf der Arbeit sind. Wir sehen uns dann jetzt öfter“, sagte er mit einem Zwinkern. Ran wurde schon wieder ganz rot. Das war bestimmt nicht so ein Zwinkern, was dachte er denn da? War er echt so einsam? „Ich muss auch weiter“, schaute Dash panisch auf seine Uhr. „Ich lass dir die Päckchen da, okay? Wir sehen uns dann morgen.“ Er lächelte Ran noch einmal an bevor er sich umdrehte und so fröhlich wie er vorhin heraufgekommen war die Treppe auch wieder hinunterhüpfte. Ran sammelte verdattert die Päckchen für die Nachbarn vom Boden auf, legte sie hinter seiner Wohnungstür ab und wartete darauf, dass unten die Haustür ins Schloss fallen würde. Stattdessen hörte er Schritte, die in schnellem Tempo noch einmal die Treppe hinaufgestürmt kamen.   „Du musst noch unterschreiben“, hielt Dash ihm schnaufend sein Registriergerät hin, „Zu großer Fanboy, ich bin ganz durcheinander wegen dir“, lachte er. Ran lächelte verlegen zurück, während er für jedes Päckchen einmal unterschrieb. „Dann… bis morgen“, verabschiedete er sich und Dash winkte ihm noch einmal auf übertriebene Art und Weise mit strahlendem Gesicht zu, während er erneut die Treppen hinuntersauste.   Kapitel 2: haters gonna hate ---------------------------- /dienstag/vormittag_   „Ja, der weiße Button“, wiederholte Ran nun schon zum gefühlt drölften Mal genervt in sein Headset, „Der war vor dem Update grau, jetzt ist er weiß. Es ist der selbe Button.“ Wie schwer von Begriff konnte man denn bitte sein? „Genau. Es steht ‚Weiter‘ drauf. … Eine viereckige Fläche. … Ja, das nennt man Button.“ Es klingelte in einem lustigen Morse-Rhythmus an der Tür. Ach nein, warum denn jetzt, während er einen Kunden am Telefon hatte? Er ging zur Sprechanlage, drückte ohne abzuheben den Türöffner und machte die Wohnungstür auf. „Ja, das tut mir leid, bestimmt werden Ihre Mitarbeiter verstehen, dass ‚das graue Viereck‘ jetzt ‚das weiße Viereck‘ ist.“     „GUTEN MORGEN RAAAAA~N!“, tönte es gutgelaunt durch das Treppenhaus. Dashs überdrehte Stimme zauberte trotz all seiner Angepisstheit über den Kunden ein Schmunzeln auf Rans Gesicht. „HALLO, ich hab~“ kam der Postbote die letzten Stufen hinaufgesprungen, als Ran ihm mit einem Finger auf den Lippen andeutete, leise zu sein. „Nein, tut mir leid, das war der Postbote. … NATÜRLICH HÖRE ICH IHNEN ZU!“ Er blickte Dash mit entschuldigendem Blick an, zeigte dabei auf sein Headset und machte mit der Hand eine Schreibgeste, damit dieser ihm das Registriergerät hinhalten würde. Dieser schüttelte entspannt-amüsiert den Kopf und lehnte sich an das Treppengeländer auf dem Absatz vor Rans Wohnung, seine Päckchen neben sich auf den Boden gelegt. Hatte er etwa vor zu warten bis Ran mit dem Telefonat fertig war?! Das setzte Ran noch mehr unter Stress… „HÖREN SIE, es tut mir leid, dass Sie ‚Dienstanweisungen‘ ausgedruckt und aufgehängt haben, auf denen ‚DAS GRAUE VIERECK‘ steht, da kann nun weder ich noch der Designer was dafür. Schreiben Sie beim nächsten Mal am besten direkt ‚der weiße BUTTON‘, falls wir mal die Ecken abrunden. Oder noch besser ‚der WEITER-Button‘ … Nein, ich mache mich nicht lustig.“ Idiot. Er schaute zu Dash, der immer noch, scheinbar amüsiert über sein Telefonat, mit tippendem Fuß gegen das Geländer lehnte, als würde er auf einen unsichtbaren Bus warten. Das Bild war zu bescheuert. Ran unterdrückte ein Kichern. „NEIN, ICH … Ich hab nicht über Sie gelacht. … … … Alternativ können Sie natürlich auch einfach das Farbschema umstellen. Unter Datei – Einstellungen … In der Leiste oben. … Ganz oben … Genau. Dann auf ‚Benutzerdefinierte Farben‘ und da können Sie hinter ‚Button‘ die Farbfläche anklicken … Ja, das macht das Leben doch viel leichter“, verrollte er entnervt die Augen. „Schön, dass ich helfen konnte. Wenn Ihnen die Antwort geholfen hat, bleiben Sie doch bitte noch einen kurzen Moment am Telefon, um eine Bewertung– … Nein, müssen sie nicht. … Na, danke …“ So ein Affe. „Vielen Dank, dass Sie sich für WillowSoft entschieden haben. Einen schönen Tag und auf Wiederhören.“    Ran ballte eine Hand zur Faust und gab einen kurzen, verzweifelten Zischlaut von sich, der aggressiver ausgefallen wäre, würde er nicht unter Beobachtung stehen. Er wandte sich zu Dash um, in der Erwartung, dass dieser ihn gleich auslachen würde. Stattdessen starrte er in das theatralisch-mitfühlendste Gesicht, das er je gesehen hatte. „Brauchst du eine Umarmung?“, streckte Dash mitleidig seine Arme aus. Waren sie hier bei den Glücksbärchis oder so? Funshine Bear, haha, das passte. „Schon in Ordnung, das gehört zum Job“, versuchte Ran auszuweichen, erwischte sich aber dabei, wie er trotzdem ein paar Schritte in Richtung Dash, der ihm schon mit geöffneten Armen entgegengekommen war, machte. Ernsthaft? Wieso machte er das? Wieso machte sein Körper das ohne die schriftliche Genehmigung seines Hirns? Er war kein Glücksbärchi… Oder? Dann spürte er seine Arme um sich. Wirklich? Der Postbote umarmte ihn grade? Das war weird… Weird, weird, weird… „Siehst du, das hilft immer“, lachte Dash, während Ran wie vor Schreck erstarrte und nicht wusste, was er mit seinen eigenen Armen machen sollte. Warum machte ihn denn eine Umarmung so nervös?! Er versuchte sich zu erinnern, wann ihn das letzte Mal jemand umarmt hatte, und es wollte ihm nichts einfallen… „Besser?“, drückte Dash ihn noch einmal ein bisschen fester, bevor er ihn wieder losließ. Alles, was Ran als Antwort hervorbrachte, war ein verlegenes Lächeln und Nicken.    „Ich hab Post für dich“, hob Dash freudig einen dicken Umschlag, der ganz oben auf seinem heute nicht ganz so umfangreich ausfallenden Stapel an Päckchen lag, auf, um ihn Ran persönlich zu überreichen. „Er ist von OakGames“, sagte er aufgeregt und hibbelte dabei ein bisschen auf der Stelle, „Vielleicht ist das ein Beta-Release von einem Spiel für deinen Channel.“ Ran schüttelte belustigt den Kopf. War Dash darauf so neugierig gewesen, dass er extra gewartet hatte? „Du überschätzt mich ein bisschen, fürchte ich“, gab Ran zu, „Sowas kriegen nur die ganz großen Let’sPlayer. So fame bin ich nicht.“ Noch nicht einmal ansatzweise. „Das sind wahrscheinlich meine Bewerbungsunterlagen zusammen mit einer Absage“, sagte er enttäuscht. „Aber das weißt du nicht, bevor du nicht reingeschaut hast.“ Dash war eindeutig zu optimistisch. Der wusste noch nicht, wie das abläuft. „Vielleicht bring ich dir ja Glück, wenn du jetzt reinschaust.“    „Hast du grade Briefträger mit Schornsteinfegern verwechselt?“, grinste Ran ihn spitzfindig an, woraufhin Dash ein peinlich berührter Lacher entwich. Und trotzdem ließ Ran sich irgendwie ein bisschen von seiner Zuversicht anstecken. „Okay, wir schauen zusammen rein.“ Er öffnete den Umschlag und sah seine Bewerbungsmappe. Aber ganz gab er die Hoffnung noch nicht auf. Er zog den Brief heraus, der oben auf der Mappe lag und überflog ihn. „… Leider haben wir uns bei der Position für einen anderen Bewerber entschieden…“, las er ernüchtert vor, „…Gerne nehmen wir Sie aber in unsere Datenbank auf und behalten uns vor, bei zukünftigen Projekten Kontakt mit Ihnen aufzunehmen…“ „Das ist keine vollständige Absage“, versuchte Dash ihn aufzumuntern. Das war eine Absage. Auf eine Bewerbung, mit der er sich besonders viel Mühe gegeben hatte…   „Brauchst du noch eine Umarmung?“, bot ihm Dash an. Ran erschreckte sich kurz, bevor er zugab: „Vielleicht schon.“ In die Stelle bei OakGames hatte er besonders viele Hoffnungen gesteckt. Unsicher begab er sich erneut in Dashs ausgestreckte Arme. Und traute sich dieses Mal auch, seine eigenen um dessen Oberkörper zu legen und sich ein bisschen mehr gegen ihn zu drücken. Das fühlte sich schön an. Dashs Shirt roch so gut nach Weichspüler. Einen Moment lang vergaß er ganz, warum er überhaupt traurig gewesen war. Richtig… „Ich bin froh, dass ich den Umschlag nicht allein aufgemacht habe“, sagte er kleinlaut. Es hätte ihm bestimmt seinen ganzen Tag versaut. „Dann machen wir die jetzt immer zusammen auf“, löste Dash sich etwas von ihm, um ihn bei den Schultern zu fassen und ihm mit dem wärmsten Lächeln aufbauend in die Augen zu blicken. Was für schöne blaue Augen… Ran erschreckte sich über seine eigenen Gedanken und wandte verschämt den Blick ab. Das war echt jämmerlich, nur weil jemand ein bisschen nett zu ihm war… „Okay…“, zog er seine Arme wieder zu sich und nahm nervös ein bisschen Abstand, „Das … klingt gut … du hast bestimmt noch Päckchen, die du hier lassen willst, oder?“, versuchte er schnell das Thema zu wechseln. Dash hob die Päckchen für die Nachbarn auf, scannte sie ab und hielt Ran das Registriergerät zum Unterschreiben hin.    „Morgen hab ich bestimmt bessere Post für dich“, lächelte er Ran noch einmal zu, bevor er sich in seinem albernen Hopserlauf wieder auf den Weg die Treppe hinunter machte.   Wenn er dafür wieder so eine Umarmung bekommen würde, wäre es vielleicht nicht so schlimm, wenn morgen wieder eine Absage in der Post wäre.   …   Jämmerlich.   Kapitel 3: like a boss ---------------------- /dienstag/nachmittag_   „Vielen Dank, dass Sie sich für WillowSoft entschieden haben. Schönen Tag noch und auf Wiederhören.“ Ran beendete den Anruf und sackte mit dem Kopf auf seinen Armen auf seinem Schreibtisch zusammen. Arrrrggggh, warum waren Menschen bloß so … schwer von Begriff … und aggressiv … und eingeschränkt in ihrer egozentrischen Weltsicht … und deprimierend? Das war definitiv genug Elend für heute gewesen. Er loggte sich aus der Support-Software aus und nahm das Headset vom Kopf. Feierabend. Er atmete einmal tief ein und wieder aus und stand von seinem Schreibtischstuhl auf.   Vielleicht sollte er mal was Anständiges essen, nachdem er schon nur ein mickriges Frühstück und gar kein Mittagessen, dafür aber gefühlt einen ganzen Liter Energydrink und drei Tafeln Schokolade gehabt hatte, um die ermüdende Eintönigkeit seines Jobs zu ertragen. Er schlurfte in die Küche und öffnete seinen Kühlschrank. Die Auswahl war nicht gerade üppig. Genauer gesagt nicht vorhanden. Aber bestimmt hatte er noch … richtig! Ein paar Tiefkühlpizzen im Gefrierfach und ausreichend Instant-Ramen, um den Einkauf notfalls noch bis in die nächste Woche aufschieben zu können. Jedenfalls würde er heute nicht einkaufen gehen. Noch mehr Idiotie und Angriffslust würde er heute nicht ertragen. Im Supermarkt lauerten eindeutig zu viele Menschen, die nur darauf warteten, in der Schlange hinter ihm genervt die Augen zu verrollen, wenn er mit Karte statt mit Bargeld bezahlte (dabei ging das schneller! Schwachköpfe!). Oder ihn anzupöbeln, wenn er mit seinem Einkaufswagen einen Gang blockierte (was konnte er dafür, dass die Gänge so schmal angelegt waren?). Oder unangenehme Gespräche, in denen er nicht wusste, wie er reagieren sollte, mit ihm anzufangen, nur weil er sich für das selbe Produkt wie sein Gegenüber entschieden hatte (ja, bestimmt hatte er so viel mit jemandem gemeinsam, nur weil sie das selbe Müsli zum Frühstück aßen…). Oder hinter seinem Rücken zu tuscheln und zu lachen, weil scheinbar, für ihn selbst unsichtbar, groß „NERD“ auf seinem Rücken geschrieben stand. Vielleicht würde er morgen mehr in der Laune dafür sein. Heute brauchte er eine Feierabendbeschäftigung, die seine Stimmung wenigstens wieder ein bisschen heben würde. Er stellte den Wasserkocher auf und holte eine Packung Ramen aus dem Schrank. Ein Let’s Play aufnehmen. Darauf hatte er jetzt schon eher Lust. Vielleicht würde ihm ja jemand ein dummes Meme in die Kommentare posten, das ihn auf andere Gedanken bringt.   Eine nahrhafte Ramen-Mahlzeit später hatte er sich entschieden, wie er seine neuste Episode Let’sRun gestalten wollte. Er blickte zwischen den Post-Its hin- und her, die er am Rahmen seiner beiden Monitore angebracht hatte und auf denen er sich zahlreiche Notizen zu dem gemacht hatte, worauf er in seinen Videos besser achten musste: „Lächeln“, „Wortspiele machen“, „Trinken nicht vergessen“, „Nicht fluchen“, „Nicht wie ein Roboter reden.“ (Ja, manchmal bekam er konstruktive Kritik, und nahm sie sich zu Herzen. Zu sehr. Mit dem Resultat, dass er dann wochenlang keine neuen Videos produzierte, bis er sich endlich wieder dazu aufraffen konnte.)   „Willkommen zu einer neuen Episode Let’sRun“, begann er kurz darauf seine Aufnahme, „Heute mal wieder mit einem Speed-Ran.“ Wortwitze machen: Check. Über seinen eigenen dummen Witz lachen (das zählte als lächeln): Check. Darüber peinlich berührt sein, wie sehr er über seinen eigenen dummen Witz lachte, was ein Roboter sicher niemals tun würde: Check. „Für heute habe ich einen der Schätze meiner Kindheit ausgegraben, das Spiel Pocky & Rocky für den SNES.“ An dieser Stelle würde er später ein paar Aufnahmen vom Spielemodul und der dazugehörigen Konsole reinschneiden, das Let’s Play nahm er über die emulierte Version am PC auf. „Das Spiel haben meine Schwester und ich als Kinder oft zusammen gespielt. Auch wenn es echt kawaii aussieht mit der süßen kleinen Pocky und ihrem Freund, dem plüschigen Tanuki Rocky, ist Pocky & Rocky ein vollwertiger Shooter – und ein ver–flixt anspruchsvoller.“ Nicht fluchen: Check. „Das Spiel ist darauf angelegt, dass man es zu zweit spielt, aber heute seht ihr einen Solo-Speedrun – perfektioniert in unzähligen gelangweilten Stunden meiner Kindheit, in denen meine Schwester lieber so öden Beschäftigungen wie Eis essen mit Freunden nachging, während ich schon damals nichts Sinnvolleres mit meinem Leben anzufangen wusste.“ Zählte das als Witze machen? „Hallo Iku! Falls du zuschaust…“ Als ob! „…siehst du jetzt, was du davon hast!“ Er nahm nochmal einen Schluck Energydrink (verdammt, hatte er nicht für den Rest des Tages auf Wasser umsteigen wollen?), bevor er das erste Level startete. Trinken: Check. „Es geht los! Let’s Run!“, kommentierte er sein Spiel, „Wie ihr seht handelt es sich zwar um einen Shooter, aber um einen multidirektionalen ohne automatisches Scrolling … Ich kann also in alle Richtungen meine Blätter schießen und das Bild bewegt sich im selben Tempo und in die selbe Richtung wie ich mich bewege mit. Da das ein Speedrun werden soll, versuche ich natürlich, mich möglichst schnell zu bewegen…“ Ran kannte das erste Level in- und auswendig, weshalb er sich nicht sonderlich konzentrieren musste und nebenher erzählen konnte. Er kannte die Wege, die er gehen, die Stellen, an denen er schießen und an denen er kurz warten musste, um möglichst flink und unbeschadet bis zum Level-Boss zu kommen. „Die ersten Level mag ich besonders gerne, weil man hier auf alle Geister und Fabelwesen der japanischen Folklore trifft. Da steckt viel Kindheitsnostalgie für mich drin.“ Der Gedanke an die japanischen Bilder- und Märchenbücher seiner Kindheit legte Ran tatsächlich für einen Moment ein ehrliches Lächeln aufs Gesicht. Lächeln: Double Check. Jetzt, wo er einen seiner Abonnenten persönlich kannte, fiel es ihm etwas leichter, den Blickkontakt zum Zuschauer zu halten. Er fing bei dem Gedanken noch mehr an zu grinsen. Und wurde etwas verlegen dabei. Verdammt, er musste sich auf den Speedrun konzentrieren, nicht darauf, ob Dash sein Lächeln bemerken würde. Schnell zurück zum Thema! „Später wird es etwas westlicher mit Kürbiskopf-Geistern, Zombies, Skeletten … In der Story wird hier zwischen Nopino-Goblins und Gorgonzola-Goblins unterschieden … Ich erspare mir an dieser Stelle Ausführungen über den subtilen Rassismus, der dahinter steckt.“   Mit fortschreitendem Spielverlauf musste Ran seine Aufmerksamkeit immer mehr auf das Spiel richten und redete immer weniger. Manchmal fluchte er doch, wenn er einem Gegner oder einer Falle nur grade so entkam, aber er versuchte es mit einem Lächeln wieder gut zu machen. Das vergaß er sonst nämlich doch recht oft, je mehr er sich konzentrierte… Aber das jahrelange einsame Ninja-Training hatte sich gelohnt und er schaffte es wie erwartet ohne besondere Vorkommnisse bis zum Endgegner und erledigte ihn routiniert. Etwas über 23 Minuten. Er musste gleich mal nachforschen, ob das gut war…   „Das Ende des Spiels fand ich immer ein wenig verstörend… Im Dialog hier steht ‚The Nopino goblins return to normal and go home with Rocky. … They were good little goblins after all.‘ Heißt das ich habe die ganze Zeit unschuldige kleine Goblins mit meinen Wurfgeschossen ermordet? War das ein notwendiges Opfer für das höhere Wohl? So dark, süßes kleines Waschbären-Spiel, so dark… Und damit wünsche ich euch angenehme Träume, bis zur nächsten Episode!“   Puh, geschafft. Er schaltete die Kamera und den Screencast ab. Endlich wieder die Gesichtsmuskeln entspannen und nicht mehr daran denken müssen, ob er gerade für irgendwen wieder wie ein ‚autistischer Koreaner‘ aussieht. Verdammte Hater!! Jetzt noch schnell die nötigen Zusatzaufnahmen von der Konsole machen und dann alles zusammenschneiden und hochladen. Immerhin eine Sache in seinem Leben musste er ja mit Motivation tun. Wenn es danach noch nicht so spät sein würde, könnte er ja mal nachschauen, ob jemand von seinen Gamer-Buddies online war und noch ein paar Runden Awkwardnauts zocken. Und dabei hoffentlich nicht wieder auf der Tastatur einschlafen so wie die letzten Nächte. Vor allem nicht wie gestern mit gedrückter A- und W-Taste, wodurch sein Charakter dann wohl noch eine ganze Weile sinnlos nach links gesprungen war. Hoffentlich waren die nicht mehr sauer auf ihn, dass sie deshalb schon wieder das letzte Spiel verloren hatten… Kapitel 4: glitter, glitter everywhere -------------------------------------- /mittwoch/vormittag_   Heute kam Dash mit einer ganzen Sackkarre voller Pakete die Treppe hinaufgepoltert. Er schnaufte ein wenig, war aber offensichtlich nicht zu kaputt, um Ran freudig anzustrahlen, als er ihn erblickte. „Tut mir leid, dass es so viel ist heute, es war echt niemand sonst daheim.“ „Schon okay“, antwortete Ran mit einem Schulterzucken. Er freute sich viel zu sehr, Dash zu sehen, versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen. Echt ärmlich, dass fünf Minuten Smalltalk mit dem Postboten das Highlight seines Tages waren…    „Ich helfe dir, die reinzutragen“, bot Dash an und schnappte sich den größeren Teil des Stapels, um ihn in Rans  Wohnung zu bringen. Ähm… Vermutlich hätte Ran jeden anderen angepflaumt, wenn er das einfach so gewagt hätte ohne ihn zu fragen. Stattdessen wurde er irgendwie nervös. „Wow, so ordentlich!“, hörte er Dash staunen. Ran schnappte sich schnell die beiden Päckchen, die noch auf der Sackkarre lagen - ein kleineres, flaches (Moment, der Name sagte ihm gar nichts, war das ein Nachbar von einem ganz anderen Eingang? Entweder war Dash echt faul, oder…) und darunter ein riesiges, das aber erstaunlich leicht war. „Ja, ich räume auf, wenn mir langweilig ist“, erklärte Ran. Das war ziemlich oft. Sah man vermutlich. „Bewundernswert“, sagte Dash ohne Ironie, während er ihn im Flur schon erwartete. „Meine Wohnung sieht immer noch aus wie grade erst eingezogen. Aber ich bin auch vor zwei Monaten erst eingezogen. Wo sollen die Päckchen hin?“   „Leg sie ruhig einfach hier hinter der Tür ab“, deutete Ran auf das Wohnzimmer, das erste im Flur. Er bemerkte, wie Dash sich dabei neugierig umschaute. „Woaaah! All die Retrokonsolen!!! Wie awesomesauce ist das?!“, hörte er im selben Moment seinen Schrei der Begeisterung und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er war schon ziemlich stolz auf seine Sammlung. „Woah, woah, woah, Alter, die Hälfte davon hab ich noch nie gesehen! Was ist das alles?“ Dashs Augen leuchteten als wäre er ein Kind im Spielzeugladen. Ran stellte sich neben ihn vor die Regalwand, in der all seine Schätze der Videogame-Geschichte präsentiert waren. „Kennst du die?“, deutete er auf eine der Konsolen und fühlte sich dabei wirklich als würde er einem staunenden kleinen Kind die Welt erklären. „Kein Wunder“, entgegnete er auf Dashs Kopfschütteln, „Die kannte auch schon keiner, als sie rausgekommen ist. Das ist der Apple Pippin. Damals kein Erfolg, aber heute geht er zu bekloppten Preisen bei Ebay weg. Aber ich hab meinen super günstig aus einem Second-Hand-Laden in Japan mitgebracht.“ Ran hatte nicht wirklich engen Kontakt mit seiner Verwandtschaft in Japan (so wie mit niemandem), aber ab und zu musste er die Verbindung ausnutzen, um shoppen zu gehen. Dash strahlte ihn an, als wäre er echt fasziniert davon, was Ran da grade erzählte. „Woah, das ist als würde ich meine private kleine Live-Episode Let’sRun bekommen“, sagte er begeistert und Ran musste ein bisschen lachen. Er war es definitiv nicht gewohnt, dass Leute im echten Leben nicht nur zuhörten, sondern sogar so euphorisch bei der Sache waren, wenn er über Konsolen abnerdete.   „Was ist das für eine Konsole?“, zeigte Dash auf einen weiteren seiner Schätze und Ran war sich fast sicher, dass sie Dash nur wegen der großen Smileys im Logo auf den Spieleverpackungen ins Auge gesprungen war. „Ah! Eine gute Wahl! Der Neo Geo AES“, erklärte Ran, „Das war sozusagen die Heimversion der Arcade-Automaten von SNK und ursprünglich konnte man sich ihn nur in Videotheken leihen, gar nicht kaufen. Das Coole war, dass es die erste Konsole mit Memory-Card war und du deinen Spielstand von zu Hause mit in die Arcade-Halle nehmen konntest! Die Leistung war auch Hammer für die Zeit. Die selbe 68k-CPU wie der SEGA Mega Drive, aber 12 Megahertz, also fast das Doppelte. Und er konnte 380 Sprites gleichzeitig darstellen, im Vergleich mit 80 beim Mega Drive und immerhin 128 beim SNES. Das merkst du vor allem bei Sidescrollern, da fliegen dann einfach Unmengen von Bullets umher, das war schon ein ganz anderes Spielgefühl…“ Dash musste lachen. „Du bist echt ein Nerd“, sagte er als wäre es das schönste Kompliment, „Also ehrlich gesagt hab ich bei den ganzen Zahlen kurz abgeschaltet, aber deine Augen leuchten ja richtig, wenn du sowas erzählst.“ Ran bemerkte, wie sein Gesicht ganz heiß wurde. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Zum Glück redete Dash direkt weiter. „Okay, ein Highlight will ich noch sehen, bevor ich weiter muss mit meiner Tour“, erklärte er interessiert. Darauf fiel Ran eine Reaktion schon leichter. „Wie wär’s hiermit?“, zeigte er auf ein schwarz-rotes Gerät, das ein besonders großes Fach im Regal einnahm und wie eine Mischung aus Tupperdose, Tauchermaske und Augenarzt-Messinstrument auf einem Stativ aussah. „Der Nintendo Virtual Boy. Den stellst du vor dich auf den Tisch und schaust rein wie in so ein Sehtestinstrument beim Optiker. Und kommst dann in den Genuss von eindrucksvollen 3D-Grafiken aus 224 roten LEDs.“ Sein Zynismus war nicht nur auf ihn selbst beschränkt. „Ist tierisch gefloppt damals, aber ich finde, man muss ihn mal ausprobiert haben.“ Dash schaute ihn mit großen Augen an. „Darf ich?“, fragte er wie ein kleines Kind. „Darf ich, darf ich, darf ich??“ „Klar –“, wollte Ran grade erwidern, als Dash ihm auch schon wieder ins Wort fiel. „Also, nicht jetzt, ich hab schon wieder viel zu lange hier rumgetrödelt, aber – darf ich vielleicht mal zum Spielen vorbeikommen?“ Er schaute Ran mit aufgeregtem Hundeblick an, fing aber, bevor dieser etwas erwidern konnte, auch schon an zu Lachen: „Ahaha, das klingt wie in der Grundschule!“    Ran musste unweigerlich Schmunzeln. Das letzte Mal, dass jemand einfach so ‚zum Spielen‘ und Unsinn machen bei ihm Zuhause gewesen war, war tatsächlich zu Schulzeiten gewesen. Seit er alleine wohnte hatte er ein paar Lerngruppen aus der Uni bei sich gehabt, aber alles waren sozial inkompetente Geeks wie er selbst gewesen (größtenteils schlimmer als er selbst), und das Ganze war nie über den Status einer Zweckgemeinschaft hinausgewachsen. Er tat sich so schwer damit, neue Freunde zu finden. Mit Dash war alles ungewohnt unkompliziert. „Du darfst gerne vorbeikommen“, schenkte er ihm ein warmes Lächeln. „Yayyy“, freute sich dieser und hibbelte überdreht auf der Stelle herum, „Wann hast du Zeit? Ich hab um zwei Feierabend, dann muss ich noch den Wagen abliefern und könnte gegen drei hier sein.“ So schnell schon? Heute? Ran wurde ein bisschen nervös. Er war es nicht gewohnt, so spontane Entscheidungen zu treffen. „Oder hast du schon was vor?“ Ran konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen. Als ob er irgendwelche sozialen Verpflichtungen hätte. „Nein, ich kann Feierabend machen wann ich will, das passt…“ Okay, 15 Uhr… Dann könnte er schnell noch was zum Knabbern einkaufen gehen… „Was sind deine Lieblingssnacks? Und was soll ich zu Trinken holen?“, fragte er ein bisschen zu aufgeregt. „Hey, keine Umstände wegen mir“, lachte Dash verlegen, „Ich bring von unterwegs Mountain Dew und Doritos mit. Bromantisch genug für’s erste Date?“, grinste er ihn an. Ohgottohgott, jetzt bloß nicht rot werden. Das war ein Scherz. „Naja, mein … Fernseher hat Ambient-Beleuchtung“, lächelte er verlegen zurück. OMG, hatte er gerade geflirtet? Unbeholfen genug, dass Dash es nicht als Flirten wahrnehmen würde hoffentlich… „Uh là là!“ Er hatte es als Flirten wahrgenommen. Oder sowas in der Art. „Geknutscht wird nicht vor dem dritten Date, dass das klar ist“, zwinkerte Dash ihn an. Ran wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Das war für Dash nur Spaß … Oder???    „Ah, ich hab ganz vergessen“, lief er plötzlich vom Regal weg, zu den hinter der Tür abgestellten Päckchen, „dass ich doch versprochen habe, dass ich heute bessere Post für dich mitbringe.“ Er hatte ein verräterisch triumphierendes Grinsen im Gesicht. „Das Paket ist für dich“, holte er das große, auffällig leichte Paket von vorhin unter dem Stapel hervor, „Vielleicht ist ja was Gutes drin.“ Ran starrte das Paket an. Es stand in krakeliger Handschrift einfach nur ‚an Ran‘ und ‚Absender: geheim!‘ drauf. Hatte Dash das gemacht? Wer hätte es denn sonst gemacht haben sollen, bei der Post wäre es so bestimmt nicht angenommen worden. Er hatte plötzlich schreckliches Herzklopfen. War das ein Geschenk? Für ihn? Von Dash? „Los, los, mach es auf“, drängte Dash erpicht, „Hast du eine Schere hier?“ Ran nickte aufgeregt und holte eine Schere aus der Schublade in seinem Couchtisch, auf dem er das Paket platzierte. Dash schaute ihm mit breitem Grinsen zu, während er das Klebeband zerschnitt und die Oberseite des Kartons öffnete. Zuerst sah er nur jede Menge zerknülltes Packpapier darin. Er griff hinein und fühlte … einen Luftballon? Er schaute den immer noch grinsenden Dash ungläubig an und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Er zog den Ballon aus dem Paket. Er war groß, sonnengelb und in der selben Kinderschrift wie auf der Verpackung stand ‚Halt mich hoch und pieks mich‘ drauf. Okay, dieses Mal war es schon eher ein lautes Glucksen als nur ein Kichern, das da aus Ran kam. Das war so … süß! Warum machte Dash sowas für ihn? Ran hielt den Ballon nach oben und richtete eine Spitze der Schere auf ihn. „Soll ich?“, schaute er Dash an und hibbelte dabei fast schon genau so bescheuert herum, wie dieser das immer tat. Dash nickte ihm aufgeregt zu. Er piekste in den Ballon, es gab einen Knall und … Ran stand in einem langsam herabrieselnden Regen aus goldenem Konfetti. Er musste gerade das belämmertste Grinsen der Welt im Gesicht haben. „Oh mein Gott, du bist doch bescheuert“, schüttelte er lachend den Kopf. „Die gute Art von bescheuert“, erklärte Dash stolz, „…oder?“ „Die beste“, strahlte Ran zurück. Sowas hatte noch nie jemand für ihn gemacht. Noch nicht einmal zum Geburtstag. „Das beste hast du noch gar nicht bemerkt“, tönte Dash. …Eh, was?  Ran schaute sich verwirrt um. Und tatsächlich war da außer Konfetti noch etwas aus dem Ballon gefallen. Ein kleines, gelbes… „Scheiße, Alter, ist das das Surfing Pikachu aus der Kindertüte von Indigo Burgers?! Das ist das einzige, was mir noch fehlt!!!“ Er hob das tennisballgroße Plüschtier vom Boden auf und starrte abwechselnd dieses und Dash mit offenem Mund an. Das Ding war mindestens 15 Jahre alt. „Wie … wann … woher …???“, er wusste gar nicht, was er zuerst fragen sollte. „Ich hab die Plüschis in einem deiner Videos im Hintergrund gesehen, und dass du wirklich alle hast außer dem einen. Und genau das hatte ich zufällig“, gab er an. Ran kamen fast die Tränen vor Rührung. Das war so lieb, so aufmerksam … das war er einfach nicht gewohnt.    Er konnte nicht anders, als einen Satz zu Dash zu machen und ihn stürmisch zu umarmen. „Danke, danke, danke!!!“, hüpfte er so überdreht, wie er das sonst nur von Dash kannte, auf der Stelle auf und ab. „Wie kommst du denn auf so eine Idee? Wo hattest du denn so schnell das Glitzerzeug her?“, fragte er, immer noch völlig fassungslos. „Ach, das sammelt sich so an wenn man Eventmanagement studiert…“, rieb sich Dash beiläufig über den Kopf. „Eventmanagement? Woah!“ Ran war beeindruckt. Aber Dash hatte gesagt, dass er sein Studium abgebrochen hatte, richtig? „Das passt voll zu dir“, musste er zugeben. „Warum hast du denn … aufgehört?“, fragte er unsicher. War das eine zu persönliche Frage? Er hatte sich die ganze Zeit mit Fragen zurückgehalten, während Dash ihn von Anfang an gelöchert hatte. Für einen Moment glaubte er zu bemerken, wie sich Dashs Gesicht verdunkelte, aber im nächsten Moment war es wieder zurück in seinem sorglos-optimistischen Normalzustand. „Naja“, überlegte er, „ich schätze der Event-Part hat gut zu mir gepasst. Management … nicht so sehr.“ Er lachte nervös. „Ich meine, Beleuchtung und Spezialeffekte und Musik und Mottopartys und verrückte Ideen, das ist meine Welt… Aber –“, plötzlich wurde sein Gesicht seltsam reumütig, „es sollte wohl nicht sein. Naja, vielleicht geh ich’s irgendwann nochmal an. Eine Eventtechniker-Ausbildung oder so, das wäre auch was. Aber erst mal muss ich ein bisschen Abstand gewinnen.“ Er sagte das so seltsam bedeutungsvoll, dass Ran sich nicht traute, weiter nachzuhaken. „Ich … muss auch mal weiter“, schaute Dash nervös auf seine Uhr. „Aber ich freu mich auf später.“ Da war sein Lächeln wieder. Zum Glück. „Ich freu mich auch“, erwiderte Ran verlegen und sah Dash nach, wie er seine Sackkarre wieder die Treppe hinunterbeförderte.   Nur um danach von unten wieder hochgerannt zu kommen. „Unterschriften vergessen“, schnaufte er ein bisschen peinlich berührt.   Kapitel 5: overly attached ex-girlfriend ---------------------------------------- /mittwoch/nachmittag_   Ran hatte sich davon abgehalten, doch noch einkaufen zu gehen. Würde ja einen komischen Eindruck machen, wenn er es mit den Snacks doch übertreibt, nachdem Dash auf Mountaindewritos bestanden hatte. Dann wiederum hatte es Dash mit seinem Geschenk auch übertrieben. Ran freute sich immer noch wie ein Idiot darüber. Er hatte das kleine Surf-Pikachu mit zu seinem Schreibtisch genommen und schon viel zu oft glücklich gegen sein Gesicht gedrückt. Vielleicht hatte er ihm sogar ein Küsschen gegeben. Auch wenn er sich immer wieder zu sagen versuchte, dass das für Dash bestimmt nur ein Witz gewesen war, als er ihr Treffen ein Date genannt hatte. Dass er bestimmt einfach zu jedem so nett war. Bestimmt war das für jemanden wie Dash nichts besonders – war er für jemanden wie Dash nichts Besonderes… Und dennoch hatte er es geschafft, ihm mit seiner bescheuerten Glitzerbombe für einen Moment genau dieses Gefühl zu geben. Das Gefühl, das er nach so vielen Absagen auf Bewerbungen und Beschimpfungen am Telefon und zwischenmenschlichen Enttäuschungen schon fast vergessen hatte. Er musste sich irgendwie revanchieren… Er hatte zwischen seinen Support-Telefonaten Dashs YouTube-Favoriten durchgesehen, in der Hoffnung, so Inspiration zu finden. Er mochte offensichtlich Pokémon (vor allem Elektropokémon), Memes, Videospiele (möglichst retro, mit möglichst absurden Settings und Spielprinzipien), Rans Let’s-Play-Videos (jedes einzelne davon, wie peinlich!), Memes, nervtötende Lieder (toll, jetzt hatte er mindestens drei schreckliche Ohrwürmer, die sich in seinem Hirn abwechselten…), trashige alte Werbespots, unnötige elektrische Gadgets (vor allem solche, die leuchteten und blinkten) und Memes. Ein paar Ideen waren ihm gekommen, aber nichts, was er auf die Schnelle hätte umsetzen können, nichts, was ihm als genau das richtige erschien… Er hatte schon ein halbes Jahr Favoriten durch und sagte sich, dass er mal aufhören sollte (so langsam grenzte das ja an Stalking…), als plötzlich die Liste einfach so zu Ende war. Der Account war erst ein halbes Jahr alt? Naja, vielleicht hatte er das Passwort von seinem alten Account vergessen… Ran dachte sich nichts weiter dabei. Er schaute nach, ob vielleicht andere Social-Media-Accounts auf der Profilseite verlinkt waren, aber da war nichts. Noch nicht einmal ein Foto, schade…   Dash war beinahe pünktlich. Und offensichtlich war sein „dienstliches“ Klingeln tatsächlich irgendwie seriös für seine Verhältnisse – sein privates Sturmklingeln war nämlich noch zehn Nummern hyperaktiver. Und versuchte augenscheinlich, die Melodie irgendeines aufgedrehten Viral Songs, von dem Ran sich sicher war, dass er ihn bei seinen YouTube-Likes gehört hatte, aber den er gerade nicht ganz zuordnen konnte, nachzuahmen. „Du denkst echt, ich lass dich so rein?“, versuchte er möglichst cool in die Sprechanlage zu sagen. „Tu ich“, konnte er Dashs triumphierendes Grinsen förmlich durch die Sprechanlage sehen, „Weil du das heimlich süß findest.“ Zum Glück konnte Dash gerade sein tomatenrotes Gesicht nicht sehen. „Ahahaha, nur Spaß“, gluckste er am anderen Ende der Leitung, „Bitte lass mich rein, ich hab Doritos dabei!!“   Dash trug scheinbar nicht nur beruflich Gelb, auch der Kapuzenpulli, den er zu Jeans und einer Lederjacke mit goldenen Spikes, die genau wie seine Piercings ein bisschen zu cool für ihn wirkte, anhatte, hatte diese quietschige Farbe. Genauso wie der Smiley-Button, den er neben vielen anderen an die Jacke gepinnt hatte. Irgendwie fing Ran langsam an, die Farbe zu mögen… „Wo kann ich die Snacks ablegen? Soll ich die Schuhe ausziehen? Ich hab auch Schokoriegel und Cola dabei, nach der Arbeit bin ich immer so energielos, da brauch ich Zucker“, sprudelte Dash los und hibbelte dabei auf der Stelle – scheinbar um Rans Aufmerksamkeit auf die blinkenden LEDs in den Sohlen seiner Turnschuhe zu lenken (so energielos!). „Schau mal, cool, oder? Die leuchten! Nachts macht das besonders viel Spaß.“ Ran konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Ich dachte das gibt’s nur bei Kinderschuhen“, gab er zu und fügte ein vorwitziges „Haben die auch Klettverschluss?“ an. „Haben sie“, antwortete Dash kleinlaut und sah fast ein bisschen traurig dabei aus. Oh nein, das hatte Ran nicht gewollt. Dash schaute ihm einen Moment irgendwie anklagend in die Augen, studierte seinen Blick – nur um im nächsten wieder zu seinem fröhlichsten Grinsen zu wechseln: „Und das findest du auch heimlich süß!“ Ran drehte sich ertappt weg „Hör … hör auf das zu sagen“, murmelte er beschämt und versuchte angestrengt, nicht rot zu werden, was wohl den gegenteiligen Effekt hatte. Inzwischen hatte Dash seine Snacks auf dem Wohnzimmertisch abgestellt und seine Klettverschluss-Schuhe abgelegt. Sein Blick fiel auf das Goldkonfetti, das immer noch auf und um den Wohnzimmertisch verteilt lag. „Heute war dir wohl nicht langweilig“, merkte er fröhlich zum ‚unaufgeräumten‘ Zustand des Wohnzimmers an und Ran schüttelte, immer noch etwas verlegen, den Kopf. Er hatte das Konfetti mit Absicht liegen gelassen, weil es ihn jedes Mal, wenn er mit einem nervigen Kunden am Headset daran vorbeigelaufen war, daran erinnert hatte, dass sein Leben doch nicht nur aus nervtötenden Telefonaten, Einsamkeit und Selbstzweifeln bestand.    „Willst du gleich den Virtual Boy ausprobieren?“, fragte Ran und machte sich direkt auf den Weg zum Regal, um das Gerät zum Couchtisch zu holen. Er war sich etwas unsicher, was der typische Ablauf so eines Treffens mit Freunden war. Hätte er sich erst mal mit Dash hinsetzen und etwas trinken sollen und ihn fragen, wie sein Tag war? Aber Dash stand schon freudig hibbelnd hinter ihm, half ihm die Sachen zum Tisch zu tragen und kommentierte voller Elan alles, was er zu sehen oder zu fassen bekam („Das ist wie futuristische Spionage-Ausrüstung!“, „90s-Plastik!!! Ich geh voll auf den Geruch ab!!“, „Ich hab Goldkonfetti drüber gestreut, jetzt ist es Limited Edition!“), was Ran immer wieder dazu brachte, den Kopf zu schütteln, aber auch das beruhigende Gefühl gab, dass Dash Spaß hatte und er nichts falsch machte. „Okay, das hier ist Mario’s Tennis“, legte er das erste Spiel ein, nachdem sie das Gerät auf dem Tisch aufgestellt hatten, „Das war damals im Kaufumfang enthalten, gehört zu den okayeren Titeln. Ich kann dir auch noch die richtig schrottigen zeigen, wenn du~“ „WOAAAAAH!!“, wurde er da von Dashs begeistertem Freudenschrei unterbrochen, „Fast dachte ich, der Ball fliegt mir voll in die Fresse!! Krasser 3D-Effekt!“ Ran musste laut losprusten. „Ja, als würde man mitten auf dem Tennisplatz stehen“, war alles, was er mit ironischem Unterton herausbekam, wenn er an die schlechte schwarz-rote Pixelgrafik dachte. „Okay… äh…“, wurde Dash plötzlich hektisch. Ran wünschte, er könnte sehen, was er gerade vor sich sah. Das Gerät war echt nur was für ungesellige Hardcore-Nerds, haha… „Was muss ich machen? Wie funktioniert die Steuerung? Wie schlage ich den Ball? Welcher Spieler bin ich überhaupt? Aaaaah…“ Dieses Mal brach Ran in schallendes Gelächter aus: „Ahahaaa! Du bist CHAOTIC NEUTRAL! Ganz eindeutig!!“ Er konnte sich die Assoziation mit dem Gamertypen-Meme einfach nicht verkneifen. Dash fiel der Controller fast aus der Hand und er ließ sich gackernd nach hinten auf die Couch fallen und hielt sich den Bauch vor Lachen. Es dauerte noch mehrere Minuten, in denen Dash immer, wenn einer von beiden sich fast beruhigt hatte, noch einmal kichernd das Meme zitierte, bis sich beide von ihrem gemeinsamen Lachflash wieder erholt hatten. „Oh Mann“, schaffte Ran endlich, immer noch mit Lachtränen in den Augen, zu sagen, „Ich wünschte, ich hätte das grade gefilmt. Das wäre ein Clip für YouTube gewesen.“ Dash schaute ihn plötzlich mit großen, leuchtenden Augen an. „Können wir ein Let’s Play zusammen machen?“ Er wippte hibbelig im Sitzen auf der Couch herum, „Können wir? Können wir? Das wär das Coolste!!“ Tatsächlich mochte Ran die Idee. Nicht nur weil er dann mehr Zeit mit Dash verbringen könnte. Seine aufgekratzte Art würde Rans Videos bestimmt zu mehr Beliebtheit verhelfen… „Klar, das wär bestimmt witzig“, stimmte Ran zu und Dash gab ein freudiges Quietschgeräusch von sich. „Willst du dich nochmal am Virtual Boy versuchen? Ist leider kein besonders kommunikatives Gerät, vielleicht ist es auch deshalb so gefloppt…“ Tatsächlich fiel ihm das gerade zum ersten Mal auf. „Nur nochmal kurz“, erklärte Dash, „Aber danach will ich lieber was mit dir zusammen spielen!“   Dash spielte noch ein paar Runden Tennis, danach probierten er und Ran die verschiedensten Multiplayer-Games auf fast allen Konsolen, die in Rans Regal standen, aus, mit dem Ziel, einen Titel für ihr erstes gemeinsames Let’s Play auszuwählen. Dash war bei einem übereifriger, gehypeter und panischer als beim nächsten, kommentierte jedes Level-Design, jedes Item und jede Figur, erschreckte sich viel zu sehr, selbst wenn er schon zum zehnten Mal in das selbe Loch fiel, und ließ sich selbst von Rans engagierten Kooperationsbemühungen nicht davon abhalten, immer wieder episch und mit hohem Unterhaltungswert zu failen. Insgesamt lachten sie sehr viel und bald war fast Rans gesamte Konsolen- und Spielesammlung auf dem Wohnzimmerboden ausgebreitet. Es erinnerte ihn daran, wie er zu Grundschulzeiten hatte Kinder zum Spielen mit nach Hause bringen dürfen. Er hatte schon lange nicht mehr so viel Unordnung und so viel Spaß gehabt.   „Woah, schon nach acht!“, schaute Dash irgendwann auf sein Handy in dem übertriebenen Pikachu-Case mit Ohren, auf das Ran heimlich ein bisschen neidisch war, „Ich hab gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht!“ Ran musste lächeln. Er auch nicht. Es hatte keine einzige peinliche Schweigepause zwischen ihnen gegeben, wie sie ihm bei anderen Menschen viel zu oft vorkamen. „Ich glaub ich schaff’s nicht mehr, mir zu Hause was zu kochen. Können wir Pizza bestellen?“, bettelte Dash und Ran sah keinen Grund, der dagegen sprach. Er hatte fast erwartet, dass das Dashs Aufhänger sein würde, nach Hause aufzubrechen, und freute sich umso mehr, dass er keinen Anlass dazu sah. Offensichtlich hatte Ran ihn mit seiner Art noch nicht zu Tode gelangweilt.    Während sie auf ihre Pizza warteten, versuchte Ran noch einmal etwas unverfänglicher als am Morgen Dash darauf anzusprechen, was denn aus seinem Studium geworden und wie er bei der Post gelandet war. „Wie bist du eigentlich an den Job bei der P~“, wollte er gerade ansetzen, als plötzlich Dashs Handy auf voller Lautstärke den Song Gasolina abzuspielen begann. „Ahahaha“, lachte Dash verlegen, „Das ist Piroska, meine beste Freundin aus der Uni. Lach nicht, ich hab ihr vorhin geschrieben ich hab ein heißes Date! Die ist bestimmt neugierig.“ Ran lief mit einem Mal knallrot an. Dash hatte was? Vielleicht war das für ihn wirklich kein Witz… Rans Herz begann plötzlich viel zu schnell zu klopfen.   „Hey Piranha“, nahm Dash gutgelaunt das Gespräch an. Und im nächsten Moment sah Ran, wie sein Gesichtsausdruck erschrocken ins Gegenteil umschlug, ihm so etwas wie Angst und Traurigkeit ins Gesicht geschrieben standen und er es gerade noch so schaffte, wieder aufzulegen, bevor ihm das Telefon aus der Hand fiel.    „Oh mein Gott, ist alles in Ordnung? Ist etwas passiert? Was ist los, Dash?“ Ran merkte, wie Panik in ihm aufstieg. Dash saß da und starrte ins Leere, seine Hände zitterten ein bisschen. Noch bis gerade eben hätte er sich Dash niemals in so einem Zustand vorstellen können. „Das war Lunis“, sagte er als würde das alles erklären, „Er muss … Piroskas Handy geklaut haben …“ Dash blickte weiter apathisch ins Nichts und Ran fühlte sich immer hilfloser. Er musste irgendetwas tun, aber er verstand nicht, was da gerade vorgefallen war. „Wer … wer ist Lunis? Was hat das zu bedeuten? Bitte sag mir was los ist.“ Seine Stimme wurde immer verzweifelter. Er wusste nicht, wie man Leute tröstete… Insbesondere nicht dann, wenn man noch nicht einmal verstand, was mit ihnen los war. Dann erinnerte er sich an Dashs Umarmung nach seiner Absage in der Post. Er legte vorsichtig seine Arme um ihn. Mit einer kleinen Verzögerung schien Dash das auch wahrzunehmen, wandte sein Gesicht zu ihm hin. Ran sah, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. „Lunis ist mein Ex“, schaffte Dash endlich zu sagen. Sein Ex? Nein, das war jetzt wirklich der falsche Zeitpunkt, um sich Gedanken darüber zu machen, ob das bedeutete, dass er Chancen bei Dash hatte.   „Pikachu“, tönte Dashs Handy und vibrierte gegen den Laminatboden, auf den es gefallen war. Dash hob es auf und schaute auf die Nachricht, die auf dem Display aufleuchtete. Ran konnte sie gerade noch lesen, als Dash das Telefon zurück auf den Tisch legte, bevor der Bildschirm wieder schwarz wurde: ‚Können wir reden?‘   „Ich … kann nicht mit ihm reden“, versuchte Dash sich zu erklären, „Das ist jedes Mal schief gegangen. Ich hab mit ihm Schluss gemacht … vor einem halben Jahr … aber er hat das einfach nicht akzeptiert. Seitdem haben wir … hat er immer wieder versucht, mit mir zu reden, aber es gab jedes Mal Streit. Und…“, er musste schluchzen und konnte einen Moment nicht weiterreden.   „Pikachu“, hörte Ran erneut die unangemessen niedliche Pokémon-Stimme aus dem Handy erklingen. ‚Ich vermiss dich ‘, zeigte das Display. Das war irgendwie süß. Fast hatte Ran ein bisschen Mitleid. Aber irgendetwas Schreckliches musste zwischen den beiden vorgefallen sein, so fertig wie Dash gerade war.   „Ich wünschte, ich würde ihn nicht vermissen“, schüttelte Dash den Kopf und ließ seinen Tränen freien Lauf. Dash tat ihm so schrecklich leid. Aber gleichzeitig war da auch ein anderes Gefühl in Ran, der schmerzende Gedanke, wie viel dieser Mensch Dash immer noch bedeutete. Und beides steigerte nicht gerade seine Sympathie für diesen Lunis. Er wusste nicht, was er tun sollte, außer Dash noch fester an sich zu drücken. Er wollte ihm wenigstens zeigen, dass er ihm zuhören würde, dass er reden konnte. Das war das Mindeste, nachdem Dash so lieb zu ihm gewesen war… „Ich hab ihn so vermisst, nachdem Schluss war … so sehr, dass ich es nicht geschafft habe, ihn rauszuwerfen, als er immer wieder bei mir in der Wohnung aufgetaucht ist. Selbst nachdem ich ihm den Schlüssel abgenommen habe, hat er noch ein paar Mal die Tür aufgebrochen.“ Was, was, was? Handys klauen, Türen aufbrechen… Dashs Ex hatte definitiv eine kriminelle Ader. „Er wollte reden, aber wir haben nur gestritten, meistens so schlimm, dass es handgreiflich wurde. Dann – “   „Pikachu“, wurde er erneut unterbrochen. ‚Ich kann mich ändern. Ruf zurück( TДT)♡‘   Einen ganz kurzen Moment musste Dash über das blöde Emoji lachen, wurde dann aber umso wehmütiger. „Er ändert sich nicht. Es ist immer wieder das selbe passiert. Wir haben gestritten, uns geschlagen und –“, seine Stimme wurde ganz leise, „miteinander geschlafen. Ich bin so ein Idiot…“ Dash vergrub sein Gesicht in Rans Schulter. Wow, das war heftig. Wie in einem schlechten Thriller. Ran war immer noch vollkommen sprachlos. „Hast du ihn … angezeigt?“, fragte er endlich unsicher zurück. Dash schüttelte auf seiner Schulter den Kopf. „Ich … hab’s nicht über’s Herz gebracht.“   ‚Ruf zurück, Schwanzlutscher ||*`Д´*)ノ‘, leuchtete das Handy mit einem weiteren Pikachu-Sound auf.   Dash nahm das Handy in die Hand, starrte einen Moment auf den Bildschirm, als müsste er wirklich mit sich kämpfen, nicht zurückzurufen. Auf die Nachricht?! Wie aus Reflex nahm Ran ihm das Telefon aus der Hand und legte es zurück auf den Couchtisch. „Denk erst gar nicht dran“, sagte er streng und schämte sich direkt im nächsten Moment ein bisschen dafür. Hatte er das Recht, das zu tun? Aber Dash lächelte ihn irgendwie dankbar an mit seinen verheulten Augen.    ‚Denk nicht du kannst mich ersetzen, du Vollspacken (○`ε´○)‘, kam auch schon die nächste Nachricht hinterher. Diesmal ließ Dash das Handy liegen.   „Jedenfalls bin ich dann einfach abgehauen, hab mir eine neue Handynummer geholt, alle Internetaccounts gelöscht… Mein Studium konnte ich eh vergessen wegen ihm.“ Dash war ein Stalkingopfer, schoss es Ran in den Kopf, sein ganzes Postboten-Dasein war sowas wie ein … privates Zeugenschutzprogramm? Es tat so weh, diesen Menschen, der sonst so fröhlich war und so lieb, so am Boden zu sehen. „Was meinst du, ‚wegen ihm‘?“, hakte er nach.   „Pikachu!“, traf die nächste Nachricht ein: ‚NIEMAND LIEBT DICH SO WIE ICH!! ICH BEWEIS ES DIR!!!111‘   Dashs Blick auf den Bildschirm wurde zunehmend panischer, er schüttelte hektisch den Kopf. „Sowas mein ich“, sagte er mit mehr Angst in der Stimme, als Ran ihm das jemals zugetraut hätte. „Er hatte diese wirre Vorstellung…“ Dashs Atmung wurde unregelmäßig, während er seinen Kopf wieder in Rans Schulter versteckte „…dass man seine Liebe immer wieder beweisen muss. Ich hab für ihn Klausuren ausfallen gelassen … oder Lernzeit … bis ich dann dreimal durchgefallen war. Dann ist Schluss mit Studieren.“ Wow. Was für ein Arschloch, wow. Dashs Schluchzen klang so mitleiderregend, dass Ran es fast nicht mehr aushielt, dass es nichts gab, was er tun konnte, dass ihm noch nicht einmal tröstende Worte einfielen. Unsicher streichelte er ihm durch die Haare. Dash hob den Kopf ein bisschen an, um Ran mit verheulten Augen ins Gesicht zu schauen. „Kannst du dir vorstellen, wie das ist, zu wissen, dass dich jemand liebt, aber dass seine Liebe dich kaputt macht?“ Es tat Ran so leid, dass er dem gar nichts zu entgegnen wusste.   „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie das ist, von jemandem geliebt zu werden“, gab er zu. Dash schaute ihn mit großen Augen an. „Du hattest noch nie eine Beziehung?“ Ran schüttelte verlegen den Kopf. Was für ein peinliches Thema. Aber wenn es helfen würde, Dash abzulenken und wieder auf den Boden zu holen, würde er in den sauren Apfel beißen und ein bisschen über sich erzählen. „Also … ich war bis vor ungefähr einem Jahr bei einer Datingsite angemeldet“, stotterte er vor sich hin, „aber scheinbar bedeutet Date für die meisten Typen da einfach nur einmal Spaß haben und auf nimmer Wiedersehen… Die Chemie hat aber auch eh nie so richtig gestimmt.“ Wenn er so darüber nachdachte, hatte die Chemie noch nie mit jemandem so richtig gestimmt … bisher jedenfalls … „Zumindest sterb ich nicht als verbitterte alte Jungfrau“, versuchte er zu scherzen. Also, verbittert schon… Das war ihm alles so unangenehm. Alles. Dass er so unerfahren war. So unfähig. Und überhaupt, er hatte sich noch nie so richtig vor irgendwem geoutet (seine Schwester war irgendwie von selbst drauf gekommen). Wieso war ihm das denn selbst vor Dash, der ihm gerade von seinem Ex-Freund erzählt hatte, so peinlich? Er traute sich gar nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Immerhin war er mal nicht mehr am Schniefen. Da hörte Ran die Klingel. „Oh, die Pizza“, nutzte er schnell die Gelegenheit zur Flucht.   Als er mit den zwei Pizzakartons zurückkam, schien sich Dash ein bisschen erholt zu haben und … lächelte ihn an. Warum lächelte Dash ihn denn so süß an? Er stellte die Pizza ab und setzte sich zurück auf die Couch. Dash lächelte ihn immer noch an. Ihm wurde plötzlich ganz heiß… „Ran, darf ich – dich auf ein Date einladen? Ich meine ein richtiges Da~“ „JA!“, antwortete Ran viel zu  schnell, viel zu enthusiastisch, mit viel zu breitem Lächeln im Gesicht und viel zu freudigem Kopfnicken. Oh Gott, was war denn los mit ihm? „I-i-ich meine: Klar, warum nicht, das wäre … cool.“ Dash musste lachen. „Mir hat die erste Antwort gefallen“, gab er zu. „Geht’s dir denn wieder ein bisschen besser?“, fragte Ran halb glücklich, halb besorgt und streichelte ihm noch einmal unbeholfen durch die Haare. Dash senkte den Blick „Ich hab ein bisschen Angst … dass er versucht, mich zu finden. Ich meine … eigentlich kann er das nicht. Ich bin echt weit weg gezogen, ich hab alle Infos im Netz gelöscht … noch nicht einmal Piroska und Nevis haben meine neue Adresse“, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Ran öffnete die Pizzakartons und schob Dash seinen auffordernd hin. Essen beruhigte. Jedenfalls war das bei ihm so. „Nevis ist auch ein Freund aus der Uni?“, versuchte er das Gespräch in eine etwas unverfänglichere Richtung zu lenken. So aufgewühlt konnte er Dash nicht nach Hause lassen. „Freund Schrägstrich Freundin“, erklärte Dash. „Hast du grade den Schrägstrich mitgesprochen? Was denn jetzt?“ Ran war verwirrt. „Oh, Nevis ist non-binary, wenn du mit dem Begriff was anfangen kannst…“ Ran nickte. Zumindest gelesen hatte er ihn irgendwo schonmal. „Und … Lunis' Zwillingsschwester Schrägstrich -bruder. Aber die beiden reden nicht miteinander.“ Toll, genau das richtige ‚unverfängliche Thema‘ ausgesucht… „Lunis ist auch non-binary. Aber das wurd mir irgendwann zu anstrengend mit den Schrägstrichen. Er war halt manchmal mein Freund und manchmal meine Freundin“, lachte Dash. „Jetzt ist er manchmal mein wahnsinniger Ex-Freund und manchmal meine unzurechnungsfähige Ex-Freundin“, fügte er gequält hinzu und biss in ein Stück Pizza. „Er wird dich nicht finden“, versuchte Ran ihm Mut zuzusprechen. „Dafür … sorge ich schon. Ich pass auf dich auf.“ Es kostete ihn Überwindung, das zu sagen. Aber er nahm es sich in diesem Moment fest vor. Weil jemand wie Dash es nicht verdient hatte, so zu leiden. Und vielleicht auch aus nicht ganz so selbstlosen Gründen… Oh nein, Dash lächelte ihn ja schon wieder so süß an. So … gerührt? Wenn er ihm weiter so in die Augen schaute, würde Rans Herz noch stehenbleiben. Auch wenn er dabei wie ein Idiot auf seinem Pizzastück rumkaute. Sogar das war irgendwie süß…   Plötzlich begann das Handy auf dem Tisch wieder Gasolina abzuspielen. Dash beäugte es kritisch von der Seite, während er weiter seine Pizza aß. Er stopfte das Stück komplett in seinen Mund, nur um wild mit den Händen zu seinem Handy hin und von ihm weg zu gestikulieren, während Daddy Yankee im Hintergrund seinen Latino-Rap performte. „WIESO DENKST DU, ICH WÜRDE JETZT DRANGEHEN, LUNIS????!!“, schrie er verzweifelt das Handy an, als er seine Pizza endlich heruntergeschluckt und das Handy schon gut den halben Song abgespielt hatte, bevor es endlich wieder still wurde. Dash atmete einmal tief ein und wieder aus, schaute Ran noch einmal ratlos an und nahm sich das nächste Stück Pizza.   „Pikachu“, ertönte nun wieder der SMS-Ton von Dashs Handy. ‚Hi Rainbow Dash, rate, welche kleine Ratte mein Handy gestohlen hatte‘, war auf dem Display zu lesen. Dash prustete Luft durch die Nase aus. „Das ist immer noch Lunis“, schüttelte er den Kopf mit einer seltsamen Mischung aus Amüsiertheit und Verzweiflung im Gesicht, „…der versucht, sich als Piroska auszugeben.“ Was für eine geniale Strategieänderung. Dash und Ran aßen weiter ihre Pizza und schauten stumm zu, wie eine Textnachricht nach der nächsten einging.   ‚Im Fitnessstudio meinen Spint aufgebrochen! Aber mir entgeht nichts, haha!‘   ‚Willst du hören, wie ich die Sau verdroschen hab? Ruf an!‘   ‚Er hat richtig rumgeheult!‘   ‚Vielleicht auch weil er dich vermisst‘   ‚Ruf mich an, ich muss dir alles erzählen‘   ‚Oder bist du noch auf deinem bescheuerten Date?‘   ‚Lunis war echt fertig deswegen‘   ‚Ich hätt ja fast Mitleid gekriegt‘   ‚Jetzt heulst du bestimmt vor schlechtem Gewissen!‘   ‚GESCHIEHT DIR RECHT, STECKDOSENBEFRUCHTER!!‘   ‚ICH HASSE DICH!!!‘   ‚ヾ(▼皿▼メ)┌θ☆(ノ □ )ノ ゚ ゚‘   ‚ヽ( ≧ д ≦ )ノm(_ _)m‘   ‚(*´・人・*)Sorry。。‘   ,ich vermiss dich, ruf mich an’   ‚ICH VERMISS DICH DU OPFERSPASST‘   Dash hatte seine Pizza aufgegessen und noch eine Weile mit einem Gesichtsausdruck, der nach und nach alles an Emotion verloren hatte und einfach nur noch tierisch müde aussah, auf das Handy gestarrt. Dann nahm er es wortlos in die Hand, nahm das Pikachu-Case ab, öffnete es, holte die SIM-Karte raus und drückte sie Ran in die Hand: „Damit ich keine Dummheiten mache. Ich muss dringend schlafen.“ Er steckte die nicht wieder zusammengesetzten Teile des Handys in eine Tasche seiner Lederjacke, die über der Couch lag, und zog sie über, um sich auf den Weg zur Tür zu machen. „Tut mir leid, dass du das mitbekommen musstest“, sagte er mit gesenktem Kopf zu Ran, der mit ihm aufgestanden war, „Ich hatte gehofft, dass das mir und anderen in Zukunft erspart bleibt.“ Ran gab ihm ein mitfühlendes Lächeln. „Es war sehr … aufschlussreich?“, versuchte er irgendetwas Positives zu sagen. Er konnte Dash doch nicht so gehen lassen. „Denk nicht mehr dran, okay?“ Als ob… Er wollte ihn irgendwie aufheitern, so wie Dash die letzten Tage ihn selbst aufgeheitert hatte… „Denk an was Schönes … an … unser Date?“, lächelte er ihn scheu an. Plötzlich spürte er Dashs Arme um sich und wie er ihn an sich drückte und ohne dass er sein Gesicht sehen konnte, hörte er an seiner Stimme, dass sein Lächeln wieder da war. „Ich denk mir was ganz Besonderes aus für unser Date. Halt dir das Wochenende frei, okay?“ Ran schlang seine eigenen Arme um Dashs Taille und hielt ihn noch ein bisschen so fest. Einen Moment lang wollte er nur ganz egoistisch genießen, wie schön es sich anfühlte, dass er es geschafft hatte, ihn zum Lächeln zu bringen. Dass der Gedanke an ihre Verabredung ihn aus seiner Traurigkeit geholt hatte. Bedeutete das Dash wirklich so viel? „Mach ich. Ich freu mich drauf“, sagte er leise, aber voller Vorfreude, „Und auf unser Let’s Play natürlich auch. Und morgen Früh sehen wir uns auch schon wieder…“, seine Stimme wurde etwas lauter und fröhlicher und aufgeregter und er merkte, dass auch Dashs sonnige Aura langsam zurückkehrte. Auf einmal waren da Dashs Hände auf seinen Wangen und seine blauen Augen ganz nahe vor seinen eigenen und sein Atem auf seinen Lippen. Dann schloss er die Augen und gab sich ganz dem kleinen Moment hin, in dem ihre Lippen sich berührten, ganz kurz nur, aber so … liebevoll, wie ihn noch nie jemand geküsst hatte, und es war das Schönste, was er je gefühlt hatte, und er wusste instinktiv, dass alles gut werden würde. „Wir passen jetzt aufeinander auf“, sagte Dash mit einem Lächeln, als wäre es die einzige logische Schlussfolgerung aus allem, was an diesem Abend passiert war, bevor er sich auf den Weg das Treppenhaus hinunter machte.   Kapitel 6: YOLO --------------- /donnerstag/vormittag_   Ran hatte die Nacht kaum geschlafen. Teilweise vor Herzklopfen, vor freudiger Aufregung auf sein Date mit Dash, auf alles, was da noch kommen würde… Aber teilweise auch vor Sorge. Sorge darüber, wie sehr die Situation mit seinem Ex Dash belastete. Sorge darüber, dass er nicht einschätzen konnte, wie durchgeknallt, wie gefährlich dieser Lunis wirklich war, ob er wirklich versuchen würde, Dash zu finden. Und Sorge darüber, dass Dash noch nicht richtig über die Beziehung hinweg war, dass es schrecklich dumm von ihm war, sich Hoffnungen zu machen, dass aus Dash und ihm etwas werden könnte, wo er offensichtlich Lunis noch so sehr vermisste. Und überhaupt, sie kannten sich erst seit ein paar Tagen, er musste aufhören, sich wie eine idiotische Disneyprinzessin, die einen verzauberten Nachmittag lang mit ihrem Traumprinzen Videospiele gespielt hatte, eine rosige Zukunft mit ihm auszumalen.   Selbst jetzt, am Morgen, war Ran trotz seiner Kundendienst-Telefonate, die ihn immer wieder ein bisschen herausrissen, noch so in seine Gedanken versunken, dass er Dashs Klingeln gar nicht direkt bemerkte. Hatte er etwa nur einmal geklingelt, wie ein ganz normaler Mensch? Die Panikmühle in seinem Kopf begann sich schon wieder zu drehen, malte sich die schlimmsten Szenarien über Dashs Zustand aus, bis ihm klar wurde, dass er einfach nur den Hörer von der Sprechanlage abheben musste, um sich zu vergewissern.  „Hey“, fragte er vorsichtig hinein. Ein fröhliches „Guten Morgen, Süßer“ schmetterte ihm entgegen. ‚Süßer‘, im Ernst? Das war ja fast so schlimm wie ‚Schätzchen.‘ Trotzdem begann sein Herz aufgeregt zu klopfen, während er darauf wartete, dass Dash die Treppen hinauf kam. Zumindest hatte er kein bisschen traurig geklungen, das war mehr als Ran gehofft hatte…   „Hi, alles in Ordnung?“, fragte Ran unsicher, trotz allem immer noch nicht ganz überzeugt, als Dash endlich vor ihm stand. „Selbstverständlich“, grinste dieser ihn an, „Ich hab ein Date mit diesem heißen YouTuber klargemacht, für den ich schon lange heimlich schwärme. Wie könnte es mir da nicht gut gehen?“ Rans Gesicht wurde mit einem Mal roter als jede Tomate. Warum musste Dash die ganze Zeit solche Scheiße labern…? „Machst du dich gerade lustig über mich?“, wandte er schnell den Blick ab. Heißer YouTuber. Und Dash war ein seriöser Geschäftsmann, genau… „Was?“, fragte Dash erschrocken und im nächsten Moment spürte Ran auch schon wieder die warme Berührung seiner Hand in seinem Gesicht, die ihn aufforderte, Dash in die Augen zu schauen. „Nein, im Ernst“, lächelte er ihn an, „Du hast voll das hübsche Gesicht, hat dir das noch nie jemand gesagt? Und ich steh total auf deine nerdige Art.“ Oh Gott, war er hier in einer Hollywood-Liebesschnulze oder was? Wenn Dash mit nerdig von neuen Situationen überfordert und emotional unbeholfen meinte, musste ihn Ran gerade jedenfalls ziemlich anmachen. Das war so peinlich … Und so schön … Nein, er hatte sich doch ausdrücklich gesagt, dass er keine Schmetterlinge im Bauch und albernen Schulmädchen-Fantasien haben würde. „Und du machst dir Sorgen um mich“, fügte Dash noch mit einem viel sanfteren Tonfall hinzu, „Das ist ein schönes Gefühl.“   Ran traute sich endlich, ihm richtig ins Gesicht zu schauen und sah Augenringe, die ihn erahnen ließen, dass Dash diese Nacht noch weniger geschlafen hatte als er selbst. Wie er es wohl schaffte, trotz allem diese sonnige Ausstrahlung zu bewahren? Er wusste immer noch nicht so ganz, was er sagen sollte, aber er wollte Dash irgendwie Halt geben, und wenn schon nicht mit Worten, dann eben indem er ihn in die Arme nahm und ihm erlaubte, einen Augenblick seinen Kopf auf Rans Schulter ruhen zu lassen. „Wenn du willst, kannst du heute nach der Arbeit wieder vorbeikommen“, brach Ran schließlich sein eigenes Schweigen. Das würde ihm bestimmt helfen, auf andere Gedanken zu kommen. Und Ran hätte auch nichts dagegen… „Abgemacht“, richtete Dash sich wieder auf und strahlte auf einmal wieder radioaktiver denn je. „Dann hab ich hier noch was für dich“, überreichte er Ran das Päckchen, das er schon die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. „Play.kukui – Ist das eine Spielefirma? Hoffentlich keine Absage“, sagte Dash teilnahmsvoll. „Nein“, entgegnete Ran. Er wusste genau, was in dem Päckchen war und fing bei dem Gedanken daran ein bisschen so wie Dash zu strahlen an. „Das ist die Hardware für ein Spiel, das ich bei Indiegogo gekickstartet habe –“ „Pfffff, bei Indiegogo gekickstartet“, fiel ihm Dash prustend ins Wort, „Das ist so wie bei YouTube gegoogelt.“ Ran musste mit ihm lachen. Das tat gut. Trotzdem pulte er ungeduldig das Klebeband von dem Päckchen ab und öffnete es. „Siehst du, ein Bausatz für eine AR-Brille, in die du dein Smartphone reinsteckst, und dazu ein Controller, der sich im Spiel in verschiedene Waffen verwandelt, und du kannst damit gegen einfach alles kämpfen. Das Spiel heißt RunAgainst. Du kämpfst in der echten Welt gegen Monster, Ninjas, Riesenroboter, Katzen –“ „RunAgainst?! Echt jetzt?“, unterbrach ihn Dash schon wieder mit seinem Lachen, „Das wird dein nächstes Let’s Play! Ich meine dein nächstes Let’sRun! Wenn nicht das, was dann?!“ Die Überlegung war echt nicht schlecht… „Aber … Mh, ich weiß nicht, ich hab noch nie ein Let’s Play von einem Augmented-Reality-Spiel gemacht. Wie mach ich das mit dem Filmen…?“ „Ich filme dich!“, kam es von Dash wie aus der Pistole geschossen, „Dann schneiden wir Screencasts und Aufnahmen von dir beim Spielen zusammen, packen ein paar dumme Memes und Special Effects dazwischen, und BAM, das wird der Kracher!“ „Memes?“, versuchte Ran kritisch nachzuhaken, war aber von der Idee im Ganzen doch zu begeistert, um dem wirklich Nachdruck zu verleihen. „Let’sRun ist ein seriöser Kanal“, schob er noch ironisch hinterher. „NICHT MEHR!!!“, lachte Dash ihm ins Gesicht, „Selbst schuld, dass du mich ins Boot geholt hast!! Ab jetzt heißt es Let’sRunTogether!!“ Oh Mann, das war zu süß und zu lustig gleichzeitig… Rans Kichern musste ziemlich banane klingen… „Dann ist das unser Plan für heute Nachmittag?“, tippelte Dash freudig auf der Stelle. Warum musste er ihn denn immer so überfallen? Aber gerade konnte Ran ihm auch nichts abschlagen. „Einverstanden.“    Dieses Mal schaffte Ran es, Dash daran zu erinnern, noch seine Unterschrift einzusammeln, bevor er beschwingt die Treppe hinunterhüpfte und ihm vom nächsten Absatz noch ein Luftküsschen zuwarf, das Ran trotz aller guten Vorsätze geistesabwesend erwiderte. Kapitel 7: now kiss! -------------------- /donnerstag/nachmittag_   „Ist das dein Auto?“, zeigte Ran amüsiert auf das zitronengelbe Cabrio, das er sonst noch nie auf dem Parkplatz im Innenhof seines Wohnblocks gesehen hatte. Von der sonnigen Farbe bis hin zu dem Versuch, cool zu sein, aber mit seinen runden Scheinwerfer-Augen einfach nur niedlich auszusehen, schrie alles an dem Auto nach Dash. „War das so offensichtlich?“, lachte dieser ertappt, „Ford Thunderbird. Ziemlich cool, oder?“ Er sah ziemlich stolz aus. „Auf den hab ich lange gespart. Ich hab ziemlich viel gejobbt neben dem Studium. Zumindest bis Lunis das nicht mehr wollte…“ Ran zog eine Augenbraue hoch. „Naja, Lunis hat reiche Eltern und er wollte, dass ich mehr Zeit für ihn habe… Ich fand’s süß damals…“ Ran zog die Augenbraue noch weiter hoch, während die beiden ins Auto einstiegen. „…Zumindest bis es nicht mehr so gut lief und ich keine Ahnung hatte, wie ich meine Miete noch bezahlen soll, wenn ich ihn rausschmeiße…“ Er senkte den Kopf. Scheinbar hatte er sich mittlerweile mehr Gedanken darüber gemacht, was in der Beziehung alles schief gelaufen war. „Aber zum Glück brauchte ein Kommilitone dann Verstärkung für seine Licht-Shows. Das war ziemlich cool, wir waren jedes Wochenende auf Partys und bei Konzerten und Events. Das hätte ich gerne weiter gemacht. Aber irgendwann hat Lunis das natürlich rausgefunden und ist auf sämtlichen Partys aufgetaucht, bei denen wir die Technik gemacht haben…“   Er startete den Motor und gleichzeitig spielte mit viel zu hoher Lautstärke, die Ran kurz zusammenzucken ließ, die Musik los. „Marilyn Manson, im Ernst?“, starrte Ran ihn ungläubig an, „Das ist so das letzte, was ich von deinem Musikgeschmack erwartet hätte.“ Dash drehte schnell etwas leiser. „Haha“, lachte er verlegen, „Das ist noch eine von Lunis’ CDs… Manchmal brauch ich das zum Verarbeiten.“ Oh. Das war unerwartet. Ran wusste nicht, was er erwidern sollte. Scheinbar war Dash noch viel weniger über seinen Ex hinweg, als er sich ausgemalt hatte. Stattdessen schaute er nach unten und lauschte der Musik. Tainted Love. Okay, vielleicht machte es Sinn, dass Dash den Song zum Verarbeiten hörte. Langsam hob er seinen Blick wieder und bemerkte, dass es die erste unangenehme Stille zwischen ihm und Dash war. Er schaute betroffen aus dem Fenster.   „Ich mach lieber was anderes an“, brach Dash nach einer Weile das Schweigen, „Kannst du meinen iPod anschalten?“ „Klar“, versuchte Ran mit einem Lächeln zu sagen, fühlte sich aber irgendwie immer noch unwohl. Der iPod war mit dem Radio, das Dash offensichtlich nachträglich ausgetauscht hatte, verbunden. Ran schaltete ihn an und drückte auf Play – nur um in erneut viel zu hoher Lautstärke von PEN PINEAPPLE APPLE PEN beschallt zu werden. „NEIIIIIIIIIIIIIIIIN“, schrie er verzweifelt auf und erlitt gleichzeitig einen Lachflash, von dem er selbst nicht geglaubt hätte, dass er in diesem Moment zu ihm fähig wäre. „Okay, das ist exakt was ich von deinem Musikgeschmack erwartet hatte“, lachte er, „Und ich glaube ich wünsche mir Manson zurück.“ Dash musste mitlachen. „Hey, das ist catchy“, versuchte Dash sich zu verteidigen, „Und es hat die Stimmung wieder gehoben“, sagte er mit einem Lächeln. Das … stimmte. „Du darfst aber ein bisschen leiser drehen“, grinste Dash ihm zu, begann aber gleichzeitig mitzusingen… oder zu sprechen… wie auch immer man das bei diesem schrecklichen Lied nennen mochte. „Kann man dich leiser drehen?“, rutschte es Ran heraus. Oh nein, das hatte er nicht laut sagen wollen. Aber anstatt beleidigt zu sein, wie er befürchtet hatte, musste Dash noch mehr lachen. „Hey, du kannst ja richtig frech sein. Das gefällt mir“, grinste er ihn an. „Wow, das beruhigt mich“, lachte Ran verlegen und wunderte sich über seine eigene Ehrlichkeit, „Dann bekommst du das jetzt öfter ab.“ Es war ein gutes Gefühl, zu wissen, dass er sich bei Dash nicht mit seinem Zynismus zurückhalten musste. Das konnte er sonst nur bei seiner Schwester. „In welchen Park fahren wir eigentlich?“ Dash hatte nur gesagt, dass sie zum Videodreh in einen Park fahren würden, aber Ran war sich gar nicht so sicher, wo es gerade hin ging. „Wir sind gleich da“, freute sich Dash. Ran fiel auf, wie wenig er sich in der Stadt auskannte, obwohl er schon seit Beginn seines Studiums hier wohnte. Dass er immer nur die selben Wege – zur Uni, zum Supermarkt und in die Innenstadt – gegangen oder mit dem Rad oder Bus gefahren war. Dash wohnte erst seit zwei Monaten hier und kannte einen Park, in dem er vermutlich noch nie gewesen war. Seine Schwester hatte wohl Recht, wenn sie ihn einen Stubenhocker nannte. Aber was sollte er auch alleine im Park? Joggen vielleicht… Dann würde er sich bei dem Gedanken, dass das mit Dash und ihm vielleicht doch noch was werden würde, nicht so für seinen Speckbauch schämen…   „Kann losgehen!“, rief Dash ihm mit einigen Metern Abstand und zum Filmen hochgehaltener Kamera zu, nachdem sie sich im Park, in dem sich mitten in der Woche kaum jemand außer ihnen rumtrieb, ein hübsches Stück Wiese für die Aufnahmen gesucht hatten. Es war so schön sonnig. Ran hatte sich die letzten Wochen so in seiner Wohnung verschanzt, dass er kaum gemerkt hatte, wie das Wetter wieder wärmer, der Himmel blauer und die Bäume grüner geworden waren. Er atmete einmal tief ein, bevor er sich bereit machte, mit dem Video zu– „Moment!“, hörte er da Dash rufen und mit breitem Lächeln wie ein menschlicher Golden Retriever auf ihn zuhüpfen, „An deiner Mütze fehlt noch was!“ Die graue Visor-Cap trug Ran immer in seinen YouTube-Videos. Er hatte irgendetwas mit Wiedererkennungswert gesucht und die Mütze war das beste, was er in seinem Kleiderschrank gefunden hatte. Eine graue Cap. Er war echt lame. Dash machte einen der vielen Anstecker von seiner Jacke ab. „Die hat mich immer an eine Pokémon-Trainer-Mütze erinnert, also kommt der hier dran!“ Er steckte Ran einen Pokéball-Button an die Cap. Ran lächelte ihn beschämt an. Er konnte ihm doch nicht einfach so die ganze Zeit Sachen schenken. „Jetzt wirst du der allerbeste sein“, begann Dash plötzlich den Pokémon-Titelsong zu singen, während er rückwärts wieder zu seinem Platz zum Filmen tänzelte und dabei abwechselnd mit beiden Zeigefingern auf Ran deutete, „Wie keiner vor dir war! Ganz allein fängst du sie dir, du kennst ja die Ge~“ – Und Dash war rückwärts über einen Ast gestolpert, der da im Weg lag. Zum Glück mit einem „Kamera ist noch ganz!“, das Ran darauf schließen ließ, dass auch Dash noch ganz war, und ihm erlaubte, ruhigen Gewissens über die Slapstickhaftigkeit der Situation loszuprusten. „Geschieht dir recht, Vollspacken!“, konnte Ran sich nicht verkneifen, woraufhin Dash ein gespielt-beleidigtes Gesicht aufsetzte. „Ich wollte dir doch nur für dein Video Mut machen“, beteuerte er. Wieso war er bloß so … süß? Ran atmete noch einmal kräftig durch, in der Hoffnung, dass dann die Hitze wieder aus seinem Gesicht verschwindern würde. Dieses Mal ohne Unterbrechung. „Okay, ich bin bereit!“, rief er Dash, der sich wieder in Position gestellt hatte, zu.   „Hi, ich bin Ran, ihr schaut Let’s~“ „UND ICH BIN DASH!“, sah er Dash die Kamera zu sich umdrehen und spastisch hineinwinken, bevor er sie wieder zu Ran zurückdrehte. Okay… „Ihr schaut Let’s Run~“ „Heute mit einer ‚Let’s Run Around Outside‘-Sonderausgabe“, lachte Dash fröhlich in die Kamera und begann dabei, mit ihr um Ran, der nur halb irritiert, halb belustigt den Kopf schüttelte, herum zu rennen bevor er sie Ran viel zu nahe vors Gesicht hielt und dazu versuchte ein Zoom-Geräusch zu imitieren. Nicht aus der Fassung bringen lassen. „Heute stelle ich~“ „Wir!“, fiel ihm Dash erneut ins Wort, „Heute stellen wir euch das Augmented-Reality-Spiel RunAgainst vom Indie-Entwickler play.kukui aus Hawaii vor. Es kommt mit dieser stylischen AR-Brille“ – Ran setzte die Papp-Konstruktion, in die er sein Smartphone gesteckt hatte, auf, „Und diesem universell einsetzbaren Controller, der im Spiel als alles vom Holzschwert über die Lasergun bis hin zur Katzenschleuder dient.“ Während er das Spiel mit laufender Bildschirmaufzeichnung startete, nahm Dash mit der Kamera wieder etwas mehr Abstand. „Hier seht ihr das Startmenü. Es gibt die Optionen ‚Choose your Weapon‘ und ‚Choose your Enemy‘. Mal schauen…“ Er blätterte mit Hilfe des Controllers durch das Menü. „Bei den Waffen haben wir Klassiker wie verschiedene Klingen- und Schusswaffen, eine Ninja- und Sci-Fi-Abteilung … Tomaten … Flammenwerfer … Nerf-Guns, LOL … Geisterfallen, interessant … jede Menge andere Kuriositäten … und natürlich die viel beworbene Katzenschleuder. Als Gegner stehen uns gegenüber: Piraten, Soldaten, Aliens, Zombies … ‚marschierende Pilze‘, nice … Einhörner, haha … Roboter … Dinosaurier … Shiba Inus – ich ahne, wo das hinführt. Könnte blutig werden. Fangen wir doch mal mit einem Klassiker an. Piraten gegen Ninjas. Ich nehme mir als Waffe die Shuriken und als Gegner wähle ich die Piraten aus. Los geht’s!“   Ran probierte eine verrückte Kombination nach der nächsten aus  – Aliens gegen Laserschwerter, Roboter gegen Nerf-Guns, Einhörner gegen Geisterfallen, Shiba Inus gegen Tomaten… – und ließ sich von Dashs aufgedrehten Einwürfen dazu hinreißen, selbst immer engagierter und energiegeladener mit Sprüngen und manchmal auch mit Schreien der Panik oder des Triumphs seine Waffen zu schwingen, abzuschießen und zu werfen, den Gegnern auszuweichen oder sie in die Irre zu führen, während Dash das ganze mit albernen Soundeffekten noch zusätzlich untermalte. „Woah“, schnaufte Ran nach etlichen Runden, völlig außer Puste, und zog für einen Moment die Augmented-Reality-Brille ab, während Dash mit der Kamera wieder näher kam. Ein bisschen schämte Ran sich, wie verschwitzt sein Gesicht jetzt wohl auf den Aufnahmen aussehen musste… „Ihr habt’s vielleicht gemerkt, das Spiel macht definitiv Spaß und ist eine lohnenswerte Anschaffung. Besonders für alle, die solche Stubenhocker sind wie ich und eine Motivation brauchen, mal raus ins Grüne zu gehen. Was ich noch cool fände, liebe Entwickler, wäre ein Multiplayer-Modus, bei dem man im Team oder gegeneinander antreten kann~“ „TEAM DOGE!!!“, unterbrach ihn Dash, „~zum Beispiel auch als Shiba Inu“, kommentierte Ran den Einwurf mit einem Augenrollen. „Zum Abschluss darf natürlich eine epische Endschlacht nicht fehlen“, gab er Dash das Stichwort, zusammen „DINOSAUR LASER FIGHT!!!“ zu schreien, wie sie es schon vorab beschlossen hatten – und ungeplanter Weise in einen Lachanfall darüber auszubrechen, wie perfekt synchron sie es gerufen hatten. „Let’s rock!“, setzte Ran die Brille wieder auf und wählte die Dinosaurier und die Laser Gun aus dem Menü aus.    „Ich sehe in der Ferne den ersten Dino auf mich zukommen. Bewegt sich recht langsam, ich wage mich mal ein bisschen ran“, kommentierte Ran seine Aktionen (ein „Haha, ‚ran‘!“ ertönte aus dem Hintergrund). „Mal schauen, was die Laser Gun drauf hat, vielleicht erwisch ich ihn schon von hier“, gab er seinen ersten Schuss ab – der Monumentalität halber beidhändig und mit nach hinten gelehntem Oberkörper. Er erwischte den Dinosaurier und dieser zerplatzte in einer Rauchwolken-Animation. „Der hat gesessen. Aber ich bin mir sicher, es wird noch~“ Plötzlich rannte eine ganze Herde Raptoren auf Ran zu. „Oh. Mein. Gott“, begann er rückwärts zu laufen und dabei hektisch einen Schuss nach dem anderen abzugeben. Ein Dino nach dem anderen zerplatzte in einer Staubwolke, bis er nur noch einen direkt vor sich hatte, sein aufgerissenes Maul bereit, zuzuschnappen und – „Piu piu piu piuuuu“, ertönte Dashs Laser-Sound-Imitation aus dem Hintergrund und brachte Ran zum Lachen, während es ihm in letzter Sekunde gelang, die Bedrohung abzuwehren. „Das hätte so episch sein können“, sagte er halb vorwurfsvoll, halb amüsiert. „Und da höre ich schon die donnernden Schritte der nächsten Gefahr! Es ist der T-Rex!! Noch hat er ein gemächliches Tempo, aber~“ „ICH STARTE DEN MULTIPLAYER-MODUS!!“, hörte er plötzlich Dash schreien und in sein Blickfeld springen, „Du spielst jetzt gegen Dash-O-Saurus!“ Was zur Hölle hatte der Chaot jetzt schon wieder vor? Ran sah, wie er die Kamera wegsteckte und wie ein T-Rex die Unterarme nach vorne streckte, während er sich – schneller als der T-Rex im Spiel – auf ihn zubewegte. „Bring dich lieber in Sicherheit, Spaceboy Ran, Dash-O-Saurus ist wild und hungrig – und trägt eine schusssichere Weste!!“ Wie um das zu überprüfen gab Ran ein paar virtuelle Laser-Schüsse ab – die Dash selbstverständlich nichts anhaben konnten. Wild und hungrig? Rans Gedanken drifteten plötzlich in eine ganz andere Richtung ab. Vielleicht wollte er sich einfach von Dash-O-Saurus – von Dash überfallen lassen. Nein, nein, nein, was dachte er denn da? Sie waren hier immer noch dabei, ein Let’s Play zu drehen. Zugegebenermaßen ein Let’s Play, das nun schon an einigen Stellen von seinen Let’s-Run-Qualitätskriterien abgewichen war… „Das ist unfair!“, versuchte er verzweifelt seinen Gegenspieler irgendwie aufzuhalten, der nur mit grenzdebilem Dino-Gebrüll reagierte. Was hatte Dash denn vor? Er kam mit viel zu viel Schwung auf ihn zugestürmt und – „Dash, NEIN!!!“ – riss Ran mit sich zu Boden. Er landete – dank des weichen Bodens erstaunlich sanft – auf seinem Hintern, Dash direkt über sich. „Das hätte ganz schön schiefgehen können, du~“, suchte er noch nach einer angemessenen Beschimpfung, als er Dashs Lippen auf seinen spürte. Dash zog ihm die AR-Brille von den Augen und begann sanft seine Lippen zu liebkosen. Sein Herz machte einen kleinen Aussetzer und ein wohliger Schauer lief durch Rans ganzen Körper. Was machte Dash denn da? Sie waren mitten in ihrem Videodreh. Sie waren mitten in einem öffentlichen Park. Er hatte sich vorgenommen, das mit Dash nicht zu überstürzen. Er löste sich von Dashs Lippen, nahm ein bisschen Abstand indem er den Hinterkopf ins Gras legte, schaute direkt in sein wundervolles Lächeln. Und konnte nicht anders, als ihn mit beiden Händen wieder an sich zu ziehen, nach seinen Lippen zu langen und den Kuss begierig fortzusetzen. Er tastete mit seinen Lippen über die des anderen, ihre Zungen trafen sich, spielten miteinander, sie küssten sich immer leidenschaftlicher, immer intensiver, bis es schließlich Dash war, der den Kuss unterbrach, den heftig atmenden Ran zufrieden angrinste. „Gar nicht so scheu, wie du immer tust, kleiner Nerd“, flüsterte er amüsiert in Rans Ohr, „Gehst ja ganz schön ran.“ Ran spürte Dashs Atem an seinem Ohr, an seinem Hals und eine Gänsehaut breitete sich von der Stelle aus. So überwältigend, dass er es noch nicht einmal schaffte, sich über den blöden Wortwitz aufzuregen. „Komm, wir gehen nach Hause“, setzte sich Dash mit unangemessen unschuldigem Lächeln auf und hielt Ran eine Hand hin, um ihm hoch zu helfen, „Wir haben ein Video zu schneiden. Ich pack ein Störbild ans Ende, wenn ich dich umreiße. Das wird lustig. Könnte ein Meme werden…“ Gerade war Ran nach ganz anderen Dingen als Videos schneiden zumute. Kapitel 8: dat ass ------------------ „Du hast Gras in den Haaren“, lachte Dash und zog einen Grashalm von Rans Kopf, als sie nach einer kurzen Autofahrt, bei der Dash noch einmal in aller Ausführlichkeit dargelegt hatte, welche Memes und Filter und Special Effects er in dem Let’s-Play-Video verwenden wollte und warum es das beste Video der Welt werden würde, wieder in Rans Wohnung angekommen waren. „Ich bin auch verschwitzt und hab vermutlich Erde an den Klamotten“, fügte Ran trocken hinzu. Er wusste doch, warum er nicht gerne raus ging. „Awww, müssen wir dich baden, kleiner Ran?“, kniff Dash ihm in die Wange, worauf Ran nur skeptisch die Augenbraue hochzog. „Ein bisschen Frischmachen wär jetzt nicht verkehrt. Willst du schon die Daten auf den Laptop laden, während ich schnell dusche?“ Dash grinste ihn herausfordernd an. „Ich könnte mich auch ein bisschen frischmachen“, zog er noch einen weiteren Grashalm aus Rans Haaren und ließ ihn demonstrativ auf den Boden fallen, „Warum liegt hier Stroh?“ Rans Gesichtsausdruck musste in diesem Moment wohl vollkommen entgleisen. „Hast du grade allen Ernstes ein Porno-Meme zitiert??!“, starrte er Dash mit fassungslosem Kopfschütteln an und strengte sich an, dieses Mal nicht in Lachen auszubrechen und ihn aus der Nummer nicht so einfach rauskommen zu lassen. „Ich… äh…“, stammelte Dash. Hahaha, ließ er sich wirklich von Rans gespieltem bösem Blick verunsichern? „Muss ich dir den Mund mit Seife auswaschen?“, machte er einen energischen Schritt auf Dash zu und wunderte sich selbst darüber, wie selbstsicher er das gerade durchzog, dass ihn Dash nicht mehr so nervös machte wie die ganze Zeit – vielleicht weil dieser gerade selbst ein bisschen aufgeregt wirkte und sein Gesicht rot anlief, so süß, dass Ran ihn nicht länger ärgern konnte und lachend mit den Händen auf seinen Schultern landete. „Hab ich dir grade etwa Angst gemacht?“, kicherte er und schaute Dash eindringlich in die himmelblauen Augen. „Ein bisschen?“, kicherte Dash zurück und zog Ran dabei enger an sich, während er sich mit dem Rücken an die Wand hinter ihm anlehnte, „Aber du darfst mir ruhig Seife in den Mund stopfen, wenn du da drauf stehst.“ Was zur…? Was war bei diesem Typen nur schief gelaufen? „Ich stopf dir gleich mit was ganz anderem den Mund, wenn du weiter solchen Mist von dir gibst“, näherte er sein Gesicht halb fassungslos, halb ein Lachen über den riesigen Unsinn unterdrückend, dem von Dash an und setzte seine Drohung in die Tat um, indem er nach Dashs Wangen griff, seine Lippen nachdrücklich gegen die des anderen presste und sie mit seiner Zunge auseinanderzwang. Oh Gott, was machte er denn da? Stand er echt so sehr auf diesen Idioten, dass er sich so wenig beherrschen konnte? Dash erwiderte ebenso gierig den Kuss, zog Rans Körper mit beiden Armen noch enger an seinen. Und noch bevor Ran sich so richtig an das Gefühl ihrer aneinandergepressten Oberkörper gewöhnen konnte, spürte er Dashs Hände unter seinem T-Shirt, ihre Wärme auf seinem Rücken, wie sie ihn einmal komplett von unten nach oben entlangwanderten und dabei seine Kleidung mit nach oben schoben. „Also, was ist“, zog Dash seine Lippen nur wenige Zentimeter von Rans zurück, sodass Ran sie fast immer noch spüren konnte während er sprach, „gehen wir jetzt duschen?“ Während Ran sich noch versuchte klar zu machen, dass er es mit Dash wirklich nicht hatte überstürzen wollen, massierte dieser weiter seinen Rücken, sodass Ran ein zufriedener Seufzer entwich, während Dash immer wieder sanft mit seinen Lippen über Rans streichelte und auf eine Antwort wartete. Ran merkte, wie es plötzlich in seiner Hose enger wurde, wie sehr er sich danach sehnte, noch mehr von Dash berührt zu werden, ihn selbst zu berühren… „Okay, komm!“, nahm Ran ihn bei der Hand und zerrte ihn hinter sich ins Badezimmer. Er war so aufgeregt, sein Kopf war vermutlich gerade roter als eine Tomate. Wie hatte er auch nur eine Sekunde glauben können, Dash würde ihn nicht mehr nervös machen?   „Oh. Mein. Gott! Ist das was ich denke, dass es ist?!“, deutete Dash mit vor Begeisterung leuchtenden Augen auf die Schale mit Badebomben, die Ran dekorativ auf dem Absatz über der Badewanne aufgestellt hatte. „Das sind … Pokémon…eier…badebomben … Hat mir meine Schwester zum Geburtstag geschenkt“, erklärte Ran ein wenig irritiert. Warum hätte ihm klar sein müssen, dass die Dash gefallen? „Uuuuuuuh“, funkelte Dash ihn mit seinem großäugigsten Spielzeugladen-Blick an, „Da sind kleine Pokémon-Figuren drin, oder? Können wir baden? Können wir ein Ei zusammen ausbrüten?“ Er hibbelte schon wieder mit den Füßen auf der Stelle. „Weißt du, dass ich grade eben noch echt heiß auf dich war?“, entgegnete Ran trocken. Nicht ohne seine Begeisterung heimlich süß zu finden. Heimlich. „Kein Problem“, schlang Dash seine Arme um Ran und näherte seine Lippen an dessen Hals an, „Ich mach dich schon wieder heiß.“ Das … konnte er tatsächlich gut. „Nachdem wir zusammen ein Pokémon-Baby gemacht haben“, flüsterte er in Rans Ohr. Moment… „Läuft das nicht eigentlich umgekehrt?“, wollte Ran vorwurfsvoll sagen, brach aber im halben Satz in Lachen aus und steckte Dash damit an. „Muss ich dir wirklich Aufklärungsunterricht geben?“, lachte er weiter, während er spürte, wie Dashs Hände schon wieder ihren Weg unter sein Shirt fanden und begannen, es nach oben zu schieben. Und so sehr er das Gefühl auf seiner Haut genoss, wurde ihm dabei plötzlich ganz unwohl. „Ich … äh … lass schonmal Wasser ein“, versuchte er schnell, sich Dashs Griff zu entwenden. Nein, jetzt bloß nicht panisch werden. Auf einmal wurde ihm schrecklich bewusst, dass er nackt bestimmt kein schöner Anblick war, dass er sich über das letzte Jahr eine Menge Kummerspeck angefressen und kein bisschen Sport gemacht hatte – und selbst das war noch untertrieben. Tatsächlich hatte er die Wohnung nicht öfter als unbedingt nötig verlassen, sich definitiv weniger bewegt als für seine Gesundheit gut war. Er neigte nicht dazu, fett zu werden, selbst wenn er sich tagelang von Tiefkühlpizza und Energydrinks ernährte, aber er hatte ein Bäuchlein. Ein ziemlich fettes, schwabbeliges, hässliches. Und Dash sollte es nicht sehen. „Hey, was ist los?“, legte Dash beim Wasseraufdrehen von hinten seine Arme um ihn. „Wir müssen nicht zusammen baden, wenn dir das zu schnell geht.“ Einen kurzen Moment dachte Ran daran, das als Grund vorzuschieben, aber Dash sprach auf einmal mit so sanfter, verständnisvoller Stimme, dass der Gedanke ihm ein ganz schlechtes Gewissen machte. Außerdem wollte er mit ihm baden. „Nein, das … das ist es nicht“, gab er mit leise werdender Stimme zu. „Was dann?“, bohrte Dash weiter nach. „Hast du Angst, dass du mich nackt so heiß findest, dass du einen Herzinfarkt bekommst?“, konnte Ran sein Grinsen förmlich hören, auch wenn er sich nicht wagte, ihm ins Gesicht zu schauen, „Oder Nasenbluten, so wie in Mangas? Ich kann Wiederbelebung, sei unbesorgt!“ Ran musste ein bisschen schmunzeln. Aber er musste jetzt irgendetwas antworten… Er nahm all seinen Mut zusammen. „Nein, ich … ich hab nur Angst, dass …“ – konnte Dash ihn überhaupt noch verstehen, so leise, wie seine Stimme plötzlich wurde? – „…dass ich dir nicht gefalle.“ „Unsinn, natürlich gefällst du mir“, drehte Dash ihn wieder zu sich um und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange, „Warum solltest du mir nicht gefallen? Hast du da unten Tentakel? Damit komm ich klar“, zwinkerte er Ran zu, „Oder ein peinliches Tattoo? Ich hab ein peinliches Tattoo…“, redete er plötzlich schneller, als wäre ihm das wirklich sehr peinlich und er hätte es lieber gar nicht gesagt. „Ich…“, fühlte Ran sich verpflichtet zu antworten, „…hab ein paar Kilo zu viel, okay? Das sieht nicht schön aus … echt nicht schön …“ Ran senkte seinen Kopf und wich beschämt Dashs Blick aus, aber spürte im selben Augenblick dessen warme Hände, wie sie sich zärtlich unter sein Shirt tasteten, über seinen Bauch streichelten und schließlich erneut versuchten, ihn von seiner Kleidung zu befreien. Dieses Mal wehrte Ran sich nicht und ließ zu, dass Dash ihm das Hemd über den Kopf zog. „Das ist doch nur Babyspeck“, lächelte Dash ihn an und piekste ihm dazu spielerisch in den Bauch, „So weich! Darauf könnte ich ein Nickerchen machen“, lachte er. Ran schämte sich immer noch, aber Dash war so lieb, und die Vorstellung, wie er auf ihm einschlafen würde, war so süß… Dann ging Dash in die Hocke und begann, Rans Bauch zu küssen. Okay, jetzt übertrieb er es eindeutig mit dem Süßsein. Und das kitzelte. Ran musste ein bisschen kichern. „Bist du kitzelig?“, grinste Dash ihn herausfordernd an. Und noch bevor Ran eine Chance hatte, dem etwas zu entgegnen, hatte er seine Lippen fest auf Rans Bauch aufgesetzt und prustete energisch Luft dagegen und Ran wusste fast nicht, ob ihn das Kribbeln oder die albernen Pupsgeräusche, die dabei entstanden, mehr zum Lachen brachten. „Hahaha, aufhören!!!“, bettelte er lachend um Gnade. Als diese ihm schließlich gewährt wurde, zog er Dash wieder zu sich nach oben. Sie starrten sich einen peinlich langen Moment lächelnd in die Augen, bevor sich auch Ran mit einem „Jetzt bin ich dran!“ unter die Kleidung des anderen wagte.    Wow, das Gefühl seiner Hände auf Dashs heißer Haut war überwältigend. Plötzlich wurde er wieder schrecklich unsicher. War das gut, wie er Dash berührte, gefiel ihm das überhaupt? Aber Dash lächelte ihn an und schloss genießerisch die Augen, während er ihn weiter mit seinen Händen erkundete, es schien schon irgendwie richtig zu sein… Langsam wollte er mehr. Vorsichtig schob er Dashs Shirt nach oben und dieser streckte seine Arme hoch und übernahm es selbst, augenscheinlich ebenfalls ganz ungeduldig, es noch das letzte Stück über die Unterarme zu schieben und auszuziehen. Einen Moment lang starrte Ran sein entblößtes Gegenüber unbeholfen an. Dash war echt heiß. Ob er trainierte? Auf jeden Fall machten sich das viele Paketeschleppen und Treppensteigen wohl bemerkbar. Kurz packten ihn wieder die Zweifel, der Gedanke, dass Dash und er wirklich nicht in der selben Liga spielten, aber er strengte sich an, ihn zu verdrängen – Dash hatte ihm gerade gezeigt, dass er Interesse an ihm hatte. Außerdem war das hier zu aufregend, um es sich mit solchen Gedanken zu versauen. Er legte zögerlich seine Arme um Dashs Körper und seine Lippen fanden ihren Weg über seinen Hals und sein Schlüsselbein, seinen ganzen Oberkörper hinunter und wieder hinauf. Und mit jeder Berührung, mit jedem Kuss, mit jedem Mal, dass seine Zunge Dashs Haut berührte, stieg sein Verlangen nach mehr. Während er noch überlegte, ob es in Ordnung war, einfach mit Dashs Hose weiterzumachen, war Dash mit seinen Händen schon in der von Ran verschwunden und knetete spielerisch seinen Po. Ran wurde ganz heiß. Umso mehr, als Dash ihm dann ohne Vorwarnung die Hose samt Unterwäsche herunterzog und ihn mit einem Kuss überfiel, während dem sich ihre Körper aneinanderdrückten und er merkte, wie Dash auch seine eigene Hose herunterstreifte. Nicht nur ihre Zungen drängten sich immer leidenschaftlicher gegeneinander, er konnte spüren, dass Dashs Begierde genauso wuchs wie seine. Es fühlte sich anders an als bei den paar Dates, die er damals gehabt hatte. Der Gedanke, dass Dash gerade das selbe empfand wie er, dass er das selbe Herzklopfen hatte, die selben heißen Schauer durch seinen Körper liefen, er das selbe Verlangen spürte, löste ein heftiges Glücksgefühl in Ran aus, wie er es bisher noch nie gespürt hatte. Er fühlte, wie Dashs Hände über seinen Körper glitten und versuchten, ihn, immer noch in ihren Kuss versunken, mit sich in die Wanne zu ziehen. Alles mit geschlossenen Augen? Er hörte Dash mit einem Bein ins Wasser steigen … und wie er im nächsten Moment ausrutschte, mit irgendetwas auf dem Badewannenrand aufschlug und kurz aufschrie.    War ja auch zu perfekt gewesen…   „Scheiße, bist du okay?“ Dash setzte sich mit dem Rücken zu ihm auf den Badewannenrand, ein Bein schon in der Wanne, und hielt sich das Knie des anderen Beines, das er sich offensichtlich gerade angeschlagen hatte. Er schaute ihn mit zusammengepressten Lippen und großen Augen, in denen sich Tränen sammelten, an. „Aua~“, wimmerte er leise. Oh Gott, zu süß… Ran legte schnell seine Arme um ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Das wird gleich besser“, versuchte er ihn zu beruhigen. Wieso hatte er schon wieder das Gefühl, mit einem kleinen Kind zu reden? „Sorry, ich wollte nur nicht, dass du~“, setzte Dash an, als es Ran auch schon ins Auge sprang. Da prangerte ein Schriftzug direkt über seinem Allerwertesten. „~dass ich dein Arschgeweih sehe?“, grinste Ran ihn an. Fast ein bisschen schadenfroh. Wieso lachte Dash denn gar nicht mit? War ihm das wirklich so peinlich? Er versuchte, einen genaueren Blick auf das Tattoo zu werfen, um zu entziffern, was genau denn da stand, als Dash auch schon schützend seine Hand darüber hielt. „Ich … will es wegmachen lassen. Ich muss nur noch ein bisschen sparen“, erklärte er mit panischem Tonfall. Was konnte denn da so Schlimmes stehen? Jetzt wurde Ran doch neugierig. „Zeig mal“, versuchte er Dashs Hand wegzuziehen, die ihm zuerst Widerstand leistete, bis Dash schließlich nachgab und beschämt das Gesicht wegdrehte. „PROPERTY OF LUNIS. Dein Ernst?!?!?!“, las Ran den Tattoo-Schriftzug vor. Zugegebenermaßen etwas schockiert. Auch von dem geschmacklosen rosa Banner und dem creepy-süßen Häschen vor einem Mond, die das ganze zusätzlich ‚schmückten.‘ WTF? „Ich … lass es entfernen … ehrlich“, sagte Dash mit einer Menge Reue in der Stimme. Ran atmete tief ein und wieder aus. Property of Lunis. „Bin ich hier gerade dabei, einem Bauern seine entlaufene Kuh zu stehlen, oder was?!