Abgründig von michischreibt ================================================================================ Kapitel 24: ------------ „David, ich …“ Gabriel ließ seine Stirn gegen Davids Brust fallen, krallte seine Hand dabei in Davids Oberarm und verhinderte nur dadurch, dass David nicht nach hinten umfiel. David war auf diese Reaktion nicht gefasst gewesen. Es war Samstag, einen Tag nach Davids erneutem Ausstellungsbesuch. David hatte sich am helllichten Tag, noch vor dem Mittagessen, auf den Weg gemacht. Er hatte keinen Plan, war sich nur in zwei Punkten sicher: Zum einen musste er das Mädchen finden, auf eigene Faust, denn, das war sein zweiter Gedanke, Gabriel sollte nichts geschehen. Also würde er auf keinen Fall irgendjemandem davon erzählen. Er hatte jedoch keine Ahnung, wie der Maler reagieren würde, sollte dieser von Davids Vorhaben erfahren. Entsprechend war David einigermaßen mulmig zumute gewesen, als er sich auf den Weg gemacht hatte. Nun jedoch waren diese Gedanken erst einmal vergessen. Ihm war schon beim Eintreten aufgefallen, dass Gabriel ungewohnt blass aussah, mit leichten Ringen unter den Augen. Nach kurzem, belanglosem Geplänkel hatte sich Gabriel dann ohne Vorwarnung an ihn gelehnt. David spürte jetzt die warme Stirn des Malers an seinem Oberkörper und den festen Griff an seinem Arm. Was war auf einmal los? Hatte er etwas verpasst? „Ich kann nicht mehr.“ David schnappte leise nach Luft. Er wurde unruhig, nervös, sein Herzschlag beschleunigte sich. Nicht weil er sich bedroht fühlte, das war nicht das Problem. Es war die Situation an sich, denn etwas hatte sich verändert. Ihre Rollen hatten sich mit einem Mal vertauscht. Das war zu viel für ihn, er fühlte sich überfordert. Was tat man in solch einem Moment? Was sollte er jetzt tun? Ob er wollte oder nicht, kam ihm in dieser Situation, so nah bei Gabriel, dessen mehr oder weniger eindeutiger Ausspruch von ihrem letzten Treffen in den Sinn. „Was …?“ Seine Stimme bebte und er räusperte sich kurz. „Was hast du?“ Er musste sich zusammenreißen. Das war doch normal, oder? Eine normale Situation zwischen zwei … Bekannten? Freunden? Was auch immer sie waren. Gabriel schien es nicht gut zu gehen, war es einfach nur das? Zögerlich hob David seinen freien Arm, wollte Gabriel berühren, seinen Rücken streicheln, doch etwas hemmte ihn. Er traute sich nicht, sah seinen Arm stattdessen auf halbem Weg in der Bewegung innehalten. Dabei konnte ihm doch nichts passieren, wenn er Gabriel anfasste. Der Maler hatte ja offenbar auch keine Probleme mit körperlicher Nähe. Doch was, wenn er es als Einladung verstand? Er hatte zwar gesagt, er würde nichts tun, aber das würde vielleicht nur so lange gelten, wie David etwas dagegen hatte, oder? Es war ein unwirklicher Moment für David. Seine Hand schwebte noch einige Zentimeter über Gabriels Rücken, als plötzlich wieder Leben in den Maler einkehrte und David damit aus seiner eigenen Erstarrung erlöste. Ihm kam es wie eine Befreiung vor. Die vielen Fragen, die sich in ihm aufgestaut hatten, erübrigten sich damit. Ein leises Lachen war zu hören, was Gabriels Schultern zum Beben brachte. „Entschuldige, David.