Abgründig von michischreibt ================================================================================ Kapitel 9: ----------- David verglich die Adresse auf der Visitenkarte mit dem Klingelschild neben der Stahltür, vor der er stand. Er war tatsächlich hergekommen, das konnte er kaum glauben. Er befand sich in einer ruhigen Gegend, einem ehemaligen Industriegebiet, in dem viele Fabrikgebäude zu Wohnhäusern umgebaut worden waren. Der Wind blies nur kaum merklich durch die Straßen und trug trockenen Staub mit sich, als David nochmals den Namen auf der kleinen Karte las: Gabriel Felbinger. Er war hergekommen, was vollkommen umsonst gewesen wäre, wenn er jetzt einfach wieder ging. Mit einem leisen Seufzen drückte er auf den Knopf. Es war diese dunkle Ahnung, die über dem Maler schwebte. Sie hatte David dazu gebracht, dass er heute, an einem Sonntag, den Weg hierher gegangen war. Dabei wusste er nicht einmal, ob jemand zu Hause war. Anzurufen war für ihn nicht infrage gekommen, da er den Maler nicht vorab schon in seinem Drängen bestätigt haben wollte. Es war noch relativ früh, gegen neun Uhr. Der schrille Klingelton klang gedämpft bis auf die Straße. David versenkte seine Hände tief in den Jackentaschen und wartete. Irgendwo in der Ferne brauste ein Auto in hohem Tempo durch die Stadt. Er hörte keine Schritte, doch mit einem Mal klackte das Türschloss und der Maler stand mit einem wissenden Gesichtsausdruck vor David. „Ein Frühaufsteher, hätte ich mir denken können.“ „Ihnen auch einen schönen Sonntag.“ David schüttelte innerlich den Kopf. Das fing ja schon gut an. „Verzeihen Sie, ich war nur so … überrascht über Ihr Auftauchen.“ Der Maler grinste, beugte sich dann leicht nach vorn und wies mit einem Arm ins Gebäude. „Bitte, treten Sie ein.“ David kam sich erneut auf den Arm genommen vor. Doch nun, wo er schon einmal hier war, wollte er sich davon nicht beirren lassen. Egal was er tat, dieser Maler würde bestimmt immer eine Möglichkeit finden, sich auf seine Kosten zu amüsieren. Also trat er an dem Künstler vorbei ins Innere des Gebäudes, das offenbar nicht nur das Atelier, sondern auch dessen Wohnung sein musste. David durchquerte einen kurzen, engen Korridor und stand dann in einem weitläufigen Loft. Während der wenigen Schritte durch den Flur und auch in der kurzen Zeit, als er seinen Blick durch den unbekannten Raum schweifen ließ, konnte er die Anwesenheit des Malers in seinem Rücken deutlich spüren. Auf der rechten Seite wies das Loft einige großformatige Fenster auf, die, wenn die Sonne günstig stand, viel Licht hinein ließen. Durch die Fenster konnte David auf einen kleinen Hof schauen, dessen umgebende Mauern mit Efeu und Weinranken bewuchert waren. In der Mitte des Raumes stand eine Sitzgruppe mit Couch, Sessel und einem niedrigen Tisch. Im linken Teil war eine Trennwand eingebaut, hinter der David eine Küchenzeile entdecken konnte. Außerdem ging von dort auch eine Treppe nach oben zu einer Art Balkon. Was sich auf dieser eingezogenen Decke, die vielleicht ein Viertel der Grundfläche ausmachte, befand, konnte David von seiner Position aus nicht erkennen. Geradeaus am anderen Ende des Raumes befand sich das eigentliche Atelier. Eine Leinwand stand dort, Farbtöpfe, Pinsel, eben alles, was ein Maler, zumindest in Davids Vorstellung, so brauchte. Unschlüssig inspizierte David weiter den Raum und wartete ab. „Sie können mir Ihre Jacke geben“, bot der Maler an, indem er an ihm vorbei trat. „Die Schuhe können Sie anlassen. Ach ja, ich bin übrigens Gabriel, aber das wissen Sie ja schon, Gabriel Felbinger.“ Der Maler, Gabriel, streckte David seine Hand entgegen. David zögerte, bevor er sie schüttelte. Er wollte sich auf keinen Fall auf eine freundschaftliche Art mit diesem Kerl einlassen. „Keller. Freut mich.“ So richtig konnte David seinen letzten Ausspruch selbst nicht glauben, aber er war aus freien Stücken hier, also musste es ja irgendetwas geben, was er sich von seinem Besuch erhoffte. Er überreichte Gabriel seine Jacke und zog dann trotzdem die Schuhe aus. Seine Mutter hatte immer darauf bestanden, dass im Haus die Schuhe ausgezogen wurden. „Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Keller.