Abgründig von michischreibt ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Kräftig rotes Sonnenlicht fiel durch das kleine, vergitterte Fenster und malte ein verzerrtes Rechteck auf die fleckige, weiße Tapete gegenüber. Es war ein Licht, das den Abend ankündigte, flach einfallend, mit tanzenden Staubkörnern in seinem Schein. Zwei Jungen hielten sich in dem winzigen Zimmer auf, in dem das Fenster knapp unterhalb der Decke in die Wand eingelassen war. Einer der beiden saß auf einer heruntergekommenen, vergilbten Matratze, die ohne Rost auf dem kalten Betonboden lag, der andere lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand unterhalb des Fensters. Alles war still. Neben dem leuchtenden Fleck des einfallenden Abendlichts war eine Stahltür, kühl und massiv, die den einzigen Ausgang aus dem engen Raum verschloss. Das Fenster befand sich gänzlich außer Reichweite und erlaubte lediglich einen Blick nach oben in den bunt gefärbten, noch viel weiter entfernten Himmel. Der Junge auf der Matratze starrte mit aufgerissenen Augen vor sich hin, gedankenverloren wippte er leicht mit dem Oberkörper vor und zurück und schreckte mit klopfendem Herzen auf, als ein scharrendes Geräusch in der Totenstille des Zimmers ertönte. Der Junge unter dem Fenster hatte sich an der Wand entlang zu Boden sinken lassen und damit den unerwarteten Laut verursacht. Jetzt öffnete er die Augen und blickte zu dem Jungen auf dem provisorischen Bett hinüber, kalt und leer war der Ausdruck darin. Der Junge auf der Matratze schluckte. Er konnte diesen Blick nicht ertragen. „Wann kommt er zurück?“ Die Stimme des Jungen auf der Matratze war kratzig. Seit er kaum noch etwas sprach, hatte er Mühe, überhaupt ein verständliches Wort hervorzubringen. „Keine Ahnung.“ Der andere Junge zuckte mit den Schultern. Seine Augen hatte er wieder geschlossen und fuhr stattdessen mit den Fingerspitzen über den rauen Boden, fühlte die körnigen Unebenheiten und den Staub und Dreck, der sich auf der Oberfläche festgetreten hatte. „Ich habe Angst.“ Der Junge auf dem Bett schlang die Arme um seinen Oberkörper und begann erneut vor und zurück zu schaukeln. „Tss“, war die einzige Antwort, die der andere Junge auf dieses Geständnis hin von sich gab. Das mochte herablassend klingen, doch diese Überheblichkeit war einzig und allein dazu da, die eigene Furcht zu überdecken. Sie bot eine Möglichkeit, die nagende Ungewissheit darüber, wann wieder etwas geschehen würde, und die daraus resultierende Unsicherheit zu überspielen und für einen Moment aus dem direkten Bewusstsein zu drängen. Natürlich hielt das nie lange an. Im Zimmer war es dunkel, eng und schmutzig, nichts als abgestandene Luft zum Atmen und keiner von beiden wusste, wann es das nächste Mal etwas zu trinken und zu essen geben würde. Den Hunger konnten sie mittlerweile beide ignorieren, doch ihre Kehlen brannten mit jeder Minute mehr, und einerseits hofften sie darauf, dass sich die Tür bald öffnete, andererseits gab es nichts, das sie mehr fürchteten. Das wenige Licht, das gerade noch ein helles, verschwommenes Rechteck durch das Fenster an die Decke zu werfen vermochte, schwand zusehends und bald war die Nacht gänzlich angebrochen. Kapitel 2: ----------- Es war ein warmer Frühlingstag, der Himmel fast wolkenlos mit einer lauen Brise in der Luft, die daran erinnerte, dass der Sommer erst noch bevor stand. Je näher der Feierabend rückte, desto mehr Menschen tummelten sich gut gelaunt und ausgelassen auf den Straßen der Innenstadt. Tauben tappten gurrend auf dem Kopfsteinpflaster zwischen den Füßen der Leute, flatterten von Zeit zu Zeit empört auf, wenn ihnen jemand zu nahe kam, während Spatzen wagemutig unter den Tischen und Stühlen der Cafés auf der Suche nach fallen gelassenen Essensresten umher hüpften. „Was darf ich Ihnen bringen?” Unaufdringlich trat der Kellner an das Tischchen im Freien und wartete routiniert auf die Bestellung. Noch war in dem kleinen Café nicht allzu viel los. „Einen Espresso, bitte.” „Sehr gerne.” Irgendwo spielte ein Akkordeon, dessen Töne von den umliegenden Schaufensterscheiben zurück geworfen wurden und so einen kompletten Straßenzug unterhielt. In spätestens einer halben Stunde würde der Spieler seinen Standort wechseln müssen. Neben dem Brunnen auf dem kleinen Platz, an dessen Rand auch das Café lag, hatte ein Maler seine Staffelei aufgebaut und porträtierte offenbar Passanten, die ihm ihr Bild, wenn es ihnen gefiel, abkaufen konnten. Ein schwarzer Hund sprang aufgeregt bellend über das Pflaster und machte sich einen Spaß daraus, die Vögel aufzuscheuchen. Es klapperte leise, als der Kellner ein kleines Tablett mit einer dampfenden Tasse Kaffee, einem Keks, einem Päckchen Zucker und einem Glas Wasser auf dem Tisch abstellte. „Bitteschön.” „Danke.” David lächelte dem Angestellten höflich zu, strich sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und wandte sich wieder zu dem Leben auf der Straße um. Es war jetzt kurz nach fünf, wie ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr zeigte. Vor halb sieben wollte er sich nicht in seine Wohnung aufmachen. Er griff nach der kleinen Tasse und nahm einen Schluck des heißen Getränks, das heute etwas dünner als sonst war. Nach und nach füllte sich das Café mit Gästen, doch obwohl er seine Aktentasche neben sich auf den Boden stellte, blieben die anderen Stühle um seinen Tisch stets frei. In dem Straßencafé gab es nur die eine Größe an runden Tischen, an denen vier Leute bequem Platz fanden. Eine Gruppe Schüler zog lachend vorüber. Hatten sie wirklich so lange Schule gehabt? David trank einen weiteren Schluck Espresso. Damit war die Tasse leer. Er schloss die Augen und schmeckte dem Bitteren des Kaffees nach. Wie gut es doch tat, dazu noch die frische Luft dieses lauen Abends einzuatmen, besonders, nachdem er den gesamten Tag in seinem engen Büro verbracht hatte, das selbst mit geöffnetem Fenster nicht gemütlicher wurde. David griff nach dem beigelegten Keks und wickelte ihn vorsichtig aus dem Plastik. Er mochte diese Karamellplätzchen, was mit ein Grund war, weshalb sein Weg ihn nach der Arbeit oft in dieses Café führte. Der Umweg, den er dafür in Kauf nehmen musste, war auch nicht besonders groß. Außerdem ließ man ihn hier bereitwillig sitzen, selbst wenn er nichts mehr nachbestellte. Nachdem er sich nun die restlichen Keksbrösel mit dem Glas Wasser von den Zähnen gespült hatte, kam der Kellner, räumte ab und erkundigte sich wie üblich nach weiteren Wünschen. Als David dankend ablehnte, huschte dem Angestellten des Cafés doch glatt ein Lächeln übers Gesicht. „Ich möchte bitte zahlen.” „Gerne.” „Ach, und könnte ich hier noch etwas sitzenbleiben?” „Selbstverständlich.” Der Kellner kassierte und ließ ihn dann für die restliche Zeit in Ruhe. Ungefähr eine Stunde später, zwischen halb sieben und sieben, als es noch hell genug war um nicht in totaler Finsternis zu Hause anzukommen, griff David nach seiner Aktentasche und machte sich auf den Weg. „Auf Wiedersehen.”, verabschiedete er sich von dem Kellner, der gerade am Nebentisch bediente, und wandte sich zum Gehen. „Einen schönen Abend”, kam es zurück und David drehte sich noch einmal um. Der Kellner nickte ihm freundliche zu, lächelte sogar kurz, was in David unwillkürlich ein Gefühl der Vertrautheit auslöste. Irritiert erwiderte er die kurze Geste, ehe er sich endgültig auf den Heimweg begab. Selten führte er solch ungezwungene Unterhaltungen oder gar ein persönliches Gespräch, meist war seine Kommunikation auf die Arbeit beschränkt. Davids Schuhe machten bei jedem Schritt auf dem Asphalt ein leises Geräusch, dem er, den Blick leicht nach unten gerichtet, gedankenversunken lauschte. Die Straßenlaternen waren inzwischen angegangen, auch wenn der Himmel noch einen leichten Orangeton aufwies, vor dem sich die Häuser der Siedlung, in der er wohnte, dunkel und scharfkantig abhoben. Die Ampel an der Straße, die er noch überqueren musste, zeigte rot. Es waren hier grundsätzlich zu jeder Tageszeit Autos unterwegs, weswegen er nicht der Einzige war, der sich an die Verkehrsregeln hielt und wartete, bis das grün leuchtende Männchen die Fußgänger zum Gehen aufforderte. Noch ein kurzer Fußmarsch durch das Labyrinth der Häuserschluchten, und er gelangte durch die alte Haustüre in das muffige Treppenhaus, dessen Geruch ihm stets Unbehagen bereitete. Zügig stieg er die Stufen zu seiner Wohnung empor, sperrte wie jeden Tag zweimal hinter sich ab und legte dann das Zuckertütchen, das er vor Verlassen des Cafés in eine Tasche seines braunen Anzugs gesteckt hatte, in die Garderobenschublade zu den anderen. Nach einer kurzen Dusche ging er, nunmehr nur mit Jogginghose bekleidet, ins Schlafzimmer, schloss auch dieses von innen hinter sich ab und setzte sich auf das Bett, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und den Armen um die Knie geschlungen. Da die Vorhänge zugezogen waren, war es annähernd stockdunkel im Raum. Und auch wenn der Abend relativ mild gewesen war, wurde es in den Frühlingsnächten noch immer empfindlich kalt, was ihm eine Gänsehaut über den nackten Oberkörper jagte. Kapitel 3: ----------- Am folgenden Tag regnete es. Nachdem es in der Nacht zuvor bereits deutlich abgekühlt hatte, war David nicht ohne seinen Regenschirm zur Arbeit gegangen. Nach Feierabend hastete er, die Aktentasche unter den einen Arm geklemmt und den Schirm in der anderen, am Brunnen vorbei über das rutschige Kopfsteinpflaster. Vor der Tür zu seinem Stammcafé hielt er inne und blickte mit ausdrucksloser Miene durch die große Glasscheibe nach innen. Beinahe alle Plätze waren besetzt und es herrschte ein geschäftiges Treiben in dem engen Raum, ganz im Gegensatz zu den wie leer gefegten Straßen, durch die er gerade geeilt war. Er klappte seinen Schirm zusammen, schüttelte, so gut es ging, die Regentropfen davon ab, und stand unschlüssig unter der Markise vor dem Eingang des Cafés. Ob er sich wohl etwas anderes suchen sollte, wo es nicht ganz so voll war? Aber jetzt durch den Regen zu wandern erschien ihm nicht besonders erfreulich. Ihm war kalt und Nässe kroch bereits seine Hosenbeine hinauf. „Bescheidenes Wetter, was?” Jemand sprach ihn von der Seite an. David runzelte die Stirn und murmelte: „Könnte schlimmer sein.” Offenbar hatte ihn der Unbekannte dennoch verstanden, denn er erwiderte amüsiert: „Wohl wahr, trotzdem hatte ich einige Mühe, meine Sachen vor dem plötzlichen Wolkenbruch ins Trockene zu retten.” David wandte sich nun doch um. Er erblickte eine Staffelei, einen Stapel Blöcke und Leinwände unterschiedlicher Größe sowie eine alte, abgenutzte Ledertasche neben dem Mann, der auf einem der Stühle vor dem Café saß, wo es dank der Markise noch