“ Er konnte sich die Assoziation nicht verkneifen. Das war schon ein komisches Tattoo, oder? Oder machten Paare sowas? Den Namen tätowieren vielleicht… Nur den Namen. Aber nur wenn es wirklich ernst war. War es bei den beiden so ernst gewesen…? Ran spürte ein schrecklich beklemmendes Gefühl in seiner Brust. Und hörte gleichzeitig Dashs Schluchzen. Vielleicht hätte er das mit der Kuh für sich behalten sollen. „Warum muss er mir alles kaputt machen?!“, weinte Dash ohne Kontrolle über seine Stimme in seine Hände, „Warum muss er mir sogar das hier kaputt machen???“ Plötzlich war er wieder voller Mitleid für Dash. Dieser schaute ihn mit geröteten Augen an: „Es tut mir leid.“ Ran entgegnete ein etwas ratloses Kopfschütteln. „…Es tut mir so leid, das war auch einer von seinen Liebesbeweisen…“ Ran tat sich immer noch etwas schwer damit, sich vorzustellen, wie belastend diese Beziehung für Dash gewesen sein musste. Immer noch war. Aber was er ganz sicher wusste, war, dass der Gedanke an Lunis ihn wütend machte. Vielleicht war es an ihm, die misshandelte Kuh zu befreien. Wie ein PETA-Aktivist. … Seine mentalen Bilder waren auch mal besser gewesen. Er nahm Dash in die Arme und drückte seine Stirn an die des anderen. „Das hier lassen wir ihn nicht kaputt machen“, versuchte er so sicher zu klingen wie er nur konnte und küsste Dash, der sich in seiner Umarmung wieder ein bisschen gefangen hatte, auf die Stirn. Dash zog ihn enger an sich, vergrub seinen Kopf eine Weile in Rans Schulter, bis er ihn mit immer noch wässrigen Augen, aber so etwas wie einem ungläubigen Lächeln im Gesicht anschaute. „Versprochen?“, fragte Dash. „Versprochen“, erwiderte Ran. Dashs Lächeln wurde weiter und strahlender und ein ganz warmes Gefühl breitete sich in Ran aus. „Dashinitiv?“, fragte Dash. Dashinitiv?! „Hast du grade wirklich DASHINITIV gesagt?!“, starrte Ran ihn kopfschüttelnd an und konnte sich ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen. „Dashinitiv hab ich das gesagt“, grinste Dash ihn an. „Dashinitiv sagst du das nicht noch einmal“, wollte Ran drohen, brach dabei aber in Lachen aus und drückte Dash noch einmal glücklich an sich. „Komm, wir wollten doch ein Ei ausbrüten.“   Ran stieg in die mittlerweile vollgelaufene Wanne und setzte sich Dash, der ebenfalls ganz hineingestiegen war, gegenüber. „Darf ich ein Ei aussuchen?“, langte Dash schon nach der Schüssel auf dem Wannenabsatz und war wieder ganz sein aufgedrehtes, fröhliches Selbst. „Na los“, gab Ran ihm die Erlaubnis und schaute zu, wie Dash die am schwersten zu erreichende Badebombe von unten aus der Schüssel holte, sie ganz behutsam, als wäre sie ein echtes Ei, in den Händen trug und langsam ins Wasser legte, wo sie direkt zu blubbern begann. Er schaute eine Weile fasziniert der sprudelnden Badebombe zu und schien gar nicht zu bemerken, wie Ran ihn lächelnd anstarrte. Es war verrückt, wie nah er sich diesem Menschen, den er noch gar nicht lange kannte, fühlte, wie schnell er Teil seiner Welt geworden war und sie irgendwie … erträglicher gemacht hatte. Natürlich auch lauter und nerviger und chaotischer, aber selbst diese Eigenschaften hatte er irgendwie lieb gewonnen. Wow, das war ziemlicher Kitsch, den er da gerade dachte. „Was meinst du, was es wird?“, riss ihn Dash plötzlich aus seinen Gedanken. „Ich hoffe ein Blitza! Oder ein Pikachu! Obwohl, Elektropokémon in der Badewanne … das könnte ganz schön gefährlich werden.“ „Dir ist schon klar, dass da kein echtes Pokémon rauskommt?“, lachte Ran und Dash versuchte erst noch gespielt mit einem „Menno“ zu schmollen, musste dann aber mitlachen. „Vermutlich ein Karpador“, versuchte Ran die Erwartungen seines Gegenübers ein wenig zu dämpfen, allerdings erfolglos – beim Wort Karpador bekam Dash genau so große Augen wie bei den Elektropokémon davor und irgendetwas weckte in Ran die Vermutung, dass er kein Pokémon finden würde, für das sich Dash nicht begeistern konnte. Währenddessen wurde die Badebombe immer kleiner und ein erstes Stückchen blaues Plastik, das aus ihrem Kern herausschaute, wurde sichtbar. „Oh!“, rief Dash begeistert aus, „Es ist blau! Was kann das sein? Vielleicht ein Schiggy!“, hibbelte er so sehr auf der Stelle, dass das Badewasser Wellen schlug, „Oder ein Quapsel! Oder Aquana! Vielleicht Entoron…“ Während Dash ohne Punkt und Komma weiterredete, blieb vom Ei immer weniger übrig und langsam war genug zu erkennen. „Es ist ein Dratini!“, rief dieses Mal Ran begeistert aus, als die Schwanzspitze und die Fächerohren sichtbar wurden. „Wh-Whoa!!“, stimmte Dash begeistert zu, „Das ist das winzigste Dratini, das ich je gesehen habe! Ist das nicht süß?!“ Er nahm das kleine Spielzeug, das sich nun komplett aus den Überresten der Badebombe löste, auf die Hand und schaute es mit einem so liebevollen Blick an, als wäre es tatsächlich ein kleines Tierbaby. „So klein!“ Ran musste kichern.   „Mmh“, beugte Dash sich plötzlich zu ihm vor und schaute ihm mit einem verdächtigen Grinsen in die Augen. „Was meinst du, wo das Ei herkam?“ Wo das Ei herkam? Die Badebombe? Das hatte er ihm doch erklärt. Oder worauf wollte Dash jetzt schon wieder hinaus? „Wenn aus dem Ei so ein putziges kleines Dratini geschlüpft ist“, hielt er ihm das Plastikfigürchen noch einmal mit leuchtenden Augen vor die Nase, „Dann muss der versierte Experte für Pokémon-Eier doch darauf schließen, dass es in diesem Gewässer noch mehr wilde Dratinis gibt.“ „Der versierte Experte für Pokémon-Eier?“, erwiderte Ran skeptisch seinen Blick und spürte plötzlich Dashs Hände, wie sie ganz langsam von seinen Knöcheln aus die Innenseite seiner Beine hinaufwanderten. Und plötzlich verstand er, was dieser mit wilden Dratinis meinte. „Schonmal zwei Dratinis in freier Wildbahn bei der Paarung beobachtet, Trainer?“, beugte Dash sich immer näher über ihn. Trainer??? Ran brach in hysterisches Lachen aus. „Du hast echt zu viel Fantasie“, grinste er sein Gegenüber an, konnte aber gleichzeitig nicht ignorieren, dass bei seinem Dratini, je näher Dash ihm kam, je mehr er sich zwischen seine Beine drängte und je mehr er mit seinen Händen die Innenseite seiner Oberschenkel streichelte, tatsächlich der Wunsch wuchs, sich zu paaren. „Meinst du, wenn ich ausgiebig genug suche, finde ich ein paarungswilliges Exemplar?“ Dabei suchte Dash mit seinen Händen weiter Rans ganzen Körper ab, berührte ihn überall, mal fester, mal ganz sanft – überall außer an der Stelle, die sich gerade am heftigsten danach sehnte. „Aaa~hng“, versuchte Ran zu antworten, brachte aber nur ein erregtes Stöhnen heraus, das er mit einem Nicken auszugleichen versuchte, aber das ihm im nächsten Moment so peinlich war, dass er knallrot anlief. Er versuchte vergeblich, Dashs scheinbar sehr entzücktem Blick auszuweichen – dazu war dieser ihm mit seinem Gesicht viel zu nahe. „Hast du das gehört?“, flüsterte Dash in sein Ohr, „Das muss der Ruf eines brünstigen Dratinis sein.“ Ran stieß einen Lacher aus, der in ein weiteres ungeplantes Stöhnen überging, als er endlich Dashs Hand an seinem erregten Glied spürte und sie es sanft zu massieren begann. „Dashinitiv paarungswillig“, grinste Dash ihn lustvoll an und erstickte alles, was Ran ihm hätte in diesem Moment entgegnen können, in einem stürmischen Kuss. Dabei wuchs Rans Dratini in seinem Griff das letzte Stück zu seiner vollen Größe an und Rans Atmung wurde schneller und schwerer. Erst als Dash plötzlich begann, Rans Penis anstatt ihn weiter mit seiner Hand zu reiben in lustigen kleinen Schlangenlinien im Wasser hin- und herzubewegen und er ihren Kuss behutsam löste, schaute Ran ihn mit skeptisch-fragendem Blick an: „Was zur…?“ „Siehst du das?“, freute sich Dash, „Das wilde Dratini führt eine Attacke aus! Es benutzt Anziehung!“ Ran musste lachen. „Du bist so ein Spacken!“, versuchte er vorwurfsvoll zu sagen, konnte aber die Anziehung, die der Spacken auf ihn hatte, nicht verleugnen und zog ihn wieder enger an sich. „Da nähert sich tatsächlich ein anderes Dratini!“, stellte Dash aufgeregt fest, „Die Attacke ist sehr effektiv!!“ Diesmal war es Dash, der ein viel zu lautes Stöhngeräusch von sich gab, als er sein Dratini gegen das von Ran, welches er wieder fest in seine Hand genommen hatte, drückte und begann, sich an ihm zu reiben. „Ich glaub die beiden mögen sich“, stieg Ran, scheinbar sehr zu Dashs Freude, in sein albernes Bild mit ein und legte seine Arme um den Körper des anderen, während dieser mit immer rhythmischer werdenden Bewegungen seine Hüfte auf- und abbewegte. „Der Paarungstanz der Dratinis! Ein atemberaubendes Schauspiel der Natur“, fügte Dash an. Wörtlich atemberaubend, sie beide kamen gerade heftig ins Schnauben und Ran konnte Dashs Atem auf seinen nassen Schultern spüren, während sie sich immer fester aneinander rieben. „Aaaah“, das fühlte sich so gut an. Er presste seine Fingerspitzen gegen Dashs Rücken, ließ sie diesen emporwandern und holte sich Dashs Lippen zu seinem Mund zurück, um ihn erneut gierig zu küssen. Er bewegte sich immer schneller entgegengesetzt zu Dash mit, sie drängten sich immer fester, mit immer größerer Geschwindigkeit gegeneinander, gerieten immer mehr außer Atem. Rans Herz schlug so schnell, so heftig, dass er sich sicher war, dass Dash es hören konnte, er kam immer mehr ins Schwitzen, konnte keinen Temperaturunterschied zwischen seinem heißen Körper und dem Badewasser mehr spüren. Alles, was er wollte, war mehr, noch mehr. Dann spürte er den heiß-kalten Schauer, der durch seinen Körper verlief, das heftige Beben, zog Dash ganz eng an sich und hörte im selben Moment dessen übertrieben porno-verdächtiges Aufstöhnen, während auch er sich zuckend an Ran klammerte. Einen Moment verweilten sie schnaufend in der gegenseitigen Umklammerung, dann schaute er Dash ungläubig in die Augen. Waren sie gerade echt zusammen gekommen? Er sah, wie sich ein dümmlich-zufriedenes Lächeln in Dashs Gesicht breit machte, und musste davon ausgehen, dass er selbst gerade den selben dämlichen Gesichtsausdruck hatte.   „Ich glaube die Dratinis haben abgelaicht“, grinste Dash ihn an und drehte sich einmal um sich selbst, um sich mit dem Rücken an Ran gelehnt ins Wasser sinken zu lassen. Ran legte seine Arme um ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Wie war das mit ‚kein Knutschen vor dem dritten Date‘?“, versuchte er den anderen zu ärgern. „Hab ich das gesagt?“, lachte Dash verlegen, „Das klingt so gar nicht nach mir…“ Er griff nach Rans Hand und drückte sie gegen seine Wange. Süß… „Außerdem ist unser Schiffsname ja auch Rush“, fügte Dash stolz hinzu. „Unser was?“, fragte Ran irritiert zurück. „Schiffsname… Ship-Name, du weißt schon … wenn du zwei Charaktere oder Personen shipst. Also…“ Dash tat sich dashinitiv schwer damit, Dinge zu erklären. Haha. „Ist das so ein Fanfiction-Ding?“, hakte Ran nach. „Ja… Auch… Nicht nur“, mühte sich Dash weiter ab, „Wenn du zwei Personen als Pärchen süß fändest, dann sagst du: Das ist mein Schiff. Und dann hat das Schiff einen Namen. Meistens aus den Namen der beiden Personen. Und aus Run und Dash kann man Rush machen, also ist das unser Schiffsname.“ Ran war sich weder sicher, ob er Dashs Erklärung richtig verstanden, noch ob Dash das ganze überhaupt richtig erklärt hatte. Aber irgendwie war es niedlich, dass er sich über sowas Gedanken machte… „Ich shippe uns“, sagte Dash mit einem Lächeln in der Stimme und gab Ran einen Kuss auf die Hand, die er gegen sein Gesicht gedrückt hatte.   Eine halbe Stunde später saßen Ran und Dash mit Rans Laptop, auf den sie die Aufnahmen für das Let’s Play übertragen hatten, auf der Couch und hatten gerade ihre Pizzalieferung, zu der Dash Ran erneut überredet hatte, bekommen. „Können wir das Schneiden nicht auf morgen verschieben?“, fragte Ran, vom Liebesspiel der Dratinis doch ausgelaugter, als er zugeben wollte, „Ich bin so müde…“ Vielleicht auch von der ungewohnten Aktivität an der frischen Luft. Wo nahm Dash nur die Energie her, jetzt schon wieder vollkommen übermotiviert die Aufnahmen zu sichten und zu unterteilen? Er war echt gut mit der Videosoftware… „Du kannst ruhig schlafen“, antwortete Dash mit vollem Mund, ein Pizzastück am kauen, „Ich mach das Video fertig, das wird zu gut, das muss heute noch online gehen!!“ Ran schaute, während er seine Pizza zu Ende aß, beeindruckt zu, wie routiniert Dash die Videosegmente zusammensetzte, mit Filtern und Effekten bearbeitete, sich Musik, Soundeffekte und Memes zusammensammelte. „Machst du das öfter?“, musste er schließlich nachhaken. „Als wir die Lichtshows gemacht haben, hab ich immer Live-Aufnahmen auf den Partys und Events gemacht und zusammengeschnitten und wir haben die Videos bei Facebook und so eingestellt. Das war gute Werbung, wir wurden ziemlich viel engagiert dadurch.“ „Doch nicht so ein Management-Fail“, klopfte Ran ihm anerkennend auf die Schulter und Dash schien sich ehrlicher darüber zu freuen, als es für die Formulierung und alberne Geste angemessen wäre. „Ist das echt okay, wenn ich ein Nickerchen mache?“, fragte Ran noch einmal unsicher nach. Auch wenn er die Augen so langsam wirklich nicht mehr offen halten konnte und eigentlich gar keine andere Möglichkeit bestand. „Dashinitiv“, grinste Dash ihn an. So langsam war es aber mal gut damit. „Wenn ich das noch einmal höre, dann dasht es!“, sprach Ran seine gespielte Drohung ohne nachzudenken aus, nur um im nächsten Moment mit Dash in Lachen auszubrechen. „Komm schlafen, du redest Unsinn“, lachte Dash und klopfte dabei einladend auf seinen Schoß. „Da?“, fragte Ran schüchtern zurück und merkte, wie er wieder ein bisschen Herzklopfen bekam. Bei jemandem auf dem Schoß geschlafen hatte er noch nie. „Da schläft es sich gut“, wippte Dash im Sitzen hin und her. „O…kay“, legte Ran seinen Kopf zögerlich auf Dashs Oberschenkeln ab und streckte den Rest seines Körpers auf der Couch aus. Das war echt irgendwie bequem … und schön … Dash streichelte ihm beruhigend durch die Haare. Daran, so zu schlafen, könnte er sich gewöhnen. „Und ‚dashinitiv‘ wirst du dashinitiv noch öfter hören“, flüsterte Dash ihm triumphierend zu.   „Hey, Ran“, wurde er mit einem sanften, aber aufgeregten Schütteln und einer ebensolchen Stimme aus seinem Schlaf geweckt, „Raaaa~n!“ Ein orientierungsloses „Mh?“ war alles, was er zustande bekam. Scheinbar hatte er sich im Schlaf mit dem Gesicht zu Dashs Bauch gedreht und einen Arm um ihn geschlungen. Wie spät war es? Draußen war es schon dunkel… „Ran, Ran, Ran!“, begann sein menschliches Kissen plötzlich zu wackeln, „Schau dir das Video an!! Los!“ „Okay, okay“, versuchte Ran sich aufzusetzen und zog sich dabei ein wenig an Dash hoch. Wie schön sich das anfühlte, aufzuwachen und nicht alleine zu sein. Würde er das jetzt öfter haben? „Bist du wach? Bist du bereit??“, hibbelte Dash neben ihm weiter rum. Okay, wenn er sich an diese Art von Wecker gewöhnen wollte, müsste er noch rausfinden, wo bei ihm die Schlummertaste ist. „Ich glaub schon“, brummelte Ran, immer noch ein wenig schläfrig. „Gut!!“, nahm Dash theatralisch seine Hand, „Hier kommt das beste Let’s-Play-Video, das du je gesehen hast!!!“ Ran bekam ein wenig Herzklopfen. Nicht so sehr wegen des Videos.   Das Video war laut, schrill und bunt, ein Feuerwerk an rasanten Szenenwechseln mit übertriebenen Animationen, dramatischen Zooms und Speedlines, ein schräger Trip voller Cartoon-Sprechblasen, in denen in Comic Sans MS die ‚wichtigsten Begriffe‘ der Szene ausgerufen wurden, stilloser Cliparts, Meme-Einblendungen, sich grundlos um die eigene Achse drehender Aufnahmen, nerviger Musik und … Ananas und Palmen. Wieso zur Hölle waren da so viele Ananas??? Schlimm genug, dass Dash sich jedes Mal Ananas (oder sogar Pfirsich!) auf seiner Pizza bestellte. Die hatten da nichts verloren… Weder auf der Pizza noch im Video. „Was zur…?“, war das erste, was Ran irritiert herausbrachte. Also, nicht dass er das Video schlecht fand, aber… „Das braucht eine Warnung für Epileptiker!“, schaute er Dash halb vorwurfsvoll, halb amüsiert, an. „Findest du es nicht gut?“, erwiderte Dash seinen Blick mit hervorgeschobener Unterlippe. „Was?“, erschreckte sich Ran fast selbst ein bisschen über Dashs Reaktion, „Doch, natürlich! Ich meine, genau so hab ich’s mir vorgestellt“, lachte er anerkennend, „…schrill und abgehoben und Banane – oder vielmehr Ananas. Was soll das mit den Ananas?“ Jetzt musste Dash selbst lachen. „Naja“, erklärte er unbeholfen, „ich dachte der Entwickler kommt aus Hawaii, da wollte ich ein bisschen hawaiianischen Flair mit einbringen.“ „Durch drittklassige Palmen-Cliparts?“, gab ihm Ran einen kritisch-forschenden Blick. „Hey, das sind mindestens zweitklassige Palmen-Cliparts!“, versuchte Dash sich zu verteidigen. „Bring mich nicht auf die Palme!!!“, fuhr Ran ihn lachend an, was Dash dazu verleitete, in sein Lachen mit einzustimmen. „Ich hab dich echt angesteckt mit den zweitklassigen Wortspielen, oder?“, freute er sich. „Drittklassigen Wortspielen“, korrigierte ihn Ran, „Und das Video ist erstklassig. Erstklassig spacko-tastisch. Komm, laden wir’s hoch!“   Kurz darauf hatte sich Dash zum Gehen bereit gemacht – war auch dashinitiv Schlafenszeit für ihn, so früh wie er aufstehen musste – nicht ohne Ran noch mehrmals auf seine liebenswert-aufdringliche Art darauf aufmerksam zu machen, dass er ja eigentlich viel lieber geblieben wäre und darauf hoffte, dass er das nach ihrem Date am Samstag tun würde. „Aber heute Abend hab ich noch was zu erledigen … abzuholen … ist eine Überraschung“, zwinkerte er ihm im Rausgehen zu, „siehst du dann morgen Früh!“ Ran wurde immer roter im Gesicht. Dash war viel zu lieb zu ihm und machte sich viel zu viel Mühe mit allem. Das war so ungewohnt und schön, aber machte ihm irgendwie auch ein ganz schlechtes Gewissen. „Dass du bloß nicht zu spät ins Bett kommst wegen mir“, versuchte er so vorwurfsvoll, wie er es bei all der Verlegenheit schaffte, zu sagen. „Und selbst wenn“, lächelte Dash ihn an und gab ihm einen Gute-Nacht-Kuss auf die Lippen, „Seit es dich gibt, schlaf ich endlich wieder gut ein.“ Oh. Der Gedanke, wie es Dash davor gegangen sein musste, war kein schöner. Aber das Gefühl, der Grund dafür zu sein, warum es ihm jetzt besser ging, umso mehr. Er drückte ihn noch einmal besonders fest an sich. „Dann schlaf gut. Und morgen früh schau ich direkt nach, wie viele Views unser Let’s Play schon hat!“ „Vermutlich so viele, dass YouTube sie gar nicht berechnen kann!“, sagte Dash mit strahlenden Augen, „Bestimmt werden wir berühmt damit! Reich und berühmt! Ich könnte einen echten alten Thunderbird kaufen! Greased Lightning! Oder wir könnten eine Villa zusammen haben! Oder eine Hüpfburg… Eine Hüpfburg-Villa… Auf Hawaii! Und jeden Tag Ananas essen! Und einen Hund!“ Dash ergriff theatralisch Rans Hände, „Einen Hund, Ran! Können wir einen Hund haben?“ Dabei schaute er selbst wie ein Welpe. „Und wir könnten alles kaufen, was in deiner Konsolensammlung noch fehlt, und jeden Tag nur Let’s Plays zusammen drehen! Das wär das Schönste!!“ Rans Herz schlug bis unter die Decke. Warum redete Dash denn, als wäre es schon vollkommen selbstverständlich, dass sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage zusammenleben würden. Da hatte eindeutig noch jemand zu viele Disneyfilme geschaut. „Jetzt … mach mal langsam …“, zwang Ran sich mit glühendem Gesicht zu sagen, „Du tust ja so, als wären wir jetzt schon Millionäre. So einfach ist das nicht.“ „Aber träumen darf man ja wohl“, grinste Dash. Das war das richtige Stichwort. „Richtig“, schob Ran ihn ein Stückchen Richtung Treppe. „Du gehst jetzt erst mal brav ins Bett und träumst was Schönes“, drängte er Dash nachdrücklich dazu, endlich zu verschwinden. Auch wenn er sein Kissen vermissen würde. „Werd ich“, grinste Dash ihn immer noch an und stahl sich noch einen Kuss, bevor er die Treppe hinunter verschwand. Kapitel 9: true story --------------------- /freitag_   Ran wachte völlig verwirrt auf der Couch auf. Wieso war er hier? Richtig, er hatte sich gestern Abend noch einmal an die Stelle zurück gelegt, an der er auf Dashs Schoß sein Nickerchen gemacht hatte und musste dort wohl in Klamotten eingeschlafen sein und die Nacht durchgeschlafen haben. Draußen war es schon hell. Er klappte den Laptop, der immer noch auf dem Couchtisch stand, auf. Shit, voll verpennt, schon nach zehn… Wenigstens kurz musste er nachschauen, ob  das Video schon irgendwelche Kommentare hatte.    ‚FUCK welche Drogen habt ihr genommen???‘, war das erste, was er unter dem Video las. War ja klar. Wie hatte er auch erwarten können, dass jemand, der nicht auf hyperaktive Oberspacken mit kleinen Sommersprossen auf der Nase und einer Vorliebe für echt schlechte Wortspiele abfährt, irgendetwas Gutes an diesem psychedelischen Kunstprojekt von einem Let’s-Play-Video finden konnte. Im selben Moment hörte er auch schon das ebenso psychedelische Kunstprojekt von einem Türklingeln. Ah, verdammt… Er stolperte noch etwas schlaftrunken zum Türöffner, drückte den Knopf und öffnete seine Wohnungstür einen Spalt. Er hatte sich noch nicht einmal die Haare gekämmt… Bildete er sich das ein, oder war Dashs Rumgehüpfe im Treppenhaus heute noch energiegeladener als sonst? „Raaaaaaaaaa~n!!!!“, hörte er ihn schon bevor er ihn sehen konnte, „Ranranranranraaaan!!“ Da war auch schon Dashs hübsches Lächeln vor seinem Gesicht und weitete sich langsam zu einem Grinsen. „Hast du etwa noch geschlafen?“, wuschelte Dash ihm amüsiert durch die Haare und drückte einen Kuss auf seine Wange, „Guten Morgen!“ „Hi…“, versuchte Ran zu antworten und merkte, dass seine Stimme noch nicht ganz da war. Und Dash viel zu nah an seinen Lippen. „Das würd ich lieber lassen“, wandte er schnell beschämt den Kopf zur Seite, „ich hab noch nicht die Zähne geputzt.“ „Mmmmh…“ Dash machte keinerlei Anstalten zu einem Rückzieher, „Daran muss ich mich wohl gewöhnen, wenn ich vor habe, demnächst öfter über Nacht zu bleiben.“ Er grinste Ran an und gab ihm ein ganz kleines Küsschen auf die Lippen. Mann, das war doch eklig… „Aber ich hab ein bisschen Zeit, ist  heut nicht so viel auszutragen wie die ganzen Tage… Wenn du willst putz dir schnell die Zähne und dann hab ich was für dich“, hibbelte er verheißungsvoll auf der Stelle herum. Ran wollte sich schon Richtung Bad davonstehlen, als Dash ihn noch einmal aufhielt: „Aber zuerst musst du mir noch sagen, ob du schon unsere YouTube-Views gecheckt hast!“ Er klang dashinitiv zu erwartungsvoll. „Naja, ich bin grad erst wach geworden, wie du vielleicht gemerkt hast … Aber ich hab schonmal einen Hater-Kommentar gesichtet. Mit etwas Glück gibt’s vielleicht noch einen zweiten Hater-Kommentar, der mir entgangen ist“, grummelte er vor sich hin, während Dash ihm in die Wohnung folgte. „Du kannst ja schonmal reinschauen, der Laptop steht da“, deutete er ins Wohnzimmer.   Ran hatte gerade so die Zahnpasta auf die Zahnbürste gedrückt, als er Dashs Aufschrei aus dem Wohnzimmer hörte. „OH MEIN GOTT!!!! RAN!!! ALTER!!!!! Die VIEWS! Die KOMMIS!!!!! Das musst du SEHEN!!!!!1111 elf“ Hatte Dash gerade ‚1111 elf‘ laut gesagt? „Mmm–ment“, versuchte Ran mit der Zahnbürste im Mund zu antworten. Dash war doch bestimmt nur wieder am übertreiben. Noch bevor er den Schaum ausspucken konnte, stand er aber auch schon mit dem Laptop in den Händen hinter ihm und hielt ihn Ran vor die Nase. „SIEHST DU DAS?!?!?!?!?“ Ran sah es. Die Views. Die Kommis. Und spuckte vor lauter Schreck den Zahnpastaschaum direkt auf den Bildschirm. Scheiße… Dash brach in hysterisches Lachen aus. „Ahahahaaaaa, wir haben’s geschafft!!! Das Video ist VIRAL!!“ Ran konnte das alles nicht glauben. „Schau, diese Gamer-Site muss es geteilt haben“, wischte Dash mit einem Stück Toilettenpapier dilettantisch die Zahnpasta-Spucke vom Bildschirm und zeigte auf einen der Kommis, „‚Like, wenn ihr über GoGamers Magazin hier seid‘ Guck doch, wie viele das geliket haben! Die Leute lieben unser Video!!!“ …Oder fanden es zumindest bizarr genug, um es unbedingt gesehen haben und mit jedem, den sie kennen, teilen zu müssen. Jedenfalls war klar, was die Neuerung war, die dieses Video von seinen anderen lahmen Let’s Plays unterschied. „Die Leute lieben dich“, korrigierte er Dash, der ihm aber, noch bevor er weiterreden konnte, mit einem „Nein, uns! Wir sind das beste Team!“ ins Wort fiel. „Schau doch, die shippen uns!“, zeigte er lachend auf einen ‚Now Kiss!‘-Kommentar mit peinlich vielen Likes. „Wenn die wüssten…“, grinste Dash und stellte den Laptop auf dem Klodeckel ab, um der Aufforderung nachzukommen und sich endlich seinen Kuss von Ran zu holen, der es mittlerweile geschafft hatte, sich den Mund mit klarem Wasser zu spülen. Ran wollte immer noch nicht ganz glauben, dass das alles wahr war … das Viral-Video … und Dash … Hatte sein Leben wirklich von einem Tag auf den anderen so ein Upgrade bekommen? Er zog Dash noch enger in ihren Kuss und wollte ihn am liebsten gar nicht mehr loslassen. Bis er ihn irgendwann in ihren Kuss hineinkichern hörte. „Aha! Mich erst nicht ran lassen und dann so gierig werden!“, grinste er ihn an und Ran merkte, dass er ein bisschen rot wurde.    „Zeit, dass du deine Post bekommst!“ Dash zog ihn mit einem verheißungsvollen Grinsen mit ins Wohnzimmer, wo sie sich setzten und er einen sonnengelben Umschlag aus seiner Postbotenjacke, die er über die Couch gehängt hatte, hervorholte, um ihn Ran zu überreichen. Er war übersät mit Pixelherz-Stickern und in der Mitte stand groß „Be my Player 2?“ Eindeutig die heiß ersehnte Einladung zu ihrem ersten offiziellen Date. Ran konnte sich ein kleines, freudiges Glucksen nicht verkneifen. Das war so … dashig. „Ich bin gespannt!“, öffnete er aufgeregt den Umschlag und zog zwei Eintrittskarten heraus. „8 Beat“, las Ran den Schriftzug in Pixelschrift laut vor. „Das ist eine 8-Bit-Party“, strahlte Dash ihn an, „in einer Arcadehalle!!“ Ran hatte sich die Seite der Veranstaltung tatsächlich vor einiger Zeit im Internet angesehen. Aber neben der Tatsache, dass sie lange ausverkauft war, hätte er sich niemals getraut, dort alleine hinzugehen. Auch wenn ihn der Aspekt der Arcadehalle echt ansprach. Und etwas anderes noch mehr. „Mit Videospiele-Turnier, ich weiß!“, sagte er begeistert. Mit Dash würde er die Menschenmengen ertragen. Und dort Spaß haben. Allein deshalb, weil es das beste war, was Dash für ihr Date hätte aussuchen können. Weil er sich schon wieder viel zu viel Mühe und Gedanken für ihn gemacht hatte… „Wie bist du denn an die Karten gekommen?! Das ist doch lange ausverkauft!“ Dash zog überlegen eine Augenbraue hoch. Oder versuchte es zumindest. „Eventmanager-Connections“, grinste er triumphierend. „Die Party wird von einem ehemaligen Kommilitonen organisiert. Der mich allerdings auch direkt für heute Abend zum Helfen beim Aufbau verpflichtet hat, weil ihm jemand abgesprungen ist. Im Gegenzug für die Tickets…“ „Dann sehen wir uns erst morgen wieder?“, schlussfolgerte Ran fast ein bisschen enttäuscht. Irgendwie war er ein wenig davon ausgegangen, dass Dash nach der Arbeit wieder zu ihm kommen würde. „Tut mir leid…“, sagte Dash mit gesenktem Blick. „Was? Nein! Blödsinn! Das braucht dir nicht leid zu tun“, sagte Ran schnell, „Du musst ja nur da hin, weil du die Tickets für mich … für uns … organisiert hast.“ Das war so lieb… Ran bekam schon wieder ein ganz schlechtes Gewissen. „Ah, hast du was Gelbes zum Anziehen?“ „Was?“ Ran schüttelte den Kopf. „Ich hab uns für’s Games-Turnier für Team Gelb angemeldet und dachte, es wäre cool, wenn wir Teamfarben tragen. Das heißt wir sind Team Gelb, scheinbar haben sich alle anderen für Rot und Blau angemeldet. Aber wir Pro-Gamer schaukeln das schon!“ Pro-Gamer, LOL. Maximal einer von ihnen, und der hatte kein gelbes Shirt… „Dann bring ich dir ein Shirt von mir mit.“ Ran schaute ihn skeptisch an. „Aber nichts zu Auffälliges. Nichts mit Ananas oder so…“, versuchte er den Schaden möglichst gering zu halten. „Ahahaha, ich schaue, was sich machen lässt…“, lachte Dash verlegen und irgendetwas sagte Ran, dass es überhaupt keine unauffälligen Shirts in seinem Kleiderschrank gab. „Jedenfalls gibt es ein Pokémon-Stadium-Turnier und~“ „YESSSS!!!!“, fiel dieses Mal Ran seinem Gegenüber überdreht ins Wort, „Man darf seine eigenen Pokémon mitbringen, oder?“ Dash war über seine Begeisterung sichtlich amüsiert, „Klar doch, Champion“, zerzauste er ihm spielerisch die Haare, „Nur Legendaries sind verboten, glaube ich, du kannst dir auf der Seite die Regeln nochmal durchlesen. Muss ich mir wohl ein anderes Auto mieten für Samstag…“ Ran blickte ihn fragend an. „Naja, mit meinem Zapdos darf ich dann wohl nicht vorfahren.“ Sein Thunderbird, schon klar… „Du Spaßvogel“, legte Ran kopfschüttelnd seine Arme um Dashs Taille, „Dass du mir nicht mit einem Karpador-Team ankommst, ist das klar?“ „Klar wie Karpadorbrühe.“ Was?   Wow, Ran hatte sich schon lange auf nichts mehr so sehr gefreut. „Danke“, drückte er Dash ganz fest an sich, „Danke für die Einladung! Ich freu mich.“ „Ich freu mich auch“, lächelte Dash ihn zufrieden an, „Und wenn wir mit all unseren Trophäen vom Games-Turnier zurückkommen“, er bewegte seine Lippen ganz nah an Rans Ohr und senkte die Stimme, „Dann darfst du stürmisch über mich herfallen … Oder dich von mir überfallen lassen. Ganz wie du willst.“ Oh, woah… Das klang beides gut… Sowas konnte Dash doch nicht sagen, wenn er gleich weiter musste. Ran atmete schwer aus und biss sich auf die Lippe.  „Ups, sowas sollte ich besser nicht sagen, wenn ich gleich weiter muss, was?“ Ran konnte sich ein Schnauben darüber, dass er gerade genau das selbe gedacht hatte, nicht verkneifen. Jetzt bewegte er sich seinerseits an Dashs Ohr und versuchte, besonders verführerisch zu sprechen. „Naja, meine Vorfreude geweckt hast du jedenfalls schonmal.“ Dash grinste ihn an. „Heißt so dein Dratini?“, fragte er zurück bevor beide gemeinsam in Gelächter ausbrachen.   Nach unzähligen weiteren Küssen und Umarmungen und Erinnerungen daran, wann Dash am Samstag da sein und dass er seine Pokémon-Module nicht vergessen sollte (das gelbe Shirt mit etwas Glück ja aber vielleicht schon, Ran hatte es mal vorsorglich nicht mehr erwähnt), hatten die beiden es dann doch noch geschafft, sich zu verabschieden, Dash war weiter gezogen und Ran hatte seinen Laptop aus dem Bad geholt, um den Bildschirm noch einmal richtig zu säubern und in Ruhe einen letzten kurzen Blick auf den Wahnsinn bei YouTube zu werfen, bevor er das Headset aufsetzen und sich in die leidige Support-Software einloggen würde. Wow, sogar eine private Nachricht. Hatten Sie etwa Fan-Post bekommen? LuNyx669, was für ein alberner Nickname! Er klickte die Message an…   ‚Finger weg von Dash, oder ich brech sie dir alle einzeln!!!’   Ran klappte vor lauter Schreck ganz schnell den Laptop zu (als ob das etwas nützen würde!). … Scheiße, das war Lunis. … Scheiße. … Wie hatte der ihn gefunden? Musste er das ernst nehmen? … War ja klar, dass sein tolles neues Life-Upgrade nicht ohne Bugs geliefert wird.   Kapitel 10: that escalated quickly ---------------------------------- /samstag[1]_   Ran starrte auf die größte Menge an gelben und orangefarbenen T-Shirts und Hoodies, die er jemals auf einem Fleck gesehen hatte, eins mit einem flashigeren Motiv als das nächste – Meme-Prints, Schriftzüge und Muster im 80s-Style, dumme Sprüche, Pokémon, Palmen und Ananas. Und sie waren alle auf seinem Bett ausgebreitet. „Ich wollte sichergehen, dass auch was dabei ist, was dir gefällt“, rieb sich Dash etwas beschämt den Hinterkopf. „Ich wär mir da nicht so sicher…“, sprach Ran seine Gedanken ohne nachzudenken oder Begeisterung vorzutäuschen aus, bis er Dashs enttäuschten Blick neben sich bemerkte. „A-also das heißt nicht, dass ich keins anziehen werde“, versuchte er sich schnell herauszureden, „Wir wollen doch zeigen, dass wir ein Team sind.“ Er lächelte Dash an, um ihn wieder aufzuheitern, und versuchte ihm kameradschaftlich gegen die Schulter zu boxen. Vermutlich merkte man, dass er nie viele Freunde gehabt und nicht viel Übung mit solchen Gesten hatte. „Das beste Team!“, bekräftigte er seine Aussage noch einmal und drückte für einen Moment seinen Kopf gegen Dashs Schulter. Er musste ein wenig mit sich selbst ringen.   Er hatte Dash nichts gesagt. Und er hatte es nicht vor. Nachdem er sich einen ganzen Tag lang darüber den Kopf zerbrochen hatte, ob er Lunis’ Drohung nun ernst nehmen sollte oder nicht, war er zu dem Schluss gekommen, dass es nur heiße Luft sein konnte, dass die Chance relativ groß war, dass Lunis durch Zufall auf das Viral Video gestoßen war – die Chance, dass er rausfinden würde, wo Ran wohnt, hingegen relativ gering. Ja, sein YouTube-Account war mit diversen Social-Media-Konten verknüpft. Aber über die konnte man bestenfalls rausfinden, wo er studiert hatte – nicht, dass er immer noch in der selben Stadt wohnte. Und schon gar nicht wo genau. Zumindest bis nach ihrem Date wollte er die Sache für sich behalten, um Dash nicht unnötig in Panik zu versetzen und ihnen möglicherweise den Abend zu verderben. Dashs Hände unter seinem Shirt rissen ihn aus seinen Gedanken.   „Hey, was machst du da?“, fragte Ran erschrocken. „Dich ausziehen?“, grinste Dash und Ran wurde mit einem Schlag knallrot. „Ich dachte das wollten wir uns für heute Abend auf–„ Moment… „Oh– d-du meinst um die Klamotten zu wechseln…“ Dash musste lachen. „Vielleicht meine ich das…“, versuchte er Ran zu necken und tänzelnde albern herum, während er sein eigenes Shirt ebenfalls auszog. An seinen Striptease-Skills musste Dash jedenfalls noch ein bisschen feilen. Aber trotzdem war er ohne Shirt verdammt heiß… Oh nein, er musste aufhören, ihn anzustarren. Dazu würde er heute Abend noch ausreichend Gelegenheit haben. Jetzt mussten sie sich erst mal auf das Turnier konzentrieren. Er musste schnell woanders hinschauen. Die Shirts… „Also, was meinst du? Grumpy Cat und Doge?“, lachte Dash ihn viel zu naiv und unschuldig für jemanden, der ihm gerade seinen sexy nackten Oberkörper präsentierte, an. Der Gedanke mit dem stürmisch über Dash herfallen nach dem Games-Turnier wurde ihm immer sympathischer. Auch wenn er das bis jetzt noch nie bei jemandem gemacht hatte und sich nicht ganz sicher war, was er da tun musste. „Oder lieber Banane mit Sonnenbrille und Ananas mit Sonnenbrille?“, unterbrach Dash seine Fantasien. „Was? Das ist doch voll banane. Lieber was ananas.“, musste Ran beim Blick auf die trashigen T-Shirt-Motive lachen (und hatte mit dem schlechten Wortwitz dashinitiv Dashs Sinn für Humor getroffen). „Wie wär’s mit gelbes Hoodie und oranges Hoodie?“, pickte er sich die beiden dezentesten Teile, die er entdecken konnte, heraus. „Wie wär’s mit Pikachu und Zapdos?“, stellte Dash die Gegenfrage. Manchmal musste Ran an Dashs Selbstbild doch stark zweifeln… „Nicht eher Pikachu und Karpador?“, grinste er den anderen schelmisch an. „Okay, dann Pikachu und Karpador“, gab er sich geschlagen. „Was, du hast wirklich ein Karpador-Shirt?“, prustete Ran los. Das sollte ein Witz sein… Aber was erwartete er auch von jemandem, der Ananas mit Sonnenbrillen auf seinen T-Shirts hatte? „Wo wir beim Thema sind“, setzte er erneut an, während Dash ihm das Pikachu-Shirt zuwarf und selbst das Karpador-Shirt überzog, „Ich hoffe es sind keine Karpadors in deinem Turnier-Team.“ „Es sind nur hervorragende Pokémon in meinem Turnier-Team“, antwortete Dash ein wenig zu überzeugt. Irgendwie war Ran sich nicht sicher, dass das ein Nein war. „Wie zum Beispiel…“, hakte er nach. „Tangela!“, schmetterte Dash enthusiastisch heraus. „TANGELA?!“ Er gab Dash einen skeptischen Blick. „Inwiefern ist Tangela ein hervorragendes Pokémon?“ Warum grinste Dash ihn an, als wäre das das Stichwort, auf das er gewartet hatte? „Du weißt schon… His palms are sweaty, knees weak, arms Spaghetti, there’s Spaghetti on his Spaghetti already.“ …WTF? Versuchte Dash gerade zu rappen? Er ersparte sich, nachzufragen, welches Meme das jetzt schon wieder war. „MOM’S SPAGHETTI!!“, schrie Dash ihn an. „DASH, ICH WILL DIESES TURNIER GEWINNEN!!!“, warf Ran in einer Geste der Verzweiflung unkoordiniert seine Arme in die Luft. „Und das werden wir!“, nahm Dash ihn zuversichtlich in die Arme, „Wart nur ab, bis du meine Technik siehst! Bereit, Trainer?“ Er schnappte sich Rans Visor-Cap mit dem Pokéball-Button vom Haken an der Schlafzimmertür und setzte sie ihm auf den Kopf, während er „Zeit für ein Du-Du-Duell!“ rief. Falsche Serie, Dash, falsche Serie!!   Kurz darauf hatten sie alles, was sie für die Veranstaltung brauchen würden, eingesteckt, und sich auf den Weg das Treppenhaus hinunter gemacht. „Hey, hey, ich hab eine Idee! Sollen wir filmen, wie wir an ein paar von den Arkadeautomaten spielen? Wir könnten eine Spezialepisode für deinen Kanal daraus zusammenschneiden!“ „Oh, das klingt gut!“, stimmte Ran zu, während sie sich auf Dashs Auto zubewegten.    Und dann sah er es, noch vor Dash, der weiter ging und fröhlich vor Ideen übersprudelte, während er schon vor Schreck erstarrt auf der Stelle stehengeblieben war. Die Silhouette, die gegen Dashs Auto lehnte.   Er hatte Lunis noch nie gesehen, aber er war sich vollkommen sicher, dass er es sein musste. Er war klein genug, dass er selbst in seinen komischen Gothic-Schnürstiefeln mit Blockabsatz nicht größer als Dash war, hatte lange, silberweiß gebleichte Haare, die an den Seiten abrasiert waren, schreckte offensichtlich nicht vor zu extensiver Sonnenbankbenutzung zurück (okay, vielleicht hatte er auch einfach von Natur aus einen dunkleren Teint) und sein Körperbau war eine seltsame Mischung aus zierlich und durchtrainiert, die sich durch seinen viel zu eng anliegenden Leder-Overall abzeichnete. Sollte das ein Motorradanzug sein? Jedenfalls schien er auf einem Motorrad gekommen zu sein und es strategisch hinter Dashs Auto platziert zu haben. Der Anzug sah trotzdem eher aus, als würde er einer Comic-Superschurkin gehören. Oder eher der sexy Halloween-Parodie einer Comic-Superschurkin mit dem durchgehenden Reißverschluss vom Hals bis zum Schritt. Und das arrogante Grinsen, das er dazu trug, wirkte diesem Eindruck nicht gerade entgegen…   „Hi, Pfirsichspalte!“, wandte Lunis seine Aufmerksamkeit mit einem Tonfall, von dem sich Ran nicht sicher war, ob er bedrohlich oder verführerisch sein sollte, voll Dash zu, der ihn tatsächlich erst in diesem Moment wahrnahm und instinktiv einen Schritt zurück machte, und dabei den selben panischen Gesichtsausdruck an den Tag legte, den er schon bei Lunis’ Anruf bei ihm beobachtet hatte. „L~Lunis, was machst du denn hier?“, versuchte Dash seine Panik mit einem verlegenen Lächeln zu überspielen, „Und warum siehst du aus wie eine heiße Comic-Superschurkin?“ LOL, hatte Dash gerade schon wieder das selbe gedacht wie er? Nur mit dem Zusatz ‚heiße‘… Das gefiel ihm irgendwie nicht. Auch nicht der Gedanke, dass Lunis wirklich irgendwie heiß war. Im Vergleich mit ihm war Ran echt nur ein hässlicher, fetter Nerd… „Gefall ich dir, BAE?“, lächelte Lunis übertrieben süß und mädchenhaft, während er sich auf den wie auf der Stelle festgefrorenen Dash zubewegte. „Ich hab all deine Hinweise durchschaut und dich gefunden. Ich bin gut, was? Bist du stolz auf mich?“ Meinte der Typ das ernst? Wie verschroben im Kopf musste man sein…   „Erst war ich ja ein bisschen enttäuscht, dass du nicht ans Telefon gegangen bist, aber dann hast du dieses Video mit dem hässlichen Otaku da gemacht.“ Hässlicher Otaku? War er das wirklich…? Natürlich war er das, seine ganze Schulzeit über hatte es ihn verfolgt. Wie hatte er nur glauben können, dass jemand wie Dash – jemand, der jemanden wie Lunis haben konnte – ihn ernsthaft attraktiv findet? „Darüber war es ein Kinderspiel, die richtige Stadt rauszufinden, und, ich meine, wenn du nicht gewollt hättest, dass ich dich finde, dann wärst du wohl dein Zapdos losgeworden. Das radioaktiv-gelbe Ding sieht man aus 10 km Entfernung. Oder zumindest aus der Luft mit Copter.“ Mit einem Quadrocopter?! Lunis hatte ernsthaft eine Drohne benutzt, um Dashs Aufenthaltsort auszuspionieren? Das war professionelles Stalking… „Ich meine … Ich hab ganz schön gelitten in der Zeit, als du weg warst“, wechselte Lunis’ eingebildeter Ausdruck plötzlich zu einem, der ihn fast ein bisschen an Dashs manchmal zu übertrieben weinerliche Mitleidsschiene erinnerte. Nur dass das bei Lunis nicht niedlich, sondern gruselig war… Und jetzt legte er auch noch seine Arme um Dash, der immer noch völlig überfordert auf der selben Stelle stand. Das war nicht in Ordnung. „Das macht uns wieder quitt, richtig? Ich verzeih dir, dass du einfach so abgehauen bist, und du verzeihst mir, was ich falsch gemacht habe, und du kommst mit nach Hause und wir fangen nochmal von vorne an. Richtig?“ Waren das Tränen in Lunis’ Augen? Der glaubte das wirklich alles, was er da sagte… Und drückte sich immer enger an den wie paralysierten Dash, den Kopf in seine Brust vergraben. Sollte Ran irgendwie eingreifen? Aber wie…? „Sag doch was, Dash“, blickte Lunis ihn fast schon flehend an und … öffnete den Reißverschluss an seinem Motorradanzug? …WTF? „Das gehört immer noch dir“, flüsterte Lunis während er Dashs Hand nahm und über seine entblößte Haut führte, „Du musst es dir nur zurückholen.“ Okay, das ging definitiv zu weit. Dash wollte das nicht … bestimmt nicht … oder? Irgendwie konnte er seinen Blick grade so gar nicht deuten. Er wirkte auf jeden Fall, als müsse er mit sich selbst kämpfen… Das war nicht gut…   Ran war gerade im Begriff, seinen Mund zu öffnen, um Lunis mit Worten, die sich in seinem Kopf noch nicht so ganz hatten formen wollen, aufzuhalten, da wurde ihm diese Aufgabe auch schon abgenommen. Von Dash. Indem er Lunis mit beiden Händen auf seiner nackten Brust ruckartig von sich wegstieß. Gröber, als er ihm das zugetraut hätte – Lunis hatte Mühe, seine Balance zu halten und nicht nach hinten umzukippen, während er ein paar Schritte zurückstolperte. Offensichtlich waren Dashs muskulöse Oberarme nicht nur schön anzusehen… „Verschwinde einfach wieder, Lunis! Ich bin nicht einfach so abgehauen, und das weißt du.“ Dashs Stimme war hart und kalt, eine Stimme, mit der er ihn noch nie hatte reden hören. Die ganze Situation war so surreal, dass sich Rans Innereien verkrampften und seine Hände zu zittern begannen. „Ach ja?“, grinste Lunis ihn an, als hätte Dashs Reaktion ihn eher noch mehr angestachelt als ihm die Augen zu öffnen, „Und was waren das grade für Blicke? Du willst mich immer noch, Transenficker, gib es zu!“ Er machte keine Anstalten zu einem Rückzieher und ging erneut auf Dash zu. Dieser schaute Lunis einen Moment mit leeren Augen an, nur um ihn dann mit einem Mal am Kragen zu packen. „ICH WILL DICH NICHT MEHR IN MEINEM LEBEN, LUNIS“, schrie er ihn an, „VERSCHWINDE. JETZT.“ Und schleuderte ihn diesmal mit einer Wucht zu Boden, dass Ran sich sicher war, dass Lunis sich etwas gebrochen haben musste. Scheiße… Was war das für ein Dash, den er nicht kannte? Passierte das gerade wirklich? Und warum verschwand Lunis nicht einfach, sondern hatte plötzlich ein wahnsinniges Grinsen auf den Lippen, während er, als wäre es das Entspannendste auf der Welt, seinen Kopf auf den harten Pflastersteinen ruhen ließ. „Aah, das hab ich vermisst!“, warf er Dash ein schiefes Lächeln zu und Ran konnte eine verstörende sexuelle Spannung in seinem Tonfall spüren. Stand der Typ etwa darauf, sich zu prügeln? Das ergab irgendwie Sinn, wenn er an Dashs Erzählungen von ihren letzten Versuchen ‚zu reden‘ dachte… Er hatte immer mehr das Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein. Seine einzige Hoffnung war es, dass er gleich aufwachen und über den bescheuerten Traum lachen würde. Aber das passierte nicht. Stattdessen raffte sich Lunis wieder auf und schüttelte sich mit einem theatralischen Schwung den Dreck aus den Haaren. Währenddessen warf Dash ihm einen irgendwie hilfesuchenden Blick zu, deutete mit dem Kopf Richtung Hofausfahrt. Ran nickte. Ja, sie sollten von hier verschwinden. Jetzt sofort. Aber wie? Während er noch nachdachte nahm Lunis Anlauf auf Dash und … machte einen verrückt hohen Sprung, bei dem er die Beine um Dashs Hüfte klammerte und ihn mit sich zu Boden riss. OMG! Was ging hier ab?! Rans Herz sackte ihm in die Hose, während er wie in Zeitlupe dabei zusah, wie zuerst Lunis mit den Knien, dann Dash mit dem Hinterkopf auf den Pflastersteinen aufschlug. Er wollte hinrennen, Lunis wegstoßen, nachsehen, ob mit Dash alles in Ordnung war, aber er war vor Angst wie gelähmt. Das war wirklich wie ein irrer Superhelden-Kampf. Captain Karpador VS Lunar Eclipse… Scheiße, das war jetzt wirklich der falsche Zeitpunkt für dumme mentale Bilder. Er musste etwas tun. Irgendetwas. Hilfe rufen.   Er holte sein Handy aus der Hosentasche und tippte mit zitternden Händen die Nummer des Notrufs ein. Während er das Tuten in der Leitung hörte, sah er dabei zu, wie es Dash gelang, mit Lunis eine Art Rolle seitwärts zu machen, nach der dieser unter ihm lag, und ihm mit den Händen um den Hals zu fassen. Heilige Scheiße, was ging mit Dash? Warum war der plötzlich so drauf?? UND WARUM GING DA NIEMAND ANS TELEFON? Das machte ihm grade ECHT Angst… Und das seltsame Rumgestöhne von Lunis, der nicht zu kapieren schien, dass er sich gerade vermutlich in Lebensgefahr und nicht in seinem SM-Keller oder was auch immer befand, machte die Situation NICHT BESSER…    „Hallo! Ran Ikeda“, meldete Ran sich schwer atmend und ohne Kontrolle über seine Stimme, die gerade viel zu laut sein musste, als endlich jemand ans Notruf-Telefon ging. „Ich muss einen Kampf … einen Streit … g-gewalttätige…“, Fuck, was war das richtige Wort? Wieso fielen ihm gerade keine Wörter mehr ein … oder Satzenden? „Hier sind z-zwei Leute dabei – hier ist jemand in – eine Prüge~“ Plötzlich wurde ihm das Handy aus der Hand gerissen. Wieso stand Lunis plötzlich vor ihm? Wie hatte er das geschafft? „Was soll das werden, du Lauch?