Abgründig von michischreibt ================================================================================ Kapitel 27: ------------ Es war eine komplett unwirkliche Situation. Aufregung und Ohnmacht kämpften in seinem Inneren um die Vorherrschaft, ohne dass sich ein Sieger hervorgetan hätte. Wie ging es nun weiter? „Raus, ich muss sie rausbringen.“ Über das Dröhnen in seinem Kopf formte sich doch irgendwann dieser Gedanke. David blickte zu der jungen Frau auf dem Bett. Sie hatte ihre Beine frei bekommen und versuchte nun aufzustehen. Es klappte nicht, sie war zu schwach dafür. Natürlich. Wie lange gedachte er denn noch, tatenlos herumzustehen? Er musste hin und ihr helfen. Behutsam näherte er sich ihr, zumindest so behutsam, wie es ihm unter den momentanen Umständen möglich war. Er durfte sie nicht verschrecken. Was sollte er nur tun, wenn Gabriel jetzt aufwachte? Wie in Zeitlupe streckte er eine schweißnasse Hand nach ihr aus. Wenn er ihren Arm um seine Schulter legte, konnten sie vielleicht nach draußen gelangen, vorausgesetzt, sie ließ es zu. Seine Bedenken waren unnötig. Als er sich zu ihr hinabbeugte, reckte sie sich ihm mit einem mehr als dankbaren Ausdruck entgegen und im Nu stand sie auf ihren nackten Beinen an David gelehnt da. Sie war schwer, vermutlich nicht wirklich schwer, aber er war eben kein Kraftpaket und so etwas nicht gewohnt. David machte einen kleinen Schritt und sie tat es ihm gleich, aber die Balance zu halten war kaum möglich, so, wie sie an seiner Schulter zerrte. Es wäre alles einfacher, wenn er auch seinen Arm um sie legte, aber … Er schloss kurz die Augen. Dass er einmal auf solch einen Gedanken kam! Ihm fiel ein, wie er erst vor Kurzem Gabriel an der Schulter berührt hatte. Er konnte diese Schranke also durchbrechen. Überhaupt fühlte er sowieso schon ihren schlanken Körper auf der gesamten Länge seiner Seite. So nah … Er merkte, wie sich sein Brustkorb verengte. Nicht nachdenken, schalt er sich selbst zur Ordnung. Nicht nachdenken und weiteratmen. Halt sie fest und dann so schnell wie möglich raus. Kurzerhand stützte er sie mit seinem freien Arm von hinten und gemeinsam schwankten sie aus dem kleinen Raum. Als sie die Schwelle in das großzügige Loft hinaus überschritten, wanderte Davids erster Blick hinüber zum Sofa. Gabriel hatte sich so hingedreht, dass sein Gesicht in Richtung Lehne zeigte. David konnte lediglich den schwarzen Haarschopf sehen. An seiner Seite fuhr das Mädchen deutlich zusammen und stieß ein tonloses Keuchen aus. Auch sie starrte zu dem Schlafenden hinüber, der Blick war angsterfüllt. Ihr Zittern nahm zu und David befürchtete schon, sie würde jeden Moment zu Boden rutschen. Er krallte seine Finger fester in ihre Seite, unterhalb ihrer Achselhöhle, und zerrte sie sanft weiter. Sie mussten nach links, in den Flur, der sie zur Haustür führen würde. Er wünschte, sie würde einfach die Augen zumachen, dann bräuchte sie Gabriel nicht anzusehen. Noch während er dies dachte, wandte sie sich mit einem Ruck von dem lichtdurchfluteten Raum ab und folgte David in den engen Gang. Sie konnten hier nicht vernünftig nebeneinander gehen, und so schoben sie sich seitlich die wenigen Meter voran. David war selbst erstaunt, wie ruhig alles ablief. Zwar hämmerte sein Herz wie ein Presslufthammer, aber das konnte nur er selbst hören. Das Mädchen konnte es allenfalls spüren. Um die Haustür zu öffnen, musste er ihren Arm, der um seinen Nacken lag, kurz loslassen. Er fasste nach der Klinke, fühlte sie unter seinen kalten, tauben Fingern kaum und drückte sie nach unten. Widerstandslos schwang die Eisentür nach innen auf und gab den Blick frei auf einen spätvormittäglichen, sonnigen Straßenzug, der, trotzdem dass Samstag war, relativ verlassen dalag. David wollte wieder das Handgelenk der jungen Frau packen, doch sie löste sich etwas von ihm und machte selbst einen Schritt