einigermaßen trocken geblieben war. Er erkannte in dem Fremden den Künstler, der gestern noch auf dem Platz neben dem Brunnen Passanten porträtiert hatte. „Setzen Sie sich doch hierher, wenn es Ihnen drinnen zu voll ist. Der Regen sollte bald nachlassen.” David trat einen Schritt zurück, überlegte für einen Moment ernsthaft, sich hier ins Freie zu setzen um seiner Wohnung noch eine Weile fern bleiben zu können, aber dieser fremde Mann hatte etwas Aufdringliches an sich, das ihn irritierte und mit dem er nicht umgehen konnte. Ganz abgesehen davon wollte er sich aufwärmen. „Danke, nein”, winkte er deshalb ab und bemühte sich, mit einer Hand den Schirm wieder aufzuspannen. „Sie wollen doch jetzt nicht schon nach Hause? Gerade hätte ich Zeit, wie Sie sehen. Soll ich ein Bild von Ihnen malen?” David stockte, hielt unbewusst die Luft an und kniff die Augen zusammen. „Warum?”, fragte er leise. Ihm war nicht entgangen, dass der Maler seine Lage offenbar durchschaut hatte. Oder war das bloß Zufall? Es war schließlich später Nachmittag und sein Erscheinungsbild – Anzug und Aktentasche – konnten den Schluss, dass er auf dem Nachhauseweg von der Arbeit war, zulassen. Doch derartige Unsicherheiten waren ihm zuwider und er wollte ihnen schnell den Rücken kehren. Der Fremde zuckte mit den Schultern. „Ach, mir ist langweilig. Und Sie haben ein interessantes Gesicht.” Er grinste David herausfordernd an. „Wenn Ihnen das Bild nicht gefallen sollte, müssen Sie es nicht nehmen. Was sagen Sie?” Gefallen sollte. Der Unbekannte gab bereits vor, wie er sich zu verhalten hatte. David spannte seinen Schirm auf. „Das wäre Verschwendung. Was soll ich mit einem Bild von mir?” Der andere seufzte. „Ein Jammer, wirklich. Ich hätte es gern behalten.” Von dieser letzten Bemerkung etwas durcheinandergebracht, fügte David noch hinzu: „Außerdem ist das wohl kaum eine passende Gelegenheit. Sobald Wind aufkommt, wird auch hier alles nass sein. Dann sind Ihre Leinwände ruiniert.” „Sie meinen, der Regen hört doch nicht so bald wieder auf?” Der Fremde verzog das Gesicht. „Dann finde ich heute wohl keine Kunden mehr. Aber was halten Sie davon, mich bei passender Gelegenheit in meinem Atelier zu besuchen? Es wäre mir wirklich eine Freude, Sie zu porträtieren. Wenn das Licht stimmt und Sie gut drauf sind …” Er ließ den Satz in der Luft hängen und musterte Davids Gesicht eindringlich. Obwohl der Platz so gut wie verlassen war, kam David sich mehr und mehr eingeengt vor. Er hatte sich nicht getäuscht, was die Aufdringlichkeit dieses Menschen betraf. Es war ihm unangenehm und er hatte das dringende Bedürfnis, seine Krawatte zu lockern, die ihm mit einem Mal zu eng gebunden erschien. Er machte noch einen Schritt zurück, sodass erste Regentropfen auf den Stoff seines Schirms fielen und murmelte: „Vielleicht. Ein anderes Mal. Auf Wiedersehen.” Er entfernte sich eilig und hörte den Maler über das Prasseln des Regens hinweg leise etwas erwidern: „Bestimmt.” Zwei Straßen weiter wurde er langsamer. Zum Glück war diesem seltsamen Künstler nicht noch eingefallen ihm mitzuteilen, wo sich sein Atelier befand. Nichtsdestotrotz wusste David noch immer nicht, wohin er nun gehen sollte. Er kam an einigen anderen Lokalen vorbei, doch sobald er einen Blick durch die Fenster ins Innere warf, wurde ihm unwohl zumute und er ging vorüber. Die unbekannte Einrichtung vermittelte eine befremdliche Atmosphäre. Das Prasseln der Regentropfen wurde nicht weniger, während er sich weiter durch den Regen kämpfte und das Gefühl nicht loswurde, dass ihn jemand beobachtete. Irgendwann blieb er stehen und schaute sich aufmerksam um. Er konnte nichts Verdächtiges entdecken, doch er hatte unbemerkt einen anderen Weg als sonst eingeschlagen. Aber wenn er sich nicht täuschte, war er nur eine Querstraße von seinem Nachhauseweg und dem kleinen Kiosk, den er bislang links liegen gelassen hatte, entfernt. Er griff schon einmal nach seinem Geldbeutel und überprüfte sein Kleingeld. Der Kiosk befand sich an der Kreuzung mit der Ampel, die über die dicht befahrene Straße in sein Wohnviertel führte. David begutachtete die ausgestellten Zeitungen und Magazine. Schlagzeilen mit Themen aus Politik, Sport, allem voran Fußball, und Wirtschaft prangten auf den ersten Seiten. Eine Lokalzeitung titelte: „Studentin vermisst. Fortsetzung der Serie?“ David runzelte die Stirn, überflog den fettgedruckten Vorspann. Offenbar hatte es in den vergangenen Wochen einige Vermisstenfälle in der Stadt gegeben, junge Leute, die von einem zum anderen Tag einfach so verschwunden waren. Da er weder Computer, Fernsehen, noch Radio hatte, waren ihm diese Nachrichten neu. Nein, das war so nicht richtig. Er besaß durchaus ein Radio, schaltete es aber nie ein. Es stand stumm auf dem Fensterbrett in der Küche neben dem Esstisch. Jemand drängelte sich an David und dem Zeitungsständer vorbei hin zu dem Fenster mit dem Kassierer. David machte einen Schritt zurück, trat dabei in eine Pfütze und warf dem ungestümen Kunden einen missbilligenden Blick zu. Zigaretten und eine Getränkedose wanderten über den Tresen. Dann hastete der Fremde, der seinen Kopf unter einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze versteckt hielt, weiter. David ging wieder zu dem Gestell mit den Zeitungen, nahm eine Ausgabe der Lokalzeitung heraus und legte dem Mann im Kiosk wortlos das Geld passend hin. Die Zeitung faltete er einmal zusammen und steckte sie unter sein Jackett, dann überquerte er die Straße und kehrte nach Hause zurück. Sein rechter Schuh verursachte bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch. Kapitel 4: ----------- Der darauffolgende Tag war ein Samstag, Wochenende, was hieß, dass nun zwei freie Tage vor ihm lagen. Nachdem David aufgestanden war, bemerkte er, dass es immer noch leicht nieselte. Dennoch riss er zuerst das Schlafzimmerfenster, dann das Küchenfenster weit auf. Ein kühler Luftzug fuhr durch seine kleine Wohnung. Er schaltete die Kaffeemaschine an und suchte etwas zu essen. Während er ein paar Brotreste und Marmelade auf den Esstisch stellte, fiel sein Blick auf die Zeitung, die er sich Tags zuvor gekauft hatte. Bislang hatte er nur den einen Artikel gelesen. Während er an seiner frischgebrühten Tasse Kaffee schlürfte und ein paar Scheiben Toastbrot mit Marmelade schmierte, blätterte er durch die gestrige Zeitung. Außer den Überschriften schaute er sich jedoch nichts weiter an. Nur den Bericht über die verschwundenen Leute auf der ersten Seite studierte er gründlich, las ihn einmal, und noch einmal. Die Studentin war die fünfte vermisste Person innerhalb der letzten drei Monate, vor ihr waren bereits zwei weitere Frauen und zwei junge Männer, alle im Alter von Anfang zwanzig, wie vom Erdboden verschluckt. Hinweise auf ein Verbrechen gab es genau so wenig wie eine vernünftige Erklärung, dass die Vermissten freiwillig die Stadt und ihre Bekannten verlassen hatten. Da sich die Fälle jedoch häuften, wurde ein Verschwinden aus freien Stücken immer unwahrscheinlicher. Die Polizei arbeitete auf Hochtouren, suchte nach Zeugen, Anhaltspunkten aus der Bevölkerung und versuchte, die letzten Stunden der Verschollenen so gut wie möglich zu rekonstruieren. David blinzelte. Es war interessant zu sehen, was alles unternommen wurde, um ein paar wenige Menschen, die von ein paar anderen wenigen Menschen vermisst wurden, wieder zu finden. Und wie wenig sich der ganze Rest darum kümmerte, für den das Leben weiterging wie bisher. Nachdem er fertig gefrühstückt hatte, stand er auf, räumte das Geschirr in die Spüle und machte sich zum Ausgehen bereit. Samstags ging er immer einkaufen, in dem kleinen Supermarkt einige Straßenecken weiter. Bevor er die Wohnung verließ, schloss er noch die beiden Fenster in Schlafzimmer und Küche, inspizierte seinen Vorratsschrank ein letztes Mal und warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte noch genügend Zeit, ehe ihn seine Mutter besuchen kam. Es war das erste Wochenende im Monat. Es regnete nicht mehr, stellte er fest, als er einen Fuß auf den Gehweg setzte und sich kurz umschaute. Einige Nachbarn nutzten die Gunst der Stunde und führten ihre Hunde aus, sonst war nicht viel los. David schlenderte durch die Straßen, atmete die feuchte, kühle Luft ein. In Momenten wie diesen war sein Leben erträglich. Er hatte sich überlegt, sich ebenfalls einen Hund zuzulegen, war aber zu der Meinung gekommen, dass er zu selten zu Hause war, um sich ein Tier guten Gewissens anschaffen zu können. Trotzdem, würde jemand auf ihn warten, dann kehrte er vielleicht gerne nach Hause zurück. In dem kleinen Supermarkt angekommen kaufte er seine paar Artikel. Die Verkäuferin schien ihn offenbar zu kennen, denn sie begrüßte ihn ganz besonders und sprach ihn auf etwas an, das seine Einkäufe betraf. Dass er schon letztes Mal eine Dose Tomaten und diese Sorte Käse gekauft hatte. Sie schien das amüsant zu finden, doch David runzelte nur die Stirn und bezahlte stumm. Am frühen Nachmittag kam dann seine Mutter zu Besuch, wie jedes erste Wochenende im Monat. Er konnte sie nicht davon abhalten, nach ihm zu sehen. Sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, besonders, seit sie sich von seinem Vater getrennt hatte. Die Beklemmung, die bei diesen Besuchen in der Luft lag, schien nur er wahrzunehmen. Er wusste einfach nicht, worüber er mit ihr sprechen sollte. Als es klingelte, ließ er sie eintreten und stand wortlos neben der offenen Tür, als sie sich hereindrängte. Sie drückte ihn kurz zur Begrüßung, rauschte weiter in seine kleine Küche, inspizierte die Schränke, schaute in Wohn- und Schlafzimmer. Und die ganze Zeit über plapperte sie, erzählte Geschichten über irgendwelche Leute, von denen sie wohl annahm, dass er sie kannte. Und zwischendrin fielen Sätze wie: „Es ist so ungemütlich hier, hier kann man sich doch nicht wohlfühlen.“ Oder: „Du ernährst dich nicht richtig. Meinst du nicht, du kannst eine andere Arbeit finden? Eine, die mehr deinen Fähigkeiten entspricht?“ Es war ermüdend, doch er ließ sich nichts anmerken. Und dann packte sie eine Plastikschüssel mit vorgekochtem Essen aus. „Das gab es heute Mittag, Rouladen. Ich hab extra eine mehr gemacht, weil ich ja gewusst habe, dass ich dich heute besuche. Ich stell sie in den Kühlschrank, ja? Iss sie gleich morgen.“ David wollte raus. Seine Wohnung war zu klein für die Anwesenheit seiner Mutter. Sie nahm alles ein, sodass ihm nicht einmal mehr der kleinste Fleck blieb. Kapitel 5: ----------- Die junge Frau kam langsam zu sich. Sie lag auf etwas Weichem, die Füße an den Knöcheln gefesselt, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden. Es war nicht kalt, trotzdem lief ihr ein Schauer über den ganzen Körper. Die betäubende Wirkung der Substanz, die ihr verabreicht worden war, ließ langsam nach und mehr und mehr wurden die Schmerzen, die ihr nicht nur die beißenden Fesseln zufügten, offenbar. Auch ihr Rücken schmerzte, ihr Unterleib, und sie glaubte, noch immer die groben Bewegungen und die harten Stöße des Mannes, der sich zum wiederholten Male an ihr vergangen hatte, zwischen ihren Schenkeln zu spüren. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln. Was hatte sie nur getan, dass sie hier gelandet war? Was hatte sie diesem Mann nur getan? Sie war nun seit ein paar Tagen in dem fensterlosen, kleinen Schlafzimmer eingesperrt. Wie viel Zeit verstrichen war konnte sie nur dadurch beurteilen, dass er ihr Frühstück und Abendessen brachte. Bei diesen Gelegenheiten unterhielt er sich auch mit ihr, lobte die Proportionen ihres Gesichts, machte Witze. Und er missbrauchte sie. Zu Anfang war er noch zärtlich gewesen, was es freilich nicht besser machte. Sie hatte sich gewehrt, doch die Fesseln um ihre Handgelenke, sein Gewicht und das Mittel, das er vor ihren Augen in ihr Getränk mischte, hatten ihr Aufbegehren gleich im Keim erstickt. Sie wusste nicht, was es war, was er ihr verabreichte, doch es vernebelte einerseits ihre Wahrnehmung, andererseits hatte es eine aphrodisische Wirkung. Sie ekelte sich davor, wie ihr Körper darauf reagierte. Dann hatte sie seine Aktionen über sich ergehen lassen, in der Hoffnung, dass es schnell vorbei wäre. Hätte jedes Mal gerne noch einen Schluck mehr der Drogen zu sich genommen, um mit den Gedanken gänzlich aus der Wirklichkeit abtauchen zu können. Und dann, heute, war er heftig geworden. Er war über sie hergefallen wie ein Tier, ohne auf ihre Schmerzensschreie und Tränen, die ihr unweigerlich in die Augen schossen, zu achten. Sie hatte gedacht, sie müsste sterben, wollte es in jenem Moment auch. Doch nun lag sie immer noch hier in diesem Zimmer und fürchtete sich davor, dass er zurückkehrte. Vor allem wusste sie, dass er sie nicht gehen lassen würde. Denn sie kannte sein Gesicht, sah es vor sich, sobald sie die Augen schloss, jedes noch so kleine Detail konnte sie beschreiben. Nicht mehr lange, und er würde sie töten. Kapitel 6: ----------- Es war kurz vor der Mittagspause, als Frau Meier in Davids Büro platzte. Sie klopfte zwar an, doch noch bevor David etwas erwidern konnte, trat sie bereits ein. Er legte seine Unterlagen beiseite. „Herr Keller, wegen unseres Ausflugs am Freitag … Sie haben noch nicht Bescheid gegeben, ob Sie daran teilnehmen wollen.“ Darauf hatte David bereits gewartet, schon als die Mitteilung vergangene Woche herausgekommen war. Auch wenn er sich nicht mehr, als es seine Arbeit erforderte, auf seine Kollegen einließ, kannte er sie alle. Er wusste ihre Namen und zu welcher Abteilung sie gehörten. Es war nicht so, dass er sie absichtlich mied, oder dass er sie nicht leiden konnte, er hatte nur einfach nicht das Bedürfnis, sich mit ihnen abzugeben. Dabei war er grundsätzlich nicht ungern unter Menschen, solange er als unbeteiligter Beobachter für sich bleiben konnte. „Bitte, Sie müssen mitkommen, die ganze Abteilung ist dabei“, drängte Frau Meier weiter. „Die Ausstellung soll wirklich gut sein.“ David öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, hielt jedoch noch einmal inne. Ihm war bewusst, dass er einen absonderlichen Eindruck auf seine Umwelt machte, das war ihm egal, doch ab und zu sollte er sich kooperativ zeigen und über seinen Schatten springen, um nicht komplett ausgeschlossen zu werden. Und ein Ausstellungsbesuch erforderte keine allzu tiefen Bindungen. „Tut mir leid, Frau Meier, dass ich mich nicht früher gemeldet habe“, entschuldigte sich David, „aber ich bin gerne mit dabei.“ „Gut, das freut mich.“ Frau Meier meinte das sichtlich ehrlich. „Das wäre der erste Ausflug seit Langem, an dem die gesamte Abteilung teilnimmt. Wenn nicht noch einer krank wird. Gott bewahre!“ „Das wollen wir nicht hoffen“, pflichtete David ihr bei und ging davon aus, dass ihre Unterhaltung damit beendet war. Smalltalk war noch nie eine seiner Stärken gewesen. „Und sonst, wie geht es Ihnen? Sie sind immer so still. Wollen Sie nicht vielleicht mit in die Kantine kommen? Heute gibt es diese leckeren Hackfleischbällchen. Wirklich, die kann ich nur empfehlen.“ „Nein, danke.“ David musste sie gleich abweisen. Zum einen hasste er die Kantine, zum anderen wollte er nicht, dass Frau Meier zu drängend wurde, denn sonst würde er sie in Zukunft mit Absicht meiden müssen. „Ich wollte etwas an die frische Luft.“ „Ach ja, da haben Sie recht. Heute ist schönes Wetter, das sollte man ausnutzen, nicht wahr? Na, dann.“ Sie machte sich zum Gehen bereit. „Man sieht sich.“ Nachdem sie sein Büro verlassen hatte, blickte er kurz auf die Uhr. Er durfte Pause machen. Nicht unweit von seinem Arbeitsplatz befand sich ein kleiner Park, der den unermüdlichen Verkehr und den Lärm, den dieser verursachte, relativ gut abschirmte. Mit der Brotzeit, die David sich am Morgen zu Hause vorbereitet hatte, lief er zügig dahin und atmete innerlich auf, als er sah, dass seine Bank noch frei war. Trotz der Sonnenstrahlen, die sich an diesem Frühlingstag durch die Wolkendecke gekämpft hatten, war es empfindlich kühl. David schlug den Kragen seiner Jacke hoch, um seinen Hals vor dem frischen Luftzug zu schützen. Die Sonne verfing sich in seinem blonden Haar, ließ es golden schimmern. Er platzierte die Brotzeitdose auf seinen Knien, aß gemächlich das belegte Vollkornbrot und die kleingeschnittene Paprika. Immerhin hatte er eine dreiviertel Stunde Zeit dafür. Eine Gruppe Kinder zog an ihm vorüber, vermutlich Grundschüler, deren Unterricht zu Ende war. Sie würdigten ihn keines Blickes. Er schaute ihnen nach, bis sie hinter einer Biegung aus seiner Sicht verschwunden waren. Dann wurde ein Kinderwagen vorbeigeschoben. Die junge Frau grüßte ihn und während er zurück lächelte, konnte er einen Blick auf den im Wagen liegenden Säugling erhaschen. Irgendwo hinter ihm knackte ein Ast, auf den jemand getreten sein musste. Er wartete auf den Verursacher des Geräuschs, doch niemand kam in sein Blickfeld. Der Weg war verlassen und als er sich umschaute, sah er lediglich dunkles Gestrüpp, das die Sonne nicht zu durchdringen vermochte, hinter sich aufragen. Kapitel 7: ----------- Die Ausstellung lief unter dem Motto „Der Mensch in all seinen Facetten“ und zeigte Werke von insgesamt drei verschiedenen Künstlern. David schlenderte zunächst durch den größeren Hauptraum der Kunstschau im Erdgeschoss des Gebäudes, einer umgebauten, alten Jugenstilvilla. Hier waren die meisten Werke ausgestellt. Zwei kleinere Nebenräume auf demselben Stockwerk gehörten ebenfalls noch zur Ausstellung. Die breite Treppe, die auf eine Galerie nach oben führte, war mit einem roten Seil abgesperrt. Die Skulpturen der ersten Künstlerin entsprachen nicht so sehr seinem Geschmack. Sämtliche Gliedmaßen der Bronzefiguren waren merkwürdig gestreckt modelliert, sodass die dargestellten Figuren eher Spinnen ähnelten. Die Oberflächen der Köpfe und Körper waren durchweg uneben und körnig gearbeitet. Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass die Darstellungen ausdrucksvoll waren und, obwohl die Machart stets dieselbe war, jede einen einzigartigen Charakter hatte. Der zweite Künstler hatte Gemälde ausgestellt, die von der Motivwahl zwar nicht besonders waren, in ihrer Ausführung dafür aber umso experimentierfreudiger. Der Stil war modern, ein Puzzle aus farbigen Flächen, die aber, je nachdem, was sie darstellten, unter anderem mit echtem Lippenstift, Wimperntusche oder Rasierschaum gearbeitet waren. Auch für die Hintergründe waren, soweit möglich, die dargestellten Materialien auf der Leinwand verwendet worden. Für eines der Bilder hatte sich David die Mühe gemacht und den Beschreibungstext, der daneben hing, durchgelesen. Das meiste davon konnte er nicht nachvollziehen. Entweder ihm gefiel ein Bild, wenn er es sah, oder nicht. Die Intention des Künstlers war für ihn zweitrangig. Vor den Bildern des dritten Künstlers verweilte er jedoch länger. Es waren ausschließlich Porträts, klassisch gearbeitet, in drei Serien, von der jede jeweils ein und denselben Menschen zeigte. Der Unterschied war nur, dass sie Porträtierten auf jedem Bild einen komplett unterschiedlichen Gesichtsausdruck zeigten. Dabei war die Mimik so detailverliebt und glaubhaft dargestellt, dass man fast meinen konnte, die Gemälde wären Fotografien. Eine der Serien zeigte einen jungen Mann, auf dem ersten Bild freundlich lächelnd, auf dem nächsten regelrecht ausgelassen jubelnd. Das dritte Bild präsentierte ihn müde und ausgelaugt, das vierte wütend und das fünfte, das letzte in dieser Serie, in regelrechter Todesangst. Vor diesem blieb David fasziniert stehen und blickte in die weit aufgerissenen Augen des Dargestellten. Die Gespräche seiner Kollegen und der anderen Ausstellungsbesucher um ihn herum rückten in immer weitere Ferne und schienen langsam zu verstummen. Stattdessen griff die Emotion des porträtierten Mannes auf ihn über. Es war keine bestimmte Situation, die David in den Sinn kam, doch er spürte, wie die dargestellte Angst auch ihn erfüllte. Als wäre er in einen Strudel geraten, wurde er mit dem Gefühl, das das Bild vermittelte, fortgerissen. Und das machte ihm nun wirklich Angst, war eine reale Furcht. Angewidert riss er sich von dem Anblick des Bildes los und sofort kehrten auch die Stimmen im Raum wieder zurück. Es war bloß ein Bild. David bemerkte erst nach einiger Zeit, dass jemand neben ihn getreten war. Aus dem Augenwinkel glaubte er zunächst, dass der Besucher ihn beobachtete, doch als er den Kopf wandte, um dem nachzugehen, starrte der andere, wie er zuvor, lediglich auf das ausgestellte Kunstwerk. „Was glauben Sie, ist dieses Gefühl echt, oder nur eine geschickte Illusion des Künstlers?“, fragte der Mann neben ihm, ohne seinen Blick von dem Bild abzuwenden. David erkannte ihn. Es war der Straßenmaler, der ihn an jenem Regentag vor dem Café, unter dessen Markise er sich geflüchtet hatte, angesprochen hatte. Doch genau wie damals wusste David nicht so recht, was der andere von ihm wollte. Warum er ihn überhaupt ansprach. Galt die Frage dem Bild, also dem Gefühl, das der Porträtierte widerspiegelte, oder dem, was es in seinem Betrachter, in ihm selbst, auslöste? David zuckte mit den Schultern und antwortete genau das, was er sich dachte. „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“ In dem Moment ging ein Pärchen, ein Mann in mittleren Jahren und eine etwas jüngere Frau, vorüber und blieb ebenfalls vor der fünfteiligen Bilderserie stehen. Es waren keine von Davids Kollegen. „Diese Bilder schauen so echt aus“, hörte David die Frau zu ihrem Begleiter flüstern. „Auch die anderen beiden Reihen da drüben.