“ Der Maler richtete sich langsam wieder auf, ein Grinsen im Gesicht, als wäre nichts gewesen. David war irritiert und irgendwie auch erleichtert. Das Pochen in seiner Brust beruhigte sich nur allmählich. Er spürte, wie Gabriel nochmal kurz seinen Arm drückte, dann ließ der Maler auch diesen los. David entspannte sich. Der Maler lief ein paar Schritte durch den Raum, blieb stehen und drehte sich wieder zu David um. „Aber weißt du was? Du solltest wirklich in der Lage sein, dich zu wehren. Nicht, dass noch jemand auf blöde Gedanken kommt.“ „Das …“ Davids Körper versteifte sich bei dieser flapsigen Bemerkung und ehe er sich wirklich dessen bewusst war, zischte er zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor, „… ist wirklich alles andere als witzig.“ Jetzt war es Gabriel, der in seiner Bewegung innehielt. Mit dieser Reaktion schien er nicht gerechnet zu haben. Seine Augenbrauen hoben sich und der Anflug eines Grinsens spielte um seine Mundwinkel. „Genau so …“ Immer noch lächelnd drehte er sich wieder um, stakste zum Schrank mit den Alkoholvorräten und holte die Flasche Whisky, von der er neulich schon getrunken hatte, hervor. Außerdem stellte er auch zwei Gläser auf dem Couchtisch ab. „Setz dich.“ Gabriel wies auf das Sofa. Er wirkte wie immer. Nicht bedrohlich oder misstrauisch, sondern einfach normal – zumindest so normal, wie David den Maler kennen gelernt hatte. „Du trinkst vor dem Mittagessen schon Schnaps?“ „Das ist nicht irgendein Schnaps.“ Mit einer tadelnden Geste trat Gabriel wieder vor David. „Der Whisky wurde in einem alten Sherryfass gelagert, fünfzehn Jahre lang. Wenn du einfach nur Schnaps dazu sagst, muss ich mir wirklich nochmal überlegen, ob ich dir wirklich einen Schluck anbieten soll.“ „Dann ist es ja gut, dass ich sowieso nicht trinke.“ „Nicht mal ein bisschen?“ „Nicht mal ein bisschen.“ David zögerte. Sein Blick fiel auf die Whiskyflasche, deren goldbrauner Inhalt im einfallenden Licht orangefarbene Reflexe auf die Tischplatte warf. „Zumindest bis jetzt.“ „Oho“, raunte Gabriel und zwinkerte ihm zu. „Alkohol oder Koffein, wie groß ist da schon der Unterschied?“ Der Maler zog den Stöpsel aus der Flasche und schenkte in beide Gläser je zwei Fingerbreit des Getränks ein. Dann hielt er David eines der Gläser hin. Als David danach griff, berührten sich ihre Finger. Unwillkürlich hielt er für einen Augenblick die Luft an. Gabriels Hand war beinahe so kalt wie der Alkohol. Dann war der Moment vorüber. „Auf was sollen wir anstoßen?“ Gabriel blickte ihn fragend an. Auch wenn er sich so gab, als wäre alles in Ordnung, stimmte das nicht. David konnte die Schatten unter den Augen nicht übersehen. „Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Schultern. „Brauchst du einen Grund, um früh um zehn Whisky zu trinken?“ David versuchte sich in einem Lächeln. Er wusste zwar, dass ihm das nie so richtig gelang, doch jetzt schien ein guter Anlass dafür zu sein, es zu versuchen. Der einzige Grund dafür, dass er sich Gabriel gegenüber gerade einigermaßen ebenbürtig fühlte, war der, dass Gabriel nicht ganz bei sich zu sein schien. David hoffte nur, dass das auch wirklich ein Vorteil war und am Ende nicht zu etwas vollkommen Unberechenbarem führte. Denn er war sich sicher, dass ihn das kleinste Anzeichen einer Unregelmäßigkeit sofort wieder in Verteidigungshaltung bringen würde. Er drängte diesen Gedanken ganz weit zurück und hielt sich stattdessen das Glas unter die Nase und