an ihm vorbei ins Freie. Sie blinzelte heftig und schirmte ihre Augen mit dem Unterarm ab. Ihr Gesichtsausdruck war dabei nicht zu deuten. David warf noch einmal einen Blick zurück ins Loft. Von hier aus konnte er nicht viel erkennen, sah lediglich das Bücherregal von der Seite und ein Eck des Sofas. In diesem Moment war er sich nicht im Klaren darüber, was er lieber tun wollte – mit dem Mädchen mitgehen oder doch wieder zurück zu Gabriel. Er konnte es wirklich nicht sagen. Die Entscheidung wurde ihm vorerst abgenommen, als die junge Frau an seiner Seite gegen ihn sank. Er fing sie auf. Sie war bei Bewusstsein, konnte sich aber nicht mehr auf den Beinen halten. Und sie konnte definitiv nicht hier bleiben. Er verlor keinen Gedanken daran, wie sie aussehen mussten oder wer sie bei ihrer merkwürdigen Flucht sah. Ob sie überhaupt jemand sah. Sie humpelten ein Stück weit die Straße in Richtung Innenstadt entlang, vielleicht zwei, drei Blocks, ehe David in einer schmalen Seitengasse Halt machte. Er konnte einfach nicht mehr. Mit letzter Kraft setzte er das Mädchen vorsichtig an eine Hausmauer gelehnt ab und ging dann selbst in die Knie. Für eine kurze Zeit behielt er die von der Sonne beschienene Straße noch im Auge, dann ließ er sich nach hinten fallen, bis er mit dem Rücken gegen einen großen Müllcontainer stieß, und versuchte erst einmal, an überhaupt nichts zu denken. Das war natürlich komplett unmöglich. Er konnte das Durcheinander in seinem Kopf nicht durchdringen. Trotzdem spürte er immerhin, wie sich seine Nervosität etwas legte. Mit dem kalten Metall im Rücken ließ er seinen Blick kurz durch die schattige Gasse wandern und betrachtete schließlich mit Verwunderung seine Füße. Er hatte keine Schuhe an. Die standen noch bei Gabriel. Unwillkürlich musste er lachen und wackelte dabei mit den Zehen. Die junge Frau hob, von diesem Geräusch überrascht, den Kopf. Sie trug lediglich ein cremefarbenes Hemdchen, im Gegensatz zu ihm noch nicht einmal Socken und schon gar keine Schuhe. Ihr musste kalt sein, trotz der warmen Frühlingssonne. Überhaupt brauchte sie einen Arzt. Und dann? Irgendjemand würde natürlich auch die Polizei informieren. Gabriel würde verhaftet werden. Bestimmt. Und er? Er hatte doch nichts Verbotenes getan, oder? Auf jeden Fall aber hatte er Gabriel ausgeliefert. Diese Gewissheit verursachte einen schmerzhaften Stich in seiner Brust. Er hatte den Menschen verraten, der ihm damals die Flucht ermöglicht hatte. Hätte es nicht einen anderen Weg geben müssen? Nur welchen? David war nicht zur Polizei gegangen, doch das würde die junge Frau für ihn erledigen, zu Recht. Etwas anderes war niemals zu erwarten gewesen. David schaute zu ihr hinüber und stellte dabei überrascht fest, dass sein Blick getrübt war. Eine Träne rann seine Wange hinab. Schnell wischte er sie mit dem Handrücken beiseite und mühte sich dann zurück auf die Beine. „Ich habe kein Telefon dabei. Soll ich ein Auto anhalten oder schaffst du es zu Fuß bis zum nächsten Krankenhaus?“ Er wollte ihr die Wahl lassen. Die Frau schluckte einmal, bevor sie zu sprechen ansetzte. Es waren die ersten Worte, die sie zu David sagte. „Ich schaffe es so.“ David nickte und hielt ihr seine Hand hin. „Dein Name ist Theresa, nicht wahr?“ Er hatte sich an das erinnert, was in dem Zeitungsartikel gestanden hatte. „Komm, Theresa, gehen wir.“ Niemand sprach sie auf dem Weg zum Krankenhaus an und Davids kreisende Gedanken kehrten zu Gabriel zurück. Er erinnerte sich an die seltsame Stimmung, in der Gabriel ihn empfangen hatte, und an die nicht gerade geringe Menge Alkohol, die der Maler in sehr kurzer Zeit zu sich genommen hatte. Nur um dann in Davids Anwesenheit einzuschlafen. Jetzt, wo David so darüber nachdachte, kam es ihm beinahe so vor, als hätte Gabriel gewollt, dass er das Mädchen fand. – Ende – Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)