“ „Ich weiß nicht“, erwiderte er. „Das ist doch wahrscheinlich einfach von einem Foto abgemalt, oder? Und die Personen sind Schauspieler, würde ich sagen. Aber technisch gesehen sind sie gut gemacht.“ „Als ob du was davon verstehst. Trotzdem, irgendwie …“ Sie warf einen kurzen Blick zu David und dem Straßenmaler, ehe sie mit ihrem Begleiter im Arm weiterzog. Der Straßenmaler blickte den beiden kurz mit einem unergründlichen Ausdruck im Gesicht hinterher, wandte sich dann direkt zu David um und lächelte. „Gefällt Ihnen das Bild?“ „Warum fragen Sie das?“ David wich unwillkürlich etwas zurück, denn dieser Mensch verwirrte ihn. Er benahm sich im Augenblick nicht übermäßig zudringlich, doch David hatte trotzdem den Eindruck, dass sich hinter diesem Lächeln noch eine andere Absicht verbarg als die, sich ungezwungen in einer Kunstausstellung über ein Werk auszutauschen. „Sie haben es so lange angesehen, deshalb.“ David blinzelte. Der andere verlangte eine Rechtfertigung von ihm, doch mit welchem Recht? Wollte er sich lustig machen? Mit zusammengekniffenen Augen machte er einen weiteren halben Schritt nach hinten. „Ich wüsste nicht, was …“, begann er seinen Satz, wurde jedoch gleich unterbrochen. „Nicht doch, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Hier“, der Straßenmaler reichte David ein rechteckiges Stück weißen Kartons, „die habe ich neulich vergessen, Ihnen zu geben. Meine Karte. Nun können Sie mich einmal in meinem Atelier besuchen. Dann können wir uns ungestört unterhalten und vielleicht kann ich Sie doch noch überzeugen, Modell zu stehen.“ Er zwinkerte verstohlen. „Gewiss.“ David griff zwar, wie es die Höflichkeit gebot, nach der Karte, steckte sie aber ohne einen eingehenderen Blick in sein Jackett. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen.“ Er wandte sich um und eilte schnurstracks in Richtung Toiletten davon. Nach diesem merkwürdigen Menschen drehte er sich dabei nicht ein einziges Mal um. Auf halbem Weg begegnete er Frau Meier. „Herr Keller, gleich ist es so weit. Der Empfang mit den Künstlern … Wie finden Sie die Ausstellung?“ „Welcher Empfang?“ Von Neuem durcheinander gebracht, unterbrach David seine Flucht und blickte Frau Meier fragend an. „Zur Vernissage hatten offenbar nicht alle Künstler Zeit, deswegen wurde für heute noch einmal ein kleiner Empfang mit allen dreien eingerichtet. Sehen Sie, da hinten wird ein Sektbuffet aufgebaut. Es muss jeden Moment losgehen.“ „Ach, so ist das. Dann beeile ich mich wohl besser. Bis gleich.“ David ging weiter. Ein Empfang mit den Künstlern? Davon hatte er nichts gewusst. Aber vermutlich hatte Frau Meier deswegen genau diesen Termin für ihren Ausflug ausgesucht. Es würde wohl keinen guten Eindruck machen, wenn er sich jetzt, vor diesem Ereignis, verabschiedete. In der Herrentoilette angekommen wusch er sich die Hände und kehrte dann in den Ausstellungsraum zurück. Seine Kollegen hatten sich bereits, wenig überraschend, nahe der provisorischen Bar positioniert. David stellte sich zu ihnen, um nicht als Außenseiter aufzufallen, allerdings achtete er darauf, so interessiert wie möglich im Raum umher zu blicken, sodass niemand auf die Idee kam, ihn anzusprechen. Der Straßenmaler war im Moment nicht mehr zu sehen, was David erleichtert zur Kenntnis nahm. Die Treppe, deren Absperrung mittlerweile entfernt worden war, würde offenbar gleich für die Vorstellung der Künstler als Bühne dienen. Eine Frau in einem goldfarbenen Etuikleid stieg zwei Stufen hinauf, damit jeder im Raum sie sehen konnte, und das Gemurmel ebbte ab. Es war eine Verantwortliche der Ausstellung. Sie begrüßte alle anwesenden Gäste und bedankte sich bei den Sponsoren, den Mitwirkenden und allen, die zum Gelingen der Veranstaltung beitrugen. David hoffte, dass er immer noch einen aufmerksamen Eindruck machte, doch innerlich wünschte er sich nichts sehnlicher, als hier rauszukommen. Er merkte, wie ihm schwindlig wurde. Die Luft war stickig und der Scheinwerfer, der neben der sonstigen Beleuchtung völlig unnötigerweise auf die Treppe strahlte, verbreitete eine unangenehme Hitze. „Und zu guter Letzt möchte ich Ihnen, werte Gäste, diejenigen natürlich nicht vorenthalten, die diese Ausstellung erst möglich gemacht haben“, kündigte die Sprecherin mit enthusiastischem Tonfall an. „Begrüßen Sie mit mir die drei Künstler: Regine Schwinder-Huff, Antonio Peso und Gabriel Felbinger.“ Sie begann zu klatschen und die meisten der anwesenden Besucher taten es ihr gleich – ob aus Höflichkeit oder echter Begeisterung war nicht zu erkennen. David hob ebenfalls gerade seine Hände, als er nach einem kurzen Blick nach vorn mitten in der Bewegung innehielt. Den einen der drei angekündigten Künstler hatte er auf den ersten Blick wiedererkannt. Es war niemand anderes an der Straßenmaler. Während der kurzen Vorstellung der drei Kunstschaffenden konzentrierte sich David ausschließlich auf den Straßenmaler. Die lobenden Worte der Sprecherin interessierten ihn dabei nur zweitrangig, stattdessen beobachtete er den Menschen, sein Auftreten, seine Körperhaltung, genauer. Obwohl dieser das Spiel des freundlichen, umgänglichen Gebarens oberflächlich mitmachte, konnte David auch eine Spur Selbstgefälligkeit ausmachen. Ganz so, wie er diesen Menschen kennengelernt hatte. Es war egal, ob die anderen Gäste das ebenfalls erkannten, er selbst fühlte sich bestätigt. Und so verließ er auch, sobald der offizielle Teil vorüber war und er sich notwendigerweise von seinen Kollegen verabschiedet hatte, so schnell wie möglich die Veranstaltung. Er wollte diesem Kerl nicht noch einmal über den Weg laufen. Kapitel 8: ----------- Das Café war voller Leben an diesem sonnigen Spätnachmittag, als David durch Glück noch einen Tisch im Freien bekommen hatte. Er war genau zu dem Zeitpunkt auf dem Platz mit dem Brunnen angekommen, als ein Pärchen gerade aufgestanden und gegangen war. Wie immer bestellte David einen Espresso und der Kellner, der ihn inzwischen als Stammgast erkannte, brachte die Bestellung ohne Umschweife. „Sie kommen direkt von der Arbeit?“ Der Kellner stellte das kleine Tablett mit Espressotasse, Keks, Zucker und Wasserglas vor David ab. „Wie?“ David schaute irritiert zu dem jungen Mann auf. Er hatte nicht mit einer Unterhaltung gerechnet. „Ja …“ Seine Aktentasche machte das doch offensichtlich. Außerdem kam er jeden Tag um dieselbe Zeit. „Sie kommen jeden Tag hierher“, stellte der Kellner weiter fest und warf David einen scheuen Blick zu. „Ja …“ Am Nachbartisch hob eine Frau die Hand und winkte den Kellner zu sich. „Entschuldigen Sie.“ Der Kellner löste den Blick von David, nicht ohne ihm noch einmal ein verlegenes Lächeln zuzuwerfen, bevor er sich der anderen Kundschaft zuwandte. David runzelte die Stirn. Er schaute auf den belebten Platz und schlürfte langsam seinen Kaffee. Ein Schwarm Tauben pickte laut gurrend neben dem Brunnen auf dem Boden, denn irgendjemand warf Gebäckbrösel auf das Kopfsteinpflaster. Die Sonne ging um diese Jahreszeit mit jedem Tag später unter, also konnte er jeden Tag etwas länger bleiben. Vielleicht sollte er später doch noch ein zweites Getränk bestellen? „Sie haben einen Fan.“ „Wie?“ David drehte den Kopf zur Seite, von wo die Stimme gekommen war, doch er hatte sie gleich wiedererkannt. Der amüsierte Unterton war nicht zu überhören und als er den belustigten Gesichtsausdrucks des Malers erblickte, kam ihm kurz der Gedanke, doch eher etwas früher anstatt später nach Hause zu gehen. „Der Kerl.“ Der Maler deutete mit dem Kopf zum Eingang des Cafés, in dem der Kellner verschwunden war. „Merken Sie nicht, wie er sie anschaut?“ „Was wollen Sie?“ Der Maler zuckte unschuldsvoll mit den Schultern. „Mich mit Ihnen unterhalten?“ Unbeeindruckt widmete sich David wieder seiner Bestellung. Er wollte diesem Menschen keine Beachtung schenken. Während der Ausstellung hatte der Kerl seinen Spott mit ihm getrieben, hatte ihm nicht gesagt, dass er der Urheber des Bildes war, über das sie sich unterhalten hatten. David trank etwas von seinem Wasser. Er spürte den bohrenden Blick des Künstlers, der sich nun neben ihn setzte. Und er dachte an die Bilder zurück, die er während der Ausstellung gesehen hatte. An die Gefühle, die sie zweifelsohne in ihm ausgelöst hatten. Das Werk dieses Mannes. David griff nach dem Karamellkeks und wickelte ihn ohne jede Hast aus der Plastikfolie. Ob er gerade genau so studiert wurde, wie der Maler die Leute auf den Bildern studiert haben musste? Dieser Gedanke … Er merkte, wie ganz tief in seinem Innern Panik aufstieg. Ein altbekanntes Gefühl der Angst. Angst davor, dass man von außen in ihn hineinsehen konnte. Dass alles das, was er erlebt hatte, sein gesamtes Selbst, nach außen sichtbar wurde. Er versuchte, die Panik zu unterdrücken. Er wusste, er musste ruhig bleiben. Niemand konnte in einen Menschen hineinsehen. Niemand konnte in ihn hineinsehen, wenn er es nicht zuließ. „Ich kann ihn durchaus verstehen.“ Davids unwillkommener Tischnachbar lehnte sich entspannt zurück. „Sie haben ein interessantes Profil.“ David legte den Keks zurück auf das kleine Tablett. Er war noch nicht dazu gekommen, ihn zu essen. „Hören Sie.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und kämpfte gegen den Drang an, einfach aufzustehen und zu gehen, wie er es sonst meist tat, wenn er seine Ruhe haben und unnötigen Diskussionen entgehen wollte. Nun aber stand immer noch sein dampfender Espresso vor ihm, der Keks wartete darauf, gegessen zu werden und David wusste, dass es sein gutes Recht war, hier in diesem Café in aller Ruhe zu sitzen und den Abend vorbeiziehen zu lassen. Er atmete einmal tief durch. „Wissen Sie, ich habe Feierabend und verspüre nicht das Bedürfnis, mich mit Ihnen zu unterhalten, so Leid es mir tut. Wenn Sie also bitte gehen könnten.“ Er merkte, er war zu weich. Sein letzter Satz hatte viel zu sehr nach einer Frage geklungen. Doch er wollte dem Gesagten nichts mehr hinzufügen, denn das würde seine Worte nur noch mehr abschwächen. Stattdessen griff er erneut nach dem Keks und versuchte, sich den süßen Geschmack vorzustellen. Er wusste, es gab diese Dinger im Supermarkt zu kaufen, fünfundzwanzig solcher Kekse in einer Packung. Aber er fürchtete, wenn er sich einmal eine Packung kaufte, wäre der Genuss – das Besondere, der Moment des Genießens – für immer dahin. Im Hinblick auf eine derartige, drohende Veränderung war er nicht bereit, den Status Quo aufzugeben. „Ich störe Sie doch nicht etwa?