“, grinste er ihn an, nachdem er den Anruf beendet hatte. „Ups, wie ungeschickt von mir“, sagte er, noch bevor er das Handy demonstrativ zu Boden fallen ließ und einmal mit seinen schweren Plateausohlen darauf stampfte, sodass Ran das Glas brechen hörte. Alter, das war noch nicht abbezahlt… Lunis packte ihn an seinem Shirt (er war kurz davor, sich in die Hose zu machen…) und er bemerkte einen irritierten Blick – scheinbar, weil Lunis sich darüber wunderte, warum er Dashs Shirt trug – der sich kurz darauf so verfinsterte, dass es sich noch schlimmer anfühlte, als all die Male, als ihm in der Schule von Bullies zugesetzt worden war. „Ich hol mir zurück was mir gehört“, flüsterte Lunis ihm bedrohlich zu, „Und du hältst dich da raus, sonst mach ich das selbe mit dir, was ich grad mit deinem Handy gemacht habe.“ Er ließ Ran wieder los und schwang sich – viel flinker als Ran hätte reagieren können – auf sein Motorrad. „Was willst du überhaupt mit dem Opfer, Sacksauger?“, lächelte er Dash noch einmal unangemessen charmant zu, „Hoffst du, dass du den entjungfern kannst, oder was?“ Lunis schnaubte noch einmal herablassend Luft durch die Nase aus während er die Maschine startete und war im nächsten Moment mit dröhnendem Motor aus dem Innenhof verschwunden.   Kapitel 11: keep calm and carry on ----------------------------------   /samstag[2]_   Ran sackte zitternd auf die Knie und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab. Er war sich nicht sicher, was ihn gerade mehr geschockt hatte. Lunis’ Kampfansage, die ganze Brutalität der Situation oder doch vor allem Dash in so einem Zustand zu sehen, den er ihm niemals zugetraut hätte. Dash… „Fuck, Dash, bist du in Ordnung?“, schleppte er sich mit weichen Knien zu ihm hinüber, „Kannst du aufstehen?“ „Alles in Ordnung“, sagte Dash unrealistisch ruhig und gefasst mit einem schwachen Lächeln. „Ich glaub ich blute da ein bisschen“, fasste er sich, immer noch halb auf dem Boden liegend, mit einer Hand an den Hinterkopf. „EIN BISSCHEN?!? WAS ZUM…“ Er starrte entsetzt die Wunde an Dashs Kopf an. „Fuck, Alter, du brauchst einen Krankenwagen. Ich – äh –“ Verdammt, sein Handy war ja kaputt. „Ich renn schnell hoch in die Wohnung und ruf dir einen über’s Festnetz, okay?“ Er wollte schon lossprinten, als Dash ihn noch gerade so am Arm packte. „Kannst du fahren? Das geht schneller.“ Er deutete mit dem Kopf auf sein Auto. Und Dashs immer mehr wegtretender Blick sagte ihm, dass er gerade wirklich gut beraten war, alles zu tun, um ihn schnell ins Krankenhaus zu kriegen. „Ich … bin lange nicht mehr gefahren, aber … das klappt schon, ab ins Auto mit dir!“ Er musste jetzt seine Bedenken runterschlucken. Er war seit Anfang des Studiums nicht mehr Auto gefahren, mit ein oder zwei Ausnahmen, aber er würde das hinkriegen. Er fühlte sich plötzlich seltsam konzentriert und leistungsfähig. War das ein Adrenalinschub oder so? Er half Dash aufzustehen und stützte ihn, während sie sich zum Auto schleppten. Er hievte ihn in den Beifahrersitz, sorgte dafür, dass er sich anschnallte und stellte sich selbst provisorisch den Fahrersitz und die Spiegel zurecht. „Oh, Automatik?“, stellte er erschrocken fest, „B-bin ich noch nie gefahren…“ „Das ist ganz einfach“, versuchte Dash ihn zu beruhigen, „du musst gar nichts machen, nur auf N … schalten … und –“ Oh, Shit! War Dash gerade ohnmächtig geworden? „DASH?!“ „Ja?“, erwiderte er ganz leise und öffnete so verwirrt wie nach einem langen Schlaf die Augen. Zum Glück. „Nicht einschlafen, okay? Ich bring dich ganz schnell ins Krankenhaus. Red mit mir, damit du wach bleibst.“ Zum Glück wusste er so ungefähr, wo er hin musste. Nachdem er gleich beim Verlassen des Parkplatzes ein paar Mal zu stark gebremst hatte und sich nicht ganz sicher war, ob er die Maße des Autos richtig einschätzen konnte (definitiv größer als Ikus Toyota IQ, den er ein paar Mal gefahren war), verflog seine Aufregung dann langsam während des Fahrens und machte Platz für die Sorge um Dash, der wie vollkommen benebelt neben ihm saß. „Wir schaffen es noch zum Turnier, oder? Ich fang dir das größte Karpador, nur für dich! Mit Glitzerfolie und Partyhütchen!“ Er traute sich nicht zu sagen, dass aus dem Turnier vermutlich nichts mehr werden würde. Oder dass er wirres Zeug redete, selbst für Dash-Verhältnisse – auch wenn das trotz allem wieder mehr der gewohnte Dash war als das, was er eben bei Lunis an den Tag gelegt hatte. „Das ist lieb von dir, Dash“, lächelte er ihn verunsichert an. Und wagte sich aus lauter Verzweiflung dann doch, ein bisschen über dem Tempolimit zu fahren und ein paar sehr dunkelgelbe Ampeln mitzunehmen.   Irgendwie schaffte er es tatsächlich, das Auto unbeschadet bis zum Krankenhaus zu fahren und den immer verwirrteren Dash bis in die Notaufnahme zu schleppen, wo er schließlich zusammenklappte – wohl ein Glück im Unglück, da er so direkt die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und vor allen Omas mit Schnupfen und Fünfjährigen mit aufgeschlagenen Knien, die da sonst noch so rumsaßen, drankam. Und jetzt saß Ran schon seit einer guten halben Stunde zwischen ihnen, während Dash behandelt wurde, versuchte so gut er konnte das Geheule der Kinder auszublenden und irgendwie seine Gedanken zu ordnen. Was war da gerade passiert? Warum war dieser Lunis so durchgeknallt? Er hatte Angst, dass er seine Drohung in die Tat umsetzen würde. Und dass er Dash weiter verfolgen würde, jetzt, wo er wusste, wo er ihn finden konnte. Und vor dem, was er aus Dash machte. Dash war der letzte, dem er solches Aggressionspotenzial zugetraut hätte, und er konnte gut und gerne darauf verzichten, das noch einmal zu erleben.    Noch bevor er so richtig ein Fazit für sich selbst formuliert hatte, kam Dash auch schon (oder endlich?) wieder aus dem Behandlungszimmer heraus, mit versorgter Kopfwunde und einigen Bögen Papier in der Hand. „Alles in Ordnung?“, lief Ran besorgt zu ihm hin. „Schon“, erwiderte Dash und klang dabei nicht ganz so überzeugt. „Aber?“, hakte Ran nach. „Aber aus dem 8-Beat-Turnier wird wohl nichts mehr. Ich soll über Nacht zur Beobachtung da bleiben wegen Gehirnerschütterung.“ Dashs Blick war mitleiderregend. „Ich könnte natürlich auf eigenes Risiko trotzdem gehen…“ „Nix da“, widersprach ihm Ran energisch. Ja, er hatte sich auf ihr Date gefreut. Sehr sogar. „Dass es dir wieder gut geht, ist jetzt das wichtigste.“ Er nahm Dashs freie Hand in seine und rückte mit seinem Kopf etwas näher an ihn. „Außerdem werden wir noch ganz viele tolle Dates haben. Auf das eine kommt es nicht an.“ Hoffentlich. Wenn Lunis ihnen nicht wieder dazwischen funken würde. Er drückte Dash noch einen Kuss auf die Wange, bevor er bemerkte, dass einige von den Leuten, die in der Notaufnahme warteten, die beiden anstarrten, und schreckte schnell zurück. Trotzdem hatte er es geschafft, Dash wieder zum Lächeln zu bringen. „Ich soll mich an der Rezeption mit den Bögen hier anmelden“, erklärte dieser und ließ es sich nicht nehmen, einen Arm um Ran zu legen und ihn so mit sich zu ziehen. „Ähm … ist das in diese Richtung?“, blickte er verwirrt hin und her, nur um noch mehrmals mit Ran im Arm von einem Ausgang der Notaufnahme zum nächsten zu laufen und so endgültig die Aufmerksamkeit des kompletten Wartebereichs auf sich zu ziehen. Oh Gott, das war so peinlich… Und ihre quietschigen Pokémon-Shirts im Partnerlook machten das Ganze auch nicht gerade besser. „Hier lang“, entdeckte Ran endlich mit hochrotem Kopf die Beschilderung, die ihnen sagte, dass die ursprünglich eingeschlagene Richtung die richtige gewesen wäre.   Die Krankenschwester an der Rezeption hatte pastellrosa gefärbte Haare (‚so hipster!‘, hörte er in seinem Hinterkopf Iku mit einem Augenrollen sagen und dabei ihren Starbucks-Kaffee schlürfen) und ein so warmes, freundliches Lächeln, dass selbst Ran sich in ihrer Gegenwart nicht unwohl fühlen konnte. Sie hatte Dash sogar einen Stuhl bei sich hinter der Theke und ein Glas Wasser angeboten, nachdem er sie peinlicherweise Animaniacs-Style mit „Hallooooooo Schwester!“ begrüßt und danach bemerkt hatte, dass er doch nicht mehr so viel Energie übrig hatte. Ran füllte derweil die Formulare für ihn aus. Immerhin war Dash durchaus noch in der Lage, ihm die Fragen aus dem Fragebogen mit so sinnvollen Aussagen wie „Hast du Allergien?“ – „Ja, auf schlechte Vibes“ zu beantworten. „Okay, jetzt muss ich nur noch deine Anschrift eintragen. Kann ich die von deinem Perso abschreiben oder so?“ Dash schaute ihn irgendwie peinlich berührt an, kramte ohne etwas zu sagen seinen Geldbeutel mit kitschigem Palmen-im-Sonnenuntergang-Motiv heraus und reichte ihm den Ausweis. Ran schaute auf den Namen und musste sich tierisch zusammenreißen, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Er schaute zu Dash, der ihn ungewohnt beklemmt anlächelte, zurück auf den Ausweis, rüber zu der Krankenschwester, vor der er sich eigentlich keine Peinlichkeiten leisten wollte, aber… „KEVIN-JUSTIN GLÜCKAUF?! Alter, du heißt KEVIN-JUSTIN Glückauf?!“ Seine Stimme überschlug sich fast vor Lachen. Das war zu dumm. Kein Wunder, dass er sich immer nur mit Spitznamen vorstellte (Bis eben war Ran sich nie sicher gewesen, ob Dash sein Spitzname oder ein sehr kreativer Erguss seiner Eltern gewesen war. Deren kreative Ergüsse sahen jedoch offensichtlich anders aus…). Auf erschreckende Weise passte der Name erstaunlich gut zu ihm. „Kevin-Justin…“, sagte Ran noch einmal ganz entgeistert, mehr zu sich selbst als zu irgendwem sonst. „Nicht lachen, okay?“, schaute ihn Dash irgendwie unglücklich an. Dafür war es doch schon zu spät…? Hatte er da etwa einen wunden Punkt getroffen?   Kurz darauf hatte Dash sein Zimmer erhalten und auf seinem Krankenbett Platz genommen. Sie hatten Glück gehabt, Dash hatte das Zimmer für sich alleine (oder zumindest empfand Ran das so – vielleicht hätte Dash sich ja über einen Zimmernachbarn gefreut, aber war ja auch nur bis zum nächsten Tag und er wirkte eh, als müsse er dringend schlafen). Ran hatte sich zu ihm auf die Bettkante gesetzt, Dash hatte angefangen, sich auszudenken, was sie als Ersatz für das ins Wasser gefallene Date am nächsten Tag machen könnten (alles lief auf Videospiele und Pizza hinaus) und so sehr Ran versuchte, es zu unterdrücken, musste er immer wieder für einen kleinen Sekundenbruchteil über Dashs echten Namen lachen, bis er sich schließlich nicht mehr beherrschen konnte. „Ahaha, es … es tut mir leid“, hielt er sich vor Lachen den Bauch, „Kevin-Justin… Das ist zu geil.“ Erst als er sah, dass Dash noch betrübter aussah als beim ersten Mal, schlug seine Stimmung wieder um. „Ist der Name wirklich so schlimm?“, blickte Dash ihn mit einem Ansatz von wässrigen Augen an. Ran setzte zu einer Antwort an, aber traute sich dann doch nicht, etwas zu sagen. „Den Namen haben mir meine ersten … meine echten Eltern gegeben. Und jeder, der ihn hört, lacht darüber. Das macht mich traurig, weil ich dann das Gefühl habe, dass die Leute sich über meine Eltern lustig machen. Dass sie denken, dass sie irgendwelche dummen Assis gewesen wären. Aber das waren sie nicht. Ich hab so viele schöne Erinnerungen an sie.“ Er holte ein benutztes Taschentuch aus seiner Hosentasche und schnäuzte hinein. „So hab ich das nicht gemeint…“, versuchte Ran ihn zu beruhigen. „Also, ich wusste ja nicht… Es tut mir leid.“ Dafür, dass er selbst so sensibel war, war er ziemlich gut darin, bei anderen ins Fettnäpfchen zu treten. „Was … ist mit deinen Eltern passiert?“, fragte er vorsichtig nach.   Dash erzählte ihm an diesem Abend noch seine halbe Lebensgeschichte. Von seiner Mutter, der Friseuse, dank der er schon im Kindergarten immer die ‚angesagtesten‘ Haarschnitte gehabt hatte. Von seinem Vater, der bei Toys’R’Us gearbeitet und ihm so oft kleine Überraschungen mitgebracht hatte – am liebsten Dinge, die blinkten und Krach machten und die Wohnung verwüsteten und mit denen sein Papa und er riesen Spaß hatten und seine Mutter halb in den Wahnsinn trieben. Und von dem schrecklichen Morgen, an dem alle Kinder von der Lesenacht in der Grundschule abgeholt wurden, nur er nicht. Davon, wie sein Grundschullehrer, Herr Glückauf, nachdem er Dashs Eltern nirgends hatte erreichen können, die Polizei angerufen hatte. Wie seine gesamte Welt zusammengebrochen war in dem Moment, als er erfuhr, dass seine Eltern in der Nacht auf dem Heimweg von einer Party bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Und davon, wie Herr Glückauf und seine Frau, die auch Lehrerin war – Physiklehrerin an einem Gymnasium – ihn bei sich aufgenommen hatten. Wie er sich plötzlich an sowas wie feste Fernsehzeiten, gesundes Essen und kein Spielen vor den Hausaufgaben gewöhnen musste. Wie es zu einer seiner liebsten Beschäftigungen wurde, mit den Unterrichtsmaterialien seiner neuen Mama herumzuexperimentieren und dabei zahlreiche Kurzschlüsse im Hause Glückauf auszulösen. Wie es dank der Förderung, die er bei den Glückaufs erhielt, auch mit seinen schulischen Leistungen irgendwann deutlich bergauf ging (etwas, was bei seinen ersten Eltern immer zweitrangig gewesen war). Und davon, wie die beiden ihn schließlich adoptiert hatten und ihm bis heute die besten Eltern waren, die er sich vorstellen konnte… Oder zumindest die zweitbesten.   „Ich meine … Ich wär wahrscheinlich nie studieren gegangen und das alles, wenn ich bei meinen richtigen Eltern groß geworden wäre. Aber manchmal stell ich mir trotzdem vor, wie das gewesen wäre, wenn sie noch da gewesen wären, und…“ Er brach in Tränen aus und konnte nicht weiter reden. Ran wusste nicht, was man jemandem in so einer Situation sagen konnte, aber er nahm Dash in die Arme und drückte ihn ganz fest an sich. „Weißt du, sie waren vielleicht nicht die Schlausten oder die Erfolgreichsten oder so, aber sie waren trotzdem tolle Eltern. Ich bin mit viel Liebe aufgewachsen. Also, bei den Glückaufs natürlich auch. Da hatte ich wohl echt Glück im Unglück… Glückauf im Unglück“, warf er Ran ein schwaches Lächeln zu. „Aber kevinitiv“, rutschte es Ran heraus. Dash starrte ihn einen Moment perplex an, nur um dann mit ihm zusammen in lautes Lachen auszubrechen. „Ahaha, warum bin ich da noch nicht selbst drauf gekommen?“ Rans Lachen ging in ein warmes Lächeln über. Zum Glück schaffte es Dash immer so schnell, sich aus schlechten Stimmungen wieder rauszureißen. Er wünschte sich, er wäre da auch ein bisschen besser drin. „Willst du wissen, wie meine richtigen Eltern mit Nachnamen hießen?“, grinste Dash. War er bereit für diese Info? „Palme!“ Dashs Grinsen wurde breiter und ein bisschen … stolz? „PALME?!“, fiel Ran wieder voll in seinen Lachflash zurück, „Du willst mich doch verarschen, oder?“ „Mh-mh“, verneinte Dash mit einem Kopfschütteln. „Oh Mann“, lachte Ran weiter, „Und ich dachte, ich wäre mit meinem Nachnamen gestraft…“ „Aber Palmen sind das Schönste“, freute sich Dash so aufrichtig, dass Ran sich sicher war, dass wohl niemals jemand dumme Verschandelungen seines Namens unternommen hatte. Mochte er deshalb Palmen so gerne? „Und was ist an Ikeda bitte schlimm?“ Ran machte einen theatralischen Seufzer. „Wenn man seine komplette Schulzeit lang IKEA genannt wird, das ist schlimm…“ Jetzt kam es ihm albern vor, aber damals hatte es ihm weh getan. „Iku und ich waren unser halbes Leben lang Billy und Expedit.“ „Aber IKEA ist doch cool, oder?“, lächelte Dash ihn halb naiv, halb aufmunternd an. „Naja, das fand Iku dann irgendwann auch“, gab Ran zu, „Sie fand, man muss das zelebrieren, deshalb haben wir dann auch mit Absicht nur noch IKEA-Möbel gekauft.“ „Richtig so“, stimmte Dash zu, „Mach’s wie die Glühbirne, trag’s mit Fassung.“ Pfft, wie viel Gehirnkapazität Dash wohl zum Abspeichern solcher dummen Sprüche verbrauchte? „Wer von euch war Billy?“, fragte er interessiert nach. „Iku war Billy, ich war Expedit“, erklärte Ran. Das stand in keinerlei Zusammenhang mit den vielen Expedit-Regalen in seiner Wohnung, in denen unter anderem seine Konsolensammlung untergebracht war. Nicht dass er sich mit diesem Regal identifizierte oder so… „Expedit? Warum nicht Poäng?“, grinste Dash ihn an. „Was?“ Dash, du Perverso! „Was?“, lachte Dash unschuldig zurück.   Im selben Moment kam ein Krankenpfleger ins Zimmer, um Ran darauf hinzuweisen, dass die Besucherzeit in zehn Minuten enden würde. „Mann, sind die streng hier“, schmollte Dash, als der Pfleger den Raum wieder verlassen hatte, „Meinst du, wenn ich dich unter der Decke verstecke und dich ganz fest an mich drücke, merken die nix und ich kann dich hier behalten?“ „Ich glaube kaum“, lachte Ran mit errötenden Wangen und streichelte Dash durchs Gesicht. Der Gedanke, ihn jetzt ganz alleine hier zurücklassen zu müssen, machte ihn irgendwie sentimental (Was war denn los mit ihm?). „Aber morgen Mittag hol ich dich ab, sobald du nochmal durchgecheckt bist, und dann können wir uns bei mir unter der Decke verstecken so lange wir wollen.“ Er musste ein bisschen kichern, während er das sagte. „Dein Auto lass ich hier stehen, okay? Ich fahr mit dem Bus heim.“ Zumindest war ihm der Plan geheurer als das fremde Auto auch noch einmal alleine fahren zu müssen. Dash nickte. „Danke übrigens für die Rettungsfahrt vorhin“, lächelte Dash ihn an, „Das war echt heldenhaft, ich bin stolz auf dich!“ Ran grinste verlegen zurück. „Tja, ich schätze zumindest was Autofahren angeht erfülle ich nicht alle Asiaten-Klischees. Hoffe ich… Auch wenn ich lange nicht gefahren bin…“ „Vielleicht lass ich dich jetzt öfter mal fahren“, zwinkerte Dash ihm zu. „Das könnte ich mir überlegen“, lachte Ran. „Jetzt ruh dich aber erst mal aus, das hat jetzt Vorfahrt… äh, Vorrang.“ Offensichtlich hatten die Strapazen des Tages nicht nur bei Dash für Verwirrung im Kopf gesorgt. Dann griff Dash plötzlich nach seinen Händen und zog ihn näher zu sich. „Ich hab dich lieb, Ran“, drückte Dash seine Wange gegen ihn und ein warmer Schauer lief durch Rans ganzen Körper und sorgte dafür, dass sein Gesicht ganz heiß wurde. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber es kamen nur aufgeregte, viel zu kurze Atemzüge heraus. Um davon abzulenken drückte er kurzerhand seine Lippen gegen die von Dash und küsste ihn innig, so lange, bis mehr und mehr Panik in ihm aufstieg, dass gleich wieder ein Pfleger reinkommen würde. „Schlaf gut“, streichelte er Dash noch einmal durch die Haare, bevor er seinen Platz auf dem Bett verließ und sich Richtung Tür bewegte. „Morgen machen wir was Schönes.“ „Morgen wird der beste Tag“, strahlte Dash zurück.   Kapitel 12: it’s dangerous to go alone -------------------------------------- /sonntag_   Ran hatte wie abgemacht „ausgeschlafen“, da Dash den Vormittag über noch einmal durchgecheckt werden und erst am Mittag entlassen werden sollte. Ausgeschlafen hieß in seinem Fall, dass er schon seit Sonnenaufgang zwischen Dashs T-Shirts, in die er sich vielleicht zum Schlafen ein bisschen eingekuschelt hatte, auf dem Bett lag und sich mit diversen Gedanken herumquälte. Damit, dass er es gestern nicht geschafft hatte, Dash noch einmal auf den Berserkermodus, den er Lunis gegenüber an den Tag gelegt hatte, anzusprechen. Und dass er es auch nicht schaffte, das Ganze in seinem Kopf so zu formulieren, dass er sich jetzt wagen würde, ihn darauf anzusprechen. Er wünschte, er könnte irgendeine Formulierung, irgendeine Erklärung für sich selbst finden, die bei ihm nicht das bittere Gefühl hinterließ, dass es da eine Seite an Dash gab, die er nicht kannte, die er nicht einschätzen konnte und mit der er vielleicht nicht klarkommen würde. Und dann wiederum hatte Dash gestern so viel von sich selbst mit ihm geteilt, ihm das Gefühl gegeben, ihm so nah und vertraut zu sein, dass er sich sagen wollte, dass es irgendeine einfache, offensichtliche Erklärung geben musste, und alles in Ordnung sein würde, sobald sie erst einmal darüber geredet hatten. Er dachte auch darüber nach, dass er Dash irgendwie dazu kriegen musste, endlich Anzeige gegen Lunis zu erstatten. Am besten direkt nachdem sie zusammen das Krankenhaus verlassen würden. Ja, Dash hatte Lunis wahrscheinlich auch verletzt. Aber er hatte sich wehren wollen, während Lunis ihn offensichtlich angegriffen hatte. Und was Lunis machte, war ganz klar Stalking. Aber selbst wenn sie ihn anzeigen würden, würde das Lunis, so wie Ran ihn einschätzte, vermutlich nicht davon abhalten, es immer wieder zu versuchen. Was bedeutete das? Für ihn, für Dash, für sie beide? Hieß das, dass Dash wieder umziehen müsste? Dass sie sich nicht mehr sehen durften, weil Lunis wusste, wo Ran wohnte? Nein, das war lächerlich. Aber noch lächerlicher war es, zu glauben, dass sie zusammen wegziehen würden, oder dass das, was sich da zwischen ihnen angebahnt hatte, als Fernbeziehung eine Chance hätte, wo sie sich doch erst so kurz kannten. Verdammt, er hatte doch gewusst, warum er das nicht hatte überstürzen wollen, sich nicht so schnell so große Hoffnungen hätte machen sollen…    Er fasste den Beschluss, anstatt noch länger wie ein jämmerliches Häufchen Elend auf dem Bett herum zu liegen, lieber doch schonmal aufzustehen, sich fertig zu machen und ein bisschen früher als geplant in Richtung Krankenhaus aufzubrechen. Er nahm sein kaputt getretenes Handy in die Hand, das er gestern noch vom Boden aufgelesen hatte. Es war vollkommen tot. Er versuchte, den komplett verbogenen Rahmen zu öffnen und schaffte es schließlich, seine SIM-Karte, die halbwegs unbeschadet aussah, herauszuholen. Irgendwo hatte er doch noch… Er durchsuchte sämtliche Schubladen seines Schreibtisches, bis er schließlich irgendwo ganz hinten, unter unzähligen Kabeln und Netzteilen, sein treues altes Nokia3310 fand. Ein bisschen basteln und schon hatte er aus der alten SIM-Karte, die da noch drin steckte, einen Rahmen gezaubert, mit dessen Hilfe er seine kleine Karte aus dem Smartphone ins Nokia stecken konnte. Sein Blick fiel auf Dashs SIM-Karte, die immer noch auf seinem Schreibtisch lag. Vielleicht sollte er sie ihm mal zurückgeben, das war doch gefährlich, so ganz ohne Handy unterwegs zu sein. Was jetzt wohl oder übel auch auf ihn zutreffen würde, zumindest so lange, bis er den Akku vom Nokia aufgeladen hatte. Naja, die Stunde oder zwei, bis er mit Dash wieder hier war, würde schon nix passieren. Immerhin sein Notfall-Verbandsset hatte er im Rucksack – und entschloss sich nach einem für seine Verhältnisse deutlich zu sentimentalen Blick auf die Shirts auf seinem Bett dazu, Dashs gelbes Hoodie überzuziehen, um sich bei dem Gedanken an die Zukunft der beiden nicht ganz so elend und pessimistisch zu fühlen. Eine Entscheidung, die er spätestens, als er auf dem Weg zum Krankenhaus im Bus saß und feststellte, dass Gelb eindeutig eine gute Farbwahl war, wenn man möglichst viele fremde Blicke auf sich ziehen wollte, wieder bereute.   Schon bei seiner Ankunft am Krankenhaus bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Wieso war Dashs Auto nicht mehr auf dem Parkplatz, auf dem er es gestern abgestellt hatte? War er etwa abgeschleppt worden, weil er aus Versehen auf einem Behindertenparkplatz geparkt hatte oder so? Shit, das hatte gerade noch gefehlt. Zum Glück war er früher da und konnte sich noch darum kümmern, bevor Dash entlassen werden würde. Aber erst mal wollte er nach ihm sehen. Doch mit jedem Schritt wuchs in ihm die Befürchtung, dass er nicht abgeschleppt worden war, dass hier irgendetwas faul war. Er ging durch die Schiebetür ins Krankenhaus, schnurstracks auf die Aufzüge zu, und betete, dass Dash noch auf seiner Station sein würde und keine Dummheiten gemacht hatte. Doch noch bevor er dort ankam, hörte er eine bekannte Stimme nach ihm rufen. „Hey, du!“ Die Krankenschwester mit den rosa Haaren saß wieder an der Rezeption und rief ihm hinterher. „Wenn du zu deinem Kumpel Kevin-Justin willst, der ist schon weg.“ Sie sagte es mit einem unterdrückten Kichern über den Namen, der ihn gestern so amüsiert hatte. Sein Kumpel? Hatten die beiden wirklich so wenig wie ein Paar auf sie gewirkt? Zugegeben, er hatte noch nicht einmal seinen richtigen Namen gekannt, das sprach für Außenstehende vermutlich nicht gerade für eine besondere Vertrautheit der beiden, aber irgendwie hinterließ das trotzdem ein enttäuschtes Gefühl in ihm. Aber viel wichtiger… „W-w-was, wieso weg? Er hatte doch noch Untersuchungen heute Morgen.“ Die Schwester nickte. „Er wurde auf eigenes Risiko entlassen, er schien sich wieder ziemlich fit zu fühlen. Seine Freundin hat ihn abgeholt.“ Seine was?! Shit, das musste Lunis gewesen sein. „L-lange, weiße Haare?“, musste Ran sich noch einmal versichern, auch wenn bereits alle Glocken in seinem Hirn Alarm schlugen. „Ah, ihr kennt euch!“, lächelte die Krankenschwester. Fuck… Fuck, fuck, fuck… „Eine witzige Person, sie kam mit einem riesigen schwarzen Hut und Sonnenbrille hier rein, wirkte ein bisschen nach Mafia-Lady.“ Sie musste lachen. „Aber so ein niedlicher Mensch. Sie hatte ein Sträußchen gelbe Rosen für Kevin-Justin dabei, weil das seine Lieblingsfarbe ist, hat sie gesagt. Die beiden sind wohl seit über drei Jahren zusammen, aber jetzt musste er aus beruflichen Gründen umziehen und sie vermissen sich schrecklich.“ Lunis, du scheiß Lügner. Und Alter, komm zum Punkt. Dash wäre doch nicht freiwillig mit Lunis mitgegangen… Oder??? Das Gefühl, dass er Dash überhaupt nicht richtig kannte, legte sich immer beklemmender um Rans Eingeweide. „U-und sie sind zusammen hier runter gekommen und Dash … Kevin … hat einfach so seine Entlassungspapiere unterschrieben?“ Die Krankenschwester schaute ihn perplex an. „Du bist ja ganz aufgeregt. Es ging ihm gut, ehrlich, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Und seine Freundin passt bestimmt gut auf ihn auf. Die beiden sind schon ein süßes Paar, findest du nicht? Haben sich gestritten wie ein altes Ehepaar, weil Kevin fast seinen Blumenstrauß hier auf der Theke liegen gelassen hätte.“ Wie ein altes Ehepaar? Wo sie sich gestern noch fast gegenseitig umgebracht hätten? Das war alles ein schlechter Witz, oder? In Rans Kopf begann alles, sich zu drehen. „Haben sie irgendwas gesagt, wo sie hingehen?“, versuchte er noch eine letzte sinnvolle Info zu bekommen. „Oh, ich glaube sie haben was von frühstücken gehen gesagt… Zimtschnecken frühstücken.“ Zimtschnecken?!?! Am besten stellte er einfach gar nichts mehr in Frage. „Mh, danke“, lief Ran geistesabwesend los Richtung Ausgang, ohne die Rezeptionistin noch einmal anzuschauen.   Noch bevor er die Schiebetür nach draußen erreichte, fing Ran an, panisch loszulaufen. Ohne Ziel, denn er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Wo war Dash? War er in Gefahr? Oder war er etwa wirklich aus freien Stücken mit Lunis mitgegangen? Ohne ihm irgendwie bescheid zu sagen? Ein lähmendes, bedrückendes und schrecklich hilfloses Gefühl machte sich in Ran breit. Er hätte das Auto nicht über Nacht stehen lassen sollen, verdammt. Natürlich hatte Lunis Dash so finden können. Das hatte er doch selbst noch gesagt. Wieso war er nur so dumm? Er wollte schreien und weinen, aber alles was passierte, war, dass seine Atmung immer schneller und seine Knie immer weicher wurden. Don’t panic, versuchte er sich immer wieder selbst zu sagen, don’t panic. So sehr er darüber nachdachte, konnte er sich nicht sicher sein, ob hier Dash das Opfer einer Art Entführung war, oder eher er selbst einfach nur ein totaler Idiot, der sich in sein Wunschdenken hineingesteigert hatte und nicht hatte sehen wollen, dass Dash kein bisschen über Lunis hinweg war. Aber was, wenn es doch ersteres war? Was, wenn Dash ihn brauchte? Er erinnerte sich an den hilfesuchenden Blick, den er ihm gestern Abend, als Lunis im Hof aufgetaucht war, zugeworfen hatte. Er musste etwas unternehmen. Aber was? Und wie? Er konnte es auf keinen Fall alleine mit Lunis aufnehmen, selbst wenn er die beiden finden würde… Immerhin hatte er Dashs Adresse noch so halbwegs im Kopf von gestern Abend, als er sie in das Formular eingetragen hatte. Bis auf die Hausnummer jedenfalls. Das war irgendwas Dreistelliges. Shit, das würde er nie finden. Ob er nochmal bei der Krankenschwester nachfragen sollte? Das würde bestimmt voll komisch kommen, und vermutlich durfte die solche Infos auch gar nicht rausgeben. Und selbst wenn, es war überhaupt nicht gesagt, dass Dash dort sein würde. Zimtschnecken essen. Die beiden konnten überall sein… Wenn er Dash doch nur früher seine verdammte SIM-Karte zurückgegeben hätte und ihn jetzt anrufen könnte… Ohne einen richtigen Plan stieg er in den Bus, der ihn wieder zurück nach Hause bringen würde, ein. Vielleicht nur, um die Option zu haben, sich verzweifelt aufs Bett zu werfen. Oder klarer denken zu können. Das gelang ihm unter Menschen nie, und von denen wimmelte es gerade überall.   Zu Hause ließ er sich aus Gewohnheit auf seinen Schreibtischstuhl fallen, einfach nur um kurz durchatmen zu können. Dann landete sein Blick auf seinem Nokia. Und auf Dashs SIM-Karte. Und er hatte zumindest eine Idee, wie er das Problem, dass er es nicht alleine mit Lunis aufnehmen konnte, lösen würde… „H-h-hi, hier ist Ran, ich bin~“ „Ran, Schätzchen, ist das eine Überraschung, dich endlich mal persönlich kennen zu lernen! Dash redet ja von nichts anderem mehr als von dir!“ SCHÄTZCHEN?! Redeten die alle so, da wo Dash herkam? Er hatte Dashs SIM-Karte ins Nokia gesteckt, all seinen Mut zusammen genommen und sich schließlich überwunden, Piroska anzurufen. Wenn ihm jemand helfen konnte, dann sie. Zumindest hatte er den Eindruck gehabt, dass sie auch nicht besonders gut auf Lunis zu sprechen war. „Das ist … beruhigend“, sprach er ohne nachzudenken seinen ersten Gedanken aus und ohrfeigte sich im nächsten Moment innerlich selbst, sowas Blödes gesagt zu haben. „Was führt dich dazu, bei mir anzurufen? Willst du bei Mutti um Dashs Hand anhalten?“, lachte Piroska ein bisschen zu laut und selbstgefällig für seinen Geschmack ins Telefon. „Nein, das ist sowas wie ein … Notfall … glaube ich“, stotterte Ran und Piroskas Lachen brach schlagartig ab. „Lunis ist hier.“ Er hörte sie am anderen Ende der Leitung erschrocken nach Luft schnappen und gab ihr eine Kurzzusammenfassung der Ereignisse von gestern Abend und heute Morgen. „Ich glaube nicht, dass ich alleine was gegen Lunis ausrichten kann, falls Dash in Gefahr ist…“, gab er leise zu. „Okay, Kleiner, hier ist der Plan“, hörte er Piroska in fast militärischem Tonfall sagen. „Du machst dich auf den Weg zu Dashs Wohnung und schickst mir eine SMS, sobald du die Hausnummer rausgefunden hast und weißt, ob Dash und Lunis da sind. Nevis und ich sind in ungefähr zwei Stunden da. Wenn dir die Lage zu heikel ist, warte einfach dort auf uns. Falls sie nicht da sind, sucht Nevis auf der Fahrt schonmal alle Cafés raus, in denen man Zimtschnecken bekommt, und wir klappern die zusammen ab. Nevis kann auch versuchen, Lunis auf dem Handy anzurufen und was rauszufinden, aber ich verspreche mir nicht all zu viel von dem Ansatz.“ „Wow … machst du sowas öfter?“, zeigte Ran sich von ihren planerischen Fähigkeiten beeindruckt. „Ich bin Management-Studentin, Süßer. Sowas ist mein Job.“ Naja, vielleicht wäre Event-Management wirklich nicht das richtige für Dash gewesen… „Okay, dann geb ich euch bescheid, sobald ich die Adresse hab“, bestätigte Ran noch einmal.   Seit einer f*cking halben Stunde lief er jetzt schon panisch schnaufend wie ein Idiot die Innenhöfe dieser scheinbar endlos langen Straße ab, in der Hoffnung, irgendwo Dashs Auto oder wenigstens ein übergroßes LED-Klingelschild mit der Aufschrift Kevin-Justin Glückauf zu finden. Die Leute hielten ihn bestimmt schon für einen verwirrten Obdachlosen auf Pfandflaschensuche oder so. Zusammen mit der Busfahrt hatte er jetzt schon über eine Stunde vergeudet. Eine Stunde, in der schon sonstwas hätte passieren können. Gerade wünschte er sich ein bisschen, auch so einen Quadrocopter zu haben wie Lunis. Er war schon kurz davor, sich zu sagen, dass das alles doch eh sinnlos war, als er den unverkennbar zitronengelben Lack zwischen den anderen Autos auf dem Parkplatz, über den er gerade lief, hervorblitzen sah. Wie plötzlich wieder mit neuem Antrieb begann er, die Klingelschilder der angrenzenden Häuser abzusuchen und fand tatsächlich beim zweiten Eingang die Aufschrift K. Glückauf. Er schickte Piroska so schnell er konnte eine SMS mit der Hausnummer und der Anmerkung ‚Dashs Auto ist da‘, bevor er sich überwand, die Klingel zu drücken. „Hallo?“, hörte er Lunis’ unverkennbar schnippische Stimme nach längerer Wartezeit antworten. Shit, was machte er jetzt? Er hatte keinen Plan. „H-hier ist Ran, ist Dash da?“, fragte er panisch. Das Dümmste, was er hätte sagen können. Wieso fiel in solchen Situationen denn immer sein Hirn aus? „Bist du das, Lauchhackfresse?“ Lunis stieß den Satz mit einem herablassenden Schnauben aus. „Dash und ich sind wieder zusammen, er will nicht mit dir reden. Verschwinde.“ Und damit hing Lunis den Hörer einfach wieder auf. Ran begann zu zittern. Beruhig dich, versuchte er sich selbst zu sagen. Das war nicht wahr. Lunis log wie gedruckt, das hatte er jetzt schon mehrmals festgestellt. Und trotzdem wurde er mit jeder Sekunde, in der er vergebens darauf wartete, dass Dash den Sprechanlagenhörer noch einmal selbst abnehmen oder zu ihm herunterkommen würde, unruhiger. Hatte Dash das Gespräch gar nicht mitbekommen? War er überhaupt da? Ging es ihm gut? Hatte er sich noch einmal hingelegt (würde er das tun, wenn Lunis da war)? Vielleicht war er auch eher bewusstlos. Oh Gott, er musste irgendwie da rein. Er konnte nicht auf Piroska und Nevis warten. Nerd-Hirn, streng dich an…   Noch während er seinen Plan formte, öffnete sich die Haustür und ein älterer Herr kam heraus. Ran schaffte es, schnell genug zu schalten und so zu tun, als würde er in seinen Taschen nach einem Schlüssel kramen. „Oh, Dankeschön!“, ging er an dem Mann vorbei ins Gebäude ohne ihn dabei anzuschauen. Puh. Für den zweiten Teil seines Plans brauchte er viel Glück. Er stellte die Haustür mit dem Türstopper so fest, dass er sich hinter der geöffneten Tür an der Wand verstecken konnte, kramte sein Verbandsset aus dem Rucksack und schnitt ein Stück Klebeband ab. Dann drückte er Dashs Klingel herunter, klebte sie mit dem Klebeband fest und versteckte sich so schnell er konnte hinter der Tür. Lunis fluchte gefühlte fünf Minuten in die Sprechanlage, bevor er sich entschloss, die Treppe herunter zu kommen. Rans Herz rutschte ihm fast in die Hose, als er Lunis’ Schatten an sich vorbei nach draußen huschen sah. So schnell er konnte löste er den Türfeststeller und beschleunigte das Schließen der Haustür, indem er noch zusätzlich dagegen schob. Er hatte Glück, Lunis hatte sich auf der Suche nach dem Übeltäter ein paar Meter vom Eingang entfernt und schaffte es nicht, schnell genug zur Tür zurück zu springen, bevor sie sich komplett geschlossen hatte. Er hörte noch, wie er ihm eine unverständliche Beschimpfung hinterherschrie, während er so schnell er konnte die Treppen hochrannte.   Das Schloss von Dashs Wohnungstür sah aus, als hätte sich jemand gewaltsam daran zu schaffen gemacht, und die Tür ließ sich einfach so öffnen. Das hatte garantiert nichts Gutes zu bedeuten. „Dash?“, betrat er vorsichtig die Wohnung, die ein einziges Chaos aus halb ausgepackten Umzugskartons und eingerahmten ‚inspirierenden Zitaten‘ in kitschiger, knallbunter Wasserfarben-Typografie an den Wänden war. „Dash, bist du da? Ich bin’s, Ran.“ Er bekam keine Antwort, aber nach einigen Augenblicken nahm er eine Art Wimmern wahr, das aus dem einzigen Zimmer mit geschlossener Tür kam. Er öffnete sie und wollte im ersten Moment fast losschreien. Dash saß vor dem Bett in einem Umzugskarton, an dem ein mit ‚BOX OF SHAME‘ beschriftetes Blatt Papier klebte. Er war nackt, sein Mund war mit Paketklebeband zugeklebt und seine Hand- und Fußgelenke ebenfalls mit Klebeband zusammengebunden. Scheiße, was war hier passiert? Was war das für eine vollkommen groteske Szene? Er eilte zu Dash, kniete sich vor die Kiste und schaute ihm in die scheinbar vom Weinen geröteten Augen. „Dash, bist du okay?“, brachte er, selbst immer noch ganz verstört über den Anblick, gerade noch so heraus, und Dash gab ihm ein schwaches Nicken, das von neuen Tränen begleitet wurde und das Ran ihm irgendwie nicht so ganz abnehmen konnte. Er legte für einen Moment seine Arme um Dash und drückte seinen Kopf an sich, bis er sich ein wenig beruhigt hatte. „Ich hab Lunis ausgesperrt“, versuchte er kurz zu erklären, „Ich versuch das Klebeband abzumachen, das könnte ein bisschen wehtun.“ Vermutlich mehr als nur ein bisschen. Oh, er hasste es, Pflaster abzuziehen. Und Paketband hatte deutlich mehr Klebkraft. Und dann auch noch über den Lippen… „Ich mach schnell, okay?“ Dash nickte. „Eins.“ Er verwendete den Trick, den Iku früher zu oft bei ihm zum Pflaster abreißen benutzt hatte, und zählte erst gar nicht bis Drei. „Aaaaaaaaaahhh“, schrie Dash vor Schmerz auf. Die Haut, von der er das Klebeband abgezogen hatte, war feuerrot, aber zumindest schienen keine Hautfetzen mit abgekommen zu sein, wie er kurz befürchtet hatte. „Scheiße, Dash, was hat er mit dir gemacht?“, blickte Ran ihm in die Augen, während er in seinem Rucksack nach einer Schere kramte, um das Klebeband von seinen Handgelenken und Knöcheln zu entfernen.    Er bemerkte, wie Dash panisch begann, schneller zu atmen. „Das ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, versuchte er zu lächeln. „Also schon schlimm, aber … Die gute Nachricht ist, dass Lunis und ich schon öfter so Sex hatten … Die schlechte Nachricht ist, dass wir Sex hatten.“ Was? „Was?“ Ran öffnete seinen Mund, aber es kam nichts anderes heraus, als noch ein lauteres „WAS?!“ Dash hatte mit Lunis geschlafen?! Und sagte ihm das, als wäre es ein dummer Scherz? Ran merkte, wie in seinem Inneren etwas, von dem er bisher nicht gewusst hatte, dass es existierte, einzustürzen begann. „Es tut mir leid“, hörte er Dash flehen, „Ich wollte das nicht.“ Gut. „…Dachte ich zumindest.“ Was? Scheiße, was?! Er hätte es wissen müssen… All seine Befürchtungen waren wahr gewesen. Seine Befürchtungen waren immer wahr gewesen. In der Schule hatte ihn jeder gehasst, er war nicht gut genug um als Spieleentwickler zu arbeiten, niemand würde sich jemals in ihn verlieben, er würde den Rest seines Lebens einsam und verbittert einen deprimierenden Job arbeiten. Warum war er so dumm gewesen, zu glauben, dass dieses Mal irgendetwas anders sein würde? „Ran“, weinte Dash und versuchte nach Rans Arm zu fassen, aber Ran wich zurück, „Ran, es tut mir leid. Ich mach das wieder gut.“ „Da gibt’s nichts wieder gut zu machen“, antwortete Ran unterkühlt. Er würde Dash nie wieder vertrauen können. „Es tut mir so leid … Danke, dass du mich gerettet hast.“ Gerettet? Wovor? Vor seinen eigenen Gefühlen? Davor, dass er immer noch an Lunis hing, genau so, wie Ran es hätte wissen sollen, so wie er es an ihrem ersten Videospiele-Abend selbst gesagt hatte? Was war Ran für ihn gewesen? Ein schlechter Ersatz, eine Ablenkung? Bestimmt hatte Dash keine bösen Absichten gehabt, selbst gehofft, dass etwas aus den beiden werden würde. Dash war naiv. Aber wie hatte Ran glauben können, dass er Dash genug sein könnte? Er war ein langweiliger, hässlicher Nerd. Immer schon gewesen und würde nie etwas anderes sein. Und würde niemals ernstzunehmende Konkurrenz für den ach so charmanten und verführerischen Lunis sein, und wenn er Dash noch tausend Mal verletzen würde… „Ich wollte dir nicht weh tun, Ran“, versuchte Dash es noch einmal. „Hast du aber“, wandte Ran sich weiter von ihm ab. Es tat so weh. Schlimmer als alles, was er je gefühlt hatte. Er wusste, wie es sich anfühlte, unglücklich verliebt zu sein. Das war alles, was er über Liebe gewusst hatte. Aber das hier war schlimmer. So viel schlimmer.    „Lunis ist heute Morgen ins Krankenhaus gekommen, mit einem Blumenstrauß, und hat gesagt, dass es ihm leid tut, was passiert ist. Dass er wieder heim fährt und bloß im Reinen auseinandergehen will. Ich hätte ihm nicht glauben dürfen“, wimmerte Dash neben ihm, aber er konnte gar nicht so richtig zuhören. Alles, was er hörte, war, dass Lunis nur mit einem romantischen Rosensträußchen zu wedeln brauchte und plötzlich alles, was zwischen ihnen gewesen war, bedeutungslos wurde. Was war mit ihrem Versprechen, aufeinander aufzupassen, und mit dem, dass Lunis das zwischen ihnen nicht kaputt machen würde? War das Dash alles egal? Rans Lippen zitterten, er musste sich zusammenreißen, nicht loszuweinen. „Er hat gesagt, dass er nur mit mir frühstücken gehen will, damit wir in Ruhe reden können, und dass ich wieder zurück bin, bevor du am Krankenhaus bist. Er ist gefahren, weil er gesagt hat, dass ich verletzt bin und mich schonen muss, aber dann hat er einfach auf dem Navi auf ‚nach Hause‘ gedrückt und ist mit mir hierher gefahren und…“ Hat Dash verführt, Ran hatte es verstanden. Wow. Dash heulte wie ein Schlosshund. „Ich bin so ein Idiot. Bitte verzeih mir.“ Ran schüttelte traurig den Kopf. Er tat weh. Alles tat schrecklich weh. „Dash, ich … Ich weiß nicht wie … du hängst noch viel zu sehr an Lunis~“ „Aber ich will, dass er wieder verschwindet. Und nicht mehr zurückkommt. Er soll weggehen“, jammerte Dash ihm mitten in den Satz. „Ich hab Piroska angerufen, sie ist mit Nevis unterwegs hierher, die nehmen ihn mit. Ich warte noch mit dir, bis er weg ist. Aber du musst das alleine abschließen.“ Jetzt kamen Ran selbst die Tränen. „Das kann nichts werden mit uns, solange du nicht über Lunis hinwegkommst, das musst du doch selbst sehen.“ Er warf einen traurigen Blick auf Dash, wie er immer noch nackt in seiner Kiste saß, weinend und zitternd. Er stand auf, ging zum Bett und nahm eine Decke, um sie ihm ohne Worte umzulegen. „Liegt hier irgendwo dein Handy?“, fragte er emotionslos. „Ich mach deine SIM-Karte wieder rein, damit du Hilfe rufen kannst, wenn das nächste Mal sowas ist.“ Er fand das Handy auf Dashs Nachttisch-Umzugskiste, setzte die SIM-Karte aus seinem Nokia ein, und setzte sich auf die Bettkante, um das unangenehme Schweigen, das sich zwischen Dash und ihm eingestellt hatte, in vollen Zügen auszukosten.   Solange, bis sich die Wohnungstür öffnete, er in Panik aufsprang, weil er befürchtete, dass es Lunis sein würde, und er verwirrt in dessen Gesicht blickte – aber auf einem Kopf, dessen naturschwarzes Haar zu einem adretten Dutt zusammengebunden war. Und der statt seinem Goth-Trash ein ordentliches, hochgeschlossenes Hemd zu engen grauen Jeans trug. Oh… „Du musst Nevis sein, hi“, versuchte Ran trotz seines katastrophalen Gemütszustandes eine anständige Begrüßung von sich zu geben. „Ich bin Ran … Cooler Man-Bun.“ Nevis’ Blick wurde plötzlich eiskalt. Shit, hatte er etwas falsches gesagt? „Das ist ein Human-Bun“, entgegnete er (Moment, das hieß er Schrägstrich sie bei Nevis, oder?) fast ein bisschen verletzt und schien Rans Entschuldigung absichtlich zu überhören, während er / sie mit einem Kopfschütteln Dash musterte. „Ich hab dich schon signifikant öfter nackt gesehen, als nötig und wünschenswert wäre“, wandte er / sie den Blick wieder ab, sichtlich uninteressiert daran, wie es zu dieser Situation gekommen war. „Och, komm schon, Nevis, diesmal hab ich sogar ‘ne Decke um“, lachte Dash verlegen. Ran war sich sicher, dass er diese Unterhaltung unter anderen Umständen witzig gefunden hätte, aber gerade wollte er einfach nur nach Hause und weinen. „Wir nehmen Lunis mit, ich schick dir Piroska nochmal hoch“, drehte Nevis sich wieder um und war schon auf dem Weg Richtung Tür, als Dash ihn / sie noch einmal aufhielt. „Wollt ihr echt so schnell schon wieder abhauen, wo wir uns endlich mal wiedersehen?“, fragte Dash enttäuscht. „Was stellst du dir denn vor? Wollen wir alle zusammen mit Lunis Kaffee trinken und Kuchen essen gehen? Wie eine große, glückliche Familie? Würde ihm Schrägstrich ihr bestimmt gefallen.“ Wow, da war jemand noch besser in Zynismus als er. Dash schniefte. „Aber ihr kommt mich doch mal besuchen, oder?“ Nevis nickte mit etwas, das wohl seine / ihre ganz eigene Art des Lächelns war, und verschwand dann wieder.   Ran und Dash wechselten kein Wort, bis kurz darauf Piroska in der Tür stand – eine auf den ersten Blick einnehmende Erscheinung mit voluminöser Lockenpracht und einem auffällig mit Stickereien verzierten Outfit in lebhaften Rot- und Goldtönen, das ihren kurvigen Körper betonte. „Bist du in Ordnung, Schätzchen?“, schritt sie sofort zu Dash hin, kniete sich zu ihm und schien sich im Gegensatz zu Nevis kein bisschen an seiner Nacktheit zu stören. Er hatte ja auch eine Decke um. Dash nickte. „Alles in Ordnung“, lächelte er sie an, „Ran hat mich gerettet.“ Rans Hände verkrampften sich. Er mochte nicht, wie Dash so tat, als wäre alles okay zwischen ihnen. Aber er schaffte es auch nicht, vor Piroska die Wahrheit zu sagen. „Und mit was für einem Einsatz“, lächelte sie ihm zu, „Hat er dir schon die ganze Geschichte erzählt? Lunis flucht immer noch über die Klingel“, lachte sie. „Ich würd gerne noch bleiben, aber ich glaub ich verliere Punkte bei Nevis für jede Minute, die ich ihn Strich sie mit Lunis alleine lasse.“ „Dann will ich deinem Glück nicht im Wege stehen“, lächelte Dash sie an. Offensichtlich ein bisschen wehmütig darüber, dass sie nicht bleiben konnte. „Danke für alles!“ Piroska winkte ab. „Ich will eurem Glück auch nicht im Wege stehen“, zwinkerte sie Ran und Dash noch einmal zu, bevor auch sie aus der Wohnung verschwand und sich das unangenehme Schweigen zwischen den beiden wieder einstellte.   „Ich … geh dann auch mal“, stand Ran auf und schlurfte langsam Richtung Zimmertür ohne Dash noch einmal anzuschauen. „Lass mich nicht allein“, hörte er ihn aus Richtung des Pappkartons wimmern und unter einem schmerzverzerrten Stöhnen aufstehen. „Ich … wollte das nicht. Es tut mir so leid.“ Ran ließ sich nicht von ihm aufhalten, aber redete weiter, während Dash ihm in seine Decke gewickelt zur Tür hinterherlief. „Was denkst du denn, wie es mir dabei geht? Ich wär auch lieber nicht allein.