“ Gabriel wies auf die Sitzgruppe in der Zimmermitte. Bildete David es sich nur ein, oder hatte der Künstler seinen Nachnamen etwas zu sehr betont? „Möchten Sie etwas trinken? Kaffee vielleicht?“ „Nicht nötig.“ „Ach.“ Gabriels Augen blitzten auf. „Sie möchten wohl gleich einen Blick auf die Skizze werfen?“ Er verschwand kurz hinter der eingezogenen Wand in der Küche und kam dann erst einmal mit zwei Gläsern Wasser zurück. „Normalerweise lasse ich meine Kunden die Skizzen nicht sehen. Aber Sie sind ja kein Kunde, nicht wahr?“ Ein schnippisches Lächeln lag auf seinen Lippen. David nahm das angebotene Wasserglas mit einem knappen „Danke“ entgegen. Er machte ein paar Schritte auf seinen Socken in den Raum hinein. Irgendwie war diese weitläufige Unterkunft so ganz anders als seine enge Wohnung. Er fand es interessant, es war etwas Neues, aber wenn er sich vorstellte, hier zu wohnen, beschlich ihn sofort das unangenehme Gefühl, wie auf dem Präsentierteller zu liegen. Von neben dem bequem aussehenden Sofa aus konnte er noch immer nicht erkennen, was sich hinter der Brüstung im ersten Stock befand – es könnte sich um das Bett handeln –, aber er nahm zwei zusätzliche Türen wahr, die von dem geräumigen Loft im Erdgeschoss abzweigten. Das Bad, vermutete er, und ein Abstellraum oder etwas in der Art. Wer war er schon, dass ihn das etwas anging? „Und nun?“ Unschlüssig wandte sich David an Gabriel, der im hinteren Teil des Lofts ein paar seiner Zeichenutensilien zusammensuchte. Bei der Frage wandte Gabriel sich um und blickte über die Schulter zu David zurück. In dieser Position, auf dem Boden kniend, die offenen Haare das Gesicht zur Hälfte verdeckend, kam er David wie eine lauernde Krähe vor. „Na ja, die Kunden, die wegen eines Porträts zu mir kommen, setzen sich still aufs Sofa und warten, bis ich fertig bin.“ „Machen Sie auch andere Sachen außer Porträts?“ David inspizierte die Buchrücken in einem Regal, das an der Wand stand, auf deren anderer Seite die Küche lag. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie der Maler sich in den Sessel in der Raummitte setzte, der dem breiteren Sofa gegenüber stand, doch er vermied es weiterhin, selbst Platz zu nehmen. „Wenn man jünger ist, versucht man sich natürlich an so einigem …“, erwiderte Gabriel vage und schon war das sanfte Scharren eines Stiftes auf Papier zu hören. David konnte den stechenden Blick in seinem Rücken spüren. Er starrte weiterhin die Buchrücken an. Dann vernahm er ein leises Kichern und drehte sich doch um. „So schlecht war meine Skizze gar nicht“, begründete Gabriel leichthin mit einem Lächeln auf den Lippen seine Reaktion. „Eigentlich ist sie sogar ziemlich gut. Sind Sie sicher, dass Sie sie nicht sehen möchten?“ „Wie?“ David trat irritiert einen Schritt näher heran. „Sie haben doch gemeint, dass Sie Ihre Skizzen nicht herzeigen.“ „Den Kunden. Aber Sie, Herr Keller, haben ja nur mit Mühe und Not den Weg hierher gefunden. Dass Sie nun tatsächlich hier sind, freut mich wirklich.“ „Warum?“ David hatte nicht vor, diesem Kerl irgendetwas abzukaufen. Für einen freiberuflichen Künstler war das doch verlorene Zeit und somit auch verlorenes Geld. Oder war da doch noch irgendetwas, das David übersehen hatte? Einen Haken, den er nicht bedacht hatte? Das Kleingedruckte? Gabriel seufzte und schüttelte den Kopf. Er machte noch ein paar Striche mit dem Bleistift. „Das habe ich doch schon gesagt, oder nicht?“ Dann schien er fertig zu sein. Er legte den Stift auf den Tisch und betrachtete seine Zeichnung, studierte sie genau, hob den Blick und schaute zu David, anschließend wieder zurück aufs Papier. In diesen Sekunden war aller Zynismus und Spott aus dem Gebaren des Künstlers wie weggefegt, fiel David auf, wie in dem kurzen Moment im Café vor ein paar Tagen, als er ehrlich besorgt auf Davids Panikanflug reagiert hatte. Der Maler drehte den Block mit der Zeichnung zu David und David blickte in sein Spiegelbild. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)