“ Scheinbar überrascht zog der Maler die Augenbrauen nach oben und schaute David mit einer erschrockenen Miene an. Diese Heuchelei – sie war das, was David am unerträglichsten fand. Der Schwarm Tauben vor dem Brunnen flog mit einem Mal auf, aufgeschreckt von zwei Kindern, die mit Tretrollern übermütig über den unebenen Boden bretterten. „Sie glauben mir nicht, nicht wahr? Das sehe ich Ihnen an. Ich möchte Sie auch wirklich nicht belästigen, aber …“ „Dann lassen Sie es.“ Normalerweise war es nicht Davids Art, anderen ins Wort zu fallen. Normalerweise wurde er aber auch nicht derart penetrant belästigt. Er merkte, wie in diesem Moment noch jemand von hinten an ihn heran trat. „Entschuldigen Sie, ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ Es war der Kellner, wie David an der Stimme erkannte. Er fühlte sich nun komplett umzingelt. Er schielte zu seiner Aktentasche. Wie lange würde er brauchen, sie zu nehmen und sich an den beiden, dem Kellner und dem Maler, vorbei zu zwängen, aus dem Fokus ihrer Aufmerksamkeit? Dann fiel ihm ein, dass er noch nicht gezahlt hatte – noch nicht einmal fertig getrunken hatte – und deswegen nicht einfach gehen konnte. Der Maler hob beschwichtigend die Hände, machte jedoch keine Anstalten, aufzustehen. David winkte ebenfalls schnell ab. „Ich möchte bitte zahlen.“ Seine Stimme klang normal – gut so. Der Kellner runzelte leicht die Stirn, doch als David ihm ein, wie er hoffte, aufmunterndes Lächeln zuwarf, wandte sich der Angestellte mit einem „Sehr gerne“ ab und verschwand wieder im Café. Ihm musste aufgefallen sein, dass Davids Tablett noch nicht leer war. „So eilig auf einmal?“ Nun wirkte der Straßenmaler ehrlich enttäuscht. David hielt es nicht für nötig, etwas darauf zu erwidern. „Ich wollte Sie nicht vertreiben, ganz im Gegenteil. Ich wollte noch eine Weile bei Ihnen sitzen. Da Sie nicht für mich Modell stehen möchten, muss ich irgendwie anders eine Möglichkeit schaffen, mir Ihr Gesicht einzuprägen.“ „Bitte was?“ Die Reaktion war mehr ein Reflex, als tatsächliche Überraschung. David schüttelte den Kopf. „Ich sagte Ihnen doch bereits, dass ich kein Interesse daran habe.“ Unwillkürlich stellte er sich vor, wie er vor seinem eigenen Porträt in einer Ausstellung stand und es betrachtete. Was würde er sehen? Alles? Oder doch nichts? Unwohlsein breitete sich bei diesem Gedanken in ihm aus und die Angst, die er vorhin zurückgedrängt hatte, kehrte zurück. Angst, die sich jederzeit in Panik wandeln könnte. Er musste fort. Zum Glück kam in diesem Moment der Kellner mit der Rechnung. Auf ihr stand der gleiche Betrag wie immer. Schnell bezahlte David. Er versuchte wirklich, sich zusammenzureißen, sich nichts anmerken zu lassen. Es würde sonst nur länger dauern, wegzukommen. So nebenläufig wie möglich gab er einen Abschiedsgruß von sich und wartete dann darauf, dass der Caféangestellte wieder weit genug entfernt war, während sein Herz immer schneller schlug. Mit einem letzten, bedauernden Blick auf sein Tablett wollte er gerade nach seiner Tasche greifen, als der Maler ihn innehalten ließ. „Warten Sie! Bitte … Sie sehen nicht gut aus.“ David merkte, wie ihm Schweißperlen auf der Stirn standen. Es war zwar ein warmer Abend, aber nicht so warm. Er begegnete dem Blick des Künstlers, der sich ebenfalls halb erhoben hatte und ihn mit ehrlicher Besorgnis anstarrte. Aufrichtige Fürsorge in diesen klaren, blauen Augen. Irgendwie kamen Sie David auf einmal bekannt vor. Er zögerte einen kurzen Moment und genau so plötzlich, wie die Panik in ihm aufgewallt war, war sie wieder verschwunden. Verwirrt, aber auch dankbar, lehnte er sich auf dem Stuhl zurück und ließ die Aktentasche, wo sie war. Es war seltsam. Im einen Augenblick noch war sein größtes Verlangen gewesen, von diesem Menschen, der neben ihm saß, wegzukommen, im nächsten hatte ein besorgter Blick von demselben Menschen ausgereicht, diesen Wunsch nach Flucht wieder niederzuringen. Was hatte das zu bedeuten? „Geht’s wieder?“ Der Maler streckte einen Arm nach ihm aus, doch David wich der Berührung aus. Langsam, aber ohne zu zittern, griff er nach seiner Espressotasse und leerte sie, anschließend trank er noch das Wasserglas leer und verspeiste zuletzt den Keks. Die Roller fahrenden Kinder waren längst weitergezogen und die Tauben stattdessen zurückgekehrt. Sie pickten die verbliebenen Krümel aus den Ritzen der Pflastersteine. Derjenige, der sie gefüttert hatte, war nicht mehr zu sehen und auch die Sonne war mittlerweile hinter den Hausdächern verschwunden. Der Keks schmeckte nicht so, wie er sonst immer schmeckte. „Okay, hören Sie“, fing der Künstler wieder an. „ich wollte Sie wirklich nicht aufregen.“ Er machte eine kurze Pause, als ein paar Gäste an ihrem Tisch vorbeigingen. „Ich habe nur noch eine Frage. Kommen Sie mich besuchen, wenn ich Ihnen sage, dass ich schon eine Skizze angefertigt habe?“ „Sie haben was?“ „Eine Skizze angefertigt, in meinem Atelier. Kommen Sie vorbei?“ „Hören Sie mal, das …“ David hatte ja schon geahnt, dass dieser Mensch unberechenbar war. Aber nun auch noch so berechnend, ihn mit einer Skizze ködern zu wollen? Für einen kurzen Moment flammte Empörung in ihm auf. Doch dann, nach einem weiteren Augenblick, fiel ihm auf, dass er nicht wirklich erstaunt war. Es passte alles zu dem Bild, das er von dem Maler hatte. Selten war ihm ein Mensch mit einer derart dreisten Beharrlichkeit begegnet. Auch wenn er sich mittlerweile nicht mehr so sehr von der Art dieses Menschen durcheinanderbringen ließ wie noch bei ihrer ersten Begegnung, und auch wenn der Maler nicht nur aufgesetzte Arroganz zeigte, sondern auch zu echten Gefühlen in der Lage schien, so schwang doch stets etwas Lauerndes, Diffuses mit dem Künstler mit, das David sein Misstrauen nicht gänzlich ablegen ließ. Er fühlte sich unwohl in der Nähe dieses Menschen, konnte diese Empfindung aber nicht an etwas Konkretem festmachen. „Das was?“ Der Maler fixierte ihn mit seinem Blick. „Wollen Sie mich erpressen?“ „Keineswegs. Ich traue mir auch zu, das Bild so fertig zu malen. Wenn ich Sie eingehend studiere …“ Ein Grinsen erschien wieder auf dem Gesicht des Malers. David lief bei diesen Worten unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Er räusperte sich und schaute konsequent an dem Maler vorbei. Er war dieser Blick, diese Augen, die irgendetwas in ihm berührten, das ihn unruhig werden ließ. Trotz seiner kurzen Panikattacke von vorhin war es nun aber nicht der Gedanke, dass er durchleuchtet wurde, sondern etwas viel tiefer Liegendes. Wenn er es nur einordnen könnte! Der Kellner trat wieder aus dem Laden heraus ins Freie. Er warf David zum Abschied ein flüchtiges Lächeln zu und zog sich gleich darauf wieder zurück. Den Straßenmaler bedachte er lediglich mit einem kurzen Nicken. „Also dann …“ Unschlüssig, was er noch weiter sagen sollte, stand David auf, griff beinahe automatisch nach dem unberührten Zuckerpäckchen auf seiner Untertasse, und wandte sich dann mit der Aktentasche in der Hand zum Gehen. „Kommen Sie gut nach Hause. Bis demnächst im Atelier.“ David hatte noch eine Zeit lang den Gesichtsausdruck des Malers im Kopf, wie der ihn zuletzt angestarrt hatte. Als wäre er sich sicher, dass David zu ihm kommen würde. Erst als David schon ein paar Kreuzungen weit gegangen war, fiel ihm auf, dass der Maler seine Künstlerutensilien gar nicht bei sich gehabt hatte. Kapitel 9: ----------- David verglich die Adresse auf der Visitenkarte mit dem Klingelschild neben der Stahltür, vor der er stand. Er war tatsächlich hergekommen, das konnte er kaum glauben. Er befand sich in einer ruhigen Gegend, einem ehemaligen Industriegebiet, in dem viele Fabrikgebäude zu Wohnhäusern umgebaut worden waren. Der Wind blies nur kaum merklich durch die Straßen und trug trockenen Staub mit sich, als David nochmals den Namen auf der kleinen Karte las: Gabriel Felbinger. Er war hergekommen, was vollkommen umsonst gewesen wäre, wenn er jetzt einfach wieder ging. Mit einem leisen Seufzen drückte er auf den Knopf. Es war diese dunkle Ahnung, die über dem Maler schwebte. Sie hatte David dazu gebracht, dass er heute, an einem Sonntag, den Weg hierher gegangen war. Dabei wusste er nicht einmal, ob jemand zu Hause war. Anzurufen war für ihn nicht infrage gekommen, da er den Maler nicht vorab schon in seinem Drängen bestätigt haben wollte. Es war noch relativ früh, gegen neun Uhr. Der schrille Klingelton klang gedämpft bis auf die Straße. David versenkte seine Hände tief in den Jackentaschen und wartete. Irgendwo in der Ferne brauste ein Auto in hohem Tempo durch die Stadt. Er hörte keine Schritte, doch mit einem Mal klackte das Türschloss und der Maler stand mit einem wissenden Gesichtsausdruck vor David. „Ein Frühaufsteher, hätte ich mir denken können.“ „Ihnen auch einen schönen Sonntag.“ David schüttelte innerlich den Kopf. Das fing ja schon gut an. „Verzeihen Sie, ich war nur so … überrascht über Ihr Auftauchen.“ Der Maler grinste, beugte sich dann leicht nach vorn und wies mit einem Arm ins Gebäude. „Bitte, treten Sie ein.“ David kam sich erneut auf den Arm genommen vor. Doch nun, wo er schon einmal hier war, wollte er sich davon nicht beirren lassen. Egal was er tat, dieser Maler würde bestimmt immer eine Möglichkeit finden, sich auf seine Kosten zu amüsieren. Also trat er an dem Künstler vorbei ins Innere des Gebäudes, das offenbar nicht nur das Atelier, sondern auch dessen Wohnung sein musste. David durchquerte einen kurzen, engen Korridor und stand dann in einem weitläufigen Loft. Während der wenigen Schritte durch den Flur und auch in der kurzen Zeit, als er seinen Blick durch den unbekannten Raum schweifen ließ, konnte er die Anwesenheit des Malers in seinem Rücken deutlich spüren. Auf der rechten Seite wies das Loft einige großformatige Fenster auf, die, wenn die Sonne günstig stand, viel Licht hinein ließen. Durch die Fenster konnte David auf einen kleinen Hof schauen, dessen umgebende Mauern mit Efeu und Weinranken bewuchert waren. In der Mitte des Raumes stand eine Sitzgruppe mit Couch, Sessel und einem niedrigen Tisch. Im linken Teil war eine Trennwand eingebaut, hinter der David eine Küchenzeile entdecken konnte. Außerdem ging von dort auch eine Treppe nach oben zu einer Art Balkon. Was sich auf dieser eingezogenen Decke, die vielleicht ein Viertel der Grundfläche ausmachte, befand, konnte David von seiner Position aus nicht erkennen. Geradeaus am anderen Ende des Raumes befand sich das eigentliche Atelier. Eine Leinwand stand dort, Farbtöpfe, Pinsel, eben alles, was ein Maler, zumindest in Davids Vorstellung, so brauchte. Unschlüssig inspizierte David weiter den Raum und wartete ab. „Sie können mir Ihre Jacke geben“, bot der Maler an, indem er an ihm vorbei trat. „Die Schuhe können Sie anlassen. Ach ja, ich bin übrigens Gabriel, aber das wissen Sie ja schon, Gabriel Felbinger.