“ Dash versuchte nach ihm zu greifen, aber er schob seine Hand wieder weg. „Können wir morgen früh nochmal reden? Erst mal eine Nacht drüber schlafen?“, schaute er ihn traurig an. „Ich glaube nicht…“ Was gab es da drüber zu reden, drüber zu schlafen? Dash hatte ihm so weh getan wie noch nie jemand in seinem Leben. Wie sollte er das einfach so wieder vergessen können? Ohne ein weiteres Wort öffnete er die Wohnungstür und zog sie hinter sich wieder zu.   Er ging die ganze Strecke nach Hause zu Fuß, um nicht im Bus vor allen anderen zu weinen. Das änderte nichts daran, dass er weinte. Er zog die Kapuze so weit er konnte über sein Gesicht und merkte erst in diesem Moment, dass er immer noch Dashs gelbes Hoodie trug. Langsam wichen die verletzten Gedanken einer gleichgültigen Leere. Sie hatten sich nur eine Woche lang gekannt. Wie lange konnte es schon dauern, Dash zu vergessen? Lieber würde er in sein altes Leben zurückkehren, für den Rest seiner Tage einsam und verbittert sein, als noch einmal diesen Schmerz zu fühlen. Er würde Dash nicht mehr die Tür öffnen. Nicht morgen, nicht den Rest der Woche, nie mehr. Irgendwann würde er eh wieder weg ziehen. In eine andere Stadt oder zurück zu Lunis oder was auch immer.    War ihm auch egal. Kapitel 13: you tried --------------------- Dash war zurück in die Box of Shame gekrochen, die Lunis ihm aufgestellt hatte, damit er über seine „Fehler“ nachdenkt, und saß nun schon eine ganze Weile zusammengekauert darin, die tränennasse Wange gegen eine Wand des Pappkartons gedrückt, die davon schon halb durchgeweicht war. Sein Kopf dröhnte, sein Körper schmerzte an so vielen Stellen, aber er nahm es nur dumpf, ein bisschen wie in einem Traum, wahr. Das schlimmste waren die Gedanken, die sich die ganze Zeit im Kreis drehten, die Erinnerungen, die immer wieder an bestimmte Punkte der letzten 24 Stunden zurücksprangen und vor seinem inneren Auge vorbeizogen.   Der lähmende Kontrast zwischen Lunis' gebrochenem, verheultem Gesicht und den groben, aggressiven Berührungen, mit denen er ihn festgehalten, ihn unter sich gezwungen und ihn mit Paketband gefesselt hatte. Er hätte sich wehren können. Müssen. Aber er hatte es nicht getan. Nicht mehr zu diesem Zeitpunkt. Nicht, nachdem er entgegen Dashs Bitte, wieder zu verschwinden, die Tür zu seiner Wohnung aufgebrochen und ihn nicht weniger brutal seiner Kleider entledigt und geküsst hatte. Das schmerzliche Gefühl, dass er es war, der Lunis das angetan, ihn so weit gebracht, hatte, war zu beherrschend. Der beklemmende Gedanke, dass es keinen möglichen positiven Ausgang dieser Situation gab. Dass er sich weiter wehren und damit Lunis noch mehr in sein unberechenbares, gewaltbereites Emotionschaos hineintreiben konnte. Oder alles über sich ergehen lassen und damit Hoffnungen in ihm wecken, die er nicht mehr haben sollte. Hoffnungen, die er lange nicht mehr hätte haben sollen, aber die Dash immer wieder geschürt hatte. Weil er nicht mutig genug gewesen war, es nicht übers Herz gebracht hatte, ihm die kalte Schulter zu zeigen. Ihn einfach zu ignorieren anstatt immer wieder auf seine Spielchen einzugehen. Dash wusste, wie Lunis tickte. Er wollte Aufmerksamkeit, egal welcher Art. Und wenn Dash sich wehrte, wenn er versuchte, all den Schmerz, der immer noch in ihm war, in Wut umzulenken, so wie bei ihrer Begegnung auf dem Parkplatz, nach der Dash ins Krankenhaus gekommen war, dann war das für Lunis fast genau so gut, wie positive Aufmerksamkeit von ihm zu bekommen. Weil es ihm das Gefühl gab, immer noch Macht über Dash zu haben, ihn immer noch kontrollieren und verletzen zu können. Und da war noch etwas, etwas wofür Dash sich schrecklich schämte – die Art und Weise, wie sein Körper immer noch auf Lunis reagierte, wie sehr er ihn in Erregung versetzte, wie er seine Berührungen gleichermaßen mit Angst und Lust erwartete, fürchtete und herbeisehnte. Egal, wie das Ganze ausgehen würde, es würde alle mit gebrochenem Herzen zurücklassen.   Ran. Seine Gedanken drifteten immer wieder zu Ran, während er in seinem Pappkartonversteck saß und die Welt um sich herum immer weiter ausblendete. Er hatte so sehr daran geglaubt, dass mit Ran endlich alles gut werden würde. Sich so sehr gewünscht, dass er Lunis hinter sich lassen könnte, dass Ran und er einander glücklich machen, dass sie zusammen ein neues Leben beginnen würden. Und jetzt war er der Grund dafür, dass Ran unglücklich war, noch bevor er überhaupt die Chance gehabt hatte, so richtig damit anzufangen, ihn glücklich zu machen. Er war der Grund dafür, dass Ran und Lunis unglücklich waren. Nein, so durfte er nicht denken… Er musste das irgendwie wieder in Ordnung bringen. Er würde Ran nicht so einfach aufgeben. Und Lunis nie wieder in sein Leben zurücklassen. Was nach den Ereignissen des Morgens leichter gesagt als getan war…   „Wem willst du was vormachen, wenn du so tust, als ob du mich nicht mehr willst, Spermarutsche? Dir selbst? Meinst du ich merk das hier nicht?“ Lunis’ Griff legte sich, etwas zu fest, um seinen erregten kleinen Dash. Er hatte ihm den Mund mit Paketklebeband verschlossen, nachdem er sich gewagt hatte, den einen Satz auszusprechen, der ihn so viel Überwindung gekostet hatte: „Wir kommen nie wieder zusammen, Lunis.“ Lunis hatte ihm eine Ohrfeige dafür verpasst und ihm danach alle Möglichkeiten genommen, sich weiter zu äußern. Jetzt lag Dash mit zugeklebtem Mund unter ihm auf seinen Knien, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, während Lunis sich in ihm bewegte und dabei die spitzen Fingernägel zusammen mit seinen Stößen immer wieder in neue Stellen seiner Haut bohrte. Er versuchte angestrengt, keine Geräusche von sich zu geben, weder vor Schmerz noch vor Lust. Er wusste, dass das Lunis nur noch mehr in seinem Wahn beflügeln würde. Er musste weg mit seinen Gedanken. An etwas anderes denken. Ran. Nein, das war gerade gar kein guter Gedanke.    „Awww, sind das Freudentränen?“, spürte er Lunis’ Hand auf seiner Wange. Er hielt einen Moment in seinen Bewegungen inne, legte die Arme um Dashs Körper und drückte seinen Kopf an ihn. Es war so ein warmes, vertrautes Gefühl. Und gleichzeitig der wohlbekannte Vorbote von mehr Schmerz, mehr Drama, mehr Verzweiflung, für die Dash keine Energie übrig hatte. „Alles wird wieder gut“, streichelte Lunis ihm durch die Haare und eine Gänsehaut lief durch Dashs ganzen Körper. „Du bist weggelaufen, weil wir Probleme hatten. Das verzeih ich dir. Ich versprech dir, dass alles wieder gut wird, wenn du zurück kommst. Du willst doch, dass alles wieder gut wird.“ Wollte er das? Einen Moment war er sich nicht sicher. War jemals alles gut gewesen zwischen ihm und Lunis? Er hatte die letzten Monate damit verbracht, sich einzureden, dass die Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war, aber das hatte er sich nur gesagt, um es sich einfacher zu machen, um mit sich im Reinen zu sein, sich nicht eingestehen zu müssen, dass er sie vielleicht hätte retten können. Lunis und er waren glücklich gewesen. Wenn alles wieder so sein könnte wie am Anfang, würde er das zurück wollen? Er spürte Lunis’ Lippen in seinem Nacken und wie er langsam wieder begann, sich in ihm zu bewegen. Sanfter als  vorher. „Ich kann machen, dass es dir gefällt“, flüsterte Lunis in sein Ohr, „Wenn du zurückkommst, dann mach ich nur, was dir gefällt.“ Er knabberte spielerisch an Dashs Ohr herum. Ja, das gefiel ihm. Er machte den Fehler, sich für einen Augenblick zu entspannen, sich schutzlos Lunis’ Berührungen hinzugeben. Und spürte im selben Moment den stechenden Schmerz von Lunis’ Finger, der zusätzlich in ihn eindrang und mit dem spitzen Fingernagel gegen sein Inneres drückte. „Oder ich kann machen, dass es weh tut.“ Dash entwich ein Wimmern. „Das willst du nicht“, hörte er Lunis’ Grinsen förmlich in seiner Stimme und schüttelte hilflos den Kopf, während Lunis den Finger schmerzhaft aus seinem erneut verkrampften Körper wieder herauszog. „Du willst, dass ich lieb zu dir bin“, sagte er mit seiner süßesten, sanftesten Stimme, „dass wir uns wieder lieben.“ Lunis’ Hände streichelten über seinen Körper. Zärtlich, tröstend, umspielten das Tattoo über seinem Hintern. „Du gehörst immer noch mir, Pfirsichspalte.“ Lunis legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Dash, drückte ihre Wangen aneinander und einen Kuss auf Dashs Schläfe. „Und ich gehör immer noch dir. Lass uns wieder lieb zueinander sein.“ Dash wollte schreien. Er wollte das nicht. Er wollte nicht zurück zu Lunis. Nie mehr. Nie mehr dieses ständige Auf und Ab, den immerwährenden Wechsel von Liebe und völliger Verzweiflung, von Glück und Schmerz. Und gleichzeitig wollte er ihn in seinem jetzigen Zustand halten. Bloß nichts machen, was ihn dazu bringen würde, ihm wieder weh zu tun. Er konnte nicht mehr. „Willst du, dass wir uns wieder lieben?“, schaute Lunis ihn mit einem zuckersüßen Lächeln an und Dash wusste nichts anderes zu tun, als kraftlos zu Nicken. Lunis’ Lächeln wurde breiter, so hübsch und aufrichtig, dass es ihm ein schlechtes Gewissen bereitete. „Brav“, streichelte er Dash über den Kopf wie einem kleinen Hündchen. Das war keins von ihren Rollenspielen, verdammt. Ihm kamen die Tränen, aber das sah Lunis nicht mehr, er hatte sich wieder aufgesetzt und erneut damit begonnen, ihn zu penetrieren, drückte Dashs Schultern mit den Händen gegen die Matratze. Er würde ihm nicht mehr weh tun. Hoffte Dash zumindest. Er wusste nicht, was er tun sollte, außer sich fallen zu lassen, alles so hinzunehmen, wie es war, die Lust zuzulassen, die er aus irgendeinem Grund immer noch empfand, auch wenn er gleichzeitig schreien und weglaufen wollte.   Wie lange saß er schon in seinem Pappkarton? Er wusste es nicht. Kein bisschen. Könnten zwanzig Minuten gewesen sein oder fünf Stunden. Es war noch hell draußen, immerhin. Dachte Lunis, dass sie wieder zusammen sind? Hatte er Ran für immer verloren? Er musste raus aus diesem ständigen Kreisen seiner Gedanken. Erst mal irgendwie runter kommen. Das würde er schaffen, das hatte er auch all die anderen Male geschafft. Er war gut darin, sich um Menschen zu kümmern, einschließlich sich selbst. Er kroch aus der Kiste und versuchte sich aufzurichten. Mit einem Mal waren die Schmerzen wieder schrecklich real. Er ging noch einmal zurück in die Hocke, bevor er es beim zweiten Versuch schaffte, aufzustehen. Schmerzmittel. Er stolperte ins Badezimmer und fand eine Packung. Dann schleppte er sich in die Küche und zwang sich, nach der Tablette fast einen ganzen Liter Wasser zu trinken. Er nahm seinen Laptop mit ins Badezimmer, ließ sich ein Bad ein und schaltete einen Disneyfilm ein. Das Badewasser brannte im ersten Moment an den vielen frischen Wunden und Kratzern, aber dann war es angenehm warm und duftete und er fühlte sich leicht und ließ sich von Anna und Elsa in die Realität zurückholen. Die Realität, in der sich alle Probleme mit Liebe und Vertrauen und fröhlichen Ohrwürmern lösen ließen, seiner Realität, an die er immer fest geglaubt hatte und die Lunis ihm auch dieses mal nicht kaputt machen würde.   Er schaute in der Wanne den Film zu Ende, sang so gut es ging mit – nicht so enthusiastisch wie sonst, aber genug, um seine Stimmung ein wenig zu heben, zog seinen Pikachu-Schlafanzug mit Öhrchen an der Kapuze über, in dem er sich immer besonders wohl fühlte. Er rief seine Eltern an. Die Glückaufs waren immer für ihn da gewesen. Er wusste, dass er mit ihnen über alles reden konnte. Aber er tat es nicht immer. Er wollte nicht, dass sie sich zu viele Sorgen machten. Sie wussten nicht, dass er wegen Lunis das Studium hatte abbrechen müssen, dass er nur wegen ihm so weit weg gezogen war. Natürlich hatten sie mitbekommen, wie traurig Dash war, als vor einem halben Jahr plötzlich Schluss war mit ihm und Lunis nach drei Jahren Beziehung, aber er hatte ihnen die grässlichen Details erspart. Und genau so würde er ihnen nichts von dem, was dieses Wochenende passiert war, erzählen. Er brauchte ein bisschen Smalltalk, ihre vertrauten Stimmen, die lieben Worte. Das Gefühl, dass alles normal war, dass die Welt genau so weiterexistierte, wie sie das immer getan hatte. Er erzählte ihnen von seinem Job und von Ran – so, als hätten sie sich gerade erst kennen gelernt, als wäre nichts von dem, was dieses Wochenende vorgefallen war, passiert, schwärmte ihnen vor von dem schüchternen, intelligenten, witzigen und liebenswerten Jungen, in den er sich über beide Ohren verliebt hatte. Er machte sich Toast Hawaii mit doppelt Ananas, doppelt Käse und einer Cocktailkirsche obendrauf, trank dazu eine Dose Mountain Dew und aß noch ein paar Schokoriegel hinterher.    Dann setzte er sich im Schlafanzug auf die Hängematte auf dem winzigen Balkon seiner Wohnung, von wo er die Sonne untergehen sehen und die kühle Abendluft atmen konnte, und rief Piroska an. Sie war mit Nevis zu Hause (Lunis und Nevis wohnten noch im riesigen Haus ihrer Eltern, wo jeder seinen eigenen ‚kleinen‘ Bereich hatte), Lunis hatte sich in seinem Schlafzimmer eingeschlossen und schmollte dort. Piroska hatte ihn bei sich im Auto mitgenommen und Nevis hatte sein Motorrad nach Hause gefahren, damit er den beiden auf dem Heimweg nicht ausbüchsen würde.   „Ich, zwei Stunden im Auto mit der kleinen Ratte, kannst du dir das vorstellen? Das sind große Opfer, die ich hier für dich erbringe!“, scherzte Piroska. „Du bist meine Heldin, Piranha!“, lächelte Dash sie durchs Telefon an, „Warte… Zwei Stunden? Ich brauch vier für die Strecke!“ „Tja, ich hab ja auch ein paar PS mehr als du, Schätzchen, Lavados schlägt Zapdos“, hörte er Piroskas triumphierendes Grinsen in ihrer Stimme. „Du willst Autoquartett spielen? Okay! Ich bin bereit!“, lachte Dash. „Bereit, in jeder Kategorie den Kürzeren zu ziehen?“ „Hallo?“, empörte sich Dash gespielt, „Zapdos ist der Powerplayer, Elektro ist gegen andere Vögel immer im Vorteil. Außerdem kann ich Gewitter machen, was macht dein Feuervogel, wenn es plötzlich auf ihn regnet? Haaa!“ „Ich red von Autos, nicht von legendären Pokémon, Kleiner. PS, Hubraum, Länge, Breite, Sieger in jederlei Hinsicht.“ „Jaja“, schmollte Dash zum Spaß und fügte grinsend ein „Es kommt auch auf die Technik an“ hinzu. Olles David-Hasselhoff-Auto. „Meine Technik heißt: Wer bremst verliert“, trumpfte Piroska auf, „Und um zurück zum Thema zu kommen, während dem Teil der Fahrt, auf dem unsere kleine Trash-Queen weder wie ein Kleinkind geschmollt noch mit wüsten Beschimpfungen um sich geschmissen hat, wollte sie mich überzeugen, dass ihr beiden wieder zusammen seid. Bitte sag mir, dass ihr nicht wieder zusammen seid“, sagte sie, und Dash konnte sich haargenau vorstellen, wie sie im Auto gesessen und Lunis für verrückt erklärt, aber innerlich gebibbert und gebetet hatte, dass es nicht doch die Wahrheit ist. War er echt so ein Idiot, dass selbst seine beste Freundin ihm nicht mehr Vernunft zutraute? Vermutlich schon… „Wir sind nicht wieder zusammen“, versuchte er sie schnell zu beruhigen. „GUT!!!“, kam ihr Aufschrei der Erleichterung sofort zurück. „Ich hatte nur“, fügte er peinlich berührt noch an, „keine Möglichkeit, das Lunis zu kommunizieren… Wegen dem Klebeband auf meinem Mund und so…“ „Wegen des Klebebandes“, fiel sie ihm wie aus Reflex ins Wort und entschuldigte sich sofort wieder, „Ups, Nevis’ schlechter Einfluss.“ Dash musste kurz schmunzeln. „Warte, Lunis hat dir den Mund zugeklebt?! Bist du … bist du okay, Süßer? Ist Ran bei dir?“ Er spürte ein Ziehen in seiner Brust, aber versuchte, sich zusammenzureißen. „Ran ist … nach Hause, kurz nach euch. Das war ein bisschen viel für ihn, aber das … wird schon wieder … alles in Ordnung.“ Er wollte nicht klingen, als ob er kurz davor wäre zu weinen. „Bist du dir sicher?“ „Sicher“, bestätigte er zuversichtlich. Er würde das wieder hinbiegen mit Ran. Und mit sich selber. Mit allem. „Du weißt, dass du mich immer anrufen kannst, wenn du jetzt nicht drüber reden willst. Und dass ich notfalls in zwei Stunden bei dir bin“, bot sie ihre Unterstützung an. „Das weiß ich“, lächelte Dash dankbar zurück. Er wollte jetzt nicht drüber reden. „Nevis will nachher nochmal mit Lunis über die Sache sprechen“, redete Piroska weiter. „WAS?“, fiel Dash aus allen Wolken, „Hab ich mich grade verhört? Nevis will mit Lunis sprechen?!“ Da stimmte was nicht… „Du hast schon richtig gehört, Schätzchen. Ich zitiere: Es reicht, dass Lunis mein Leben kaputt gemacht hat. Er Schrägstrich sie muss das nicht noch bei Dash machen.“ Dash kamen fast die Tränen. Aber dieses Mal vor Rührung. „Ich hab euch echt lieb, ihr beiden!“, schnäuzte er sich theatralisch die Nase, den Telefonhörer an ein Ohr geklemmt, „Gib Nevis ein Küsschen von mir!“ „Du bist lustig“, lachte Piroska, „Ich muss mich jedes Mal ins Zeug legen, damit er-Strich-sie meine Küsschen annimmt.“ „Dann ist das eine Challenge für dich! Enttäusch mich nicht!“, scherzte Dash. Es war ein gutes Gefühl, Freunde zu haben, die sich so um ihn sorgten. Und es war ein gutes Gefühl, dass jemand da war, der sich um Lunis kümmerte. Auch wenn er das Piroska nicht auf die Nase binden würde.   Noch während er auflegte, waren seine Gedanken wieder bei Ran. Bei Ran, der vielleicht niemanden hatte, der sich um ihn kümmerte. Ein schreckliches Ziehen breitete sich in seiner Brust aus. Wie hatte er Ran das antun können? Er wünschte sich so sehr, er könnte einfach alles auf Lunis schieben. Aber so einfach war es nicht. Und er hätte Ran nicht anlügen können. Vielleicht würde er in der Lage sein, alles ein bisschen besser zu erklären, wenn es sich ein bisschen gesetzt, wenn er ein bisschen mehr Abstand gewonnen hatte. Er ging wieder in die Wohnung, in Richtung seines Betts, und ein Gefühl von Scham und Ekel und noch irgendetwas Negativem, was er nicht so richtig benennen konnte, machte sich in ihm breit, als ihm die Spermaflecken auf dem Bettlaken ins Auge fielen. Spermaflecken, die nicht nur von Lunis stammten. Hatte Lunis wirklich recht gehabt? Hieß das, dass er ihn insgeheim immer noch wollte? Aber warum war er dann so erleichtert gewesen, als Ran ihn gefunden, als Piroska und Nevis Lunis endlich mitgenommen hatten? Und warum vermisste er Ran so sehr?    Dash riss das Bettlaken herunter und kramte in seiner Bettwäsche-Umzugskiste nach einem neuen. Er holte sich seinen Laptop ins frisch bezogene Bett und öffnete ohne einen Plan Rans Youtube-Kanal. Vielleicht konnte er ihm ja eine Nachricht schreiben.   ‚Hey…‘   Beeindruckender Gesprächsanfang.   ‚Es tut mir so leid, was passiert ist. 😢😢😢 Ich wünschte, ich könnte das rückgängig machen.‘   So sehr. Wenn es doch nur so einfach wäre. Aber manchmal gab einem das Leben auch zweite Chancen. Und die waren eigentlich noch besser, als etwas rückgängig zu machen, weil man danach etwas gelernt hatte.   ‚Bitte sei nicht mehr traurig. Ich geb mir extra viel Mühe, das wieder gut zu machen, wenn du mich lässt. 😖😚💕‘   Die nächste halbe Stunde tat er nichts anderes, als wie ein Idiot vor dem Bildschirm zu sitzen und darauf zu warten, dass Ran ihm antworten würde. Aber es kam keine Antwort. Er ließ den Nachrichten-Tab geöffnet und öffnete in einem zweiten Rans Channel. Vielleicht würde es ihn ja beruhigen, seine Stimme zu hören, seine niedliche scheue Mimik, die gelegentlichen unterdrückten (oder nicht so unterdrückten) Lacher und sein seltenes hübsches Lächeln zu sehen. Irgendwie tat es das, aber irgendwie vermisste er Ran dadurch auch nur noch mehr.   Er suchte nach „I miss you“-Memes, und weil er sich nicht für eins entscheiden konnte, schickte er Ran nacheinander fünf verschiedene Doggos und Lolcats, Bunny-misses-you-dis-much und den Minion mit der Caption „I miss you like an idiot misses the point“.   Weiterhin keine Reaktion von Ran.   Er ließ sich weiter von Rans Let’s Plays berieseln während er wehmütig seine Bettdecke an sich drückte. Vielleicht brauchte Ran einfach ein bisschen Zeit zum verarbeiten. Brauchte er ja selbst. Morgen war ein neuer Tag, vielleicht konnten sie morgen früh trotz allem miteinander reden. Er merkte wie erschöpft er war und dass er dringend schlafen musste, wenn er morgen Früh zumindest halbwegs anständige Arbeit leisten wollte.   ‚Ich versuch zu schlafen, wünsch dir schöne Träume! 😘🌜✨ Ich denk an dich und hoffe, wir können morgen nochmal reden!‘   Er ließ Let’s Run in Endlosschleife auf dem Laptop neben sich im Bett weiterlaufen und tatsächlich schaffte es Rans beruhigende Stimme irgendwann, ihn in den Schlaf zu wiegen. Leider war sie aber wohl nicht dominant genug, um es bis in seine Träume zu schaffen. Stattdessen wachte er in dieser Nacht viele Male panisch und schweißgebadet auf, voller Angst, Lunis wäre bei ihm. Nach einem besonders lebhaften Traum wurde er sogar so paranoid, dass er durch die ganze Wohnung lief, um sicherzugehen, dass Lunis nicht da war, jeden Schrank und jede Umzugskiste öffnete – und stieß dabei zufällig auf etwas, von dem er sich eigentlich geschworen hatte, es nie mehr - höchstens in Notfällen - in die Hand zu nehmen. Vielleicht war das ein Notfall.    Er drückte den Knopf dreimal herunter und die E-Zigarette leuchtete Neongelb auf, scheinbar war der Akku noch geladen. Er nahm einen kräftigen Zug, genoss es, wie das süße Piña-Colada-Aroma sich in seinem ganzen Mund ausbreitete, und paffte den weißen Dampf wieder aus. Alles um ihn herum roch plötzlich intensiv nach Ananas und er merkte, wie ihm ein wenig schwindelig wurde. Etwas taumelig, aber irgendwie auch ruhiger und gefasster, schleppte er sich zum Bett zurück, wo Ran gerade erklärte, welchen Buchstaben man bei Pokémon Rot und Blau an welche Stelle seines Nicknames setzen musste, um welche Pokémon mit dem Old-Man-Glitch zu fangen. Ran war so verdammt schlau… Und gewissenhaft. Bestimmt würde er es nicht gut finden, wenn er Dash beim Vapen sehen würde. Er nahm sich vor, die E-Zigarette morgen zurück in ihren Karton zu packen und nicht wieder anzurühren. Stattdessen umarmte er seine Decke, dachte an Ran und schaffte es dieses Mal tatsächlich, ohne Alpträume durchzuschlafen – zumindest bis eine knappe Stunde später sein Wecker klingelte.   Kapitel 14: Rickroll -------------------- Dash hatte es sich einfacher vorgestellt.   Er hatte gehofft, Ran würde ihm am Montagmorgen die Tür öffnen, sie würden miteinander reden, er würde ihm alles erklären können. Auch wenn er immer noch nicht wusste, wie – er konnte sich ja selbst nicht erklären, was zwischen ihm und Lunis passiert war, wie er das hatte zulassen können.   Aber Ran hatte nicht geöffnet, auch nicht nach unzähligen Klingelversuchen.   Er hatte einen leeren Zettel in seiner Jackentasche gefunden und zusammen mit dem einen großen Umschlag, der an diesem Tag für Ran in der Post war, in seinen Briefkasten geworfen. „Falls das eine Absage ist, fühl dich umarmt“, hatte er darauf geschrieben und ein kleines Herz dazu gezeichnet.   Danach hatte er neues E-Liquid mit Piña-Colada-Geschmack gekauft. Nur ausnahmsweise. Bis mit Ran wieder alles in Ordnung war.   Am Nachmittag hatte er Ran im Messenger geschrieben. Nochmals betont, wie leid ihm alles tat, wie sehr er ihn vermisste. Und ihm dann haarklein seinen gesamten Tagesablauf dargelegt. (Außer das mit dem Vapen. Das hatte er verschwiegen. Würde er sich auch ganz schnell wieder abgewöhnen.) Vielleicht konnte er so wenigstens ein bisschen das Gefühl bekämpfen, dass Ran aus seinem Leben verschwunden wäre. Oder zumindest er aus Rans Leben. Als Ran nach einer Stunde immer noch nicht geantwortet hatte, hatte er zur Ablenkung Piroska angerufen.   Er wich all ihren Fragen zu Ran oder dem Vorfall mit Lunis aus, indem er selbst Fragen stellte oder einfach von anderen Dingen erzählte. Was sich gar nicht all zu schwer darstellte, denn Piroskas Neuigkeiten hatten ohnehin alles andere in den Schatten gestellt: Lunis und Nevis redeten wieder miteinander. Scheinbar hatte die Tatsache, dass Nevis seinen/ihren Zwilling nach dem Ereignis des Vortages zur Rede gestellt hatte, dazu geführt, dass die beiden nach mehr als vier Jahren zum ersten Mal wieder ein richtiges Gespräch miteinander geführt und sich auch über den Vorfall, der in erster Linie dazu geführt hatte, dass sie sich zerstritten hatten, ausgesprochen hatten. Und wenn man Piroska glauben durfte, waren sie plötzlich wieder ein Herz und eine Seele – ein Zustand, in dem weder Piroska noch er sie kannten.    „Stell dir vor, Nevis hat sich von Lunis eine Flechtfrisur machen lassen!“ Piroska und Dash hatten Nevis seit Beginn des Studiums nur mit strengem Dutt gekannt. „Die paar Male, die ich an Nevis’ Haare ran wollte, hab ich Anschiss gekriegt, dass ich das nicht ordentlich mache.“ Dash musste lachen. „In dem Punkt sind die beiden sich wohl ähnlicher als sie zugeben wollen.“ Lunis hatte sich immer gerne von Dash verwöhnen lassen, aber es war kein einziges Mal vorgekommen, dass er sich nicht noch einmal selbst die Haare nachfrisiert hatte, nachdem Dash sie bearbeitet hatte, und wenn Dash ihm zum Spaß die Fingernägel lackiert oder Makeup aufgetragen hatte, wurde das Ergebnis danach auch direkt wieder entfernt. „Kleine Pedanten-Zwillinge“, stimmte Piroska ein, „Aber Nevis sieht richtig hübsch aus mit der Frisur, wie eine Elfe.“ „FOTO!!!!“, rief Dash mit einer Mischung aus Schreien und Jubeln durchs Telefon. Und noch während er auf das Bild wartete, sah er im Messenger, wie die Animation angezeigt wurde, dass Ran etwas schrieb und auf seine Nachricht antwortete. Sein Herz bleib einen kleinen Moment lang stehen und er starrte gebannt auf den Bildschirm. „DASH? … Dash, muss ich Angst haben, dass du mir jetzt wieder Nevis wegschnappen willst?“ Dash hatte das Foto noch gar nicht angesehen. Ran hatte gerade angefangen, ihm zu schreiben. Aber jetzt schrieb er nicht mehr und er hatte nichts von dem, was er geschrieben hatte, abgeschickt. Er schaute auf sein Handy. „Oh, sorry, ich war grade abge – Hahaha, wooooow, Nevis, was für eins Look vong Optik her!!“ Nevis sah ungewohnt sanft aus mit der kunstvollen, halb offenen Flechtfrisur. Ein bisschen mehr wie das zerbrechliche Wesen, das er/sie in seinem Inneren war, wenn man es erst einmal geschafft hatte, die unterkühlte Fassade zu durchschauen. „Abgelenkt von den Vorgängen in deiner Hose?“, versuchte Piroska ihn zu ärgern. „Heyyyy.“ Die alte Sau. Aber ihr Necken war nicht ganz unbegründet, in ihrem ersten Semester hatten Piroska und er sich beide Hals über Kopf in Nevis verliebt. Der/die zunächst von keinem von beiden etwas wissen wollte. Dann hatte Dash im zweiten Semester Lunis kennengelernt, Nevis’ trashigeren, rebellischeren Zwilling, der ein Semester später sein Studium begonnen und den Nevis den beiden bis dahin vollkommen verschwiegen hatte, und Dash und Lunis waren zusammengekommen, noch lange bevor sich endlich zwischen Piroska und Nevis etwas angebahnt hatte. „Ich würd dich zum Autoquartett-Duell um die schöne Elfe herausfordern, aber du gewinnst ja doch wieder“, scherzte Dash. „Ich gewinne immer, Schätzchen“, stimmte Piroska zu.   Dash freute sich für die beiden. Auch für Lunis, trotz allem. Und hoffte ein bisschen, dass die Versöhnung mit seinem Zwilling Lunis davon abhalten würde, ihm weiter nachzustellen. Lunis hatte unter der Funkstille mit Nevis gelitten, schrecklich gelitten, und Dash, der ihn so oft deswegen hatte trösten müssen, wusste das besser als jeder andere. Er hatte sich oft gefragt, ob die Beziehung zwischen Lunis und ihm anders gewesen wäre, wenn da nicht diese offene Wunde, diese Lücke in ihm gewesen wäre, die durch den Bruch mit Nevis entstanden war.    Er hoffte noch den ganzen Abend darauf, eine Antwort von Ran zu erhalten, aber es kam nichts. Er überlegte, was er ihm am nächsten Morgen in den Briefkasten werfen könnte, falls er ihm wieder nicht öffnen würde. Irgendetwas, das zeigte, dass es ihm aufrichtig leid tat, dass er es ernst mit Ran meinte. Und etwas, das ihn aufheitern würde. Ein Mixtape! Ran hatte zwischen all seinen Retrokonsolen auch einen Retro-Kassettenrekorder stehen, das hatte er gesehen. Und er hatte immer noch den Stereoturm von seinen echten Eltern mit CD-, Kassetten und Schallplattendeck, den er wie einen Schatz hütete. Er verbrachte den ganzen Abend damit, Songs von seinen alten CDs auszusuchen, die er auf eine Kassette für Ran überspielte. „Piep piep kleiner Satellit“ von Blümchen, ganz großer Hit damals. Zumindest in seinen persönlichen Charts. Und wo er schon bei Blümchen war, packte er auch noch „Wie ein Boom-Boom-Boom-Boom-Boomerang“ mit aufs Mixtape. Und ließ es sich nicht nehmen, „Boome-Ran ;)“ auf die Trackliste der Kassette zu schreiben. Waren das Lieder, die zu nervig für Ran waren? „Digital Love“ und „Something about us“ von Daft Punk, das war vielleicht eher sein Geschmack. Romantisch und ein bisschen wehmütig. Und „Back for good“ von Take That durfte nicht fehlen. Dann downloadete er auch noch ein paar Lieder von YouTube, um sie auf CD zu brennen und ebenfalls auf Rans Mixtape zu überspielen. „Pen Pineapple Apple Pen“, in Erinnerung an ihren Tag im Park. Und „Dinosaur Laser Fight“. Und noch viele weitere Lieder, die er irgendwie mit Ran verband, die „Ran“ im Titel hatten (oder deren Titel man entsprechend abwandeln konnte), die er romantisch oder witzig fand. Dann klebte er noch einen holografischen Dino-Sticker auf das Kassettencover und schrieb mit Glitzergelstift „Bitte sei nicht mehr SAURIER“ darunter. Okay, der war echt schlecht, selbst für seine Verhältnisse. Aber vielleicht würde er Ran zum Lachen bringen.   Die nächsten Tage verliefen ähnlich wie der Montag. Dash klingelte auf seiner Tour bei Ran. Ran öffnete nicht. Er schob ihm sein Mixtape und in den folgenden Tagen noch weitere kleine Geschenke und Aufmerksamkeiten in den Briefkasten: Einen selbstgebastelten Stern aus Moosgummi mit LED-Beleuchtung und Wackelaugen, exklusiv für ganz große YouTube-Stars, zu dem er ihm einen kleinen Brief legte, in dem er sich bei Ran dafür bedankte, wie seine YouTube-Videos ihm beim Einschlafen helfen (nicht weil sie so langweilig waren, betonte er noch einmal ausdrücklich, sondern weil sie ihm das Gefühl gaben, dass Ran bei ihm war). Eine große Tafel Trostschokolade. Sein Karpador-Plüschtier namens Karpa Diem, das er schon lange hatte und liebte, und das gerade so in Rans Briefkasten passte. Jeden Nachmittag schrieb er ihm alles, was er an dem Tag erlebt hatte. Eine Antwort bekam er nie. Dashs Konsum von Piña-Colada-E-Zigaretten stieg von Tag zu Tag an.   Den Freitag hatte er frei, weil er in dieser Woche am Samstag arbeiten musste. Er hatte Piroska gefragt, ob er sie und Nevis besuchen kommen durfte, aber die beiden hatten am Nachmittag eine Präsentation in der Uni und Nevis hatte davor auf keinen Fall Nerven für irgendetwas anderes. Er hatte Piroska immer noch nicht gesagt, dass Ran seit Sonntag den Kontakt abgebrochen hatte und wie schlecht es ihm deshalb ging. Er setzte sich lustlos an seinen Laptop, erstellte Ran und sich als Sims und dekorierte ihr Haus mit zu vielen Palmen. Nur um sich irgendwann selbst zu sagen, dass er den freien Tag nutzen musste, um die Realität in Ordnung zu bringen, statt sich in eine Fantasie, die sonst niemals wahr werden würde, zu flüchten. Karpa Diem. Er musste den Tag nutzen, um Ran noch einmal ganz deutlich zu beweisen, dass er ihn nicht aufgeben, ihn niemals wieder enttäuschen würde. Und da fiel ihm der eine Song ein, den er auf seinem Mixtape vergessen hatte, der Song, der genau ausdrückte, was er Ran sagen wollte – und ihn garantiert zum Lachen bringen würde.   Er hatte sein Vintage-Jacket mit Schulterpolstern und eine coole 80er-Sonnenbrille aus seinen Umzugskisten herausgekramt und war so bei Ran im Hof vorgefahren, den Thunderbird so platziert, dass er von Rans Küchenfenster aus zu sehen war. Als Party-Profi hatte er selbstverständlich sein tragbares Bluetooth-Soundsystem mit LED-Beleuchtung und ein total professionelles Voice-Changer-Megafon mit witzigen Stimmeffekten dabei. Jetzt musste er nur noch hoffen, dass Ran auch wirklich zu Hause war. Er startete den Sound – Rick Astley: Never Gonna Give You Up. Ein paar Nachbarn schien er jedenfalls direkt an ihre Fenster gelockt zu haben. Ob ihm das peinlich sein sollte? Für Ran war er sich jedenfalls für nichts zu schade. „Das hier ist für dich, Ran“, sprach er über den Intro des Lieds in sein Megafon. Er konnte Rans Silhouette hinter der Gardine an seinem Fenster erkennen. Er hörte zu. „Es tut mir leid und ich will, dass du folgendes weißt.“ Zusammen mit dem Refrain des Liedes fing er an, selbst mitzusingen:    ‚Never gonna give you up Never gonna let you down Never gonna run around and desert you Never gonna make you cry Never gonna say goodbye Never gonna tell a lie and hurt you’   Eine Nachbarin pfiff ihm durch ihr geöffnetes Fenster zu und lachte, aber Rans Silhouette war wieder vom Fenster verschwunden. Egal, Dash würde nicht aufgeben. Immerhin ging es darum ja bei dem Lied.   Er sang bis zum Schluss mit, verwendete verschiedene Stimmeffekte – Heliumstimme, Phantomstimme, Gewitter-, Schrei- und Alien-Effekt, aber Ran tauchte nicht wieder auf. „Geil, Mann!!!“, schrie noch ein weiterer Nachbar aus seinem Fenster und Dash erhielt Applaus (und ein einzelnes „Buuh, geh woanders die Leute nerven!“) aus verschiedenen Richtungen – nur nicht von Ran. Er wartete noch eine Weile neben seinem Auto, bevor er unverrichteter Dinge wieder nach Hause fuhr.   Dann, am Abend, sah er, während er auf dem Handy Piroskas Fotos von definitiv zu edlem Essen, das Nevis und sie sich nach der (selbstverständlich) erfolgreich verlaufenen Präsentation gegönnt hatten, bewunderte und mit zu vielen Emoticons kommentierte, wie Ran in dem Messenger-Fenster, das er immer geöffnet hatte, eine Antwort tippte. Eine sehr lange Antwort. Er tippte mehrere Minuten lang, in denen Dashs Herz viel zu schnell, viel zu aufgeregt klopfte. Hatte seine Performance ihn etwa überzeugt, ihm doch noch eine Chance zu geben?   ‚Hi‘, ging schließlich die Nachricht von Ran bei ihm ein. Hi? Das wars? Er wollte wissen, was Ran gerade so lange getippt und offensichtlich wieder verworfen hatte. Er würde es schon herausfinden.   ‚Hi ❤️❤️❤️‘, antwortete er sofort zurück.   ‚danke für den Rickroll, LOL‘ ‚hab mich ein bisschen wie eine prinzessin gefühlt, die auf dem balkon ihrer ballade lauscht, haha‘   Das war gut, oder? Es hatte Ran doch gefallen. ‚Macht das mich dann zu deinem Ritter?‘, wollte er gerade antworten und war noch dabei, die passende Emoticon-Parade dazu herauszusuchen – das Pferd und den Glanz für die strahlende Rüstung und das Gesicht mit Herzchen-Augen und… – als auch schon Rans nächste Nachrichten eingingen. Verdammt, Ran war schnell im Tippen…   ‚und für die ganzen anderen Sachen‘ ‚aber mach dir keine Mühe mehr, okay?‘   Mach dir keine Mühe mehr? Was sollte das heißen? Ran tippte immer noch.   ‚ich hab heut eine Mail mit einem Jobangebot bekommen‘ ‚von dem Hersteller von RunAgainst, die haben unser Video gesehen und daraufhin mein Developer-Portfolio gecheckt und mich angeschrieben‘   ‚Woooah! Das freut mich für dich!!!! Glückwunsch!!! 🎉🎉🎉😃😃😃🎈🎈🎈‘, schrieb Dash zurück. Das war total toll … Oder? … In welchem Zusammenhang stand das mit ‚Mach dir keine Mühe mehr‘?   ‚das würde heißen, dass ich nach Hawaii ziehen muss‘ ‚ich werd den Job wohl annehmen, so eine Chance krieg ich nicht nochmal‘   Dashs Herz sackte in seine Hose. Ran würde wegziehen? Einen Moment lang wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Ran sollte nicht wegziehen. Aber er konnte doch nicht so egoistisch sein und ihm das sagen.   ‚ohne dich und unser Video hätte ich das Angebot nie bekommen, also danke dafür‘ ‚irgendwie hast du also doch mein Leben ein bisschen besser gemacht, wenn auch anders als gedacht‘ ‚das heißt dann wohl Lebwohl‘   Dashs Augen füllten sich mit Tränen. Das konnte es doch nicht gewesen sein.   ‚Nein, das muss es nicht!! 😢😢😢‘ ‚Wir können uns schreiben und skypen und ich spare und komme dir hinterher!‘   Das würde er machen! Er würde alles machen, wenn nur Ran nicht aus seinem Leben verschwinden würde. Und überhaupt, Hawaii! Er konnte sich keinen besseren Ort vorstellen, um dort zu leben. Das würde funktionieren.   ‚als ob‘, kam die Antwort von Ran zurück. ‚du hast es ja in einer Woche nicht geschafft, nicht mit deinem sc‘ ‚nicht mit Lunis ins Bett zu steigen‘   Dash starrte auf den Bildschirm. Das war ein Schlag ins Gesicht. War das wirklich, was Ran über ihn dachte? Hatte er wirklich so sehr sein Vertrauen in ihn verloren? Das durfte er nicht zulassen. Er musste ihm irgendwie beweisen, wie viel er ihm bedeutete. Anders als mit Geschenken und Basteleien und Rickrolls. Scheinbar hatten die keine Überzeugungsarbeit geleistet.   ‚Ich meine das ernst!‘, schrieb er zurück. ‚Mit Hawaii. Und mit dir! Ich komme nach, versprochen!‘ ‚Gib mir wenigstens noch eine Chance. Können wir uns wenigstens noch einmal treffen?‘   Ran brauchte lange, bevor er wieder zurück schrieb.   ‚ich kann das nicht, solange du nicht richtig mit deinem „Ex“ abgeschlossen hast‘ ‚wenn du dir irgendwann sicher bist, dass er dir nichts mehr bedeutet, dann komm meinetwegen nach Hawaii‘ ‚kannst dir ruhig Zeit lassen, mich will sonst eh niemand‘ ‚ich bin dann da, einsam und deprimiert unter Palmen, haha‘ ‚aber bis dahin lass mich in Ruhe‘ ‚mach das nicht alles noch schwerer, als es eh schon ist‘   Dash wusste nicht, was er antworten sollte. Ihm liefen Tränen die Wangen herunter. Wie hatte er Ran so weh tun können? Es fühlte sich so schrecklich an, und es gab nichts, was er tun konnte, um das rückgängig zu machen. Egal wie viele Worte er ihm noch schreiben, wie viele Mühen er sich noch für ihn machen würde, es gab nichts, womit er beweisen konnte, wie viel Ran ihm bedeutete – dass die kurze Zeit, die sie miteinander gehabt hatten, ihm so sehr gezeigt hatte, was er sich wirklich von einer Beziehung wünschte, dass er nie wieder zu Lunis zurückgehen würde. Es gab nichts, womit er das beweisen konnte, außer mit Zeit und Geduld. Damit, dass es nicht passieren würde, so lange, bis Ran ihm endlich wieder vertraute. Geduld war nicht gerade die Eigenschaft, die auf der Liste von Dashs Stärken ganz oben stand.    ‚Ich werd nicht mehr bei dir klingeln oder dir Geschenke machen, wenn dich das traurig macht.‘ ‚Aber ich denke an dich, jeden Tag.‘ ‚Und ich komme nach Hawaii, versprochen! Schreib mir, wenn du weißt, wann du fliegst.‘ ‚Darf ich dir wenigstens weiter schreiben?‘ ‚Du musst es nicht lesen, wenn du nicht willst.‘ ‚Nur damit du weißt, dass ich dich nicht vergessen habe.‘ ‚❤️‘   Ran antwortete nicht mehr. Es sollte für eine Weile das letzte gewesen sein, was Dash von Ran hörte. Kapitel 15: what did you expect? -------------------------------- Es war Sonntag Nacht. Mehr als eine Woche war vergangen seit dem Tag, an dem Ran ihm gesagt hatte, dass er nach Hawaii ziehen würde. Dash hatte ihm weiter jeden Tag geschrieben, aber von Ran hatte er seitdem nichts mehr gehört. Es machte ihn nervös. Die Angst, dass er Ran egal werden würde. Die Angst, dass er zu lange brauchen würde, um genug Geld zu sparen, um ihm wirklich hinterher zu reisen. Er war bei der Arbeit abgelenkt, machte immer wieder kleine und größere Fehler, die nicht immer unbemerkt blieben und ihm schon die eine oder andere Rüge von seiner Chefin, die ihn ohnehin für einen „Traumtänzer“ hielt, wie sie immer wieder betonte, eingebracht hatten. Er versuchte sich abzulenken, indem er am Abend etwas mit den Kollegen unternahm, aber sie waren kein Ersatz für Piroska und Nevis. Nachdem Piroska Anfang der Woche doch misstrauisch geworden war, warum sie gar nichts mehr von Ran zu hören bekam, hatte er ihr erzählt, dass Ran seit dem Vorfall mit Lunis (dem Vorfall, über den er immer noch nicht reden konnte) den Kontakt gemieden hatte. Dass er nach Hawaii ziehen würde. Zum Glück war Piroska genau so verrückt wie er, sprach ihm Mut zu, dass er einen Weg finden würde, Ran zurückzuerobern, auch wenn es offensichtlich war, dass es ihr lieber wäre, wenn dieser nicht darin bestehen würde, mit ihm nach Hawaii zu ziehen.   Er hatte noch eine Weile damit verbracht, mit seinen Dash-und-Ran-Sims zu spielen (mittlerweile hatten sie fünf Hunde und ein Baby adoptiert), Ran vor dem Einschlafen noch einmal geschrieben und war dann früh ins Bett gegangen, schließlich musste er am Montag wieder zeitig raus. Die Alpträume – oder vielmehr Erinnerungen – von Lunis, der ihn bedrohte, ihn fesselte, ihm falsche Worte in den Mund legte und ihm weh tat, kamen immer noch, jede Nacht, selbst wenn er Rans YouTube-Kanal laufen und das Licht angeschaltet ließ. Aber deshalb den Schlaf zu meiden hatte noch weniger Sinn, sorgte nur dafür, dass er bei der Arbeit noch geistesabwesender war, und so nahm er es einfach hin, dass er einmal die Nacht schweißgebadet und mit dem widerlichen Gefühl, benutzt geworden zu sein, aber irgendwie selbst daran schuld zu haben, aufwachte.    Diese Nacht sollte es nicht anders sein. Ein heftiges Donnergrummeln riss ihn aus dem Traum, draußen tobte ein schweres Gewitter. Er hatte Gewitter immer geliebt, den Geruch des Regens, wie sie es schafften, selbst den hellsten Tag in tiefe Dunkelheit zu tauchen, nur um sie dann mit gleißenden Blitzen zu erhellen. Er stand auf und öffnete die Balkontür, um ein wenig von der sauberen Regenluft hereinzulassen. Auf dem Laptop sah er sich selbst neben einem genervt-amüsierten Ran bei ihrem Let’s Play in die Kamera winken und wünschte, er könnte die Zeit zu diesem Tag zurückdrehen.   Es hatte keinen Sinn mehr, noch einmal schlafen zu gehen, in einer Stunde würde sowieso sein Wecker klingeln. Er ging duschen und durchsuchte gerade mit um die Hüfte gewickeltem Handtuch seine Umzugskisten nach Klamotten, als ihn die Klingel regelrecht vor Schreck zusammenfahren ließ. Es war wörtlich mitten in der Nacht. Warum sollte jemand um diese Uhrzeit bei ihm klingeln? Sein erster Gedanke galt Ran. Aber selbst wenn Ran ihm verziehen hätte und sich aussprechen wollte, wäre er nicht der Typ dazu, das aus einer Laune heraus mitten in der Nacht zu tun – oder? Vielleicht auch nur ein Nachbar, der zu hart gefeiert hatte und jetzt seinen Schlüssel nicht finden konnte… „Hallo?“, fragte er in den Hörer der Sprechanlage. „Hi, BAE.“ Lunis’ Stimme ließ ihn am ganzen Körper erschaudern. Nein, alles nur das nicht… Das war immer noch einer seiner Alpträume, oder?   „Sorry, dass ich so unangemeldet auftauche.“ Lunis klang zittrig, ein wenig weinerlich. Dann hörte er ein Niesen. „Es … es tut mir leid wegen letztens. Ich benehm mich dieses Mal, versprochen. Ich brauch nur echt jemanden zum Reden.“ Er hörte, wie Lunis die Nase in ein Taschentuch schnäuzte. „Ich hab mich mit Nevis gestritten.“ Trotz all der Angst und Bitternis, die gerade in ihm war, versetzte der letzte Satz ihm einen kleinen Stich ins Herz. Er hatte so sehr darauf gehofft, dass sich für Lunis alles wieder ein bisschen normalisieren und zum Besseren wenden würde, jetzt, wo er sich mit Nevis versöhnt hatte. Und ausnahmsweise war er sich nicht ganz sicher, dass Lunis Schuld an dem Streit hatte. Nevis hatte eine Tendenz dazu, verletzende Dinge zu sagen. Aber das durfte nicht mehr sein Problem sein. „Lunis, ich … Sorry, du musst dir jemand anderes zum Reden suchen.“ Für einen Moment herrschte Stille, dann hörte er, wie Lunis noch einmal nieste und die Nase hochzog. „Ich … hab niemand anderes zum Reden.“ Dash musste mit sich ringen. Lunis war nie gut darin gewesen, Freundschaften aufrecht zu erhalten. Er war gut darin, oberflächliche Bekanntschaften zu schließen, andere für sich zu begeistern – bis sie sich näher kennenlernten. Die wenigsten kamen mit Lunis’ Art klar. „Könntest mich wenigstens kurz zum Aufwärmen reinlassen, du Sozi“, hörte er Lunis mit gefaktem Schweizer Akzent sagen und konnte sich ein Lachen über die Anspielung auf das legendäre 300g-Schokolade-Video nicht verkneifen. „Es regnet in Strömen, falls du’s nicht gemerkt hast, du Vollmongo, ich bin grad zwei Stunden auf der Rocket durchs Gewitter gefahren und durchgeweicht wie ‘ne Essiggurke.“ Zwei Stunden?! Warum schafften die die Strecke alle in zwei Stunden??? Okay, Piroska und Lunis fuhren wirklich beide wie die Säue… Wenn Lunis’ und Nevis’ Eltern nicht regelmäßig ihre Beziehungen spielen lassen würden, wären vermutlich beide schon ihren Führerschein los. Er konnte ihn nicht einfach da draußen im Regen stehen und so wieder zurückfahren lassen. „Früher war ich wenigstens noch ein Poké-Mongo“, versuchte er zu scherzen und sich noch ein bisschen Bedenkzeit zu verschaffen, bevor er die Tür öffnete. „Du kriegst ’nen Poké-Mongo-Ehrenorden, wenn du mich reinlässt.“ Vielleicht wollte Dash sich selbst etwas beweisen, als er den Türöffner drückte. Dass er dieses Mal für sich selbst einstehen würde. Dass er Lunis unmissverständlich klarmachen würde, wo sie standen. Vielleicht hoffte er ein bisschen, dass das ihre Chance sein würde, im Reinen auseinanderzugehen, so wie es ihm beim letzten Mal versprochen wurde. Vielleicht glaubte er immer noch zu sehr daran, dass Lunis in seinem Inneren ein guter Mensch war und sie einfach Freunde sein könnten.   Aber noch während er an der Wohnungstür wartete, fing er an, seine Entscheidung zu bereuen. Was, wenn doch wieder das selbe passieren würde? Plötzlich wurde ihm schrecklich bewusst, dass er nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet – oder eben nicht bekleidet – war. Seine Hände begannen zu zittern. Was war das? Wie aus Reflex rannte er ins Schlafzimmer und machte die Tür hinter sich zu. „Ich bin gleich da“, rief er, als er Lunis in die Wohnung kommen hörte und wühlte wie verzweifelt in der riesigen Kiste nach einer Unterhose. „Ich muss nur schnell noch~“ „Was überziehen?“, grinste Lunis ihn an, als sie ungefragt ins Zimmer kam und ihn mit ihrem Blick durchbohrte, verlaufenes schwarzes Makeup unter den Augen, auf die es von den pitschnassen Haarsträhnen heruntertropfte. Eindeutig einer ihrer girly Tage. „Kannst du kurz draußen warten?