schnupperte. Ob der Schnaps nun in einem Sherryfass oder sonst wo gelegen hatte, er roch hauptsächlich scharf. David musste seine gesamte Selbstbeherrschung aufwenden, um nicht das Gesicht zu verziehen. Er prostete Gabriel schweigend zu und setzte das Glas dann an die Lippen. Gabriel tat es ihm gleich. Der Maler leerte seines in einem Zug bis zur Hälfte. David kippte sein Glas ein Stück weit, aber nicht weit genug. Kein einziger Tropfen Whisky berührte seine Lippen. David schlenderte durch den Raum, in Richtung von Gabriels Arbeitsbereich. Nach wenigen Schritten blieb er stehen, atmete einmal tief durch und wandte sich dann Gabriel zu. „Kann ich das Bild noch einmal sehen?“ Gabriel, der noch neben dem Sofa stand, runzelte die Stirn. „Welches Bild?“ „Das von dem Mädchen, das neulich dort hinten gestanden hat.“ David beobachtete den Maler ganz genau. Gabriel stieß einen leisen Seufzer aus, schloss für einen kurzen Moment die Augen und ließ seinen Blick dann wieder auf David ruhen. Sie starrten sich gegenseitig an. David war angespannt, doch Gabriel schien die Ruhe selbst zu sein. „Es ist weg.“ Gabriel machte eine Pause, doch David hatte das Gefühl, dass da noch etwas kam, und wartete deshalb. „Ich konnte es nicht weitermalen, also hab ich es fortgeschafft.“ Fortgeschafft? Was hatte das zu bedeuten? Offenbar hatte David seine Gesichtszüge diesmal nicht unter Kontrolle gehabt, denn Gabriel fügte mit einem schwachen Lächeln hinzu: „Inspiration lässt sich nicht erzwingen. Ich habe ein besseres Motiv gefunden. So ist das eben.“ In David arbeitete es. Er beobachtete, wie Gabriel zu seinem Sessel ging. Für den Maler war die Sache damit wohl beendet. Für ihn noch lange nicht, aber Gabriel würde wohl nicht mehr dazu sagen. „Was ist? Bist du nur deswegen gekommen?“ David schüttelte den Kopf. „Nein …“ Er kehrte ebenfalls zur Sitzgruppe zurück und nahm auf dem Sofa Platz. Ihm fiel auf, dass Gabriel sein Glas bereits geleert hatte. Er hatte keinen Plan, hatte stattdessen das Gefühl, auf einem zugefrorenen See zu stehen, wobei er langsam aber sicher auf die Stelle zu schlitterte, an der ein Bach plätschernd in das stehende Gewässer mündete. „Weißt du was?“ Der Maler stieß sich vom Rückenteil des Sessels ab, an dem er gelehnt hatte. „Eigentlich ist es mir egal, warum du da bist.“ Er griff nach der Flasche und schenkte sich nach. „Hauptsache, du bist da.“ Er umrundete das Sofa und ließ sich neben David darauf nieder. David erstarrte. „Bleib einfach so sitzen.“ Gabriel nahm einen weiteren Schluck, stellte sein Glas auf dem Tisch ab und ließ sich dann langsam zur Seite fallen, bis sein Kopf auf Davids Schulter lag. Er seufzte leise, machte ein paar ruhige Atemzüge und rutschte dann weiter nach unten. David rührte sich nicht. Er merkte seine Verunsicherung, aber sie war nicht so stark, wie er sie noch vor wenigen Tagen in solch einer Situation erwartet hätte. Gabriel lag schließlich auf dem Sofa, mit dem Kopf auf Davids Oberschenkel und schielte nach oben. „Nur für einen kurzen Moment, ja?“, flüsterte der Maler und warf David ein flüchtiges Lächeln zu. Dann schloss er die Augen. David zögerte auch diesmal, doch dann rang er sich durch und drückte sanft Gabriels Schulter. Würde er sich wohl bald entscheiden müssen? Er hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)