“ Der Maler, Gabriel, streckte David seine Hand entgegen. David zögerte, bevor er sie schüttelte. Er wollte sich auf keinen Fall auf eine freundschaftliche Art mit diesem Kerl einlassen. „Keller. Freut mich.“ So richtig konnte David seinen letzten Ausspruch selbst nicht glauben, aber er war aus freien Stücken hier, also musste es ja irgendetwas geben, was er sich von seinem Besuch erhoffte. Er überreichte Gabriel seine Jacke und zog dann trotzdem die Schuhe aus. Seine Mutter hatte immer darauf bestanden, dass im Haus die Schuhe ausgezogen wurden. „Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Keller.“ Gabriel wies auf die Sitzgruppe in der Zimmermitte. Bildete David es sich nur ein, oder hatte der Künstler seinen Nachnamen etwas zu sehr betont? „Möchten Sie etwas trinken? Kaffee vielleicht?“ „Nicht nötig.“ „Ach.“ Gabriels Augen blitzten auf. „Sie möchten wohl gleich einen Blick auf die Skizze werfen?“ Er verschwand kurz hinter der eingezogenen Wand in der Küche und kam dann erst einmal mit zwei Gläsern Wasser zurück. „Normalerweise lasse ich meine Kunden die Skizzen nicht sehen. Aber Sie sind ja kein Kunde, nicht wahr?“ Ein schnippisches Lächeln lag auf seinen Lippen. David nahm das angebotene Wasserglas mit einem knappen „Danke“ entgegen. Er machte ein paar Schritte auf seinen Socken in den Raum hinein. Irgendwie war diese weitläufige Unterkunft so ganz anders als seine enge Wohnung. Er fand es interessant, es war etwas Neues, aber wenn er sich vorstellte, hier zu wohnen, beschlich ihn sofort das unangenehme Gefühl, wie auf dem Präsentierteller zu liegen. Von neben dem bequem aussehenden Sofa aus konnte er noch immer nicht erkennen, was sich hinter der Brüstung im ersten Stock befand – es könnte sich um das Bett handeln –, aber er nahm zwei zusätzliche Türen wahr, die von dem geräumigen Loft im Erdgeschoss abzweigten. Das Bad, vermutete er, und ein Abstellraum oder etwas in der Art. Wer war er schon, dass ihn das etwas anging? „Und nun?“ Unschlüssig wandte sich David an Gabriel, der im hinteren Teil des Lofts ein paar seiner Zeichenutensilien zusammensuchte. Bei der Frage wandte Gabriel sich um und blickte über die Schulter zu David zurück. In dieser Position, auf dem Boden kniend, die offenen Haare das Gesicht zur Hälfte verdeckend, kam er David wie eine lauernde Krähe vor. „Na ja, die Kunden, die wegen eines Porträts zu mir kommen, setzen sich still aufs Sofa und warten, bis ich fertig bin.“ „Machen Sie auch andere Sachen außer Porträts?“ David inspizierte die Buchrücken in einem Regal, das an der Wand stand, auf deren anderer Seite die Küche lag. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie der Maler sich in den Sessel in der Raummitte setzte, der dem breiteren Sofa gegenüber stand, doch er vermied es weiterhin, selbst Platz zu nehmen. „Wenn man jünger ist, versucht man sich natürlich an so einigem …“, erwiderte Gabriel vage und schon war das sanfte Scharren eines Stiftes auf Papier zu hören. David konnte den stechenden Blick in seinem Rücken spüren. Er starrte weiterhin die Buchrücken an. Dann vernahm er ein leises Kichern und drehte sich doch um. „So schlecht war meine Skizze gar nicht“, begründete Gabriel leichthin mit einem Lächeln auf den Lippen seine Reaktion. „Eigentlich ist sie sogar ziemlich gut. Sind Sie sicher, dass Sie sie nicht sehen möchten?“ „Wie?“ David trat irritiert einen Schritt näher heran. „Sie haben doch gemeint, dass Sie Ihre Skizzen nicht herzeigen.“ „Den Kunden. Aber Sie, Herr Keller, haben ja nur mit Mühe und Not den Weg hierher gefunden. Dass Sie nun tatsächlich hier sind, freut mich wirklich.“ „Warum?“ David hatte nicht vor, diesem Kerl irgendetwas abzukaufen. Für einen freiberuflichen Künstler war das doch verlorene Zeit und somit auch verlorenes Geld. Oder war da doch noch irgendetwas, das David übersehen hatte? Einen Haken, den er nicht bedacht hatte? Das Kleingedruckte? Gabriel seufzte und schüttelte den Kopf. Er machte noch ein paar Striche mit dem Bleistift. „Das habe ich doch schon gesagt, oder nicht?“ Dann schien er fertig zu sein. Er legte den Stift auf den Tisch und betrachtete seine Zeichnung, studierte sie genau, hob den Blick und schaute zu David, anschließend wieder zurück aufs Papier. In diesen Sekunden war aller Zynismus und Spott aus dem Gebaren des Künstlers wie weggefegt, fiel David auf, wie in dem kurzen Moment im Café vor ein paar Tagen, als er ehrlich besorgt auf Davids Panikanflug reagiert hatte. Der Maler drehte den Block mit der Zeichnung zu David und David blickte in sein Spiegelbild. Kapitel 10: ------------ Es war ein merkwürdiges Gefühl. David blinzelte. Er schaute sich selbst in die Augen. Er wusste, dass das nur eine Zeichnung war, dennoch wirkte sie so lebendig. Das Lächeln kehrte auf Gabriels Gesicht zurück, doch er sagte nichts. Stattdessen legte er den Zeichenblock so ab, dass David ihn weiterhin sehen konnte, und zündete sich eine Zigarette an. David war bisher gar nicht aufgefallen, dass in diesem Zimmer offenbar öfter geraucht wurde. Das mochte daran liegen, dass der Raum relativ groß und vor allem auch hoch war, keine Vorhänge oder Teppichböden aufwies und dass ein leichtes Aroma von Farben in der Luft hing. Und er hatte auch überhaupt nicht auf irgendwelche Gerüche geachtet. Nun konnte er beobachten, wie sich dunkelblauer Rauch in sanften Wellen in Richtung Decke wand. Die Person auf dem Blatt Papier warf ihm einen abwesenden Gesichtsausdruck zu. Sie wirkte fast ein bisschen traurig. Einerseits erkannte David sich inmitten der Bleistiftstriche wieder, andererseits auch gar nicht. Hatte er wirklich derart geschwungene Wimpern? Und eine solch gerade Nase? Diese gezeichnete Person sah so makellos aus, was sie regelrecht unnahbar erscheinen ließ. Das war doch nicht er? In diesem Moment stand Gabriel auf, drückte die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch aus und kam ein paar Schritte auf David zu. Und David wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Maler seine Irritation genoss. „Hab dich gut getroffen, nicht wahr?“ Davids Blick schnellte vom Sofatisch mit der Zeichnung hin zu Gabriel, der nun lässig an der Rückwand des Sofas lehnte. Was war denn jetzt auf einmal los? Wieso wurde er geduzt? Davids Puls beschleunigte sich und der Drang fortzulaufen wurde stärker. Trotzdem konnte er sich nicht rühren, sondern war unter Gabriels belustigt dreinblickenden Augen wie festgenagelt. „Gleich so überwältigt, David?“ Gabriel stieß sich vom Sofa ab. Ein Stalker!, schoss David der erstbeste Gedanke durch den Kopf. Meinen Vornamen habe ich ihm nie genannt! Er holte tief Luft, nahm allen Mut, den er noch besaß, zusammen und fragte so ruhig wie möglich, auch wenn er selbst merkte, dass seine Stimme zitterte: „Was wollen Sie?“ Er hätte nicht herkommen sollen. Hätte einfach sein Leben weiterleben sollen wie bisher. Hätte sich von diesem Menschen zu nichts überreden lassen sollen. Sein Blick glitt zu den Fenstern. Über der mit Wein und Efeu berankten Mauer erkannte er den Himmel, auf dem sich die Sonne an diesem Sonntagvormittag immer höher schob. Im Licht, das durch die Glasscheiben hereinfiel, konnte David die feinen Staubkörnchen ausmachen, die in der Luft schwirrten. Dann wurde seine Aufmerksamkeit wieder auf den Maler gelenkt, der nun ganz nahe war. David konnte das fremde Aftershave riechen, außerdem einen leichten Nachhall der eben gerauchten Zigarette. Er wich einen Schritt zurück, doch Gabriel kam noch näher. Noch ein Schritt zurück und er stieß mit dem Rücken an der Bücherwand an. Gabriel grinste. „Was denn?“ Ihre Gesichter waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt, die Nasenspitzen berührten sich beinahe. „Du hast doch nicht etwa Angst?“ Gabriel stütze sich mit beiden Armen links und rechts von Davids Kopf an der Wand ab. David schluckte. Er sah zwar das Lächeln auf Gabriels Lippen, allerdings funkelten die Augen des Malers kalt und unbarmherzig. Wie der Vollmond, der sich auf einer klaren Wasseroberfläche spiegelte. Dieser Anblick jagte ihm ein Kribbeln über den Rücken. Gleichzeitig stand er stocksteif da, konnte sich nicht rühren. Er sollte den Maler wegstoßen und abhauen. Schleunigst. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Als ob ihn das Ganze nichts anginge, stand er einfach nur da. Dann brachte Gabriel seinen Mund ganz nah an Davids Ohr, flüsterte: „Keine Sorge, ich bin nicht wie der Alte. Ich könnte dir niemals etwas tun.“ Dieser Satz ließ David das Blut in den Adern gefrieren. Er brauchte ein paar Sekunden, ehe die volle Bedeutung der Worte zu ihm durchdrang. Mit aufgerissenen Augen – durcheinander, verstört, entsetzt – starrte er Gabriel an, der sich nun wieder etwas zurücklehnte und scheinbar voller Entzücken Davids Reaktion abwartete. „Was?“ Mehr als eine gehauchte Frage brachte David nicht hervor. Bilder tauchten in seinem Kopf auf. Bilder, die er eigentlich aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte – die er um alles in der Welt hatte vergessen wollen. Nun reichte ein Satz von Gabriel und sie waren wieder da. „Woher …?“, stammelte er weiter. Ihm war, als drehte sich alles vor seinen Augen. Halt suchend stützte er sich mit einer Hand auf ein paar Büchern ab. Das Grinsen verschwand aus Gabriels Gesicht. Er wandte sich um und schlenderte durch den Raum. „Ich hab dich gleich wiedererkannt vor dem Café, selbst nach all den Jahren“, gab er ungerührt zurück. David warf ihm einen schnellen Blick zu, blinzelte, atmete einmal bewusst ein und aus. Übungen, die ihm halfen, die innere Panik niederzuringen, an die er aber in den entsprechenden Situationen selbst meist nicht dachte. Jetzt beruhigte ihn das tatsächlich. Außerdem hatte Gabriel durch seine eigenen Worte dafür gesorgt, dass er weniger bedrohlich auf David wirkte. Das war das eine. Aber selbst wenn es wahr war, was Gabriel soeben angedeutet hatte. Selbst wenn sie sich jetzt wiedergesehen hatten, änderte das nichts. Vergangenheit war Vergangenheit. David schüttelte sich innerlich, versuchte sich an das zu erinnern, was er, außer dem bewussten Atmen, noch in der Therapie gelernt hatte. Er beruhigte sich, gewann Distanz zu den Ereignissen damals. Er war nicht mehr in diesem Raum, er war hier, bei Gabriel, in dessen Atelier. „Oh Mann, siehst du fertig aus“, stellte Gabriel nüchtern fest, ließ sich zurück auf das Sofa fallen und fixierte David mit seinen blauen Augen. David löste sich von der Wand, bemühte sich, ruhig zu wirken. Gabriel war schließlich auch ruhig. Um genau zu sein, war der Maler sogar vollkommen gelassen, legte die Füße auf den Sofatisch und zündete sich erneut eine Zigarette an. „Findest du das witzig?