“, versuchte Dash so streng zu klingen wie er nur konnte. Lunis schnaubte amüsiert. „Ich weiß wie du nackig aussiehst, Pfirsichspalte. Lass mich kurz ausruhen, ‘kay?“ Sie warf sich in ihrem klatschnassen Motorradanzug auf Dashs Bett. „Ich behalt meine Hände bei mir, versprochen.“ Lunis sah echt fertig aus. Aber er wollte sich nicht vor ihr umziehen, er war immer noch seltsam zittrig am ganzen Körper. Er hatte endlich alles, was er für ein vollständiges Outfit brauchte, zusammengefunden, klemmte es sich unter den Arm und machte sich mit einem „Ich bin gleich wieder da“ auf den Weg ins Badezimmer. „Bring mir ein Handtuch mit, ja?“, rief Lunis ihm müde hinterher.   Als er etwas gefasster und mit dem Vorsatz, ihr klar zu machen, dass sie gleich wieder gehen müsse, zurück kam, hatte sie sich aus dem nassen Motorradanzug und ihren Socken befreit und lag in Lederleggings und einem übergroßen weißen T-Shirt mit dem Aufdruck „I Hate you to the Moon and Back“, durch das ihr schwarzer Harness-Bra durchschimmerte (sie liebte die Dinger und hatte ungefähr drölf Dutzend davon, die angeblich alle anders waren), auf Dashs Bett. Sie hatte den Kopf seitlich in ein Kissen gedrückt, sah verletzlich aus, nicht wie die Bedrohung, als die Dash sie eben noch empfunden hatte. Er setzte sich auf die Bettkante und reichte ihr das Handtuch für ihre Haare. „Was war mit Nevis?“, fragte er nach. „Nevis hasst mich“, war alles, was Lunis zu sagen schaffte, bevor sie ihr Gesicht vollständig im Kopfkissen vergrub. Dash legte aus Gewohnheit eine Hand tröstend auf ihre Schulter – und wünschte im selben Moment, er hätte es nicht getan. Jetzt war sie da. „Ich glaube nicht, dass Nevis das gesagt hat“, versuchte er zu beschwichtigen. Lunis neigte dazu, zu übertreiben und zu dramatisieren – und das alles dann auch selbst zu glauben. Sie schaute wieder zu ihm hoch. „Aber gemeint.“ Dicke kajalschwarze Tränen kullerten ihre Wangen herunter. „Wir hatten endlich wieder Frieden … ich hab mich so … vollständig gefühlt.“ Lunis griff nach Dashs Hand, die immer noch auf ihrer Schulter lag, drückte sie an sich. Dash überkam ein flaues Gefühl, aber Berührungen waren immer seine Art gewesen, andere zu trösten. Es wäre herzlos gewesen, seine Hand jetzt wieder wegzuziehen.  „Wir haben so lange geredet an diesem Sonntag, einfach nur geredet … Über dich … Nevis hat schon recht, es  war falsch, dass ich hergekommen bin, und das tut mir leid … Ich meine, jetzt bin ich natürlich wieder hier“, Lunis lächelte fast ein bisschen verlegen, so, dass Dash ihr nicht böse sein konnte, „Aber dieses Mal ist anders. Ich versuch nicht mehr, dich zurückzukriegen, wenn du nicht willst.“ Dabei drückte sie seine Hand noch ein bisschen fester an sich, sah ihn ein wenig hoffnungsvoll an, als würde sie darauf warten, dass er ihr widerspricht. „Ich will das nicht“, zwang Dash sich zu sagen und zog nun doch seine Hand wieder zu sich, auch wenn es ihm das Herz brach, daran zu denken, wie Lunis sich dabei fühlen musste. Sie wandte ihren Blick ab und redete in den Raum. „Und dann haben wir über die Aufnahmeprüfung geredet, alles nochmal richtig aufgearbeitet.“   Die Aufnahmeprüfung war jahrelang ein Triggerword gewesen, der Grund für den Streit zwischen Lunis und Nevis, und Dash und Lunis waren schon eine ganze Weile zusammen gewesen, bis sie sich endlich hatte überwinden können, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Lunis hatte sich zu Beginn des Studiums als Nevis ausgegeben, um anstelle ihres Zwillings die Aufnahmeprüfung an der Uni zu machen (damals hatten beide noch naturschwarze Haare). Ohne das Wissen von Nevis. Weil diese/r am Tag vorher heftige Migräne und Übelkeit erlitten hatte und ohne die Prüfung nicht das Studium hätte beginnen können, für das ersie ein halbes Jahr lang gebüffelt hatte. Lunis hatte geglaubt, Nevis damit einen riesigen Gefallen zu tun, löste damit aber den heftigsten Streit aus, den die Zwillinge jemals gehabt hatten. Weil sich herausstellte, dass Nevis’ Beschwerden einer Angst vor der Zukunft als Leiter/in des Pharma-Unternehmens ihrer Eltern entsprungen und eine eigentlich willkommene Ausrede gewesen waren, die Besiegelung dieses Schicksals noch ein wenig hinauszuzögern. Weil ersie es Lunis zum Vorwurf machte, mit derart illegalen Aktionen die akademische Zukunft von beiden aufs Spiel zu setzen. Weil ersie es Lunis zum Vorwurf machte, deshalb „auf ewig“ mit einer „schlechten“ Note in der Aufnahmeprüfung dazustehen (die niemals wieder irgendwo auftauchen würde. Und die dafür, dass Lunis genau eine Nacht für die Prüfung gelernt hatte, extrem gut ausgefallen war.) Aber vor allem, weil beide Zwillinge gegenseitig über ihre Unehrlichkeit enttäuscht waren – Lunis darüber, dass Nevis ihr nicht von seinen/ihren Zukunftsängsten erzählt hatte, Nevis darüber, dass Lunis sich hinter seinem/ihrem Rücken als Nevis ausgegeben hatte.    „Nevis hatte mir endlich verziehen. Wir haben uns geschworen, dass wir in Zukunft ehrlich zueinander sind und dass alles wieder wie früher wird.“ Lunis starrte wehmütig in den Raum. „Und ich wollte so sehr ehrlich zu Nevis sein, ich hab’s mir fest vorgenommen.“ Dash wartete auf den Plottwist. „Ich hab Nevis gesagt, dass ich nur für ihn Schrägstrich sie das Studium angefangen habe, damit ich irgendwann an Nevis’ Stelle die Firma leiten kann und er Schrägstrich sie machen kann, was er Schrägstrich sie wirklich will.“ Eines der vielen, Dash wohlbekannten Opfer, die Lunis so gerne ungefragt für die Menschen, die sie liebte, erbrachte. Lunis hatte sich ein Semester nach Nevis ebenfalls für einen Management-Studiengang qualifiziert – nicht aus eigenem Antrieb, sondern um ihren Fehler wieder gut zu machen und Nevis die Zukunft, die ersie niemals wollte, zu ersparen. „Und weißt du, was Nevis gesagt hat?“, drückte Lunis nun ihr Gesicht wieder halb in Dashs Kissen. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Mama und Papa dich das Unternehmen führen lassen.“    Das war nicht der Plottwist, den Dash erwartet hatte. Lunis traf wirklich keine Schuld. „Warum… warum mach ich alles falsch…?“, weinte Lunis in sein Kissen. „Bin ich wirklich so eine Enttäuschung? Warum hassen mich alle…? Mama, Papa, Nevis, du…“ Dash musste schlucken. Er ertrug es nicht, Menschen so leiden zu sehen, auch nicht Lunis. Lunis’ und Nevis’ Eltern mit ihrem zerstörerischen Leistungsdruck, den sie ein Leben lang auf ihre Kinder ausgeübt hatten, hatte niemand verdient. Und die unangenehmen Eigenschaften der Zwillinge – Nevis’ kalte, oft herablassende Art und Lunis’ Aufmerksamkeitssucht – waren letztlich nichts anderes als die Resultate dieser Erziehung. „Nevis hasst dich nicht“, versuchte er Lunis zu beruhigen, „Du weißt doch, dass Nevis oft nicht merkt, wenn ersie was Verletzendes sagt, und das eigentlich gar nicht so meint.“ Lunis’ wandte ihm ihre verheulten Augen wieder zu. „Aber trotzdem hat Nevis recht … Für Mama und Papa bin ich nichts als eine Enttäuschung… Und für dich war ich auch immer nur ein schlechter Ersatz, weil du Nevis nicht haben konntest.“ Lunis’ Weinen war echt nicht hübsch. Da waren sie wieder, Lunis’ tiefsitzende Komplexe, die Angst, den Vergleich mit Nevis niemals gewinnen zu können. „Du weißt, dass das nicht stimmt“, schüttelte Dash den Kopf. Das Thema war während ihrer Beziehung mehrmals aufgekommen. Ohne darüber nachzudenken, was er da tat, fasste er nach Lunis’ Hand. Er wollte sie irgendwie beruhigen. „Wenn ich euch beide gleichzeitig kennengelernt hätte, ich hätte mich immer für dich entschieden.“ Lunis lächelte ihn mit vom Weinen geröteten Augen an. „Du bist so viel witziger als Nevis, du glaubst doch nicht, dass ich mit der Spaßbremse wirklich hätte was anfangen können.“ Lunis musste ein bisschen kichern. „Und rebellischer. Und der rebellischen Lunis, die ich kenne, ist es egal, was ihre Spießer-Eltern von ihr denken, weil sie weiß, dass sie ihren eigenen Weg gehen wird.“ Er drückte noch einmal aufbauend Lunis’ Hand und merkte gleichzeitig, wie unangenehm es ihm war, wie sehr sie sich an ihm festhielt, ihm keine Chance gab, seine Hand wieder wegzunehmen. Er nahm mit der anderen Hand sein Handy vom Nachttisch, um auf die Uhr zu sehen. „Wieder alles in Ordnung?“, gab er ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Ich bin mir sicher, wenn du nochmal mit Nevis redest, dann tut es ihmihr leid, was ersie gesagt hat. Nevis war doch auch froh, dass ihr euch wieder versöhnt habt, also muss es schon was an dir geben, was selbst Nevis zu schätzen weiß.“   „Musst du weg?“ Lunis’ war sein Blick auf die Uhr nicht entgangen. „Ich muss gleich zur Arbeit, ja. Wenn du noch ein bisschen deine Base chillen willst, bevor du wieder heimfährst, kann ich dir ‘nen Tarantino-Film anmachen.“ Tarantino-Filme waren Lunis’ Disney-Filme. „Was für’n bekackten Job hast du denn, dass du um die Uhrzeit zur Arbeit musst?“ Dash musste grinsen. Wenn Lunis wieder fluchen konnte, konnte es ihr so schlecht nicht mehr gehen. „Ich fahr Pakete aus.“ „Mit gelben Autos rumrasen, verstehe“, grinste Lunis ihn an. Sie hielt immer noch seine Hand fest. „Können wir nicht noch ein bisschen reden … über uns?“ Dash wich ihrem Blick aus. Er hatte ja selbst gehofft, dass das ihre Chance sein würde, Probleme aufzuarbeiten, im Reinen auseinander zu gehen. Aber nach den vielen Missgeschicken der letzten Woche wäre er besser beraten, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. „Ich kann mir grade echt nicht erlauben, zu spät zur Arbeit anzutanzen, sorry.“ Es tat ihm ehrlich leid. „Kannst du dich nicht krank melden?“, bettelte Lunis. „Wie stellst du dir das–“, wollte er fragen, als Lunis ihm auch schon ins Wort fiel. „Ich fälsch dir ’nen Krankenschein.“ Aus irgendeinem Grund konnte Lunis das tatsächlich ziemlich gut und in der Uni hatte es die Professoren unzählige Male überzeugt. Trotzdem wurde ihm irgendwie immer unwohler bei dem Gedanken. „Ich weiß nicht, ob das eine gute–“ Lunis’ Gesichtsausdruck schlug von seinem fast beruhigten Zustand plötzlich wieder ins totale Gegenteil um. „Ich … ich schaff das noch nicht, wieder heim zu fahren. Du kannst das immer irgendwie, mich mit ein paar Sätzen wieder aufzubauen, aber wenn ich heimkomme und Nevis sagt nochmal sowas, dann–“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Wie aus Reflex nahm Dash sie in die Arme. „Hey, du … du bist ein großes Mädchen, du schaffst das schon, ich glaub an dich!“ Er spürte, wie sie ihren Kopf mit einem Schütteln fester in seine Schulter drückte. „Geh nicht… bitte…“   Er hätte wirklich nicht so viel Mitleid mit Lunis haben sollen, nach allem, was sie ihm angetan hatte. Aber er hatte es. Ihre Fälschungen waren gut, was sollte schon passieren? Und auf der anderen Seite war die Angst, dass ihr etwas passieren würde, wenn sie in ihrem jetzigen Zustand die Strecke nach Hause fahren würde. Und die Chance, sich endlich mit ihr auszusprechen, endlich die bitteren Gefühle, die Wut und die Angst loszuwerden, die immer noch jedes Mal in ihm hochkamen, wenn er an ihre Beziehung dachte.    Kapitel 16: disaster girl ------------------------- „Glückauf, ich wusste nicht, dass du ‘ne Freundin hast.“ Dash blickte sich irritiert um und erkannte hinter sich einen seiner Kollegen, der wohl gerade im selben Dekoladen etwas suchte, in den Lunis ihn nach unzähligen anderen Geschäften, in denen sie heute schon gewesen waren, geschleppt hatte. Nichts konnte sie so gut wieder aufheitern wie Shopping. „…Oder Freund?“, blickte der Kollege Lunis ein wenig verwirrt an, als er sie noch einmal aus der Nähe betrachtete (wäre es nicht Lunis gewesen, hätte er damit ganz schön ins Fettnäpfchen treten können, haha). „Heute Freundin“, zwinkerte Lunis sehr zu seinem Amüsement zurück. „Ex-Freundin“, korrigierte Dash und fragte sich, wie lange Lunis sich schon an seinem Arm eingehängt hatte ohne dass es ihm aufgefallen war. „Oh, ich wollte nicht…“, begann Dashs Kollege eine verlegene Entschuldigung, als er auch schon von Lunis unterbrochen wurde. „Es ist kompliziert“, lachte sie.   Nein. Nein, es war nicht kompliziert. Sie waren nicht mehr zusammen. Punkt. Und sie hatte Dash noch heute Morgen versichert, dass sie nicht mehr versuchen würde, etwas daran zu ändern.  „Jedenfalls…“, versuchte es sein Kollege nochmal, „Ich dachte du wärst krank, war gar nicht so einfach heute Morgen noch schnell jemanden zu finden, der für dich einspringt.“ Shit. „War er auch“, ergriff Lunis das Wort, noch bevor er sich eine Ausrede überlegen konnte, „Hat die ganze Nacht im Strahl gekotzt. Aber zum Glück bin ich gleich gekommen und hab mich um ihn gekümmert. Wie eine gute Ex-Freundin.“ Was sollte der Seitenhieb? Das war gar nicht wirklich passiert. Immerhin Dashs Kollege war von Lunis’ gar nicht damenhafter Wortwahl sichtlich belustigt. „Das klingt mir eher nach zu hart gefeiert, was, Glückauf?“, grinste er ihm verschwörerisch zu. „Ich würd mit sowas aufpassen an deiner Stelle, die Chefin ist eh nicht gut auf dich zu sprechen im Moment.“ Dash senkte schuldbewusst den Kopf. „Ich weiß… Ab Morgen bin ich wieder mit voller Power dabei!“ „Das will ich doch hoffen“, zog sein Kollege eine Augenbraue hoch. „Naja, ich wünsch euch noch gute Erholung beim Shoppen.“   Dash schaute auf die unzähligen Einkaufstüten, die er bereits in den Händen trug, und das volle Einkaufskörbchen an Lunis’ Arm, dessen Inhalt sich gleich noch dazugesellen würde. Langsam verging ihm die Lust. Der Tag war bisher überraschend angenehm verlaufen, fast hatte er ein bisschen angefangen, die alten Zeiten mit Lunis zu vermissen, aber das Aufeinandertreffen mit seinem Kollegen hatte ihm mit einem Schlag wieder bewusst gemacht, warum es nicht gut war, dass Lunis hier war. „Hab dich gut gerettet, was, Schluckauf?“, grinste Lunis ihn an, nachdem der Kollege wieder außer Sichtweite war, und Dash musste trotz allem über den albernen Spitznamen, den Lunis ihm auf Grund seines Nachnamens verpasst hatte, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten, mitgrinsen. „Vor einem Problem, das es ohne dich gar nicht gegeben hätte“, hob er spitzfindig eine Augenbraue. „Heyyy“, lachte Lunis, „Ich mach vielleicht gerne Probleme, aber ich bring sie auch immer wieder in Ordnung.“ War das so? „Ich bin Troublemaker und Peacemaker in einem.“ Dash musste lachen. Auch wenn er seine Zweifel hatte, ob das so ganz den Tatsachen entsprach. „Hey, das ist was für dich“, schwenkte sie plötzlich mit einem ananasförmigen Gegenstand vor Dashs Nase herum. „Woah, was ist das?“ „LED-Lampe Ananas mit Farbwechselautomatik“, las Lunis von der Verpackung vor. „Woah, Farbwechselautomatik, woah!!“ Als Ananas. Das war zu gut. Er hibbelte auf der Stelle herum, während er freudestrahlend die kleine Ananaslampe betrachtete. „Du willst sie, oder?“, grinste Lunis ihn an. „Ja, ich will!!“, strahlte Dash zurück. Und bemerkte erst im zweiten Moment seine Formulierung. Und dass sie vor einem Tisch mit Hochzeitsartikeln standen. Lunis schnaubte halb amüsiert, halb wehmütig, wandte den Blick kurz von ihm ab, nur um ihn dann wieder aus dem Augenwinkel anzusehen. „Weißt du noch, als wir aus Scheiß unsere Hochzeit geplant haben? Ich im schwarzen Brautkleid und du im Anzug aus Hologrammfolie?“ Dash musste lachen. „Da waren wir noch ganz frisch zusammen und total betrunken“, stimmte er ein. Er mochte diese Erinnerung. Aber Lunis lachte nicht mehr. Er konnte Tränen in ihren Augenwinkeln erkennen. „Und als ich mir zum Geburtstag das Tattoo von dir gewünscht habe und du einfach so zugestimmt hast, und ich hab gesagt: ‚Du weißt schon, dass das nie mehr weggeht?‘ Und…“,  die Tränen liefen los, „Und du hast geantwortet: ‚Ist das dann sowas wie ein Verlobungsring?‘“. Er war so verliebt in Lunis gewesen. Hatte sich immer eine Zukunft mit ihr gewünscht. Aber je länger sie zusammen gewesen waren, umso schwerer war es ihm gefallen, sich diese Zukunft so vorzustellen, dass er darin glücklich war. Natürlich hatte er bis zum Schluss die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Lunis sich noch ändern würde, dass alles einfacher würde, wenn sie nur ihre Komplexe überwinden und lernen würde, dass sie ihm vollkommen vertrauen kann. Das war der Grund gewesen, warum er sich viel zu lange auf ihre Spielchen, auf ihre „Liebesbeweise“ eingelassen hatte. Er ertrug es bis heute nicht, sie weinen zu sehen. „Heyyy…“, stellte er seine Einkaufstüten ab und legte vorsichtig seine Hände auf ihre Schultern, „Du willst doch nicht, dass das schöne Makeup schon wieder verläuft.“ Sie hatte, bevor sie am Morgen losgezogen waren, viel zu lange im Bad damit verbracht, sich neu zu schminken. „Komm, das lässt sich noch retten.“ Er wühlte in seiner Hosentasche nach Taschentüchern, aber fand nur ein gebrauchtes. Das würde es auch tun. Er zog sie ein wenig näher zu sich, tupfte vorsichtig die schwarze Farbe von ihren Wangen weg, wischte noch einmal stärker nach. Die Feuchtigkeit von Lunis’ Tränen reichte nicht aus, um die ganze verwischte Farbe abzubekommen, also half er noch einmal mit ein bisschen Spucke nach. Er spürte Lunis’ Arme um seine Taille. „Lässt sich das hier noch retten?“, schaute sie unglücklich zu ihm hoch. Er brachte es nicht übers Herz, zu antworten. Lunis’ Blick sank zu Boden. Oder vielmehr auf seine Hand mit dem Taschentuch. „Du hast mir grade nicht ernsthaft mit einem verrotzten Tempo durchs Gesicht geputzt?“ Lunis starrte ihn vorwurfsvoll an. Dash musste lachen. „Das war schon lange getrocknet.“ Nicht, dass es das besser machte. „Und es hat den Job getan“, grinste er, „Du bist wieder die Schönste im ganzen Land.“ „Urgh, du bist so ein alter Ekelpäck“, verzog sie gespielt angeekelt das Gesicht.   Den alten Zeiten zuliebe hatten sie sich nach einem Slushie zur Erholung noch zu einem Besuch im Spielzeugladen entschieden, bevor sie in Dashs Wohnung zurückgekehrt waren. „Glitzerschleim, Dino- und Zaubertroll-Sticker für dich, Monster-High-Haarspangen für mich“, entleerte Lunis die letzte Einkaufstasche auf Dashs Sofa und die beiden mussten selbst über den Mist lachen, den sie da gekauft hatten, „Wasserpistolen … Ich teste die mal direkt, ob das kein Trash ist.“ Lunis verschwand mit den zwei Wasserpistolen in Dashs Küche, er hörte den Wasserhahn laufen und spürte kurz darauf einen Spritzer in seinem Gesicht. „Heyyy“, lachte er, „Ich bin unbewaffnet!“ Lunis setzte sich zurück zu ihm auf das Sofa. „Du kriegst gleich deine Chance auf Revanche“, zwinkerte sie ihm zu, bevor sie eine Tüte, die Dash die ganze Zeit gar nicht aufgefallen war, zwischen den anderen hervorzauberte. „Ich hab da noch was für dich.“ Sie drückte ihm die Tüte in die Hand und er brauchte nicht lange, um zu erkennen, was es war. „Lunis, ich hab doch gesagt, der ist zu teuer und ich hab schon zu viel Krempel und…“ Es war der Roboter-Dino, von dem er im Spielzeugladen so fasziniert gewesen war, dass er eine Verkäuferin extra darum gebeten hatte, ihn ausprobieren zu dürfen, und dann deutlich länger damit gespielt und sämtliche Funktionen ausprobiert hatte, als das angemessen gewesen wäre. Er konnte ein strahlendes Lächeln nicht unterdrücken. Lunis grinste zurück. „Als Dankeschön. Fürs Zuhören und dafür, dass du dir extra freigenommen hast für mich. Das … war nicht selbstverständlich.“ „Danke“, entgegnete Dash, aber das Wort hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund. Lunis hatte schon wieder ungebeten etwas getan, weil sie glaubte, dass sie Dash damit einen Gefallen tun würde. Irgendwie hatte sie das ja auch, aber dann auch wieder nicht. Dass der Dino teuer war und Dash ohnehin zu viel Kram daheim hatte, der noch nicht einmal aus seinen Umzugskisten ausgepackt war, war nur die halbe Wahrheit. Er hatte Lunis gegenüber Ran nicht mehr erwähnt, weil er wusste, dass sie eifersüchtig werden und ausrasten würde. Und dass sie ihre Wut im schlimmsten Falle statt auf ihn auf Ran lenken würde, und er, solange Ran nicht mit ihm redete, nichts tun konnte, um ihn davor zu schützen. Aber wenn er wirklich mit Ran nach Hawaii wollte, konnte er keine Roboter und Neonröhren-Dekorationen und Spielzeugkisten mitnehmen. Das musste alles irgendwie wieder verschwinden… „Das ist dein neuer Freund“, deutete Lunis noch einmal auf den Roboterdino, nur um danach wieder die ursprüngliche Spielzeugladentüte zu sich zu holen, „Und das sind Pinapberrys neue Freunde.“ Sie holte die drei hässlichsten, bizarrsten Kuscheltiere aus der Tüte, die sie im ganzen Spielzeugladen hatten finden können – ein türkises Stinktier mit Leomuster, Glitzeraugen und Elfenflügeln, ein offensichtlich stark My-Little-Pony-inspiriertes Einhorn mit einem Cutie-Mark, in dem Lunis und Dash selbst unter größter Anstrengung nichts Jugendfreies erkennen konnten, und eine Fledermaus aus neonbuntem Patchworkstoff mit holografischen Ohren und Flügeln. Eines von Lunis’ wichtigsten Hobbys war das Sammeln von epischen Bootleg-Merchandise-Fails und hässlichen, aber irgendwie liebenswerten Figuren und Plüschtieren im Allgemeinen. Ihre Sammlung war enorm. „Pinapberry wird sich über die Gesellschaft freuen, sie ist einsam seit ihr Daddy nicht mehr da ist.“ Pinapberry war das prächtigste unter Lunis’ Bootleg-Kuscheltieren, ein inoffizielles Pokémon-Plushie, bei dem die beiden sich nie ganz sicher gewesen waren, ob es ein Pikachu oder ein Evoli darstellen sollte, denn es hatte Eigenschaften von beiden. Und war auch mindestens doppelt so niedlich wie beide zusammen. Jedenfalls in den Augen von Lunis und Dash, die es bei AliExpress entdeckt und sofort bestellt hatten. Seitdem war es so etwas wie ihr Übungshaustier (oder doch sogar Übungsbaby?) gewesen und die Art und Weise, wie Lunis sich immer mit äußerster Fürsorge um Pinapberry gekümmert hatte, ungewohnt sanft und liebevoll mit ihr umgegangen war und selbst in ihren schlimmsten Wutanfällen nicht im Traum daran gedacht hätte, mit dem Plüschtier nach Dash zu werfen oder Schlimmeres, hatte in ihm immer einen Funken Hoffnung aufrecht erhalten, dass sie irgendwann zusammen eine Familie haben könnten.    „Sie frisst kaum noch, seit du nicht mehr da bist“, sagte Lunis mit melancholischer Stimme. „Manchmal schaut sie mich mit ihren großen Augen an, als wollte sie fragen: ‚Warum ist Daddy nicht mehr da? Hat er uns nicht mehr lieb? Kommt er bald zurück?‘“ Sie sagte es mit einer niedlichen Babystimme, die Dash das Herz brach. Das war nicht fair. Das war doch nicht echt. Warum machte ihm das so ein schlechtes Gewissen? „Wenn es ganz schlimm ist, legt sie sich zum Schlafen in deinen Sweater. Ich halt sie im Arm, aber nachts kann ich sie meistens trotzdem schnüffeln und weinen hören.“ Dash kam fast selbst eine Träne. „Und wenn ein gelbes Auto vorbei fährt, dann springt sie zum Fenster und wedelt mit dem Schwänzchen, aber dann fährt es vorbei und sie schaut ganz traurig hinterher und ist den Rest des Tages niedergeschlagen.“ „Hör auf“, bat Dash sie. „Womit?“, fragte Lunis zurück, „Damit, dir vor Augen zu führen, was du mit deiner Weglaufaktion angerichtet hast?“ Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg. „Das ist nicht echt. Pinapberry kann mich nicht vermissen, sie ist ein Plüschtier. Du versuchst mich zu beeinflussen, hör auf damit.“ „Nicht echt?!“, fuhr Lunis ihn an, „Und ich? Bin ich auch nicht echt?! Ich vermisse dich. Ich bin Pinapberry. Warum bist du so egoistisch?! Ich hab dir extra den Dino gekauft, sei doch mal ein bisschen dankbar!“ Dieses Mal würde er ihr zerlaufenes Makeup nicht retten. „Ich bin egoistisch?!“ Dash versuchte seine Wut zu unterdrücken. Das sollte nicht wieder in einem Streit enden, nicht schon wieder. Aber er konnte nicht anders, als zurückzuschreien. „Du bist egoistisch! Du tauchst hier einfach ungefragt auf und machst mir alles kaputt!“ Shit, warum hatte er das gesagt? Hoffentlich hatte Lunis nicht verstanden, was er damit gemeint hatte. „Hallo?! Was hab ich denn kaputt gemacht? Deinen Arbeitstag bei der Post? Dein~“ Lunis machte eine Denkpause, schaute ihn kurz erschrocken, dann angeekelt an. „Deine Entjungferung von dem hässlichen Otaku? Ernsthaft?“ Verneine es einfach, Dash. Verneine es einfach. Er konnte nicht. „Ran ist kein hässlicher Otaku!“ Ein bisschen Otaku vielleicht. Aber auf die süßeste Art, die er sich vorstellen konnte. „Doch, ist er. Ein fetter, hässlicher Otaku. Und Jungfrau scheinbar auch, wenn du mir da nicht widersprichst. Scheint dir ja zu reichen.“ Was war das für eine komische Unterstellung? „Er ist keine Jungfrau. Und ich weiß nicht, was das–“ „Also hast du’s schon mit ihm gemacht.“ Lunis’ Ausdruck sah bitter aus. „Nein“, sagte Dash wie aus Reflex. Nicht im engeren Sinne… „Aber du bist notgeil und willst es ihm–“ „Hör verdammt nochmal auf, Scheiße zu labern.“ „Wow, Dash, so harte Kraftausdrücke? Hab ich da ins Schwarze getroffen?“ Dash versuchte sich zu beruhigen. „Das ist egal, er redet eh nicht mehr mit mir“ , gab er geschlagen zu und sah ein Grinsen über Lunis’ Gesicht huschen. „War klar“, schnaubte sie verächtlich, „Als ob es irgendjemand außer mir lange mit dir aushält.“   Damit hatte Lunis ins Schwarze getroffen. Dashs eine große Angst, wenn es um Beziehungen ging. Die beiden Beziehungen, die er vor Lunis gehabt hatte, waren nach kürzester Zeit wieder vorbei gewesen, weil er viel zu schnell viel zu übereifrig gewesen war, sich zu früh eine zu enge Bindung zu der oder dem anderen gewünscht und sie damit verschreckt hatte. Würde das auch mit Ran passieren? Ran war schüchtern, vielleicht fühlte er sich durch Dashs Art bedrängt und unwohl.    „Sieh es ein, Dash, du kannst dich entschuldigen und zu mir zurückkommen oder alleine bleiben.“ Waren das seine einzigen Optionen? Aber was, wenn nicht? Was, wenn Ran und er doch das selbe wollten? Und selbst wenn Ran ihm niemals verzeihen würde, er würde nicht zu Lunis zurückgehen. Nicht zu jemandem, der ihm schon wieder in den Kopf setzen wollte, dass es an ihm wäre, sich zu entschuldigen, der alle Tatsachen so verdrehte, wie es ihm gerade passte (Dash hatte lange genug gebraucht, um das zu realisieren). „Ich verzeih dir, Pfirsichspalte. Lass es uns nochmal versuchen.“ Nicht zu jemandem, der ihm ungebeten über die Arme streichelte, auf dem Sofa auf seinen Schoß kletterte und ihm mit seinen Lippen unangenehm nahe kam, während er wie in Schockstarre da saß und nicht wusste, was er tun sollte. Was war das, warum reagierte er plötzlich so komisch auf Lunis? Seit sie das letzte Mal bei ihm gewesen war, seit – „Fass mich nicht an“, stieß er sie von sich weg, in die Einkäufe, die auf dem Sofa ausgebreitet waren. „Aww, willst du vorher ein bisschen kämpfen? So wie letztes Mal?“ „Ich will das nicht. Und ich wollte das letztes Mal nicht.“ Dash hatte das Gefühl, dass sich in ihm alles überschlug. Ihm stiegen gleichzeitig Tränen in die Augen und Adrenalin ins Blut, er war gleichzeitig am ganzen Körper steif und bereit, in Sekundenschnelle zu reagieren, wenn es sein musste. Er war sauer. „Natürlich wolltest du das. Süßer, du warst hart wie ‘ne Zuckerstange. Du stehst drauf, überwältigt zu werden.“ Lunis packte seine Handgelenke. Nein, das würde nicht noch einmal passieren. Das würde nicht noch einmal passieren. Er riss sich los und griff nach dem ersten, was ihm in die Hand fiel – eine der Wasserpistolen. „Ich will das nicht, Lunis.“ Er drückte sie Lunis gegen die Brust, als wäre es eine echte Pistole, griff mit der anderen Hand ihr Handgelenk und drückte sie auf der Couch nach unten auf den Rücken, während sie versuchte, selbst nach der anderen Pistole zu greifen, aber sie nicht erreichen konnte. „Ich kenne dich, Dash, besser als jeder andere“, redete sie seltsam ruhig von unter ihm. „Ich kann deine Körpersprache lesen. Glaub mir, du wolltest das.“ War das wirklich die Wahrheit? Es war, was Lunis glaubte, aber es stimmte nicht. Sie sollte aufhören zu reden. Aufhören, so zu tun, als wüsste sie besser, was er wollte, als er selbst. Er drückte sie noch fester gegen die Couch, aber wusste gleichzeitig nicht, was er tun, wie er aus dieser Situation herauskommen sollte. „Du willst das Kommando haben, okay“, lächelte sie übertrieben verführerisch zu ihm hoch. Was sollte das werden? Wieso konnte sie nicht einfach die Klappe halten? „Du darfst mit mir machen, was du willst“, hauchte sie, „Du darfst~“ Dash schob ihr den Lauf der Wasserpistole in den Mund. Er wollte sie einfach nur zum Schweigen bringen. Sein Herz pochte panisch und laut in seinem Brustkorb. Dann hörte er Lunis seufzen und stöhnen, während sie ihre Lippen den Lauf der Pistole hoch- und herunterführte. Dash starrte sie einen Moment lang ungläubig an. Nein, er würde das nicht sexy finden. Wieso musste sie ihn in solche Situationen bringen? Er hatte gesagt, dass er das nicht wollte. Er hatte letztes Mal gesagt, dass er das nicht wollte. Er wünschte, Lunis wäre niemals hergekommen. Wünschte, sie würde einfach wieder verschwinden. Wünschte, sie hätten sich niemals kennengelernt. Wünschte, die Pistole in seiner Hand wäre echt.   Er drückte ab und erwartete einen Knall, aber es kam keiner. Nur Wasser, das Lunis teils schluckte, teils heraushustete, bevor sie ihm mit einem vielsagenden Blick in die Augen schaute. „Du kannst da noch andere Dinge reinstecken … und -spritzen.“ Dash konnte ihren Blick nicht erwidern, nahm kaum wahr, was sie sagte, starrte durch sie hindurch ins Leere. Was waren das gerade für Gedanken gewesen? „Verschwinde, Lunis“, befahl er harsch, „Verschwinde einfach.“ Er stand auf, nahm so viel Abstand von ihr, wie er in dem kleinen, vollgestopften Zimmer konnte. „Aber…“ Lunis schien gar nicht zu verstehen, was hier vor sich ging. „Hau ab!“, fauchte er sie an. „Nein!“, fauchte sie zurück. Er wollte nur raus aus dieser Situation, raus von hier… Würde eben er verschwinden. Er ging schnurstracks Richtung Wohnungstür, steckte sich Portemonnaie, Handy und Schlüssel in die Hose und öffnete die Tür. „Wo willst du denn hin?!“, rief sie ihm nach. „Ich weiß nicht…“ In seinem Kopf drehte sich alles. „Aber wenn ich zurückkomme, bist du nicht mehr hier.“ Kapitel 17: One does not simply walk into Mordor ------------------------------------------------ Er hätte wissen müssen, dass sein Plan nicht aufgeht. Lunis würde nicht einfach so verschwinden. Er war nun schon zum dritten Mal zu seiner Wohnung zurückgekehrt, aber Lunis’ Motorrad stand immer noch da. Sie wartete darauf, dass er zu ihr zurückkommen würde. Aber das würde er nicht. Er musste einen klaren Schlussstrich ziehen.   So, wie er gedacht hatte, dass er ihn gezogen hätte, als er die Stadt verlassen hatte. Aber sie hatte ihn gefunden. Sie würde ihn immer wieder finden. Er konnte doch nicht den Rest seines Lebens vor ihr weglaufen. Sie nicht den Rest seines Lebens alles zerstören lassen, was er sich aufbaute. Aber er wusste nicht, wie er das verhindern sollte.   Er hatte wenigstens ein Zeichen setzen wollen. Er war, nachdem er vorhin die Wohnung verlassen hatte und eine Stunde lang ziellos herumgefahren war, zu einem Tattoo-Entferner gegangen. Und bei dem hatte tatsächlich zufällig gerade ein Kunde abgesagt, weshalb er direkt die erste Sitzung machen konnte, um sein „Property of Lunis“-Banner zu entfernen (vielleicht hatten sein mitleiderregender Blick und sein Gejammer auch ein bisschen dazu beigetragen). Es würde viele Sitzungen in Anspruch nehmen und es war teuer, kostete Geld, das er eigentlich für Hawaii sparen wollte, aber Ran hatte ja selbst gesagt, dass er es erst gar nicht noch einmal mit ihm zu versuchen brauchte, solange er nicht vollständig mit Lunis abgeschlossen hatte. Und zu einem sauberen Abschluss gehörte auch, dass das Tattoo weg musste.   Wie er alles andere sauber abschließen sollte, darüber war er sich allerdings nicht so sicher. Vermutlich sollte er hochgehen und Lunis rauswerfen, aber er wusste nicht, wie. Es würde wieder Streit geben, wieder handgreiflich werden, und wie er es auch drehte und wendete, er konnte sich keinen positiven Ausgang der Situation ausmalen. Vielleicht sollte er sich wieder Piroska zur Hilfe holen, aber er musste doch auch einmal etwas selbst in den Griff kriegen. Irgendwann musste Lunis ja auch von alleine wieder verschwinden. Er nahm den letzten Zug Piña-Colada-Dampf aus seiner E-Zigarette, die er im Auto liegen und von der er in den letzten Stunden schon wieder deutlich intensiver Gebrauch gemacht hatte, als das seinen guten Vorsätzen entsprach, bevor das Liquid alle ging. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte. Er war schon im Park spazieren gewesen (die vielen Hunde, die dort Gassi geführt wurden, hatten ihn zumindest kurz auf andere Gedanken gebracht) und hatte in einem kleinen Burgerladen zu Abend gegessen. Auf Shoppen hatte er heute definitiv keine Lust mehr, und ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass das, selbst wenn er gewollt hätte, auch lange nicht mehr möglich war. Er musste sich wohl überlegen, wo er die Nacht verbringen sollte. Schlimmstenfalls in seinem Auto, aber ganz sicher nicht hier, wo er jede Sekunde fürchten musste, dass Lunis ihn entdeckt. Er startete den Motor wieder und fuhr vom Hof, fuhr einfach los, ohne darüber nachzudenken, wohin, und erschreckte sich selbst ein bisschen, als er feststellte, dass er wohl intuitiv zur Wohnung von Ran gefahren war.   Er stieg aus, um einen Zug frische Luft zu schnappen, und blickte zu Rans Fenster hoch. Das Licht in seiner Wohnung war aus, war er etwa schon so früh im Bett? Vielleicht war er auch gar nicht zu Hause, besuchte noch einmal seine Familie und Freunde bevor er nach Hawaii aufbrechen würde? Der Gedanke, dass Ran schon bald weg sein könnte, brach ihm das Herz. Er wollte ihn so sehr sehen, wünschte sich so sehr, Ran würde ihn in die Arme nehmen und ihm sagen, dass alles gut wird. Er wusste, dass das nicht passieren würde. Aber er wollte es wenigstens nicht unversucht lassen. Während er noch nachdachte, trugen ihn seine Füße immer weiter in Richtung des Hauseingangs, in Richtung der Klingel. Er wusste gar nicht, was er ihm sagen sollte. Ran würde schrecklich enttäuscht von ihm sein, wenn er wüsste, was passiert war. Vermutlich war er eh nicht zu Hause. Aber Dash konnte nicht anders, als die Klingel zu drücken. Es dauerte einen unendlich langen Moment, während dem Dash nervös auf der Stelle tippelte, bis die Sprechanlage knackte.   „Hallo?“, hörte er Rans verwirrte und verschlafene Stimme fragen. „Ran“, Dashs Stimme zitterte fast ein bisschen vor Aufregung, „es tut mir leid, dass ich hier aufkreuze, ich weiß, dass du mich nicht sehen willst. Aber ich weiß nicht, wo ich hin soll. Lunis ist in meiner Wohnung und ich weiß nicht, wie ich sie wieder loswerden soll und…“ Sein Herz raste. „Ist sie in deiner Wohnung, weil du sie reingelassen hast?“, fragte Ran nach einer Pause emotionslos zurück. Dash traute sich nicht zu antworten. „Du willst mich doch verarschen, oder?“ Jetzt klang Rans Stimme nicht mehr so emotionslos, eher ziemlich wütend. Dash schluckte. Ran hatte recht, wütend zu sein. Er hatte genau das getan, was er sich und Ran geschworen hatte, nie wieder zu tun – Lunis schon wieder in sein Leben zurückgelassen. „Tut mir leid“, sagte er schuldbewusst, „Das war eine dumme Idee. Ich schlaf einfach in meinem Auto oder so…“ Er hatte sich schon umgedreht, um mit gesenktem Kopf zu seinem Thunderbird zurückzuschlurfen, als die Sprechanlage noch einmal knackte. „Komm meinetwegen hoch“, hörte er Ran genervt sagen. „Wirklich?“, schrie er vor lauter Erleichterung und Freude fast zurück, „Danke, Ran, dankedankedanke!!!“ Ran hatte kaum den Öffner betätigt, als er auch schon die Treppen hinaufgestürmt war und völlig außer Puste, aber mit dem breitesten Lächeln, zu dem er seit er Ran nicht mehr gesehen hatte in der Lage gewesen war, vor ihm stand. Ran. Es tat so gut, ihn endlich wieder zu sehen. Er sah so süß aus mit seinen zerstrubbelten Haaren und dem zu großen gelben Sweater mit 80s-Muster, den er scheinbar zum Schlafen – Moment. Das war sein Sweater. Er starrte ihn einen Moment zu lange an.   „D-d-d-das ist nicht, wonach – Ich hab den nur an, weil – Ich – Ich muss waschen – ich hab zu lange keine Wäsche gewaschen und ich hatte noch deine Sachen und – Ich wollte dir die noch zurückgeben, ehrlich. Nicht das du denkst, dass–“ Sie schauten sich einen Moment lang peinlich berührt in die Augen, bevor Ran den Blick wieder abwandte und sich offensichtlich Mühe gab, ein angepisstes Gesicht aufzusetzen. „Du kannst auf der Couch schlafen, okay? Aber das heißt nicht, dass alles wieder in Ordnung ist. Das ist es nicht. Ganz im Gegenteil.“ Er nahm Dash mit in die Wohnung, machte die Tür hinter ihnen zu und führte ihn ins Wohnzimmer „Du darfst nur hier bleiben, weil – weil mein Hass auf Lunis noch größer ist als meine Enttäuschung über dich. Und weil du so ein Idiot bist, dass du ihm doch wieder in die Arme läufst, wenn ich dich jetzt nicht hier schlafen lasse.“ Oh. Das war, was Ran von ihm dachte. Hatte er sich selbst zuzuschreiben. Und trotzdem war Dash irgendwie gerührt, irgendwie dankbar, dass er ihn bleiben ließ. „Danke“, lächelte er ihn an, bevor Ran sich umdrehte und ohne weitere Worte in sein Schlafzimmer ging und die Tür hinter sich zumachte.   Dash schaute sich im Wohnzimmer um. Es sah anders aus als beim letzten Mal, als er hier war, unaufgeräumter. Auf der Couch gab es ein paar Kissen und eine Kuscheldecke, das würde ihm zum Schlafen reichen. Er dachte daran, wie sie hier zusammen Videospiele gespielt und Pizza gegessen hatten, wie Ran auf seinem Schoß eingeschlafen war, während er ihr Let’s-Play-Video zusammengeschnitten hatte, und wurde schrecklich wehmütig. Auf dem Tisch und ringsherum auf dem Boden war ein Meer aus leeren Eiscreme-Vorratsbechern, Schokoladen- und Chipsverpackungen, nicht weggeräumtem Geschirr und benutzten Taschentüchern verteilt. Der Anblick versetzte ihm einen Stich ins Herz.   „Ich leg dir ‘ne Zahnbürste raus“, ging Rans Tür plötzlich noch einmal auf und Dash erschreckte sich fast ein bisschen. „Brauchst du noch was? Willst du eins von deinen Shirts zum Schlafen?“ „Vielleicht schon“, blickte er schuldbewusst zu Boden und lief Ran hinterher ins Badezimmer, wo er eine noch verpackte Zahnbürste aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken heraussuchte. „Ich war beim Tattoo-Entferner, ich lass mir das Tattoo wegmachen“, versuchte er ein Gespräch anzufangen. Es gab so viel, was er Ran erzählen wollte. „Ich konnte direkt die erste Sitzung machen, aber das braucht ein paar Anwendungen, bis es ganz weg ist. Aber dann bin ich es endlich los.“ Ran nickte nur ohne etwas zu sagen. Er folgte ihm ins Schlafzimmer, wo seine gelben Shirts auf einer Kommode gestapelt waren. Unerwartet unordentlich. Als wären sie sehr hastig dort abgelegt worden. Er schaute sich neugierig um. Auf dem Bett lag Karpa Diem, neben einem Plüsch-Pikachu, das mindestens genau so alt und geliebt aussah wie sein Karpador (Moment, das klang irgendwie falsch…). „Was läufst du mir denn die ganze Zeit hinterher? Bist du ein Hund oder was?“, nahm Ran endlich wieder (misstrauischen) Blickkontakt mit ihm auf und drückte ihm den Stapel Shirts in die Hand. „Und wie riechst du überhaupt?!“, wurde sein Tonfall ein wenig angewidert, als er sich Dash dafür näherte, „Hast du Ferien im Haus von Spongebob gemacht oder so?“ Dash musste ein bisschen kichern. Offensichtlich war Ran die Ananaswolke, die ihn umgab, nicht entgangen. „Das … das ist vom Vapen“, senkte er den Kopf. „Vapen?! Urgh, das ist eklig süß“, schüttelte Ran den Kopf und nahm einen Schritt Abstand. „Ich gewöhn mir das ganz schnell wieder ab, wenn du das nicht magst.“ Hatte er ja befürchtet. „Ist mir egal, was du machst“, grummelte Ran weiter, „Hauptsache du verbreitest dein künstliches Tropifrutti-Aroma nicht in meinem Schlafzimmer, da kriegt man ja Kopfschmerzen.“ Rans Gesten sollten ihn wohl dazu bringen, das Zimmer zu verlassen und schlafen zu gehen. Aber da war noch so viel, was er ihm sagen wollte.    „Lunis hat versucht, mir ein schlechtes Gewissen mit Pinapberry zu machen“, brach es aus ihm heraus und allein der Gedanke trieb ihm schon wieder fast die Tränen in die Augen. „Sie hat gesagt, dass Pinapberry ihren Daddy vermisst und sich wünscht, dass ich nach Hause komme. Dabei haben wir damals extra entschieden, dass sie bei Lunis bleibt, damit sie in ihrer gewohnten Umgebung bleiben kann.“ Nicht nur fast. Rans Blick wurde sanfter, besorgter. „War … ist … Pinapberry euer Hund?“ Oh. Das hätte er vielleicht erklären müssen. „Unser Kuscheltier“, fügte er beschämt an. „EIN KUSCHELTIER?! ALTER!! Und deshalb heulst du so rum?!“ Dash musste noch mehr weinen. „Das hat emotionalen Wert.“ Ran verrollte die Augen und legte mit einem demonstrativen Stöhnen sein Gesicht in seine Handfläche.   „Okay, ab ins Bett mit dir, du bist eindeutig total durch den Wind und hast Schlafmangel“, drängte er Dash den ganzen Weg ins Wohnzimmer zurück. „Aber ich will dir noch so viel sagen“, fiel er Ran fast ins Wort. Die Tränen wollten nicht aufhören, aus seinen Augen zu laufen. Das war seine einzige Chance, die er haben würde, mit Ran zu reden. Er durfte Ran nicht verlieren. „Kannst du das nicht morgen?“, fragte Ran erschöpft. „Morgen?“ Mit einem Mal war es, als wäre Dash ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. „Heißt das, wenn ich morgen klingle, dann machst du mir wieder auf?“ Ran sah ein wenig erschrocken aus, als hätte er so weit gar nicht gedacht. „Ich … nein … ja … du musst ganz früh zur Arbeit, oder? … vielleicht … ich – weiß nicht.“ Er schien einen ganzen Moment lang seine Gedanken zu ordnen. „Dash, du kannst nicht einfach herkommen und alles durcheinander bringen. Ich … ich geh nach Hawaii. Ich weiß nicht, welchen Sinn das hat, wenn du jetzt versuchst – das macht doch alles nur komplizierter.“ „Aber ich komme dir doch hinterher! So schnell ich kann“, lächelte Dash ihn an. Ran schüttelte den Kopf. „Das ist doch bescheuert. Du kennst mich überhaupt nicht. Du brauchst dich nicht zu wundern, dass du an jemanden wie Lunis gerätst, wenn du dich so blind überall reinstürzt. Du kannst doch nicht dein ganzes Leben aufgeben für jemanden, den du gerade erst kennengelernt hast!“ Ran wurde immer lauter. „Was hab ich denn hier noch für ein Leben?“, erwischte Dash sich dabei, wie er selbst die Stimme hob. „Eins, bei dem ich noch nicht mal in meine eigene Wohnung zurück kann, weil mein gestörter Ex da auf mich lauert.“ Er ließ sich auf die Couch sacken. „Ich bin so wütend auf Lunis … so verdammt wütend … und auf mich selbst.“ Er senkte den Kopf. „Ich hab versucht, ihn zu erschießen.“ Bevor er realisieren konnte, was er da gerade gesagt hatte, hörte er Ran heftig nach Luft schnappen, panisch mehrere große Sätze rückwärts von ihm weg machen und gegen sein Expedit-Regal stolpern. „MIT EINER WASSERPISTOLE!!“, fügte er schnell hinzu. Offensichtlich zu spät, Ran war bereits zu Boden gestürzt und starrte ihn heftig atmend, mit offen stehendem Mund an. „ALTER, DENK VERDAMMT NOCHMAL NACH BEVOR DU REDEST!!!“ „DU DENKST DOCH NICHT, ICH WÜRDE WIRKLICH JEMANDEN ERSCHIESSEN!!?!?!?!“, schrie Dash erschrocken zurück. Und fügte ganz leise an: „Aber … ich hab’s mir einen Moment lang gewünscht.“ Er schämte sich schrecklich.   „Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll“, stand Ran wieder auf, hielt aber immer noch Sicherheitsabstand, „Damals auf dem Parkplatz dachte ich auch, dass du Lunis wirklich umbringen willst. Ich weiß nicht, was dieser Typ aus dir macht, Dash. Und ich weiß nicht, warum du so bescheuert bist und ihn immer wieder an dich ranlässt.“ Rans Blick war wütend und vorwurfsvoll. Und das zurecht. „Weil ich dumm bin“, gestand Dash kleinlaut ein, „Schrecklich dumm… Dumm und feige. Aber … ich versuch mich zu ändern … ich arbeite dran.“ Rans Blick war immer noch skeptisch. „Das glaube ich, wenn ich’s sehe.“ Dash musste aufschluchzen. Niemand glaubte an ihn, noch nicht einmal Ran. Aber er durfte nicht aufhören, an sich selbst zu glauben. Er würde Ran schon beweisen, dass er sich ändern konnte. Dann bemerkte er, dass Ran wieder näher gekommen war, mit etwas Abstand vor ihm in die Hocke ging. „Tut mir leid, das wollte ich so nicht sagen.“ Er schaute ihm fast ein bisschen mitfühlend in die Augen. „Du … kannst das schaffen. Du musst nur endlich damit anfangen.“ Dash nickte einsichtig. „Morgen nach der Arbeit schau ich nach, ob Lunis weg ist. Und wenn nicht, dann –“ Dann was? Er hatte immer noch keine Ahnung, wie er sie aus seiner Wohnung kriegen sollte. „Dann lassen wir uns schon was einfallen“, beendete Ran seinen Satz. „Wir?“, lächelte Dash ihn gerührt an. Ran wollte ihm helfen? Er sah, wie Rans Wangen rot anliefen, so süß, dass er ihn am liebsten an sich gedrückt und sie geküsst hätte. „Du failst ja doch wieder, wenn ich dir nicht helfe“, lächelte Ran ihn mit weggedrehtem Kopf aus dem Augenwinkel an. Er wollte ihm helfen. Ein ganz warmes, erleichtertes Gefühl machte sich in Dash breit, schlug sich in einem breiten Lächeln inklusive Freudentränen nieder. „Jetzt hör auf, schon wieder zu heulen!“, fuhr Ran ihn ein bisschen verzweifelt an, „Was ist denn kaputt mit deinem Hormonhaushalt?!“ „Es tut mir leid“, lachte Dash, immer noch überglücklich, während Ran aufstand und einen Schritt Richtung Zimmertür machte. „Tank erst mal Energie für morgen, okay?“ „Mach ich“, nickte Dash ihm von der Couch aus freudig lächelnd zu. „Gute Nacht, Ran. Und danke.“   Ran verschwand in sein Schlafzimmer. Dash zog sein Schlaf-Shirt an, stellte auf seinem Handy den Wecker und machte das Licht aus. Er fühlte sich so entspannt und zuversichtlich wie schon lange nicht mehr. Es war eine gute Entscheidung gewesen, zu Ran zu kommen. Er kuschelte sich in die Decke (sie roch nach Ran) und war schon fast eingeschlafen, als er den „Pikachu“-SMS-Sound seines Handys hörte.   ‚Wo bist du? ಠ_ಠ‘   Shit, warum? Gerade hatte er es geschafft, Lunis für einen Moment aus seinen Gedanken zu verbannen. Vielleicht musste er auf seinem Handy einfach das selbe machen. Er würde auf keinen Fall antworten. Wie blockierte man einen Kontakt?   