“, fragte David jetzt, nachdem ihm langsam dämmerte, dass dieser Kerl ihn die ganze Zeit schon im Unklaren gelassen hatte. „Was meinst du? Was soll ich witzig finden?“ Gabriel machte ein Gesicht, als wäre er die Unschuld in Person. David schüttelte nur leicht den Kopf. Er wollte sich ebenfalls setzen, aber nicht aufs Sofa zu diesem Menschen. „Ich beiß dich schon nicht“, bemerkte der Maler, nachdem er Davids Unentschlossenheit offenbar entlarvt hatte. „Setz dich, ich hol was, das dich wieder auf Vordermann bringt.“ Gabriel verschwand in der Küche und David nahm Platz. Jetzt nach draußen zu gehen könnte er nicht ertragen. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und presste für ein paar Sekunden die Handflächen auf seine Augen. Dieser Tag verlief so gar nicht in den Bahnen, wie er es sich vorgestellt hatte. Kapitel 11: ------------ Der Typ war nicht allein. Sie hörte eine gedämpfte Unterhaltung, unterbrochen ab und zu von Schweigen. Dann wieder ein Lachen und eine leise Erwiderung. Sie selbst blieb still. Konnte gar nicht anders, als zu lauschen. Tagein, tagaus. Wie lange schon? Wie viele Tage war sie schon hier? Und wie lange würde sie noch hier sein? Sie dachte an Tom. Was mochte er wohl tun? Ob er sich schon wunderte, ob er gar schon irgendetwas unternommen hatte, um sie zu suchen? Oder war ihm am Ende noch gar nicht aufgefallen, dass sie verschwunden war? Nein, das war unmöglich. Er hatte bestimmt … Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und sie blinzelte sie fort. Tom hatte ihr ein Eis gekauft, zwei Kugeln, Erdbeere und Stracciatella. Der Abend war warm gewesen, eigentlich noch keine Jahreszeit für Eis, aber das war Tom egal gewesen. Er hatte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen gehaucht, die bestimmt nach Erdbeere und Stracciatella geschmeckt hatten. Sie versuchte, sich die Süße der Erdbeeren vorzustellen, das herbe Aroma der Zartbitterschokolade, doch der metallische Geschmack auf ihrer Zunge ließ sich nicht vertreiben, nicht einmal in Gedanken. Sie wollte Tom nie wieder sehen, sie konnte ihn nie wieder sehen. Nicht nach dem, was in den vergangenen Tagen mit ihr geschehen war. Dabei hatte sie ihn einfach nur mit dem Bild überraschen wollen. Kapitel 12: ------------ Während Gabriel in der Küche war, schaute David sich ein weiteres Mal in dem großzügigen Raum um. Jetzt, da er wusste, wer Gabriel war … Nein, das stimmte nicht. Er wusste überhaupt nicht, wer dieser Mensch war. Er kannte lediglich eine kurze Episode aus einer unliebsamen Vergangenheit dieses Menschen. Aber nun, da er um diese Episode wusste, sah er alles irgendwie anders. Es war fast ein wenig Bewunderung, die David empfand. Gabriel hatte etwas aus seinem Leben gemacht. Er tat etwas, das ihm Spaß machte. Und was ist mit mir?, fragte sich David. Er lebte vor sich hin, gab sich Mühe, sich den Gepflogenheiten aller um ihn herum anzupassen und kam sich dabei doch stets wie ein Fremdkörper vor. Aber er war schon damals der Schwächere von ihnen gewesen. Das war ihm klar und das musste auch Gabriel mehr als bewusst sein. Andernfalls hätte dieser nicht so sehr seinen Spott mit ihm getrieben. Ein Porträt hatte Gabriel von ihm malen wollen. David schluckte ein bitteres Lachen hinunter und ging einmal um das Sofa herum. „Von wegen“, murmelte er und griff nach dem Zeichenblock, der noch immer auf dem Tisch lag und von dem ihm sein eigenes Konterfei entgegenblickte. Je länger David das Bild anstarrte, umso unwohler fühlte er sich in seiner Haut. Die Zeichnung war wirklich detailliert und aufwändig, so weit er das aus seiner Sicht beurteilen konnte. Für eine bloße Masche, ihn hierher zu locken, hatte der Maler wirklich viel Aufwand in das Bild gesteckt. Vor allem aber lag etwas in dem Blick des gezeichneten Davids, das den echten David irritierte. Wenn er nur genau benennen könnte, was es war, das ihn störte. Gabriel kam aus der Küche mit zwei dampfenden Tassen in den Händen zurück. Er wirkte erstaunt, als er David mit der Skizze in der Hand erblickte, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich für einen kurzen Moment. War das tatsächlich ein liebenswürdiges Lächeln, mit dem er David bedachte? David dachte unwillkürlich an die Szene im Café zurück, als er schon einmal den Eindruck gehabt hatte, dass hinter dem aufgesetzten Benehmen etwas Anderes, Unverfälschtes hervorgekommen war. Aber er war alles andere als ein Menschenkenner, also konnte er sich in diesem Punkt auch gewaltig täuschen. Gabriel verschwand noch einmal, nachdem er die Tassen abgestellt hatte, und damit war der kurze Moment dieser für David irritierenden Vertrautheit auch schon wieder vorüber. Es ist das Bild!, schoss es ihm durch den Kopf. Nicht ich. Er hat so lange daran gesessen … Schnell legte David den Block wieder auf den Tisch. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, wenn die eigene Arbeit derart zur Schau gestellt wurde und schonungslos allen Kritiken ausgesetzt war. Das unterschied sich so gewaltig von seiner eigenen, anonymen Tätigkeit. Apropos anonym … Die Gesichter auf den Bildern in der Ausstellung waren für die meisten Besucher vermutlich die Gesichter von Fremden, so auch für ihn, aber irgendwo gab es die echten Personen aus Fleisch und Blut, die für diese Porträts Modell gestanden hatten. Ob sie sich die Ausstellung angeschaut hatten? Auf einmal merkte David, wie müde er war. Gabriels Offenbarung und dieses ständige Kopfzerbrechen laugten ihn aus. Er fühlte sich beinahe wie nach einer seiner bedeutungslosen Therapiestunden. Sein Blick blieb an den Tassen haften, die Gabriel gebracht hatte. Ein verführerischer Duft von Kaffee stieg ihm in die Nase. Es war lange her, dass er einen anderen als den getrunken hatte, der im Café in der Innenstadt verkauft wurde oder der aus seiner eigenen Kaffeemaschine tröpfelte. Zögernd griff er nach einer der Tassen. Sie lag warm in seinen Händen und er genoss dieses wohltuende Gefühl, das seine Finger durchströmte. Gedankenverloren schlenderte er in den hinteren Teil des großzügigen Raumes und stand schließlich vor der Staffelei, die er bereits bei seinem Eintreten bemerkt hatte. Sie war so gedreht, dass man die Leinwand, die darauf festgemacht war, von der Tür aus nicht sah. Jetzt jedoch konnte er einen Blick darauf werfen und fand sich einem offensichtlich halbfertigen Gemälde gegenüber, das eine junge Frau zeigte. Auch jetzt schon hatte er beinahe das Gefühl, dem Mädchen gegenüber zu stehen. Wie mochte sich das erst anfühlen, wenn das Bild fertig war? Die Traurigkeit, die ihm von der Leinwand aus den blauen Augen entgegenblickte, berührte etwas tief in ihm. Er fand es wirklich erstaunlich, was ein paar Farbstriche, richtig aufgebracht, für eine Wirkung erzielen konnten. In diesem Augenblick kam Gabriel erneut aus der Küche, mit einer Schüssel voll Keksen, die er ebenfalls auf dem Tisch abstellte. David bemerkte, wie er nun von Gabriel beobachtet wurde. Es war wohl nur Neugierde, die im Blick des Malers lag, doch David fühlte sich trotzdem irgendwie ertappt und kehrte wieder zur Sitzgruppe zurück. Gabriel sagte nichts und David war diese Stille unangenehm. „Und jetzt?“, fragte er in das Schweigen hinein, schaute den Maler dabei aber nicht an. Im Reden war er doch noch nie gut gewesen. „Du solltest den Kaffee trinken, solange er noch heiß ist. Gefrühstückt hast du wohl schon?“ Diese latente Überheblichkeit war nun wieder deutlich herauszuhören, als wüsste Gabriel sowieso schon alles. Natürlich hatte David schon gefrühstückt. Wie jeden Morgen eben. Zur Antwort zuckte er nur kurz mit den Schultern. Er spürte immer noch eine bleierne Schwere, die seinen Körper gefangen hielt. Vielleicht sollte er es einfach riskieren und einen Schluck von diesem Kaffee probieren. So viel anders als der im Café konnte er doch nicht schmecken. Kaffee war Kaffee, oder nicht? „Du solltest dich wirklich setzen, David.“ Jetzt schaute David doch zu Gabriel hinüber, der sich gerade an den Keksen bediente. Du solltest … Du solltest … Es war David überhaupt nicht recht, dass der Maler der Meinung war, er wisse, was das Beste für ihn sei. Nein … David krempelte diesen Gedanken noch einmal um. Eigentlich war es hauptsächlich so, dass er verärgert war, weil er selbst keine Ahnung hatte, was er am besten mit sich anfangen sollte. Gabriel meinte es doch nur gut. Da David keine Ahnung hatte, über was sie sprechen könnten, er aber auch nicht einfach still dasitzen wollte, während er seinen Kaffee trank, ging er um das Sofa herum zu dem Bücherregal, überflog die Titel auf den Buchrücken und zog dann ein eher dünnes Büchlein heraus, dessen Autor ihm vage bekannt vorkam – vielleicht von einer Reklame. Gabriel beschwerte sich nicht, dass er sich so selbstständig an der Lektüre bediente, und so ließ sich David mit dem Buch in den Händen doch auf dem Sofa nieder, wie der Maler es vorgeschlagen hatte. Er bemerkte durchaus, dass Gabriel ihn vom Sessel aus musterte, doch er hielt seinen Blick starr auf die Seite mit der Überschrift „Kapitel 1“ gerichtet und versuchte, die Buchstaben und Wörter, die auf dieser ersten Seite umherschwirrten, zu sinnvollen Sätzen zu ordnen. Eigentlich wollte er gar nicht lesen, eigentlich wollte er viel lieber zu Hause sein und diesen heutigen Tag einfach vergessen, aber das ging wohl schlecht. Man konnte nichts im Leben rückgängig machen. Jede Entscheidung zog eine Konsequenz nach sich, und manchmal waren diese Konsequenzen eben nicht vorherzusagen. Gabriel knusperte noch einen Keks und war dann so schnell auf den Beinen, dass David erschrocken den Kopf hob. Doch der Maler lief nicht auf ihn zu, sondern nach hinten in seine Arbeitsecke. Er schnappte sich eine Leinwand und noch ein paar kleinere Gegenstände, irgendwelche Stifte, die David nicht erkannte, und kehrte damit in seinen Sessel zurück. David war irritiert, doch dann schwante ihm, was da vor sich ging. „Lass dich nicht stören“, meinte Gabriel leichthin und begann, mit einem der Stifte auf der Leinwand herumzufuhrwerken. Das war natürlich leichter gesagt als getan. David wollte etwas sagen, hatte den Mund schon geöffnet, aber welche Worte würden Gabriel schon davon abhalten, seinen Anblick auf der Leinwand zu verewigen? Außerdem konnte er doch jederzeit gehen, nichts und niemand hielt ihn hier fest. Und doch hatte David nicht das Verlangen, diesem Augenblick entfliehen zu müssen. Er saß auf diesem Sofa, mitten in einem Raum, stand sogar unter Beobachtung, aber dieses Paar Augen, das ihn unentwegt prüfend ansah, hatte nichts Wertendes, nichts Urteilendes. Für einen kurzen Moment schloss David die Augen. Da war nicht dieses Gefühl, als drehe sich auf einmal das Zimmer um ihn, kein Herzklopfen, keine Atemnot. Da war vielmehr eine eigentümliche Ruhe, und das