Während er noch nach der Blockierfunktion suchte, gingen schon Lunis’ nächste SMS ein.   ‚Ich warte auf dich ಥ‿ಥ‘   ‚Es tut mir leid wegen vorhin, ich will mich entschuldigen ಥ⌣ಥ‘   Ah, da war der Button!   ‚Ich hab hier deinen Krankenschein. Du kriegst ihn, wenn du heim kommst ★~(◡ω◡✿)‘   Fuck. Fuck, der Krankenschein. Das hatte Dash total vergessen. Aber Lunis würde ihn damit nicht in die Falle locken. Er würde das der Chefin irgendwie anders erklären. Er würde einfach die Wahrheit sagen, sie würde seine Ehrlichkeit loben und ihm noch eine Chance geben. Er brauchte Lunis nicht.   Er drückte den Blockier-Button und legte sich wieder schlafen. Kapitel 18: not sure if ----------------------- „Wem willst du was vormachen, wenn du so tust, als ob du mich nicht mehr willst, Spermarutsche? Dir selbst? Meinst du ich merk das hier nicht?“ Lunis’ Griff legte sich, etwas zu fest, um seinen erregten kleinen Dash. „Ich will dich nicht mehr, verdammt“, versuchte Dash zu sagen. Aber es kamen keine Worte aus seinem Mund. Er lag unter Lunis auf seinen Knien. Es gab kein Klebeband über seinem Mund, keine Fesseln um seine Hände, und trotzdem konnte er sich nicht bewegen, waren die Worte, die er sagen wollte, nicht zu hören. Noch nicht einmal Tränen wollten aus seinen Augen kommen. „Du tust mir weh, hör auf“, versuchte er zu flehen, während Lunis sich in ihm bewegte und dabei die spitzen Fingernägel zusammen mit seinen Stößen immer wieder in neue Stellen seiner Haut bohrte. Aber er blieb stumm, seine Worte verhallten im Nichts. „Bitte hör auf.“   „Noch nicht mal Tränen hast du für mich?“, spürte er Lunis’ Hand auf seiner Wange. Er hielt einen Moment in seinen Bewegungen inne, legte die Arme um Dashs Körper und drückte seinen Kopf an ihn. „Lass mich los!“, versuchte Dash sich aus Lunis’ Griff zu befreien, doch weder seine Stimme noch seine Arme wollten ihm gehorchen. „Das wird schon wieder“, streichelte Lunis ihm durch die Haare und eine Gänsehaut lief durch Dashs ganzen Körper. „Du bist weggelaufen, weil wir Probleme hatten. Das verzeih ich dir. Ich versprech dir, dass du wieder Gründe zum Weinen findest, wenn du zurück kommst. Du willst doch wieder weinen können.“ „Nein, ich will nicht. Ich will das nicht“, wollte er sagen, „Ich will das nicht!“ Er spürte Lunis’ Lippen in seinem Nacken und wie er langsam wieder begann, sich in ihm zu bewegen. Sanfter als  vorher. „Ich kann machen, dass es dir gefällt“, flüsterte Lunis in sein Ohr, „Wenn du zurückkommst, dann mach ich nur, was dir gefällt.“   „GEH WEG VON MIR, LUNIS!!!“   Plötzlich war seine Stimme wieder da. Er stieß Lunis mit aller Kraft von sich weg, hörte ein lautes Poltern, dann ein schmerzhaftes Aufstöhnen. Alles war dunkel, dann nahm er langsam ein schwaches Licht wahr. Wo war er? Das war nicht sein Schlafzimmer. Er war am ganzen Körper nass vor Schweiß. Und da war ein Gesicht im dämmrigen Licht. „Ran?“ „Scheiße, Dash…“ Ran saß auf Knien vor dem Sofa, rieb sich den Arm, mit dem er gerade auf den Couchtisch gefallen sein musste, und schaute ihn erschrocken an. „Was… Warum bist du hier? Was ist…?“ Er konnte die Situation immer noch nicht ganz begreifen.    „Du hast im Schlaf geschrien“, starrte Ran ihn wie unter Schock an. „Ich wollte schauen, ob alles in Ordnung ist. Ist das … Ist das, was wirklich passiert ist?“ Dash musste schlucken, sein Herz fing an zu rasen. Hatte Ran alles mitgehört? Alles, was er im Traum nicht hatte sagen können? Was er in echt nicht hatte sagen können? „Naja, nicht ganz“, versuchte er unter schnellen, heftigen Atemzügen zu sagen, „Mein Mund war zugeklebt, ich konnte nichts sagen … oder schreien …“ Ran starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und schüttelte ungläubig den Kopf. „Lunis hat dich … vergewaltigt?“ Dash zuckte zusammen. Es dauerte einen Moment, bis er überhaupt antworten konnte. „Das … das ist so ein schlimmes Wort“, erwiderte er kopfschüttelnd mit zittriger Stimme. „Du wolltest nicht und Lunis hat dich deshalb gefesselt und dir den Mund zugeklebt?“ Dash nickte zaghaft. „Ich hab doch gesagt, ich wollte das nicht.“ Ran hielt sich eine Hand vor den Mund. War das eine Träne in seinem Augenwinkel? „Ich – ich dachte doch nicht, dass  – dass du das so meinst. Ich dachte, du wolltest dich rausreden. Scheiße, Dash, ich hätt’ für dich da sein müssen…“ Ran schnappte heftig nach Luft. Dash konnte ihm nicht in die Augen schauen. „Du hattest allen Grund, sauer zu sein. … Ich hätte nicht mit Lunis mitgehen dürfen. Ich hätte mich besser wehren müssen.“ „Verdammt, ja, du hättest dich besser wehren müssen!“, schrie Ran ihn ohne Kontrolle über seine Stimme an. „Aber das heißt nicht, dass das deine Schuld war.“   „Ein bisschen schon“, widersprach ihm Dash, immer noch mit vor Scham gesenktem Blick. „Ich meine, ich … ich war steif … Ran, ich bin gekommen.“ Er schämte sich so sehr. „TOO MUCH INFORMATION“, fuhr ihn Ran angewidert an. „Aber das … das heißt doch, dass–“ „Dass bei dir untenrum alles normal funktioniert?“, sagte Ran vorwurfsvoll. Dash wurde immer konfuser. „Aber … aber … Lunis hätte das doch nicht gemacht, wenn ich nicht … er dachte, ich will das so.“ Warum hörten sich seine Worte plötzlich selbst in seinem eigenen Ohr so bizarr an? „Dash, hast du Lunis gesagt, dass du das nicht willst? Ja oder nein?“ Ran blickte ihn streng an. „Ja, aber–“ „Aber was?!“ „Lunis ist kein … Vergewaltiger. Er ist … komisch. Er dachte, dass mir das gefällt, wenn er das macht, dass er mich damit irgendwie zurückkriegen kann. Ich meine, wir haben schon öfter Rollenspiele gemacht, wo ich so getan habe, als würde ich mich wehren, und … Vielleicht war das für ihn einfach sowas … Er hat das nie wirklich verarbeitet, dass wir nicht mehr zusammen sind … “ Warum klang das plötzlich alles so falsch? „HÖRST DU DICH EIGENTLICH SELBST REDEN?! VERDAMMT, DASH! IST ES DIR ECHT WICHTIGER, DEIN ARSCHLOCH VON EINEM EX ZU VERTEIDIGEN, ALS …“ Diesmal war es Ran, der in Tränen ausbrach, „…als du selbst? Als…“ Er wurde immer leiser, kaum noch hörbar, „…als wir?“   Dash erschrak über Rans Worte. Ein bisschen, als hätte man ihm das Brett, das er die ganze Zeit vor den Augen gehabt haben musste, mit Schwung über den Schädel gezogen. War es das? War es das, was er machte? Lunis verteidigen, sein Verhalten entschuldigen? Und das auf Kosten von Ran? „Ich – ich –“ Er wusste gar nicht mehr, was er sagen sollte, „Es tut mir so leid, ich – weiß nicht, was – ich – wollte doch nur, dass es nicht so schlimm ist – ich –“ Er war so verwirrt, alle Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf und er war nicht fähig, einen einzigen davon zu Ende zu denken. Dann setzte Ran sich zu ihm auf die Couch, nahm ihn ohne Worte in den Arm. Ran weinte. Er weinte. Weinte einfach nur. Weinte, bis die Schulter von Rans Sweater ganz durchnässt war, bis keine Tränen mehr aus seinen Augen kommen wollten.   „Du musst ihn anzeigen“, brach Ran schließlich die Stille. Dash nickte ernüchtert. Es fühlte sich an, als hätte er das ganze Emotionschaos aus seinem Inneren herausgeweint. Aber jetzt war da Leere. Ratlosigkeit. „Ich weiß nicht, wie … ob … wie … ich das erzählen kann.“ Er löste sich ein bisschen aus Rans Umarmung, schaute ihm zum ersten Mal wieder richtig in die Augen. „Ich meine, ich weiß immer noch nicht, ob ich nicht doch ein bisschen Schuld daran hatte…“ Ran schaute ihn kritisch an „…oder ob es so klingt, wenn ich es erzähle… Klar, ich hab nein gesagt und Lunis hat das nicht akzeptiert und … das ist Grund genug, ihn anzuzeigen …“ Er musste schlucken, kurz innehalten. „Aber ich hab drei Jahre lang dazu beigetragen, dass er so ist, wie er ist. Ich hab ihm alles durchgehen lassen, alle seine Launen, mich auf alle seine Spielchen eingelassen, ihn alles mit mir machen lassen…“ „DASH!“, hob Ran erneut seine Stimme. „Egal was in der Vergangenheit war, das, was passiert ist, ist NICHT. DEINE. SCHULD.“ Wie konnte Ran sich da so sicher sein?   „Hör zu, ich weiß nicht, ob das so richtig vergleichbar ist, aber ich war auch mal in so einer ähnlichen Situation, okay? Als ich in der Schule gemobbt wurde–“ „Du wurdest gemobbt?!“, fragte Dash erschrocken zurück. Wer würde einem so wundervollen Menschen wie Ran etwas Böses wollen? „Ja, Mann. Ich bin ein schlitzäugiger Nerd, der IKEA mit Nachnamen heißt. Und ich hatte ‘ne hässliche Brille. Natürlich wurde ich gemobbt.“ „Das … tut mir leid“, entgegnete Dash. Es tat ihm so leid, sich das vorzustellen, tat ihm weh. „Jedenfalls … kann ich mich noch genau an einen Vorfall erinnern. Ich hab in der Pause meistens auf einer Treppe im Schulhaus gesessen, wo nie Lehrer waren, die mich hätten rausschicken können. An dem Tag hatte ich meinen alten Gameboy zum Spielen dabei.“ Ganz alleine? Ob Ran in der Schule keine Freunde hatte? „Normalerweise kam da nie jemand aus meiner Klasse lang, aber an dem Tag kamen plötzlich drei Jungs, die mich auf dem Kieker hatten, von oben. Sie haben … unschöne Sachen gesagt…“ Dash konnte an Rans Blick erkennen, dass ihm das immer noch zu Schaffen machte, „…und dass ich da nicht sitzen darf und sie einen Lehrer rufen. Und dann haben sie mir den Gameboy aus der Hand gekickt. Er wurde die ganze Treppe heruntergeschleudert, ist -zig mal irgendwo angeschlagen. Und natürlich war er danach total im Arsch. Die Jungs sind weggerannt, aber irgendwie ist wohl doch eine Lehrerin aufmerksam geworden, weil es so laut war. Als sie ankam, war natürlich nur noch ich da und hab die Einzelteile vom Gameboy aufgesammelt. Ich war kurz vorm Heulen, aber ich hab ihr gesagt, alles wäre in Ordnung und dass mir der Gameboy aus der Tasche gefallen wäre.“ Er schaute Dash einen Moment an, als hätte er plötzlich etwas verstanden. „Als ich das zuhause Iku erzählt hab, ist sie total böse geworden, dass ich der Lehrerin nicht die Wahrheit gesagt hab. Und ich hab sowas gesagt wie: ‚Das war doch unvermeidbar, wenn ich mich mit meinem Gameboy da hin setze wie ein totaler Nerd. Und ich hätte da sowieso nicht sein dürfen und die Jungs hätten mir noch mehr Ärger gemacht, wenn ich sie verpetzt hätte.’ Jedenfalls ist Iku dann noch mehr ausgerastet, und das, was von ihrem Ausraster bei mir hängengeblieben ist, ist –“ Ran machte sowas wie eine dramatische Pause. „Menschen sind scheiße. Es gibt jede Menge Arschlöcher da draußen. Und wenn sie scheiße zu dir sind, dann liegt das nicht daran, dass du sozial inkompetent bist und dich lieber in Videospiele flüchtest … oder dass du zur falschen Zeit am falschen Ort bist …“ Er gab Dash einen bedeutungsvollen Blick „…oder dass du ein naiver Idiot bist, der nicht nein sagen kann…“ Hey, er hatte nein gesagt. Aber er wusste, was Ran damit meinte. „Wenn jemand scheiße zu dir ist, dann liegt das daran, dass er eben scheiße ist. Haters gonna hate. Das ist nicht deine Schuld.“   Dash atmete in vielen kleinen Stößen heftig aus, ein lautloses Lachen der Erleichterung. Ran war ihm nicht böse. Er wünschte, er hätte ihm von Anfang an die Wahrheit gesagt. Aber er hatte es nur mit Rans Hilfe überhaupt geschafft, sich selbst einzugestehen, was passiert war. Er drückte Ran noch einmal an sich, versteckte den Kopf in seiner Schulter, genoss das warme, geborgene Gefühl, als Ran die Umarmung erwiderte. Alles würde wieder gut werden. „Das war wie so eine South-Park-Abschlussrede, die immer am Ende einer Folge gehalten wird“, schoss es ihm plötzlich in den Kopf und er musste ein bisschen kichern. „Was?“, fragte Ran irritiert zurück. „Du weißt schon! ‚Ich habe heute etwas gelernt: Menschen sind scheiße…‘“, erklärte er lachend und Ran musste mitlachen. „Dir geht’s wohl wieder gut?“, versuchte Ran ihn zu ärgern. „Ich glaube ich habe heute wirklich etwas gelernt“, lächelte er Ran dankbar an.    „Ich … wünschte ich wäre damals doch noch zu einem Lehrer gegangen und hätte die Jungs gemeldet“, setzte Ran nach einer Pause wieder an. „Ich meine, sie haben mich danach erst mal in Ruhe gelassen … aber nur deshalb, weil Walker sie verprügelt hat, als sie das nächste Mal versucht haben, mich zu piesacken.“ Walker? Ran war Dashs fragender Blick wohl nicht entgangen. „Oh, Walker war a-ein Freund von uns … Iku … ein Freund von Iku.“ Warum wurde Ran plötzlich so nervös? „Das klingt aber, als wärt ihr auch ziemlich gute Freunde gewesen, wenn er dich sogar vor den Bullies beschützt hat“, lächelte Dash. Es konnte doch nicht sein, dass Ran gar keine Freunde gehabt hatte in der Schule. Aber Ran schüttelte den Kopf. „Er war nur … total in Iku verknallt und dachte, dass es wohl Eindruck bei ihr macht, wenn er auf ihren sozial minderbemittelten kleinen Bruder aufpasst.“ Irgendwie schien Ran das Thema unangenehm zu sein. Aber mit Sicherheit war das nur Rans pessimistische Fehlinterpretation. „Jedenfalls, worauf ich eigentlich hinauswollte“, schnaufte Ran, „Meinem Selbstbewusstsein hätte es bestimmt gut getan, wenn ich selbst was gegen die Bullies unternommen hätte. So kamen meine ganzen Ängste nur wieder zurück, als Walker und Iku von der Schule gegangen sind. Ich will nicht, dass das selbe bei dir passiert, wenn ich nach Hawaii gehe.“ Dash versuchte zu lächeln, aber der Gedanke, dass sich nichts daran geändert hatte, dass Ran wegziehen würde, steckte ihm wie ein Kloß im Hals. „Deshalb musst du Lunis anzeigen gehen. Schaffst du das?“ Dash nickte zaghaft, aber er wirkte wohl nicht besonders überzeugend. „Vielleicht hätte ich mich damals getraut, wenn ich jemanden gehabt hätte, der mit mir gekommen wäre. Willst du, dass ich mit dir zur Polizei gehe?“ Dieses Mal war Dashs Nicken ungleich energetischer. „Ja, das … das wäre gut.“ „Okay“, schaute ihm Ran aufbauend in die Augen. „Dann gehen wir morgen zusammen hin, wenn du Feierabend hast. Und vielleicht kommt die Polizei dann sogar mit uns zu deiner Wohnung, um Lunis rauszuwerfen. Abgemacht?“ „Abgemacht“, lächelte Dash ihn dankbar an. Aber da war noch etwas… „Darf ich dir nochmal alles von vorne erzählen? Damit ich morgen weiß, was ich sagen soll?“ Er war viel zu aufgewühlt, um jetzt wieder schlafen zu gehen. Ob Ran müde war? „Natürlich“, antwortete Ran.   Dash erzählte Ran alles, während sie sich auf der Couch gegenübersaßen, jedes noch so kleine Detail, an das er sich erinnern konnte, selbst die, für die er sich schämte. Ran hatte das Licht angeschaltet, hörte sich alles aufmerksam an, nahm manchmal seine Hand, wenn es Dash besonders schwer fiel, etwas auszusprechen. Und je mehr Dash redete, mit jedem Mal, dass er Angst hatte, dass Ran ihn für etwas verurteilen würde, aber er nur verständnisvoll nickte oder ihn mit ein paar Worten beruhigte, mit jeder schrecklichen Erinnerung, die er sich von der Seele redete, verlor die Erinnerung an Macht, wurde sie von einem wirren Alptraum, dem Dash hilflos ausgeliefert war, zu einer fassbaren, kontrollierbaren Realität. Es war ein seltsam befreiendes Gefühl.    „Hattest du öfter Alpträume, seit das passiert ist?“, fragte Ran besorgt, nachdem er die ganze Geschichte zu Ende erzählt hatte. „Jede Nacht“, gab Dash beschämt zu, „manchmal mehrmals.“ Ran schüttelte den Kopf. „Warum hast du mir nicht das erzählt, statt mir Mixtapes und Fische in den Briefkasten zu werfen?“, fragte er vorwurfsvoll. „Aber du magst Karpa Diem“, lächelte Dash etwas gequält zurück, „Du hast ihn bei dir im Bett.“ „DAS IST NICHT DER PUNKT!“, erwiderte Ran wie aus der Pistole geschossen und beide mussten ein bisschen über seine übertriebene Reaktion lachen. „Du hättest dir viel Leid ersparen können“, setzte Ran seinen Tadel fort. Und fügte ganz leise ein „Dir und mir“ an. Dash blickte reuig zu Boden. Für einen Moment herrschte Stille.    „Komm, ich hab was, was gegen Alpträume hilft“, stand Ran plötzlich von der Couch auf und forderte Dash mit einem viel zu süßen Lächeln, das sein Herz ein bisschen zum Schmelzen brachte, auf, ihm zu folgen. Er führte ihn ins Schlafzimmer, wo er sich aufs Bett setzte und nach dem Pikachu-Plüschtier, das Dash vorhin schon aufgefallen war, griff. Dash setzte sich zu ihm. „Das ist Twinkie McTwinkles, der Hüter der Träume“, versuchte Ran zu sagen und musste dabei ein bisschen kichern – und Dash umso mehr. „TWINKIE MC TWINKLES?!?“ Er konnte nicht anders, als in Lachen auszubrechen. „Das ist der geilste Name ever! Heißt der so, weil du ein Twink bist?“, sprach er den ersten dummen Gedanken aus, der ihm in den Kopf schoss. „BITTE WAS?!“, entgegnete Ran deutlich empörter als erwartet. Okay, er schien das nicht als Kompliment aufgefasst zu haben. „Was?“, lachte Dash peinlich berührt. „Du bist ’n Twink“, sagte Ran, als wäre das eine schlimme Beleidigung, „ich bin Asiate. Und zwei Jahre älter als du, junger Mann.“ Dann brach er selbst in Lachen aus. „Der Name kommt von Pikachu, okay?“, versuchte Ran zu erklären. „Weil ‚pika‘ ‚funkeln‘ bedeutet. Und außerdem ist der gar nicht von mir.“ „Von wem dann?“, wollte Dash wissen. „Von … Walker“, murmelte Ran fast unhörbar in sich hinein. Schon wieder Walker! Das Pikachu sah ziemlich alt aus, First-Gen-Merchandise vermutlich. „Ihr beide wart ziemlich lange befreundet, oder?“, hakte Dash nach. Ran wich seinem Blick aus. „Ich hab doch gesagt, wir waren keine richtigen Freunde. Er war Ikus Freund…“ „Aber er hat dir Twinkie McTwinkles geschenkt!“, protestierte Dash. „Er hat ihm nur den Namen gegeben.“ Ran schien einen Moment zu überlegen, bevor er sich entschied, doch ein bisschen mehr dazu zu sagen. „Iku und Walker kannten sich seit der fünften Klasse. Die beiden waren wohl am Anfang ein bisschen die Außenseiter-Kids, Walker ist dunkelhäutig. Ich denke deshalb sind sie so gute Freunde geworden. Naja, mit der Zeit haben die zwei es aber irgendwie geschafft, super beliebt zu werden in der Schule. Im Gegensatz zu mir…“ Ran gab sowas wie ein verächtliches Schnauben von sich. „Jedenfalls, Walker hat ziemlich viel bei uns zu Hause abgehangen. Unsere Mutter mochte ihn zwar nicht, weil er so laut war und ständig Sachen kaputt gemacht hat“, Ran musste ein bisschen kichern, wurde dann aber wieder ernster, „und weil sie ein bisschen rassistisch ist. Obwohl wir hier selbst Ausländer sind. So dumm…“ Er schüttelte den Kopf. „Aber das war ihr immer noch lieber, als wenn Iku zu ihm nach Hause gegangen wäre.  Und dadurch … war ich halt auch manchmal da. Ich meine, es war schön, jemanden zu haben, der ab und zu mal mit mir gezockt hat. Auch wenn ich für Walker vermutlich auch nur Ikus lahmer kleiner Nerd-Bruder war…“ Ran zuckte mit der Schulter. Warum war Ran denn so überzeugt, dass niemand ihn mögen könnte? „Da wär mir nicht so sicher“, versuchte Dash etwas Aufheiterndes zu sagen, „Was war denn jetzt mit Twinkie McTwinkles?“ Zumindest diese Erinnerung schien Ran wieder zum Grinsen zu bringen.   „Okay … Twinkie McTwinkles haben Iku und Walker sich ausgedacht … oder eigentlich nur Walker, Iku hat kopfschüttelnd daneben gesessen“, ihm entwich ein kleiner Lacher, „als ich mit zehn Jahren auch bei ihnen auf dem Gymnasium eingeschult wurde. Iku hat gesagt, dass ich jetzt ein großer Junge bin und nicht mehr mit Licht schlafen kann. Ich hatte damals manchmal Alpträume und Angst vor Monstern und hatte deshalb immer die ganze Nacht meine Nachttischlampe an.“ Dash musste schmunzeln. „Das ist voll niedlich.“ Ran blickte peinlich berührt zur Seite. „Also hat Walker sich diese Geschichte zu dem Pikachu-Plüschtier, was ich immer bei mir im Bett hatte, ausgedacht. Dass es Twinkie McTwinkles heißt und schon alle Arenaleiter besiegt hat und dass es deshalb doch klar ist, dass es es auch mit sämtlichen Monstern, die nachts im Haus ihr Unwesen treiben, aufnehmen kann. Das erschien mir damals ziemlich einleuchtend“, nickte er. „Aber damit war es ja noch nicht getan. Twinkie McTwinkles ist nämlich ein ganz besonderes Pikachu, der Hüter der Träume.“ Ran sagte das ganz besonders bedeutungsvoll und Dash erwiderte ein erstauntes „Ooooh!“ „Twinkles kann sogar die Monster in deinen Träumen bekämpfen. Aber dafür braucht er eine Extraladung Strom. Und deshalb musste die Steckdose neben meinem Bett immer für ihn frei bleiben und der Stecker von der Nachttischlampe musste raus“, hob Ran seinen Zeigefinger. „Clever!!“, sagte Dash anerkennend. „Das beste kommt aber erst noch“, fuhr Ran fort, „nämlich wie er das macht. Wenn Twinkles mit seinen Pika-Sinnen einen Alptraum bemerkt…“ Er hatte offensichtlich Probleme weiterzureden, weil er versuchte, einen Lacher zu unterdrücken, der schließlich doch Oberhand gewann. „Wenn er einen Alptraum bemerkt, dann…“, er hatte immer wieder kleine Lachaussetzer, „…geht er zur Steckdose…“, er nahm das Stofftier in die Hand und bog seine Ohren nach vorne, „steckt die Ohren so hinein, stellt das Schwänzchen auf“, er lachte noch mehr, bog auch den Schwanz des Plüschtiers nach oben und richtete seinen Po auf Dash, „und lässt einen gigantischen elektrischen Pups los.“ Spätestens jetzt musste Dash noch mehr lachen, als Ran das die ganze Zeit schon getan hatte. „Und wenn die Gase in dein Hirn eindringen“, prustete Ran so gut er noch konnte heraus, „erscheint Twinkles in deinem Traum und erledigt da alle Monster, die auf dich lauern.“ Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Ran und Dash sich wieder beruhigt hatten.   „Dann hab ich heute Nacht bestimmt keine Alpträume mehr“, sagte Dash zuversichtlich. „Meinst du, du kannst schlafen?“ Dash nickte und wollte schon mit Twinkie McTwinkles im Arm von Rans Bett aufstehen, um zur Couch zurück zu gehen. „I-im Wohnzimmer ist keine freie Steckdose“, wurde er da von Ran aufgehalten. Er erwiderte mit einem überraschten Lächeln seinen Blick. „Heißt das, ich darf…“ Er deutete auf Rans Bett und setzte sich zurück. „Nur ausnahmsweise“, sagte dieser streng, „Zur Sicherheit, falls Twinkles seinen Job nicht ordentlich macht.“ Dashs Lächeln wurde immer breiter. Ran war so besorgt um ihn, er fühlte sich so aufgehoben. Er wusste in diesem Moment, dass es noch nie jemanden gegeben hatte, der so gut für ihn war, und dass er ihn auf keinen Fall aus seinem Leben verschwinden lassen würde. „Gewöhn dich nicht zu sehr dran, okay?“, ermahnte ihn Ran, während er es sich auf einer Seite des Bettes zum Schlafen bequem machte. „Was, wenn doch?“, grinste Dash zurück, aber Ran schien schon halb eingeschlafen zu sein und antwortete ihm nicht mehr.   Kapitel 19: you had one job --------------------------- Dash war aufgewacht, weil er irgendwo in der Ferne seinen Wecksong, Wake Me up Before You Go-Go, gehört hatte. Und noch bevor er so richtig hatte realisieren können, wo er überhaupt war und dass sein Handy noch im Wohnzimmer lag, hatte er Rans Körper an sich gespürt, seine Arme und Beine, die er im Schlaf um ihn geschlungen haben musste. Er hatte den schlafenden Ran, so fest wie das nur ging ohne ihn zu wecken, an sich gedrückt, einfach so mit ihm da gelegen, seine Wärme und seinen Geruch aufgesaugt wie ein Schwamm, bis er ganz von dem glücklichen Gedanken erfüllt war, dass Ran sich heimlich genau so sehr wünschte wie er selbst, dass ihre Geschichte ein Happy End haben würde. Er würde alles daran setzen, es wahr zu machen.   Dieser Gedanke war alles, was ihn durch diesen schrecklichen Morgen getragen hatte.    Als er am Morgen beinahe pünktlich auf der Arbeit ankam, war die Chefin bereits da und erwartete ihn. Sie war misstrauisch wegen seines Fehlens (ob sein Kollege etwas gesagt hatte?), wies ihn mehrmals auf seine zahlreichen Ausrutscher in den letzten Wochen hin, ließ ihm keine Chance, irgendetwas zu erklären. „Sie denken, das Leben ist immer nur Spaß, Herr Glückauf“, fuhr sie ihn an, „Sie nehmen Ihren Job nicht ernst. Wissen Sie überhaupt, was an pünktlichen Zustellungen alles dranhängt? Gerichtliche Fristen, Mahnungen, ganze Existenzen. Das ist alles Ihre Verantwortung. Sie sind noch in der Probezeit. Und wenn Sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden können, weil Sie lieber die ganze Nacht feiern und saufen gehen, dann liegt es in meiner Verantwortung–“ „Ich war nicht feiern“, unterbrach Dash ihre Rede, schaute ihr flehend ins Gesicht. „Gut.“ Sie ließ ihn nicht weiterreden. „Ich bin sehr geneigt, Ihnen das zu glauben, aber Sie sind heute Morgen ohne ärztliches Attest hier angekommen. Wenn Sie gestern Nachmittag wieder fit genug zum Shoppen waren“ (sein Kollege hatte etwas gesagt), „dann waren Sie sicher auch wieder fit genug, um zum Arzt zu gehen und sich eine ordentliche Krankschreibung zu besorgen, um zu zeigen, dass Sie das hier ernst nehmen. Ich kann hier keine Leute gebrauchen, auf die ich mich nicht verlassen kann.“ Er würde mit der Wahrheit nicht durchkommen. Wenn er ihr sagen würde, dass er blau gemacht hatte, um seine Ex-Freundin mit einer Shoppingtour aufzuheitern, wäre das für sie keinen Deut besser, keinen Deut verantwortlicher, als wenn er die Nacht durchgefeiert hätte. Er hatte eine einzige Chance, seinen Job zu behalten. „Ich hab ein Attest“, sagte er mit Blick zum Boden, „Ich hab’s zu Hause vergessen, es tut mir leid.“ Sie musterte ihn skeptisch. Er war kein guter Lügner, bestimmt durchschaute sie ihn. „Sie haben eine halbe Stunde, um mit dem Attest wieder hier aufzutauchen. Ohne brauchen Sie erst gar nicht zurück zu kommen.“   Was hatte er sich dabei gedacht? Vor allem, dass er seinen Job nicht verlieren wollte. So weit, dass um die Uhrzeit sicher keine Arztpraxis geöffnet hatte, die ihm mit etwas Glück rückwirkend ein Attest ausstellen würde, hatte er jedenfalls nicht gedacht. Und noch viel weniger so weit, dass seine einzige Chance, an einen Krankenschein zu kommen, eine erneute Konfrontation mit Lunis war. Seine einzige Hoffnung war, dass Lunis sich alleine in Dashs Wohnung vielleicht doch zu langweilen begonnen hatte und wieder heimgefahren war.  Und ihm das gefälschte Attest dagelassen hatte. Das war … arg unwahrscheinlich. Aber die Hoffnung war da. Jedenfalls bis er an der Wohnung ankam und sah, dass Lunis’ Motorrad noch immer im Hof stand.   Er brauchte einen Moment, um sich zu überwinden, aus dem Auto auszusteigen. Er wollte Lunis nicht sehen. Nicht nach allem, was ihm gestern Nacht klar geworden war. Aber er durfte seinen Job nicht verlieren. Er brauchte Geld für Hawaii. Vielleicht würde er es schaffen, unbemerkt die Wohnung zu betreten, den Krankenschein zu finden und sie wieder zu verlassen, bevor Lunis überhaupt etwas davon mitbekommen würde. So früh am Morgen war er garantiert noch im Bett. Ja, das könnte klappen. Das musste klappen. Das war ein Plan. Er spürte, wie sein Puls schneller zu schlagen begann. Er konnte das schaffen. Er ging das Treppenhaus hoch (leichtfüßig wie ein Ninja!), schlich sich seitlich an die Wohnungstür heran (das machte keinen Sinn!), steckte den Schlüssel so vorsichtig und leise wie er nur konnte ins Schloss und drehte um.   Die Wohnung war dunkel, aus dem Schlafzimmer konnte er Lunis’ vertrautes Schnarchen hören. Er war safe. Wo konnte Lunis den Krankenschein hingelegt haben? Gab es überhaupt einen Krankenschein? Ihn überkam die Befürchtung, dass Lunis alles nur behauptet hatte, um ihn zurück zu locken. Er schlich verzweifelt durch die Wohnung, in der Hoffnung, irgendwo den gefälschten Zettel liegen zu sehen und wurde mit jeder Minute, die er ihn nicht fand, nervöser. Dieses komische bunte Lichtflackern, das die ganze Zeit immer wieder die Dunkelheit durchbrach, trug auch nicht gerade zu seiner inneren Ruhe bei. Was war das? Schei–benkleister, das waren seine LED-Schuhe. Oh Gott, was war das für ein Geräusch? Hatte Lunis das Licht bemerkt? Er machte einen panischen Schritt nach hinten und fiel rückwärts über einen Karton, der da im Weg stand. Oh nein, oh nein, oh nein. Das hatte Lunis dashinitiv gehört. Er musste sich verstecken. Er drehte sich auf den Bauch und kroch so schnell er nur konnte unters Sofa, als er auch schon Lunis im Schlafzimmer hörte. Sein Arm, mit dem er sich beim Fallen abgestützt hatte, tat weh.   „Dash, bist du das?“, hörte er ihn durch die Wohnung brüllen. Er wollte weg. Er wollte nicht hier sein. Bloß keinen Mucks machen. Sein Versteck war gut und die Wohnungstür stand noch offen. Vielleicht würde Lunis denken, er wäre wieder abgehauen und zurück ins Bett gehen (Warum war er nicht einfach abgehauen?). Er hörte, wie sich Lunis’ Schritte näherten, er kam ins Wohnzimmer. „Ich weiß, dass du hier bist, Steckdosenlecker.“ Lunis bluffte, er hatte ihn noch nicht entdeckt. Er musste nur ganz ruhig bleiben. Aber mit jedem trampelnden Schritt, jedem verärgerten Schnaufen, mit jedem Mal, dass er sehen konnte, wie Lunis’ Füße die Richtung wechselten, um nach ihm zu suchen, wurde er nervöser. Und sein Arm tat verdammt weh in der Bauchlage. Vielleicht konnte er sich ganz vorsichtig ein ganz kleines bisschen zur Seite drehen… Fuck, seine LED-Schuhe, fuck… Sie hatten durch die Bewegung zu blinken begonnen und offensichtlich nicht vor, wieder damit aufzuhören. Lunis durfte ihn nicht entdecken, alles nur das nicht… Er hielt sich panisch die Hände vors Gesicht.   „Hi“, hörte er da Lunis’ viel zu triumphierende Stimme viel zu nah an seinem Ohr. Er nahm die Hände von den Augen und schaute Lunis, der neben dem Sofa auf dem Boden kniete und seinen Kopf zu ihm hinuntergestreckt hatte, direkt ins Gesicht. „H-h-hi“, versuchte er in einem Anflug von Panik zu lächeln. „So ein Zufall, dich hier zu treffen … in meiner Wohnung … nachts … unter dem Sofa …“ Was redete er da? Lunis schnaubte verächtlich. „Du bist unter dem Sofa, Staubsauger, nicht ich.“ Staubsauger?! Seit wann war das ein Schimpfwort? Lunis sah ihm in die Augen, als würde er auf eine Erklärung warten. „Du brichst also in deine eigene Wohnung ein, weil du zu feige bist, wie ein erwachsener Mensch mit mir zu reden? Das ist echt erbärmlich.“ Nein. Das war nicht, was er hier machte. Okay, vielleicht ein bisschen. Aber er würde ab heute nicht mehr feige sein. Wenn er es nicht für sich selbst schaffte, dann wenigstens für Ran. Er versuchte, unter dem Sofa hervorzurobben. Nicht in Lunis’ Richtung. Besser in die andere. Er stieß sich beim Aufstehen den Kopf am Couchtisch. Zähne zusammenbeißen, Dash. Jetzt bloß keine Schwäche zeigen. Er stellte sich vor der Couch auf, blickte Lunis, der hinter der Couch stand, in die Augen. So gut das im Halbdunkel der Wohnung ging. „Ich brauch den Krankenschein.“ Ein Grinsen huschte über Lunis’ Gesicht. „Wusst ich’s doch.“ Er machte eine theatralische Pause. „Du kriegst ihn nicht.“ „Lunis, ich hab keine Zeit für deine Spielchen. Ich brauch diesen Krankenschein. Ich … verlier sonst meinen Job.“ Was sollte dieser fake-mitleidige Blick? „Spielchen? Soso… Ich weiß, wo du gestern warst, als ich dir geschrieben habe, Dash. Wenn hier einer Spielchen treibt, dann du.“ Was zum…? „Woher–?“ „Trackingfunktion. Ich hab mir Zugriffsrechte auf dein Handy gegeben. Jedenfalls bis du mich dann blockiert hast, um in Ruhe die Hackfresse zu vögeln. Scheint’s ja echt nötig zu haben, dass er dich zurücknimmt.“ Dash holte tief Luft. Nicht provozieren lassen. Er würde nicht wütend werden, Lunis nicht geben, was er wollte. „Lunis, ich frag dich das nur ein Mal. Willst du wirklich dafür verantwortlich sein, dass ich gekündigt werde?“ Lunis zuckte mit den Schultern und machte ein Pupsgeräusch mit den Lippen. „Verantwortlich dafür, dass jemand gekündigt wird, der so tut, als würde er sich Sorgen um mich machen, nur um dann wieder abzuhauen und mich im Regen stehen zu lassen? Damit kann ich leben.“ Dash wusste, was Lunis wollte. Eine Rechtfertigung. Eine Entschuldigung. Er würde sie ihm nicht geben, es reichte.   „Fick dich, Lunis.“ Hatte er das gerade wirklich gesagt? „Ich hab gesagt ich frag nur einmal. Ich brauch deinen Krankenschein nicht.“ „Aber–“ Da war es, Lunis’ verzweifeltes kleines Aber, der mitleiderregende Blick, mit dem er ihn sonst immer gekriegt hatte. Er drehte ihm den Rücken zu, ging schnurstracks Richtung Wohnungstür. „Das war das letzte Mal, dass du mir mein Leben kaputt machst. Und wenn du bis heute Mittag nicht aus meiner Wohnung verschwunden bist, hol ich dich mit der Polizei raus.“ „Dash–“ Er schaute nicht zurück, aber er konnte hören, dass Lunis weinte. „Fick dich, Lunis.“ „FICK DICH HÄRTER!“ Lunis’ Wutschrei hallte durchs gesamte Treppenhaus, während Dash das Gebäude verließ.   Er war seltsam ruhig geblieben, als er ins Auto eingestiegen war und die Chefin angerufen hatte. Er hatte ihr ohne viele Details die Wahrheit erzählt. Sie war nicht ausfallend geworden, hatte sich für seine Ehrlichkeit bedankt, aber auch deutlich gemacht, dass er nicht mehr auf der Arbeit zu erscheinen brauchte. Aus irgendeinem Grund hatte es sich nicht angefühlt, als würde seine ganze Welt zusammenbrechen, so wie bei all den anderen kleinen und großen Katastrophen, die Lunis schon in seinem Leben ausgelöst hatte. Stattdessen war er ein bisschen … stolz auf sich. Er hatte sich nicht auf Lunis’ emotionale Erpressermasche eingelassen, und das obwohl so viel auf dem Spiel gestanden hatte. Er hatte ihm endlich die kalte Schulter gezeigt, so wie es schon die ganze Zeit sein scheinbar unerfüllbarer Vorsatz gewesen war. Dass er jetzt die Kraft dazu gehabt hatte, war Rans Verdienst. Es fühlte sich ein bisschen an, wie nach Hause zu kommen, als er an seiner Wohnung ankam und die Klingel drückte. Auch wenn er noch keine Ahnung hatte, wie er Ran das alles erklären sollte.   „Hi…“, sagte er unsicher in die Sprechanlage. „Hey, Postmann.“ Ran war unerwartet gut gelaunt. „So früh heute?“ Er schaute ihn verwirrt an, als er so ganz ohne Pakete die Treppe hinaufkam. „Ohne Dienstuniform? Ist die in deiner Wohnung?“ Dash betrat wortlos die Wohnung, machte die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken daran, bevor er es schaffte, loszureden. „Ich bin kein Postmann mehr.“ Ran starrte ihn mit fragendem Blick und offenem Mund an. „Ich … wurde gekündigt.“ Wieso kamen ihm denn jetzt doch die Tränen? Gerade im Auto war er doch so stolz auf sich gewesen. „Ich dachte, ich sag der Chefin einfach die Wahrheit, aber sie hat mich nicht zu Wort kommen gelassen und wollte ein Attest haben und deshalb bin ich zurück in die Wohnung, weil ich gehofft habe, Lunis wäre schon weg und hätte es da gelassen, aber er war noch da, also hab ich versucht mich reinzuschleichen, aber–“ „Warte, warte, warte, was?“, unterbrach Ran seinen Redeschwall mit sichtlich zunehmender Verwirrtheit. „Welches Attest? Welche Wahrheit? Wovon redest du überhaupt?“ „Oh, das … konnte ich dir gestern gar nicht mehr erzählen … ich …“ Er ließ sich, den Rücken immer noch an der Tür, auf den Boden sacken, „…ich hab was Dummes gemacht.“ Er erzählte Ran, der sich neben ihn auf den Boden im Flur setzte, die ganze Geschichte davon, was am Vortag passiert war. Wie er sich wegen Lunis auf der Arbeit krank gemeldet und dann mit ihr shoppen gegangen war, dass der Kollege die beiden gesehen hatte und so weiter, bis zu dem Punkt, als er sich in die Wohnung geschlichen hatte, um den Krankenschein zu suchen. „Was bist du denn für ein Alpha-Kevin?! Wieso–“, fuhr Ran ihn haareraufend an. Dash musste noch mehr weinen. „Oh Gott, tut mir leid, ich wollte nicht deinen Namen als … Beleidigung … das …“ Es war ihm sichtlich peinlich. „Nein, mir tut es leid.“ Dash blickte ihm reuig in die Augen. „Ich war echt ein Alpha-Kevin.“ Das Wort brachte ihn ein wenig zum lachen. „Aber ich hab meine Lektion gelernt. Und ich hab mich gut geschlagen bei Lunis. Heute hab ich mich nicht mehr kleinkriegen gelassen. Er wollte den Krankenschein nicht rausrücken und ich hab ihm gesagt –“ Er konnte das doch vor Ran nicht wiederholen. „Ich hab ihm gesagt, er kann mich am Popo lecken.“ Ran entwich ein unangemessen lauter Lacher. „Hast du das echt so gesagt?“, hakte er kopfschüttelnd nach, als er sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Dash schüttelte amüsiert den Kopf. „Ich hab was Schlimmes gesagt“, gab er zu. „Was denn?“, bohrte Ran weiter nach. „Das kann ich nicht nochmal sagen.“ „Rück schon raus mit der Sprache.“ Wieso wirkte Ran so belustigt? „Ich hab gesagt…“ Ran schaute ihn erwartungsvoll an. „Fick dich, Lunis.“    Rans Kiefer fiel herunter und er gab Dash ein amüsiert-anerkennendes Nicken. „Wow, Dash“, schmunzelte er, „Wow, ich bin beeindruckt.“ „Wirklich?“, strahlte Dash ihn an. Ran war beeindruckt. „Und dann bin ich einfach raus ohne mich nochmal umzudrehen und hab ihm gesagt, dass er bis heute Mittag verschwinden soll, weil wir ihn sonst mit der Polizei holen kommen.“ Ran nickte noch einmal. „Nicht schlecht. Ich bin stolz auf dich.“ Ran war stolz auf ihn. Das fühlte sich schön an. „Aber dafür bin ich jetzt meinen Job los“, lenkte er ein. Ran gab ihm ein aufbauendes Lächeln. „Wir finden schon was Neues für dich.“ Dash versuchte das Lächeln zu erwidern, aber nach und nach wurde die Schwere der Situation in seinem Kopf immer realer. Ran stand vom Boden auf und reichte ihm eine Hand, um ihm aufzuhelfen. „Setz dich erst mal ins Wohnzimmer. Ich muss mich gleich beim Support anmelden. Willst du … ein Eis haben? Ich müsste noch welches im Gefrierfach haben. Zum Trost.“ Dash nickte. Und gleichzeitig musste er an die vielen leeren Eisbecher denken, die er gestern Abend im Wohnzimmer gesehen hatte. Ran schien ziemlich viel Trost gebraucht zu haben wegen ihm, das machte ihm immer noch ein schrecklich schlechtes Gewissen. Hatte er heute Morgen so schnell schon wieder alles aufgeräumt? „Ich hoffe du magst Cookie Dough“, kam Ran mit einem großen Vorratsbecher und einem Esslöffel, die Dashs Mundwinkel unweigerlich wieder nach oben wandern ließen, aus der Küche zurück. „Und ob“, grinste er und nahm das Eis dankbar entgegen. „Hast du Lust, online Jobanzeigen durchzuschauen, während ich arbeite? Nicht, dass ich dich jetzt durchfüttern muss.“ „Mit so süßem Zeug?“, lachte Dash, während er sich bereits den ersten Löffel Eiscreme in den Mund schob. Mmmh. „Überleg’s dir gut, du könntest mein Sugardaddy werden.“ Er versuchte, sexy eine Augenbraue zu heben. Ran stieß einen prustenden Lacher aus. „Oh Mann … Vom Twink zum Sugardaddy in unter zwölf Stunden. Mit meiner Karriere geht’s steil bergauf“, schüttelte er den Kopf. „Ich hoffe, du bist jetzt in der richtigen Stimmung, um Lunis anzuzeigen. Das machen wir nämlich heute Mittag.“  Dash nickte. Und ob er das war. Lunis hatte zum letzten Mal sein Leben zerstört. Er hatte endlich einen Schlussstrich gezogen, ja, aber er stand schon wieder ohne alles da, musste schon wieder ganz von vorne anfangen. Selbst wenn er direkt wieder einen Job finden würde, würde es noch länger dauern, genug Geld für Hawaii zusammen zu kriegen. Ob Ran ihn bis dahin überhaupt noch wollen würde?   „Es ist schon wieder alles kaputt…“ Er versuchte angestrengt, nicht schon wieder zu weinen. Aber Ran setzte sich zu ihm, ganz nah zu ihm, und nahm seine Hände. „Hey, nicht alles…“ Dashs Herz begann wie wild zu klopfen. Wollte Ran damit wirklich sagen, was er glaubte, dass er sagen wollte? Würde er ihnen wirklich noch eine Chance geben? Die Tränen liefen aus seinen Augen, aber sie hatten sich in Freudentränen verwandelt. Er drückte seine Stirn gegen Ran und sie schauten sich in die Augen, so vertraut, als würden sie sich schon ewig kennen, als wüsste Ran ganz genau, was in ihm vorgeht. Einen Moment lang wünschte er sich einfach nur, dass dieser Moment, dieses schöne warme Gefühl, ewig anhalten könnte. Aber dann wurde ihm die Realität schlagartig wieder bewusst. „Aber du gehst weg.“ Er würde wieder alleine sein. „Und wenn ich keinen super guten neuen Job finde, dann kann es ewig dauern, bis ich genug gespart habe, und…“ „Ich weiß ja noch gar nicht, wann ich weg gehe“, unterbrach ihn Ran und fügte ganz leise hinzu: „Oder ob…“   Oder ob? Hatte Ran das gerade wirklich gesagt? Ein Lächeln legte sich auf Dashs Gesicht. Dachte Ran wirklich darüber nach, für ihn da zu bleiben? Sein Herz begann ganz aufgeregt in ihm herumzuhüpfen. Warum hatte Ran den Blick abgewendet und sah gar nicht so glücklich damit aus? „Wie … meinst du das?“, fragte er unsicher nach. „Ich … hab noch nicht auf die E-Mail geantwortet“, gab Ran mit Blick nach unten zu, „Vermutlich haben die eh schon jemand anderem den Job gegeben.“ Dash war verwirrt. Ran wollte den Job. „Aber … warum?“ Rans Augen wanderten hin und her, er schien angestrengt seine Gedanken zu ordnen. „Ich … weiß nicht … vielleicht stell ich mir nur alles total toll vor, aber in Wirklichkeit ist der Job scheiße oder der Chef ein Arsch oder die Kollegen hassen mich … und dann bin ich ganz alleine irgendwo ganz weit weg, wo ich niemanden kenne … ich meine, hier kenne ich auch quasi niemanden … aber ich weiß, wie alles funktioniert … ich weiß, wie Ämter funktionieren oder … Krankenversicherungen … oder wo ich Eiscreme-Vorratsbecher her bekomme, wenn alles scheiße ist … oder … keine Ahnung … Ich hab hier kein tolles Leben, aber ich komme klar … Was, wenn ich das alles aufgebe und dann auf Hawaii nicht klarkomme???“  Dash öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er wusste nicht was. Er wünschte sich so sehr, dass Ran hier bleiben würde. Aber das war nicht richtig… „Du würdest dich doch freuen, wenn ich da bleibe, oder?“ Ran blickte ihn unentschlossen an. „Das wär das Schönste, ja“, antwortete Dash und musste sich überwinden, weiter zu reden, „Aber ich will nicht, dass du mich als Ausrede benutzt.“ Einen Moment lang schwiegen sie sich betreten an.    „Du willst diesen Job, oder? Das ist so ein Job, wie du dir immer gewünscht hast.“ Ran nickte wortlos. „Manchmal muss man eben Risiken eingehen, damit etwas Tolles passieren kann.“ Ran verzog den Mund. „Sowas Tolles wie Kündigungen und belagerte Wohnungen und verkackte Studienabschlüsse?“ Autsch. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Ran sah mindestens ebenso verlegen aus. „Ich … wünschte das Leben hätte Savepoints“, sagte er schließlich und wirkte ein bisschen, als wäre das die verzweifelte Konklusion aus sehr vielem, was ihm gerade durch den Kopf gegangen sein musste. Nach einer kleinen Pause fügte er noch hastig hinzu: „Dann würd ich diese Unterhaltung nochmal neu starten.“ Das hieß wohl, dass ihm die letzte Aussage leid tat. „Hey, das … ist schon wieder vergessen … von meinem persönlichen Memoryboard gelöscht und wir reden später nochmal in Ruhe über den Job, okay?“, schenkte er Ran ein Lächeln, das dieser betreten erwiderte. „Das … funktioniert so nicht, du bist kein Android oder sowas.“ „Aber ich hab ein Gedächtnis wie ein Sieb, das kommt aufs Selbe raus“, grinste Dash. „Das erklärt zumindest einiges“, schüttelte Ran den Kopf.    „Gibst du mir noch dein WLAN-Passwort? Dann lass ich dich auch in Ruhe arbeiten“, bat er Ran. „Du meinst mein W-RAN-Passwort!“, grinste Ran zurück und Dash konnte seine Freude nicht verbergen, als er tatsächlich das W-RAN auf der Liste der verfügbaren Netzwerke entdeckte.    Ran war dashinitiv der Richtige für ihn. Kapitel 20: Anzeige ist raus ---------------------------- Dash hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und durchstöberte schon den ganzen Morgen lang diverse Jobbörsen, während Ran nicht weit entfernt an seinem Schreibtisch seiner Arbeit nachging und immer wieder, wie es schien mit von Stunde zu Stunde zunehmender Unlust, Supporttelefonate annahm. Und je länger er ihm dabei zuhörte, umso bewusster wurde ihm, wie sehr Ran seinen Job hasste und wie wichtig es war, dass er endlich etwas Besseres fand. Und wenn es das nur auf Hawaii gab, dann würde Dash mit ihm gehen. Deshalb brauchte er selbst einen Job, bei dem er flexibel blieb. Sowas wie einen Studentenjob, den er jederzeit wieder kündigen konnte, wenn es so weit sein würde. Vielleicht Kellnern … oder Taxifahren ohne Taxischein, wie bei Crazy Taxi (Moment, das hieß heute Uber…) … oder Tiere beim Tierarzt vor ihrer Behandlung streicheln und mit Leckerlis füttern, damit sie ruhig bleiben (Das war kein echter Job … Aber es sollte einer sein!). Er versuchte, mehr Stellenausschreibungen zu markieren, auf die er später eine Bewerbung schreiben wollte, aber Ran im Hintergrund wurde immer lauter und es fiel ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren.   „ES GIBT KEINEN VIRUS, DER DIESE FEHLERMELDUNG HERVORRUFT, SIE BRAUCHEN EINFACH NUR IHRE LIZENZ!!“ Die Wörter Virus und Lizenz waren in den letzten Minuten eindeutig schon öfter gefallen. „Sind Sie SICHER, dass der Dongle eingesteckt ist und erkannt wird?“ Haha, Dongle. Das war ein lustiges Wort. Musste er sich für später merken. Für wenn er seinen Dongle mal bei Ran einstecken durfte (was?). Ran war von seinem Schreibtisch aufgestanden und lief nervös davor hin und her, während er dem Kunden am Headset zuhörte. „Okay, wissen Sie was, ich schau mal über Remote-Access bei Ihnen rein … Fern– … Nein, das heißt Fernzugriff, dann kann ich selbst nachschauen, was bei Ihnen mit der Software nicht stimmt.“ Er konnte ihn seufzen hören, und auch wenn Ran in Richtung seines Bildschirms schaute, vor dem er wieder Platz nahm, war Dash sicher, dass er gerade die Augen verrollte. „Ach du – Okay, haha – Ihre Paranoia vor Viren ist begründet, haben Sie ernsthaft keine Firewall?“ Ran legte für einen Moment beide Hände vors Gesicht, bevor er zur Maus griff. „Ich installiere Ihnen jetzt einen Virenschutz, bevor ich hier irgendwas anderes mache, das ist … unverantwortlich. Wo haben Sie denn … Sie haben ernsthaft nur Internet Explorer? … Ihnen ist bewusst, dass die Version zehn Jahre alt ist? … OH MEIN GOTT, WAS IST DAS?!?! Das ist ja mehr Toolbar als Browser! Ich kann das Suchfeld nicht sehen vor lauter Addons. Ist das wirklich Ihr Ernst?! … Ja, Entschuldigung, aber das ist eigentlich nicht mein Job. Ich seh jetzt mal nach, wo – Nein. – SIE WOLLEN MICH DOCH VERARSCHEN! SIE KLICKEN NICHT WIRKLICH AUF SOLCHE POPUPS?! NEIN, Sie haben KEINE zehn Millionen Euro gewonnen! Ich werde das NICHT anklicken, SO kommen VIREN auf Ihren Rechner!!“   Rans Verzweiflungstiraden dauerten noch eine ganze Weile an, bis er schließlich kurz vor der Resignation schien. „Also, ich habe Ihnen jetzt einen Virenschutz und einen Adblocker installiert, nach Viren gesucht und alle Treiber geupdatet. Neu gestartet hab ich auch. Ich weiß wirklich nicht, woran es noch liegen kann. Das einzige, was wir jetzt noch machen können, ist, Ihnen einen neuen Dongle zuzuschicken, das dauert dann aber ein paar – einen Dongle, darüber haben wir doch vorhin geredet. Da ist Ihre Lizenz drauf. … Sie haben mir doch gerade versichert, dass der eingesteckt ist. … Ein weißer USB-Stick, steht fett WILLOWSOFT drauf. … Warum fragen Sie denn dann nicht nach, meine Fr–“ Er schnaufte theatralisch aus. „SIE SOLLEN NICHT DENKEN, SIE SOLLEN MIR ZUHÖREN!!!“ Er atmete noch heftiger, während der Kunde am Headset irgendetwas erzählte. „Schicken Sie mir mal ein Foto von Ihren USB-Steckplätzen. … Mhmh, wie erwartet, da ist kein Dongle. … Ja, das sollte Ihnen auch leid tun. … Haben Sie eine Idee, wo der abgeblieben sein könnte? … Mhmh, aha. … Nein, der ist weiß. … Schicken Sie mir auch noch ein Foto von Ihrem Schreibtisch? … Ja, deshalb finden Sie ihn vermutlich nicht.“ Er klickte auf seinem Rechner herum und starrte genervt-konzentriert auf den Bildschirm. „Unter dem Umschlag, links oben. Neben den drei leeren Kaffeetassen. Nein, nicht neben der vollen. Genau. Einmal hochheben. Ist er das? … Mhmh, genau. … Jetzt stecken Sie den mal in Ihren PC ein und öffnen Sie das Programm nochmal neu. … Na, wer sagt’s denn. War doch ein Kinderspiel. … Gern geschehen. Tun Sie mir einen Gefallen und räumen Sie Ihren Browser auf … Und Ihren Schreibtisch. Wiederhören.“ Ran tippte wie wild geworden auf seiner Tastatur herum, bevor er das Headset auf seinen Schreibtisch knallte und selbst mit einem „AAARGH!!!$%&¿?!“ auf den Boden neben seinem Schreibtischstuhl sackte. Das war Dashs Stichwort, zu ihm zu eilen.   „Du brauchst eine Umarmung“, grinste er ihn an und kniete sich zu ihm auf den Boden. Ran schaute ihn unschlüssig an, als wäre er sich nicht sicher, ob er ‚Dein Ernst?!‘ oder ‚Ja, bitte!‘ antworten sollte, aber ließ es brav über sich ergehen, als Dash seine Arme um ihn legte und seinen Kopf streichelte, den er schließlich auf seine Schulter sacken ließ. „Du … solltest den Job auf Hawaii annehmen, glaub ich.“ Ran sagte eine Weile nichts, hob dann seinen Kopf an und löste sich wieder aus Dashs Umarmung. „Ich weiß.“ Er sah unglücklich aus, wich Dashs Blick aus. „Schlimmer kann’s doch kaum werden“, versuchte Dash etwas Positives zu sagen, „Und wenn doch, dann bist du nicht allein. Ich–“ „Doch, das bin ich“, erwiderte Ran trotzig. „Dash, ich … wir … wir kennen uns noch nicht lange genug. Vielleicht“, er murmelte in sich hinein, „sagst du heute das und morgen was anderes. Ich … will mir nicht falsche Hoffnungen machen, nur um dann wieder–“ „Du kennst mich“, fiel Dash ihm ins Wort. Er nahm Rans Hand, führte sie zu seinem Herzen. „Du weißt besser, wie es in mir aussieht, als jeder andere. Du hast mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen.“ Einen ganz kleinen Moment lang schaute Ran ihm mit der Vertrautheit, von der Dash wusste, dass sie zwischen ihnen da sein könnte, in die Augen, nur um dann hastig den Blick wieder abzuwenden und seine Hand zu sich zurück zu ziehen. „Und wenn du mir nicht vertrauen kannst“, das würde Ran noch lernen, ganz bestimmt, „dann vertrau wenigstens dir selbst. Du bist so schlau und kreativ, du hast einen Job verdient, bei dem du das beweisen kannst.“ Ran schnaubte verächtlich. „Du stellst dir immer alles so einfach vor.“ „Hör dir doch wenigstens mal an, was sie dir zu bieten haben, gib dem Job eine Chance, absagen kannst du später immer noch … Hauptsache du schickst mich nicht wieder nach Hause, wenn ich dann irgendwann auch nach Hawaii komme.“ Ran schaute ihn unentschlossen an, öffnete mehrmals den Mund, als wollte er etwas sagen, aber ließ es dann doch wieder sein.   „Machst du Mittagspause?“, versuchte Dash das Thema zu wechseln. „Ich mach Feierabend für heute, hab meine Pflichtstunden erfüllt. Wir wollten doch zur Polizei gehen.“ Ob Ran deshalb so früh angefangen hatte? Extra wegen ihm? „Dann brauchen wir vorher noch eine Stärkung!“, beharrte Dash mit einem Lächeln. „Wollen wir was kochen? Wir könnten Ananas-Curry machen! Oder Spaghetti Honoluluani! Oder Königsberger Klopse Hawaii!“ Ran wirkte skeptisch. Noch skeptischer als sonst. „Oder lieber Pizza bestellen?“ Jetzt lächelte er verlegen zurück. „Ich … hab nicht wirklich Sachen zum Kochen da … ich muss mal wieder einkaufen gehen…“ „Kein Problem!“, lächelte Dash, „Dann bestellen wir jetzt erst mal Pizza und nach der Polizei können wir mit meinem Auto einkaufen, okay?“ Der Vorschlag schien Ran zu gefallen. „Das klingt gut, ja.“    Die Pizza ließ außergewöhnlich lange auf sich warten. Dash hatte Ran zwischenzeitlich die Jobanzeigen gezeigt, auf die er sich bewerben wollte, und Ran hatte beschlossen, dass er seinen Laptop nutzen konnte, um Bewerbungen zu schreiben, bis er seinen eigenen wieder hatte. Und weil Ran gute Vorlagen gespeichert hatte. „Du kannst das hier als Vorlage benutzen“, öffnete er einen einwandfrei gelayouteten Bewerbungsbogen auf dem Rechner. Dash schaute einen Moment lang erstaunt darüber. „Das ist deine Bewerbung für Hawaii“, stellte er schließlich fest. „Ja, die … wollten nochmal eine formelle Bewerbung für ihre Unterlagen, aber ich hätte den Job quasi sicher … wenn ich mich zurückmelde jedenfalls. Und wenn es ihnen jetzt doch nicht schon zu lange gedauert hat“, murmelte Ran in sich hinein. „Du hast schon alles fertig?“ Er schaute Ran halb beeindruckt, halb anklagend ins Gesicht. „Sogar das Anschreiben?“ Das Anschreiben hatte sogar einen Satz, in dem Ran sich dafür entschuldigte, dass er sich so lange Zeit mit der Antwort gelassen hatte, weil der Umzug eine sehr große Entscheidung wäre. „Warum hast du das nicht abgeschickt?“ Ran wirkte nervös. „I-i-ich … es ist eine große Entscheidung, das hab ich dir doch erklärt. Ich kenne noch nicht mal den Chef, ich kann nicht einfach zusagen und dann–“ „Das ist nur eine Bewerbung“, versuchte Dash ihn zu beruhigen. „Niemand verlangt von dir, dass du blind nach Hawaii ziehst. Bestimmt habt ihr vorher erst mal ein paar Kennenlerngespräche über Skype oder so, vielleicht kannst du dich auch schonmal von hier aus einarbeiten bevor du eine definitive Zusage machst.“ Ran schaute verlegen in der Gegend herum. „Du solltest das abschicken. Na los.“ „Jetzt?!“, fragte Ran entsetzt zurück. „Warum nicht? Du hast dir so viel Mühe mit der Bewerbung gemacht.“ „Nur weil man sich Mühe mit etwas macht, heißt das nicht, dass es gut wird“, sagte Ran trotzig. „Aber de-da-du–“ Dash wusste gar nicht, wie er Ran widersprechen sollte, so viele Gründe gab es, dass er verflixt nochmal diese Bewerbung abschicken sollte. Er tippelte nervös mit den Füßen auf der Stelle herum. „Du hast was besseres verdient als diesen verdammten Callcenter-Job!“, er wurde unbeabsichtigt laut beim Sprechen, „Du hast es geschafft, dass ich mich überwunden habe, Lunis zu sagen, dass er sich ficken kann. Dieser Job ist dein Lunis! Sag ihm: Fick dich, Support-Hotline! Trau dich, Ran! Bitte, trau dich. Es kann nur besser werden.“ Ran starrte ihn eine ganze Weile wortlos mit großen Augen an, bevor er in ein seltsames, unkontrolliertes Lachen ausbrach. „Dash, beruhig dich. Das ist …“, er schnappte amüsiert-verwirrt nach Luft, „Das ist doch kein Vergleich. Ja, ich reg mich gerne auf, aber–“ „Du leidest unter diesem Job. Du solltest einen Job haben, den du gerne machst und bei dem du Anerkennung bekommst und–“ „Solche Jobs gibt es nicht.“   Warum musste Ran nur immer alles so schwarz malen? „Das weißt du nicht, bis du es nicht wenigstens versucht hast“, stellte er sich ihm entgegen. „Komm schon, du hast nichts zu verlieren. Du kannst immer noch absagen, wenn dir irgendwas nicht passt.“ Ran schnaufte energisch. „Okay, damit du aufhörst, mich damit zu nerven“, holte er den Laptop wieder zu sich und öffnete sein E-Mail-Programm. Er kopierte etwas aus dem Anschreiben in die E-Mail, tippte noch ein paar Zeilen und fügte die Anhänge an, schaute dabei immer wieder unsicher zu Dash, als wollte er etwas sagen, machte es dann aber doch nicht. „Ich … schicke dann jetzt ab, okay?“ Rans Blick und Stimme waren immer noch seltsam verunsichert. Wartete er etwa darauf, dass Dash ihn davon abhalten würde, die E-Mail abzuschicken? „Ja, los!“, sprach Dash ihm Mut zu und Ran klickte endlich den Senden-Button. Er sah nicht wirklich erleichtert aus. „Ran, ich … drück dir alle Daumen … ich weiß, dass du denkst, dass der Job bedeutet, dass du alleine sein musst, aber das stimmt nicht. Ich tu alles, was ich kann, damit –“ Es klingelte an der Tür. Die Pizza. Bevor er eine Chance hatte, seinen Satz zu beenden, war Ran aufgesprungen und zur Sprechanlage geeilt. Dash folgte ihm zur Wohnungstür.   „Sorry, Jungs“, schnaufte der schon etwas betagtere Pizzabote mit buschigen, ernsten Augenbrauen, als er vor der Wohnung angekommen zwei duftende Pappschachteln aus der Transportbox holte und von Ran Geld entgegennahm, „Ihr bekommt ‘ne Flasche Cola für die Verspätung dazu, wir sind gerade extrem unterbesetzt. Aber ich alte Kämpfernatur schaukele alles alleine.“ Er schnaufte noch einmal kräftig. „Aber falls ihr jemanden kennt, der dringend ’nen Job sucht–“ „ICH!!!“, fiel Dash ihm begeistert ins Wort. „Ich such ’nen Job! Pizza ausfahren wäre genau das Richtige!“ Er hibbelte aufgedreht auf der Stelle herum. „Das hab ich im Studium schonmal gemacht, ich bin Profi! Ich pfeife sogar italienische Lieder, während ich die Treppen hochkomme! Okay, eigentlich nur eins, mehr kenne ich nicht, aber das wird nie langweilig. Ich kann direkt anfangen! Wo kann ich mich melden?“ Warum wirkten sowohl Ran als auch der Pizzamann, als würden sie ein Kichern unterdrücken?  „Donnerwetter, so viel Begeisterung… Okay, warte, ich ruf kurz beim Boss an und frage nach.“ Er stellte die Transportbox ab und holte sein Handy aus der Hosentasche. „Boss, ich hab hier einen jungen Mann, der bei uns anfangen könnte“, nuschelte er in sein Telefon. „Wie heißt du?“, wandte er sich an Dash. „Dash!“, rief er etwas zu laut und aufgeregt zurück, „Dash Glückauf!“ Der Pizzabote murmelte noch ein paar Sätze ins Handy, bevor er es zurücksteckte und sich wieder den beiden zuwandte. „Du kannst heute Abend gegen sieben bei uns im Laden vorbeischauen, da hat er Zeit. Adresse steht auf dem Flyer.“ „AWESOMESAUCE!!“, freute sich Dash. Der Pizzamann schien den Ausdruck nicht zu kennen. „Das heißt so viel wie, äh, astrein“, erklärte Dash schnell und sah aus dem Augenwinkel, wie Ran amüsiert den Kopf schüttelte. „Dann sind wir bald Kollegen!“, lachte er, „Wie heißt du?“ „Karate-Mike“, entgegnete der Pizzabote, „Also… Mike. Aber der Pizzabäcker heißt auch Mike, deshalb nennen mich auf Arbeit alle Karate-Mike, weil ich Karate mache.“ „Woaaah“, Dashs Augen begannen zu leuchten, „Kannst du mir Karate beibringen?“ Er hörte, wie Ran versuchte, erfolglos ein Lachen zu unterdrücken. „Dash, jetzt lass den armen Mann in Ruhe, der muss Pizza austragen.“ Dann waren Karate-Mikes Augen plötzlich zielsicher auf Ran gerichtet. „Machst du auch Karate?“, wollte er wissen. Ran schien von der Frage völlig überrumpelt. „Was – nein – wieso – Nur weil ich Japaner bin, mache ich kein Karate.“ Sein Tonfall wurde defensiv. „Sowas ist total rass–“ „DANN SEHEN WIR UNS BESTIMMT MORGEN“, versuchte Dash ihn schnell zu übertönen. „Ich fürchte auch“, entgegnete Karate-Mike, „Auf meinen nächsten freien Tag muss ich sicher noch eine Weile warten. Aber ich lass mich nicht unterkriegen, lasst es euch schmecken!“ Ran und Dash starrten sich irritiert an, nachdem Karate-Mike verschwunden und die Wohnungstür wieder geschlossen war.   „Sorry, dass ich dir ins Wort gefallen bin“, war das erste, wonach Dash das Bedürfnis hatte, es zu sagen. „Nein, das – ist schon – ich – bin nicht gut mit Menschen…“ stammelte Ran. „Doch, du – Du sagst, wenn dir was nicht passt. Das ist wichtig. Das sollte ich auch öfter machen“, sagte Dash einsichtig. „Damit dich auch keiner mag?“, schnaubte Ran. „Ich mag dich“, lächelte Dash. „Du magst ja auch jeden“, erwiderte Ran abfällig, aber nicht ohne ein ganz kleines bisschen rot zu werden, „Und freust dich wie ein Idiot über einen Job als Pizzalieferant, nachdem du mir schon die ganze Zeit erzählst, wie wichtig es ist, einen Job zu haben, bei dem man respektiert wird und sein Können unter Beweis stellen kann und–“ „Für dich!“, lächelte Dash überzeugt zurück, „Ich brauche erst Mal was für den Übergang, damit ich für Hawaii sparen kann, und da finde ich dann auch meinen Traumjob.“ Ran wirkte skeptisch. „Du glaubst da wirklich dran, was?“ „Natürlich!“, antwortete Dash wie aus der Pistole geschossen. Warum konnte Ran nicht auch daran glauben? „Wenn man fest genug daran glaubt, dann passieren auch gute Sachen! So wie dass ich jetzt einen neuen Job habe.“ „Das ist … immer noch total surreal. Ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass–“ „Manchmal meint das Universum es halt auch mal gut mit einem, wenn davor was Schlimmes passiert ist. So war das bei mir meistens…“ Er dachte an seine ersten Eltern und an die Glückaufs. „Bestimmt hat es mich deshalb auch zu dir geführt, nach Lunis…“ Ran schaute ihn irgendwie mitfühlend an, bekam schon wieder ganz rote Wangen. Er wollte ihn so sehr küssen, ihn so sehr an sich drücken und nie mehr wieder loslassen. „Das ist doch Unsinn. Ich meine, schöner Unsinn irgendwie, aber–“ Ran schaute ihm verlegen in die Augen. Dash lächelte ihn an, näherte sich ihm, schloss seine Augen und spitzte die Lippen – „DASH, ich – das – wir…“ Ran war zurückgeschreckt. „Wir wollten doch – Pizza essen – die Pizza … wird kalt.“ Ran schnappte sich, ohne ihn noch einmal anzuschauen, die beiden Pizzakartons und rannte damit regelrecht ins Wohnzimmer zurück.   Nach dem Essen waren sie zur Polizei aufgebrochen – nicht, ohne sich noch einmal zu vergewissern, dass Lunis’ Motorrad noch immer bei Dashs Wohnung geparkt war. Dash war schrecklich nervös, während er dem Polizisten für die Anzeige von den vergangenen Ereignissen mit Lunis berichtete, angefangen mit der Auseinandersetzung auf dem Parkplatz, nach der er im Krankenhaus gelandet war. Und obwohl es so gut geklappt hatte, als er mit Ran geübt hatte, die Geschichte zu erzählen, war er vor dem Polizisten so aufgeregt und schämte sich immer noch so sehr, dass er zu schnell mit zu vielen unnötigen Details redete, nervös über Dinge lachte, die eigentlich nicht lustig waren, und andere sogar herunterspielte. Er war Ran dankbar, dass er ihm manchmal ins Wort fiel und Dinge richtig stellte oder zusammenfasste, wenn er selbst sie nicht anständig wiedergegeben hatte. „Und Sie haben die Anschrift von diesem der-die-das Lunis?“ Dash spürte einen kleinen Stich in seinem Herzen. Es war gar nicht mal so sehr, dass der Polizist Lunis beleidigt hatte. Er wollte und würde Lunis nie mehr verteidigen – zumal Lunis sowas ohnehin egal war (im Gegensatz zu Nevis, bei der / dem er schon mehrere kleine Nervenzusammenbrüche auf Grund solcher Aussagen erlebt hatte). Aber wofür er Lunis beleidigt hatte, lag Dash schwer im Magen. „Lunis ist non-binary“, versuchte er zu erklären und war sich anhand des Gesichtsausdrucks des Polizisten sicher, dass er das Wort noch nie gehört hatte. „Biologisch und … auf dem Papier ist er ein Mann, wenn es das einfacher macht“, übernahm Ran das Reden. „Ja, danke, das macht es einfacher“, nickte der Polizeibeamte Ran zu und fügte mit einem Kopfschütteln hinzu: „Die wollen jetzt ja sogar auf dem Ausweis ein drittes Geschlecht einführen für solche Leute.“ Dash sackte das Herz in die Hose. Er konnte gar nicht genau auf den Punkt bringen, was es war, aber er war sich plötzlich sicher, dass die Anzeige eine dumme Idee gewesen war. Dass ihn hier niemand ernst nehmen würde. Oh Gott, fing er etwa an, wie Ran zu denken? Bestimmt hatte der Polizist das nicht so gemeint, wie es bei ihm angekommen war. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.    Ran begegnete seinem Blick, schenkte ihm ein Lächeln, das halb mitfühlend schien, halb „reiß dich zusammen“ sagte, und drückte kurz seine Hand. Es war genug, um das Schlimmste zu verhindern. Dann merkte er, dass der Polizist ihn ungeduldig anstarrte. „Also?“, hakte er nach. Was wollte er von ihm? „Die Adresse?“ „Ooh“, rief Dash zu laut aus, als ihm klar wurde, wie sehr seine Gedanken abgedriftet waren, und schaffte es schließlich, Lunis’ Adresse zu diktieren. „In Ordnung, der junge Mann bekommt dann eine Vorladung von uns. Ist ein anderer Gerichtsbezirk, das heißt das kann eine Weile dauern.“ Er stand von seinem Schreibtisch auf und ging Richtung Tür, streckte Ran und Dash die Hand entgegen, um sie zu verabschieden. Das … war es? „A-aber“, hörte er Ran plötzlich losstammeln, „Lunis ist immer noch in Dashs Wohnung, können Sie da nichts–“ „Doch, natürlich“, entgegnete der Polizeibeamte, als hätte er nie etwas anderes vorgehabt, „Ich schick Ihnen jemanden mit.“   „Tut mir leid, ich hab mir das einfacher vorgestellt“, fiel Ran ihm plötzlich um den Hals, als sie zusammen in Dashs Auto saßen und darauf warteten, dass die junge Polizistin, die sich ihnen als Jenny vorgestellt hatte, und ein Kollege ihnen im Polizeiauto zu Dashs Wohnung vorausfahren würden. Dash genoss einen Moment lang Rans Umarmung, die er so fest er konnte erwiderte, das schöne Gefühl, zu wissen, dass Ran auf seiner Seite war, bevor er antwortete. „Dann … kam das nicht nur mir so vor, als würde der Polizist mich nicht ernst nehmen?“, schaute er Ran unsicher an. Ran seufzte. „Du hast es ihm auch nicht gerade leicht gemacht“, musste er ein bisschen grinsen, „Vielleicht hättest du Pinapberry nicht erwähnen müssen … und die Box of Shame …“ Dash blickte schuldbewusst zu Boden. „Aber das ändert nichts daran, dass der Typ ein Arsch ist. Den Kommentar mit dem Ausweis hätte er sich echt sparen können.“ Rans Gesichtsausdruck war bitter. Er konnte sehen, dass es ihn genau so getroffen hatte. Konnte plötzlich ein bisschen besser verstehen, warum Ran bei Karate-Mikes Karatekommentar am Mittag so böse geworden war. „Aber hey“, lächelte Ran ihn plötzlich an und nahm wieder seine Hand, sodass mit einem Mal all die negativen Gedanken wieder aus seinem Kopf verschwanden, „du kannst trotzdem stolz auf dich sein. Du hast Lunis angezeigt und das wird nicht ohne Folgen bleiben. Egal, wie halbherzig die Polizei an die Sache geht. Auf jeden Fall hast du ein Zeichen gesetzt, das bei Lunis ankommen wird. Und jetzt gehen wir und schmeißen ihn aus deiner Wohnung.“ Es kam ihm ein bisschen vor, als würde Ran sich heimlich auf den letzten Punkt freuen. Vielleicht sollte er das auch. Aber gleichzeitig hatte er irgendwie Bedenken, was gleich passieren würde. Ob die Polizei Lunis festnehmen würde?    Wie auf Kommando schoss da auch schon ein Polizeiauto, aus dem Polizistin Jenny energisch herauswinkte und dabei auf die Hupe drückte, an ihnen vorbei, um mit zu hoher Geschwindigkeit den Parkplatz zu verlassen. Dash nahm es als Anlass, ebenso aufs Gas zu drücken und ihr hinterher zu sausen. „Immerhin ist diese Jenny sympathischer als der Typ vom Revier“, lachte er und genoss die ‚Verfolgungsjagd‘. „Pass auf, dass sie dir gleich keinen Strafzettel für überhöhte Geschwindigkeit ausstellt“, grinste Ran und fügte lachend ein „Zapdos verfällt in Raserei“ hinzu, auf das Dash sich ein „DIE ATTACKE IST SEHR EFFEKTIV!!“ nicht verkneifen konnte, während er noch stärker aufs Gas drückte, nur um an einer roten Ampel eine Vollbremsung hinzulegen, nach der er und Ran mit weit aufgerissenen Augen heftig schnaufend beschlossen, sich für den Rest der Fahrt an die Geschwindigkeitsvorgaben zu halten.   Als sie an Dashs Wohnung ankamen, war Lunis’ Motorrad vom Parkplatz verschwunden. „Sieht aus, als kämen wir hier vorerst nicht weiter“, erklärte die Polizistin mit einem Schulterzucken, nachdem die beiden Polizeibeamten die Wohnung durchsucht und sichergestellt hatten, dass Lunis nicht da war. „Die Tür wurde aufgebrochen?“, vergewisserte sie sich noch einmal. „Ja“, erklärte Dash, „Das wurde auch in die Anzeige aufgenommen.“ Ihm wurde bewusst, dass es ihm doch ganz gut gefallen hätte, Lunis mit der Polizei rauszuschmeißen, und er sich nun wieder seltsam hilflos fühlte. „Ich würde vorschlagen, Sie holen direkt einen Schlüsseldienst und lassen das Schloss austauschen, dann sind Sie wieder sicher“, nickte sie ihm beschwichtigend zu.   „Mehr können wir leider im Moment nicht machen. Aber die Anzeige ist ja gestellt, wir kümmern uns drum“, war das letzte, was sie zum Abschied sagte, bevor die Polizisten sich wieder auf den Weg zu ihrem Polizeiauto machten. „…nicht“, fügte Ran beleidigt an, nachdem sie außer Hörweite waren. Dash schaute ihn ratlos an. Der Gedanke, alleine hier zu bleiben, beunruhigte ihn. „Was, wenn ich das Schloss austauschen lasse und Lunis es wieder aufbricht?“, sprach er aus, was ihm gerade durch den Kopf ging. „Ich wette, er kommt zurück. Er wusste, dass ich zur Polizei gehen will. Bestimmt hat er mich irgendwie beobachtet. Mit seinem Copter oder so. Bestimmt wartet er nur drauf, dass ich alleine in der Wohnung bin, und kommt dann zurück.“ Es war zum Verzweifeln. „Du – musst nicht hierbleiben“, sagte Ran entschlossen. Ein erleichtertes Lächeln legte sich auf Dashs Gesicht. „Heißt das, ich darf weiter bei dir wohnen?“, fragte er etwas zu begeistert zurück. Ran errötete und wandte mit einem Räuspern den Blick ab. „Bis das mit Lunis geklärt ist jedenfalls“, murmelte er. Ran war so lieb. Dash freute sich so sehr, dass er auf der Stelle herumhüpfte. Er konnte nicht anders, als Ran stürmisch zu umarmen und ihm ein Küsschen auf die Wange zu drücken, woraufhin Ran sich mit noch roterem Kopf ebenso stürmisch aus seiner Umarmung befreite.    „Pack dir eine Reisetasche zusammen oder so, okay?“, schritt er in Dashs Wohnung voran und schaute sich dort neugierig um. Er starrte nachdenklich in der Gegend umher, während Dash von überall Klamotten zusammensuchte. Rans Blick schien an Dashs Laptop auf seinem Bett kleben zu bleiben. „Benutzt Lunis deinen Laptop?“, fragte er und Dash wurde das Gefühl nicht los, dass er irgendeine Art von Plan zusammenspinnen musste. „Äh… vermutlich.“ Ziemlich sicher sogar, wenn er es sich recht überlegte. Er konnte Rans Augen hin- und herwandern sehen, seine Gedanken förmlich arbeiten hören. „Hast du ‘ne Webcam oder sowas? Oder ein altes Handy mit Kamera?“ Was zum Kuckuck hatte Ran vor? „Irgendwo müsste ich sowas haben.“ „Und vielleicht ’nen Bluetooth-Lautsprecher?“ „Hab ich auch, da drüben“, antwortete Dash und zeigte Ran den Lautsprecher, „Heckst du etwa einen Plan aus?“ „Einen teuflischen“, grinste Ran, „Mit dem wir Lunis vielleicht schneller hier raus kriegen als die Polizei … Man könnte sagen ich hacke einen Plan aus … Nerd-Style.“ Seine Augen leuchteten auf. „Manchmal bist du so badass“, grinste Dash zurück. Das war irgendwie sexy… „Such die Webcam, okay? Ich knöpf mir mal kurz deinen Laptop vor.“ Kapitel 21: Alexa, play Despacito --------------------------------- „Hallo?“, fragte Ran verwirrt durch die Sprechanlage. „Pizza ist da!“, tönte Dash gutgelaunt zurück. „Da müssen Sie sich in der Hausnummer geirrt haben, ich hab keine Pizza bestellt“, sah er Ran förmlich durch den Hörer grinsen, bevor er den Türöffner betätigte.   „Wer ist heiß, knackig und kommt schnell?“, begann er Ran noch auf den letzten Treppenstufen vor der Wohnungstür schmunzelnd zuzurufen und freute sich über dessen amüsiert-abschätziges Kopfschütteln. „Ich hoffe, die Antwort bist nicht–“ „BLIZZERIA!“, übertönte Dash ihn mit einem Lachen und fügte zur Klarstellung an: „Das ist unser offizieller Werbeslogan.“ Spätestens jetzt konnte Ran sich nicht mehr zusammenreißen und brach in Gelächter aus. „Komm rein, du Spast.“ Das war wirklich ihr offizieller Werbeslogan.   „Ich darf also zum neuen Job gratulieren?“, erkundigte sich Ran, während sie es sich mit dem übergroßen Pizzakarton, den Dash für beide mitgebracht hatte, im Wohnzimmer gemütlich machten. „Morgen geht’s direkt am Mittag los!“, nickte Dash enthusiastisch. „Der Chef ist voll nett, der hat so ‘nen witzigen Moustache, genau wie man sich ’nen Pizzabäcker vorstellt. Dabei steht er gar nicht in der Küche, der nimmt nur die Bestellungen an. Aber Küchen-Mike ist auch voll der Knüller, mit dem werd ich noch viel Spaß haben, wir haben uns schon die besten Pizza-Eigenkreationen ausgedacht. Aber der heißt eigentlich gar nicht Mike, sondern Murat. Ich versteh nicht, woher dann die Namenskonfusion mit Karate-Mike kommt. Vielleicht ist das nur so’n Insider oder so. Muss ich ihn morgen mal fragen…“ Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Ran grinste ihn wortlos an. „Was?“, fragte er verwirrt. „Nichts, mich fasziniert es nur immer wieder, wie du dich für … Dinge begeistern kannst.“ „Aber es ist doch auch alles neu und aufregend!“, versuchte er sich zu verteidigen und Ran musste lachen.   „Willst du nicht die Pizzaschachtel aufmachen?“ Langsam wurde er ungeduldig. „Ist da schon die erste Eigenkreation drin?“, blickte Ran ihn skeptisch von der Seite an. „Ich hoffe, nicht Pizza Quattro Ananasi oder sowas.“ „Ich weiß doch, dass du keine Ananas magst“, versuchte Dash ihn zu beschwichtigen. „Hey, so pauschal hab ich das nie gesagt“, korrigierte Ran. „Nur nicht … auf Pizza. Oder halt in herzhaften Sachen. Wenn das jetzt eine Pizza nur mit Obst wäre und mit Nutella statt Tomatensoße–“ „Versuchst du mir gerade Ideen in den Kopf zu setzen?“, grinste Dash. Ran kicherte ertappt. Das war zu süß. „Ja, wenn ich schon an der Quelle sitze…“, versuchte er sich herauszureden und öffnete endlich den Karton. Einen Moment lang starrte Ran wortlos auf die riesige herzförmige Pizza, bevor er im Gesicht rot anlief und, ihn nur aus dem Augenwinkel anblickend, zu einem Seufzer und einem „Dash, du weißt doch–“ ansetzte.   Dass Ran vor hatte, ohne ihn nach Hawaii zu gehen? Dass er nicht daran glaubte, dass Dash ihm hinterherreisen würde? Dass er sich größte Mühe gab, alle Zeichen dafür zu ignorieren, dass das Universum sie zusammengeführt hatte und sie perfekt füreinander waren? Das wusste er alles. Aber umso entschlossener war er, um Ran zu kämpfen. Dafür zu sorgen, dass er mit der Gewissheit gehen würde, dass sie eine Zukunft hatten. Weil er sich nichts Besseres vorstellen konnte, als jeden Abend genau so mit Ran auf dem Sofa zu sitzen, ihm von seinem Tag zu erzählen, zusammen zu lachen und Pizza zu essen. Vielleicht auch mal was anderes als Pizza.   „Das ist nur ein herz-liches Dankeschön“, lächelte Dash ihn an. „Dafür, dass du so gut auf mich aufpasst. Und dass ich hier wohnen darf.“ Sie wohnten zusammen. Und Ran war so niedlich verlegen. Alles in ihm fühlte sich warm und fuzzy und schön an. Auch wenn Ran sich sichtlich Mühe gab, die Atmosphäre zu zerstören. „Nur bis wir Lunis aus deiner Wohnung rausgekickt haben“, sagte er streng. „Was mich daran erinnert … Oder, erstmal will ich wissen, was das für eine Pizza ist.“ An was erinnert? An seinen Hacker-Plan? Dash war hochgespannt. „Deine Hälfte ist einfach nur Funghi ohne Ananas. Das magst du, oder?“ Das hatte Ran schonmal bestellt. „Schon“, entgegnete Ran irritiert, „Aber warum sagst du das so, als wäre Funghi normalerweise mit Ananas?“ „Nur Funghi mit Ananas ist mit Ananas. Funghi ohne Ananas ist ohne Ananas.“ „Es gibt kein Funghi mit Ananas“, schüttelte Ran verständnislos den Kopf. „Wenn man es sich bestellt schon“, warf Dash ein. „Ja, aber wenn man es sich nicht bestellt, ist klar, dass einfach nur „Funghi“ Funghi ohne Ananas bedeutet.“ Ran war ganz aufgewühlt. Vielleicht sollte er das nicht auf die Spitze treiben. „Aber wär doch mal was ananas, oder?“ Ran schnaufte fassungslos, legte seinen Kopf in die Handflächen und brach schließlich in den heftigsten, ansteckenden Lachkrampf aus. „Bitte sag mir nicht, dass es die ganze Zeit nur dein Ziel war, diesen schlechten Witz zu machen“, prustete er, sehr zu Dashs Freude. „Nein, das war spontan“, lachte Dash ehrlich, während Ran sich das erste Stück Funghi ohne Ananas nahm. „Und was ist deine Hälfte?“, fragte er interessiert und fügte ganz leise ein „Warte, will ich das wirklich wissen?“ an. „Spaghetti, Sauce Hollandaise, Frischkäse, vegane Currywurst“, zählte er auf, „und Ananas.“ Rans Blick wirkte ein bisschen verstört. „Hast du einfach die bizarrsten Zutaten in der absurdesten Kombi genommen?“ „Hey, wenn ich schon an der Quelle sitze“, zitierte er Ran, „Ich wollt’s mal ausprobieren.“ Er nahm einen beherzten Bissen. „Und?“, fragte Ran gespannt nach, nicht ohne eine gewisse Schadenfreude in seinem Blick. Dash machte eine abwägende Geste mit der Hand. „9 von 10 Punkten“, verkündete er. Ran lachte. „Bist du dir sicher?“ „8 von 10 Punkten“, korrigierte sich Dash, „Es ist ein bisschen too much.“ „Du meinst ein bisschen too Matsch, oder?“, gluckste Ran. War schon irgendwie sehr matschig. Aber auch irgendwie geil.   „Aber jetzt mal was ananas“, scherzte er weiter, „Ich brauch noch ein Lied, was Lunis so richtig auf den Sack geht.“ „Für deinen Hacker-Plan?“, hakte Dash erpicht nach, „Sag mal endlich, was du vor hast!“ Ran schmunzelte verdächtig. „Du kennst das doch bestimmt, wenn in Geschäften kurz vor Ladenschluss ein Lied gespielt wird, damit die Leute merken, dass sie zur Kasse gehen sollen, oder?“ „So wie ‚Wer hat an der Uhr gedreht‘?“, freute sich Dash und konnte es nicht lassen, den Song lauthals loszusingen. „Ja, genau sowas“, unterbrach ihn Ran augenrollend, „Und vielleicht regt es Lunis ja auch an, den Laden zu verlassen, wenn plötzlich aus unerklärlichen Gründen Musik losgeht, die er nicht leiden kann.“ Wow, der Plan war gut. „Und dafür, dass die Musik losgeht, sorgst du?“, fragte Dash begeistert. „Genau“, klappte Ran, als wäre das sein Stichwort gewesen, eine Powerpoint-Präsentation zu halten, seinen Laptop auf und deutete auf das, was da zu sehen war. Er konnte drei Ansichten erkennen, und das sah ja aus wie… „Ist das meine Wohnung? Hast du eine Überwachungskamera bei mir installiert?!“ Ran schnaubte amüsiert. „Deshalb hab ich dich gefragt, ob du ‘ne Webcam hast. Das hier ist deine Webcam, die hab ich so im Regal versteckt, dass Lunis sie hoffentlich möglichst lange nicht bemerkt. Die Übertragung hierher funktioniert aber nur, solange dein Laptop läuft. Aber scheinbar war Lunis schonmal da und hat ihn angemacht.“ Lunis war immer noch in seiner Wohnung. „Gerade ist er aber wohl nicht am Laptop, der Screen hier ist nämlich die Ansicht von der integrierten Cam aus deinem Rechner. Sitzt niemand davor. Und bei der dritten Ansicht hier hab ich Screensharing eingerichtet, damit wir sehen können, was Lunis an deinem Laptop macht.“ „Du bist ja schlimmer als das FBI“, staunte Dash. „Raubkopiererei ist kein Kavaliersdelikt“, entgegnete Ran bierernst, bevor er einen energischen Lacher ausstieß. „Ich kann sogar per Remote-Access bei ihm rein und den Laptop selbst steuern. Aber das wäre ziemlich auffällig. Für meinen Plan brauche ich nur dein Handy. Dann kann ich über die Spotify-App von deinem Handy aus Spotify auf deinem Rechner Musik abspielen lassen.“ Dash war beeindruckt.    „Fehlt nur noch die Musik“, schlussfolgerte Dash. „Gut kombiniert, Watson“, stimmte Ran zu. „Also, was ist Lunis’ Hass-Musik?“ Dash musste einen Moment überlegen, bis ihm ein Geistesblitz kam: „Lunis hasst Boygroups.“ „Echt jetzt?“, starrte Ran ihn verdutzt an. Das schien nicht die Antwort zu sein, mit der er gerechnet hatte. „Ich hätte erwartet, dass das genau der richtige Trash-Faktor für Lunis ist“, lachte er. Da hatte er einen Punkt. „Eigentlich schon, aber irgendwie sind Boygroups für ihn der Inbegriff von Mainstream. Und alles, was Mainstream ist, kann Lunis nicht leiden. Daher der Hass.“ Ran wirkte entsetzt. Ungewohnt theatralisch entsetzt. „Aber Boygroups…“, gestikulierte er verzweifelt in der Luft herum. „Haben wir da etwa einen kleinen Fan?“, grinste Dash. „Ja, Mann“, entgegnete Ran, immer noch ganz fassungslos. „Wie … wie kann man Boygroups nicht mögen?“ Dash musste lachen. „Hast du deshalb den KPop-Haarschnitt?“ Jetzt musste Ran auch lachen. „Ahaha, nein, den … den hab ich schon mein ganzes Leben lang. KPop hat den Ran-Haarschnitt“, verkündete er mit gespieltem Stolz und fuhr fort: „Aber KPop geht voll ab. In der Schule hab ich die ganzen Choreografien auswendig gelernt, da kannte das hier noch keiner.“ Ob er die immer noch konnte? Das würde Dash zu gerne sehen. „Und 90s-Boygroups! Justin Timberlake war mein großer Grundschul-Crush.“ Er errötete ein bisschen, als hätte er so viele peinliche Details eigentlich gar nicht preisgeben wollen. „A-aber nur, weil seine Haare wie Ramen aussahen“, fügte er schnell an. Als würde es das besser machen. „Das hat mich immer irgendwie hungrig gemacht.“ Dash musste laut lachen. „Hungrig, soso…“, grinste er Ran herausfordernd an. „Auf Ramen, Alter! Nicht, was du schon wieder denkst. Ich war in der Grundschule, Mann.“ Beide mussten lachen. „Du hattest also schon immer eine Schwäche für blonde Justins“, versuchte Dash ihn weiter zu ärgern. „Nur, wenn ihre Haare wie etwas Essbares aussehen, Kevin-Justin“, konterte Ran. „Also, wenn ich eine Pizza auf dem Kopf tragen würde–“, setzte Dash an und wurde von Ran mit einem entschiedenen „Untersteh dich!!“ unterbrochen. Bevor er einen weiteren beherzten Bissen Pizza zu sich nahm.   „Also, mal schauen, was die Boygroups-Playlist hergibt…“ Er überflog die Liste auf Dashs Handy und murmelte dabei verschiedene Titel. „Don’t Walk Away – wir brauchen Do Walk Away … Got to Go … Don’t Want you Back, haha … Quit Playing Games with my Heart, es wird immer besser… Uuh… uuuuh!!“ Er sah Dash mit ungewohnt funkelnden Augen ins Gesicht, „Ich glaube wir haben einen Favoriten!“ Dramatische Pause. „*NSYNC: Bye Bye Bye.“ „Ahahahahaha“, lachte Dash stürmisch applaudierend los, „Das ist perfekt!!“ Ran nahm zufrieden das letzte Stück seiner Pizzahälfte. „Dann warten wir ja nur noch auf den Star unseres Kinoprogramms.“   Und der ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten. Lunis schien gerade aus der Dusche zu kommen, sie hatte ein Handtuch als Turban um den Kopf geschlungen und trug eins von Dashs T-Shirts und seine Boxershorts. Das machte ihm wenig Hoffnung, dass das Kapitel für Lunis abgeschlossen war. Sie machte es sich auf dem Bett bequem und nahm den Laptop auf ihren Schoß.   „Bin mal gespannt, was er an deinem Laptop macht“, kommentierte Ran missbilligend. „Sie“, korrigierte ihn Dash wie automatisch. „Was?“, fragte Ran verwirrt zurück. „Heute ist ein sie-Tag“, erklärte Dash. „Woran siehst du das?“ „Die Art, wie sie sich bewegt.“ „Okay“, nickte Ran ohne weiter nachzuhaken. Stattdessen vergrößerte er die Ansicht, bei der man den Bildschirm von Dashs Laptop sehen konnte.    „Wow, das Stalking nimmt kein Ende“, sagte Ran abschätzig, während Lunis offensichtlich in Dashs alten Chat-Gesprächen mit Piroska stöberte. Dash war nicht all zu überrascht, hatte das schon irgendwie erwartet, aber trotzdem fühlte alles an der Situation sich schrecklich an, als würde sich etwas um sein Inneres legen, es zusammendrücken und ihm die Luft abschnüren. Er las die Chat-Zeilen mit, die Lunis in demselben Moment lesen musste, erinnerte sich plötzlich viel zu lebhaft an die Situation, in der er sie geschrieben hatte.   „What the Fuck, Dash?“, hörte er Ran neben sich sagen, der den Text offensichtlich ebenfalls mitgelesen hatte, „Lunis hat dir eine Glühbirne im Mund zerbrochen? Was zur … ich versteh nicht ganz, was da los war, aber das ist super krank…“ Er schämte sich. Hatte sich schon damals schrecklich geschämt, es Piroska zu erzählen, und schämte sich jetzt noch mehr vor Ran. „Das … das war ein Sex-Unfall“, stammelte Dash. Auch wenn er sich im Nachhinein nicht mehr so sicher war, ob es wirklich ein Unfall-Unfall gewesen war. „Was zum … wie … warum …“ Rans Verwirrung war groß. „Ich … will da nicht drüber reden“, schaffte er nur zu sagen. Sein Kopf dröhnte, als könnte er jeden Moment zerplatzen. Warum musste er das jetzt alles nochmal durchleben? Warum konnte das nicht einfach alles vorbei sein? Er versteckte sein Gesicht in den Händen.   „Hey, schon gut“, rissen Rans ungewohnt sanfte Stimme und sein Arm um Dashs Schulter ihn ein bisschen aus seinen Gedanken, „Du musst nicht.“ Aber er konnte nicht anders, als weiter auf den Bildschirm zu starren. Darauf, wie er damals Lunis vor Piroska verteidigt hatte, wie er nicht hatte einsehen wollen, dass er Schluss machen musste. Und darauf, wie er trotzdem hier und da Dinge gesagt – oder zumindest Dingen zugestimmt – hatte, von denen er wusste, dass sie Lunis in genau diesem Moment immer noch schrecklich wütend machen mussten. Er sah Lunis’ Blick in der kleinen Ansicht von der Laptop-Kamera in einer Bildschirmecke, diese Mischung aus verletzt und kurz vor dem Ausrasten, die er nur zu gut kannte, die er nie wieder hatte sehen wollen.   „Soll ich das Lied abspielen?“, ließ Ran ihn abermals aus seinen Gedanken aufschrecken. Dash war sich unsicher. Es fühlte sich unangemessen an. … Oder war das der Punkt? „Das ist so krank alles“, schüttelte Ran den Kopf, „Das damals und das jetzt. Diese Person muss aus deinem Leben verschwinden.“ Dem konnte Dash jedenfalls uneingeschränkt zustimmen. „Okay, spiel es“, nickte Dash.   Er hörte den Intro von „Bye Bye Bye“ in schlechter Qualität über die Live-Übertragung in seiner Wohnung losspielen, dicht gefolgt von einem lauten „Hä?“ von Lunis. Ran schnaufte amüsiert. Sein Plan lief. Lunis klickte das Spotify-Fenster an und stoppte den Song, um mit verwirrt-verärgertem Gesicht zum Chatfenster zurück zu wechseln. „Und nochmal“, grinste Ran und tippte erneut auf den Play-Button auf Dashs Handy. Bye Bye Bye lief bei Lunis weiter. „Hallo?!“, schrie diese den Rechner an und gestikulierte mit den Händen in der Luft herum. Sie stoppte das Lied wieder und schloss das Programm. Ran schien in seinem Element zu sein. „It’s on!!“, zog er eine Augenbraue hoch, nur um Spotify und N*SYNC wieder zu starten.   „Warum zur…“, raunte Lunis, nur um als nächstes aufzustehen und „IST HIER JEMAND?“ in die Wohnung zu brüllen. „ARSCHKRAMPE, BIST DU DAS?!“, drohte sie und verschwand eine Weile aus dem Zimmer, nur um, offensichtlich erzürnt, wieder vor dem Rechner Platz zu nehmen und die Musik anzuhalten. „Scheiß Backstreet Boys“, fluchte sie vor sich hin, was ihr ein „Kunstbanause“ von Ran erntete, der das Ganze sichtlich unterhaltsam fand. „Sollen wir ihr eine kleine Verschnaufpause gönnen?“, grinste er Dash verschwörerisch zu. Selbst wenn sie nicht zum Ziel führen sollte, die Aktion hatte Dashs Laune zumindest schon wieder ein bisschen gehoben. „Nur eine kleine Verschnaufpause“, setzte Ran wieder an, „Sie endet …“ Dramatische Pause. „Jetzt!“   „Bye Bye Bye Bye Bye“, tönte es erneut aus Lunis’ Lautsprechern. „FICK DICH, VERFICKTER FICK-LAPTOP!!“, schrie diese den Rechner mit weit aufgerissenen Augen an. Nur um ihn im nächsten Moment in die Hand zu nehmen und mit voller Wucht gegen die Glastür von Dashs Balkon zu schleudern. Die Übertragung war weg.   „Shit“, war alles, was Ran herausbrachte, bevor Dash und er, wie in der Hoffnung, als würde gleich noch etwas passieren, mindestens eine ganze Minute lang weiter schweigend auf den Bildschirm starrten. „Shit, das … damit hab ich nicht … das … wie kann man denn so … AAAAARGHHHHH“, schrie Ran verzweifelt. Dash konnte immer noch nichts sagen. „Ich ruf die Polizei an, die sollen jetzt sofort in die Wohnung gehen“, erklärte Ran entschieden. Er bekam Rans Telefonat nur wie durch einen Schleier mit, hörte die Worte, aber verstand ihre Bedeutung nicht. Er starrte weiter ins Leere und versuchte angestrengt, weder an das zu denken, was damals mit Lunis passiert war, noch an das, was sie gerade eben getan hatte, was sie jetzt im Moment in seiner Wohnung tun musste. Irgendwann realisierte er, dass Ran vor der Couch stand und ihn anschaute.   „Tut mir leid, Mann“, sagte Ran mit gesenktem Kopf, „Das war ein Schuss in den Ofen. Schätze, mein Bild von Lunis war immer noch nicht schlecht genug, um mit sowas zu rechnen.“ Dash lachte schwach. „Vielleicht kriegt die Polizei sie ja jetzt, hoffen wir das Beste.“ Das Beste. Er war sich gar nicht sicher, was das war. Er wollte, dass Lunis aus seinem Leben verschwindet. Und am besten all die grässlichen Erinnerungen mit ihr. Ihm wurde schrecklich bewusst, dass er sich in dieser Wohnung nie wieder sicher fühlen würde. Er wollte weg, ganz weit weg. „Hey, vielleicht kann ich ja zumindest deine Daten noch retten vom Laptop. Ich hoffe, das Glas ist nicht komplett zerbrochen.“    Das Glas? Dash verstand gar nicht, was Ran damit meinte. Alles, woran er denken konnte, war die Erinnerung an Glassplitter in seinem Mund, die Schmerzen der Schnitte an seiner Zunge, die nichts waren im Vergleich mit der Angst, die er gehabt hatte. Der Angst, sie herunterzuschlucken. „Dash, du siehst nicht okay aus“, hörte er Ran sagen. „Bleib erst mal ruhig und warte bis die Polizei zurückruft, okay? Wir kriegen das schon irgendwie hin.“ Er hielt es nicht mehr aus.   „Sie hat immer wieder gesagt, ich soll ihr vertrauen. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Ich wollte, dass sie mir vertraut. Ich wollte sie nicht enttäuschen…“ Sein Hals schmerzte beim Reden, seine Augen schwollen an. Er würde gleich losweinen, aber es musste raus. „Ich dachte, wenn sie mir genug vertraut, dann wird sie schon irgendwann anders. Ich hatte so viel Angst…“ Ran drückte ihn an sich. Das half ihm, wieder ein bisschen regelmäßiger zu atmen. „Redest du von der Glühbirne?“, hakte Ran nach. Dash nickte. „Lunis wollte sie als Knebel benutzen. Ich weiß nicht mehr, ob ich wirklich nicht gerafft habe, wie gefährlich das ist, oder ob ich nur nicht wollte…“ Er drückte sich einen Moment gegen Rans Schulter, versuchte Kraft zu sammeln, um zu Ende zu erzählen. „Aber sie wusste es. Sie wusste es ganz genau. Sie war so glücklich, dass ich das für sie mache. Und sogar als…“ Er war heftig am Weinen, die Koordination von Atmen und Reden fiel ihm immer schwerer. Aber Ran war da. Ran war bei ihm. Es war alles gut. „Als die Glühbirne zerbrochen ist, hat sie so glücklich dabei ausgesehen.“ Die Erinnerung tat immer noch so weh. „Und dann hat sie mir eingeredet, dass es meine Schuld war, dass sie nur zerbrochen ist, weil ich zu unruhig war … weil ich ihr nicht genug vertraut habe…“ Warum war er so dumm gewesen? „Dash…“ Ran versuchte offensichtlich, ihn zu beruhigen, aber fand keine Worte. Er konnte seine Finger in seinen Haaren spüren. Das fühlte sich schön an. Dann rückte Ran ein bisschen von ihm weg, um ihm ins Gesicht zu schauen.   „Dash, kannst du mir was versprechen?“ Er erwiderte erwartungsvoll Rans Blick. „Wenn ich … wenn ich in Hawaii bin und wir uns nicht mehr wiedersehen sollten…“  Warum sagte Ran sowas? Ihm kam ein neuer Schwall Tränen. „Wir sehen uns wieder!“, entgegnete Dash, etwas zu laut. Ran erschrak ein bisschen. „Ich meine falls … Nur für den Fall … Falls wir uns nicht mehr wiedersehen … dann versprich mir, dass du dich nie mehr mit solchen Psychos einlässt, okay?“ Ran schaute ihn an, als wäre er sich nicht sicher, ob Dash überhaupt versteht, was er da sagte. „Wenn du merkst, dass jemand dir wehtun will … oder sich nicht unter Kontrolle hat … oder dich traurig macht, dann … dann halt dich fern von demjenigen, okay?“ Rans Blick war gleichsam streng und betrübt. „Versprichst du mir das?“ Dash wusste nicht, was ihm mehr zu schaffen machte – die Traurigkeit darüber, dass Ran davon ausging, dass sie sich nicht mehr wiedersehen und er jemand anderes finden würde, oder die Rührung darüber, dass er sich trotzdem so sehr um ihn sorgte. „Ich geb mich mit niemand geringerem mehr zufrieden als mit dir“, schaffte Dash schließlich mit einem verheulten Lächeln zu sagen. „Dash, ich meine das ernst“, erwiderte Ran ernüchtert, „Wenn ich in Hawaii bin, kann ich nicht mehr auf dich auf–“ „Ich meine das auch ernst“, fiel Dash ihm ins Wort. Ran seufzte mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht. Im selben Moment klingelte sein Nokia3310. Wow, so einen Klingelton hatte Dash lange nicht mehr gehört… Es schien die Polizei dran zu sein.   „Hi … Oh, oh das ist … verdammt … Dann können Sie gar nicht …“ Ran hörte aufmerksam zu, was die Person am Hörer zu sagen hatte. „Ja, ich weiß, das machen wir so schnell wie möglich. Ist die Balkontür–? … Naja, immerhin. Okay, Dankeschön. … Danke, Wiederhören.“ Das hatte nicht geklungen, als wäre die Polizei besonders erfolgreich gewesen. „Lunis war schon wieder weg, als die angekommen sind“, wandte sich Ran enttäuscht an ihn. „Wie macht die das immer? Fuck…“ Ziemlich enttäuscht. „Die haben gemeckert, dass wir das Schloss noch nicht ausgetauscht haben. … Und die Balkontür kommt jetzt auch noch auf die Rechnung. Es ist nur ein Riss im Glas, die Scheibe ist nicht ganz durchgebrochen, immerhin. Aber ausgetauscht werden muss das trotzdem.“ Das hatte Ran vorhin mit Glas gemeint. „Danke“, sagte Dash schwach. Ran schnaubte. „Dafür, dass dank meinem genialen Plan jetzt noch mehr kaputt ist?“   „Dafür, dass ich hier bei dir bin und nicht mit Lunis in der Wohnung“, antwortete er ehrlich. Auch wenn er sich immer noch ganz weit weg von Lunis wünschte, solange Ran bei ihm war, fühlte er sich in Sicherheit. Das alles hatte ihn unheimlich ausgelaugt. „Wir müssen das mit den Türen nicht mehr heute Abend machen, oder?“, fragte er müde. „Ich glaub kaum, dass wir so spät noch jemanden finden, der das repariert“, antwortete Ran trocken. „Kann ich … können wir … schlafen gehen?“, fragte Dash schüchtern, „Ich bin super kaputt…“ Er war müde. Aber auch hoffte er ein bisschen, nochmal bei Ran schlafen zu dürfen.   „Okay“, lächelte Ran warm. „Willst du zur Sicherheit nochmal bei Twinkie McTwinkles schlafen?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)