nicht nur, weil in diesem Augenblick außer dem über die Leinwand scharrenden Stift kein anderer Laut in der Luft lag, sondern auch, weil er selbst vollkommen gelassen war. Er hatte das Gefühl, er könnte hier sitzen, Kaffee trinken und in dem Buch lesen. Nur das. Und was Gabriel anging … Es war okay. Gabriel war Maler, steckte seine ganze Energie in seine Bilder und wenn er nun eben David malen wollte, dann konnte er ihm das doch nicht verwehren. Schließlich hatte Gabriel etwas aus seinem Leben gemacht, hatte sich trotz des erlebten Leides wieder in die Gesellschaft eingefunden. David bewunderte das. Außerdem hatte Gabriel ihn immer beschützt. David schlug die Augen wieder auf. Unbewusst stieß er einen leisen Seufzer aus, nippte an dem lauen, bittersüßlichen Kaffee und begann, das erste Kapitel des Buches noch einmal von vorn und konzentriert zu lesen. Kapitel 13: ------------ Sie hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Es war jemand da gewesen, jemand, der ihr hätte helfen können!, schoss es ihr zum wiederholten Mal durch den Kopf, und doch hatte sie keine Möglichkeit gehabt, sich irgendwie bemerkbar zu machen. Die Fesseln und der Knebel hatten sie daran gehindert. Und nun war der Besuch – ihre Chance! – einfach so fortgegangen. Sie wollte schreien, wollte toben. Doch selbst das wurde ihr verwehrt. Eine kurze Zeit lang blieb es still, bis sie wieder etwas hörte. Das Schloss klickte, die Klinke bewegte sich. Dann schwang die Tür langsam auf. Er stand da, grinste sie lässig aus dem Türrahmen an. Noch bevor er näher kam, roch sie den Zigarettenqualm. Sie wollte etwas sagen, ihn anschreien, er solle zum Teufel fahren, doch es kamen nur gedämpfte Laute aus ihrem geknebelten Mund. „Na, na, immer schön mit der Ruhe.“ Er kam auf sie zu und sie machte sich so klein, wie sie nur konnte. Als würde das irgendetwas ändern. Er wollte sie packen, seine Hand näherte sich ihrem Gesicht und ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Nicht schon wieder!, waren ihre Gedanken. Nicht schon wieder! Doch er zog ihr lediglich den Knebel vom Mund. Es kam so plötzlich, so unerwartet, dass sie tatsächlich vergaß, zu schreien. Überrascht keuchte sie auf, atmete zwei, drei Mal tief durch den Mund ein und aus und dann, als sie sich ihrer Situation wirklich bewusst wurde, starrte sie den Typen nur stumm an. Er hätte ihr den Knebel nicht abgenommen, wenn er sich nicht sicher wäre, dass niemand sie hören könnte. Es war vollkommen sinnlos um Hilfe zu rufen. Er setzte sich neben sie auf das Bett, starrte sie an und doch war irgendetwas anders als sonst, das merkte sie. Mit den Fingern seiner linken Hand drehte er eine ihrer Haarsträhnen, aber er wirkte nicht ganz bei der Sache, als dachte er über etwas anderes nach. Sie begann zu zittern, ob vor Angst oder Aufregung konnte sie nicht sagen. „Weißt du“, begann er zu sprechen und schaute dabei an ihr vorbei an die Wand, „heute bin ich gut drauf.“ Er lächelte sie an, aber dieses Lächeln war ihr mittlerweile so verhasst, dass es sie einfach nur wütend machte. „Du hast Glück, denn ich habe ein viel interessanteres …“ Jetzt oder nie! Mit diesem Gedanken drehte sie ihren Kopf, öffnete den Mund und biss so kräftig zu, wie sie konnte. Es war egal, er würde sie sowieso nicht gehen lassen. Auch wenn sie wegen ihrer Fesseln nicht abhauen konnte, so konnte sie ihm doch wenigstens ein bisschen was von dem heimzahlen, was er ihr angetan hatte. Sie biss so kräftig zu, wie sie konnte, und erwischte tatsächlich zwei seiner Finger, die ihre Haarsträhne gezwirbelt hatten. „Aah! Du …!“ Brüllend sprang er auf, riss seinen Arm, den sie mit den Zähnen gepackt hatte, zurück, nur um im selben Moment mit der anderen Hand auszuholen und ihr eine solch heftige Ohrfeige zu verpassen, dass sie dachte, ihr würde der Kopf von den Schultern gerissen. Doch sie schrie nicht auf. Sie blieb ruhig. Ihre eine Wange glühte vor Schmerz und sie schmeckte Blut auf ihrer Zunge, aber sie war sich sicher, dass es nicht ihr Blut war. „Was fällt dir ein?“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie atmete schwer ein und aus, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Seine Brust bebte ebenfalls. „Was fällt dir ein?“ Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er wieder einen Schritt näher kam. Ein gefährliches Funkeln lag nun in seinem Blick und sie schloss die Augen. Sollte er doch mit ihr machen, was er wollte. Das tat er eh schon die ganze Zeit. „Weißt du was? Du hast wirklich Glück, dass ich heute gute Laune habe. Und dein Gesichtsausdruck gerade war echt zum Schießen.“ Er brachte es doch tatsächlich fertig, ein Kichern von sich zu geben. „Allerdings war’s das jetzt in Zukunft mit den Höflichkeiten. Also …“ Plötzlich wurde ihr Kopf an den Haaren zurückgerissen und sie fand sich Auge in Auge mit dem Kerl, konnte seinen warmen Atem auf ihren Lippen spüren. „Jetzt geht’s erst richtig los.“ Grob drückte er seinen Mund auf ihren. Sie schmeckte nicht nur Zigarette, sondern auch etwas Süßliches, Karamell und Nuss. Dann warf er sie, ihren Kopf immer noch an den Haaren gepackt, wieder zurück aufs Bett, wie ein schimmliges Stück Brot. Kapitel 14: ------------ Gegen Mittag war David doch aufgebrochen. Gabriel hatte ihn sogar bis zur Tür gebracht und dort verabschiedet. Das Buch hatte er ihm aber nicht mitgeben wollen. „Wenn du wissen willst, wie es weitergeht, musst du wieder kommen“, hatte der Maler ihm mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht noch hinterhergerufen. Nun lief David den gleichen Weg, den er heute Morgen gekommen war, wieder zurück. Eilig hatte er es nicht. Der leichte Wind, der ihn bereits auf seinem Hinweg begleitet hatte, fuhr ihm sanft durch die Haare und über den Nacken und jagte ihm ein Kribbeln durch den gesamten Körper. Es war ein gutes Gefühl. Die Sonne schien auf ihn herab, auf den Kopf und die Schultern und wärmte ihn durch den Stoff seines Mantels. Von allen Seiten war, über dem üblichen Geräuschpegel der Stadt schwebend, unbeschwertes Vogelgezwitscher zu hören. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Er würde niemandem von seiner Begegnung erzählen, auch nicht seiner Mutter. Sie würde sich nur aufregen. Er konnte sich ihr gerötetes Gesicht gut vorstellen und war sich sicher, dass sie ihm in ihrer Aufregung sogar verbieten würde, Gabriel wiederzusehen. Als ob das etwas ändern würde. Er wusste, dass sie es damit nur gut meinte, aber anders als Gabriel war sie nicht dabei gewesen, hatte sie nicht das erlebt, was er erlebt hatte. Diesmal würde er selbst ihr nichts erzählen. Es war doch so: Er teilte mit Gabriel schon so viele Geheimnisse, da fiel dieses kaum mehr ins Gewicht. David blickte in den Himmel. Ein paar weiße Wolkenfetzen trieben träge über ihn hinweg. Aufgrund der Jahreszeit stand die Sonne noch nicht so hoch und die großen Gebäude wie auch die Bäume warfen lange Schatten. Er kam an einem Spielplatz vorbei und konnte hören, wie eine Handvoll Kinder ausgelassen ihren Spaß auf Schaukel und Rutsche hatte. Mit den Händen tief in den Manteltaschen vergraben ging David immer weiter. Trotz des guten Wetters wirkte alles um ihn herum irgendwie verschlafen. Er kam an dem Kiosk vorbei, den er auch auf dem Weg von der Arbeit nach Hause immer passierte. Heute hatte er geschlossen, es war Sonntag. An der Ampel musste David warten, denn sie schaltete in dem Moment auf Rot, als er näher kam. Neben ihn trat eine junge Frau, die energisch in das Telefon an ihrem Ohr sprach. Gegenüber auf der anderen Straßenseite wartete eine Frau mit Kinderwagen. Die Ampel sprang auf Grün um und David setzte sich wie die anderen Wartenden in Bewegung. Ein Auto kam mit quietschenden Reifen genau auf Höhe der Straßenmarkierung zum Stehen. Zwischen den hohen Häuserblocks in seinem Wohnviertel pfiff der Wind etwas stärker und David war im ersten Moment ganz froh, als er das Treppenhaus betrat. Die Erleichterung hielt aber nur kurz an. Hier, in dieser tristen, vertrauten Umgebung war das Gefühl von Gelöstheit, das ihn den Weg über begleitet hatte, bereits weitestgehend verschwunden und als er die Wohnungstür hinter sich abschloss, war er endgültig wieder in seinem Leben angekommen. Dort führte ihn sein erster Weg zur Schublade mit den Zuckertütchen, als ihm auffiel, dass er gar keines in seiner Manteltasche hatte. Er runzelte die Stirn, streifte sich die Schuhe ab und ging in die Küche. Es war noch Kartoffelauflauf seiner Mutter von gestern da. Schnell wusch er sich die Hände und stellte dann die Glasform in den Backofen, um die übrige Portion zu wärmen. Als er die Backofenklappe zuschob, blieb sein Blick an seinem Spiegelbild hängen, das in der gläsernen Klappe mehr oder weniger gut zu erkennen war. Ihm fiel das Bild wieder ein, die Skizze, wie Gabriel sie genannt hatte, und dass er sich beim Betrachten dieser Zeichnung ebenfalls vorgekommen war, als schaute er in sein Spiegelbild. War es das, was Gabriel tat? Waren seine Bilder nichts anderes als ein detailgenaues Abbild eines Originals? Oder blickte der Maler doch tiefer? David fielen die vielen verschiedenen Gesichtsausdrücke der drei Personen auf den Bildern wieder ein, die er in der Ausstellung bewundert hatte. Dafür konnte man doch nicht Modell stehen. Er selbst hatte das Bild, das Gabriel während seines Besuchs begonnen hatte, nicht angesehen. David blinzelte und mit einem kurzen Kopfschütteln rief er sich im selben Moment wieder zur Ordnung. Er musste noch den Tisch decken, bevor der Kartoffelauflauf zu dunkel wurde. Schnell erhob er sich aus seiner hockenden Position und entdeckte, als er Teller und Besteck auf der Tischplatte ablegte, die Zeitung von vor einigen Tagen, die dort noch immer herumlag. Er hatte sich seitdem keine neue gekauft, trotzdem war es wohl an der Zeit, dass er sie ins Altpapier entsorgen konnte. Als er nach dem grauen Papier griff, stutzte er. Es war der Bericht über das verschwundene Mädchen, der auf der Titelseite prangte, zusammen mit einem Foto dieses Mädchens. Deswegen hatte er die Zeitung überhaupt erst gekauft. Jetzt, da er dieses Foto anschaute, glaubte er auf einmal, das Mädchen zu erkennen. Ihm war, als hätte er es erst heute gesehen. Kapitel 15: ------------ „Warum hast du das gemacht?“ Der blonde Junge schaute aus verquollenen Augen dem Jungen mit den schwarzen Haaren ins Gesicht und streckte seinen Arm nach ihm aus. Der Junge mit den schwarzen Haaren lag in einer Ecke auf dem Boden, seitlich zu einer Kugel zusammengerollt und die Knie dabei fest mit den Händen umklammert. Der blonde Junge hockte neben ihm. Der andere musste Schmerzen haben, war sich der blonde Junge sicher. Die vielen Schläge und Tritte … Alles nur wegen ihm. Der Schwarzhaarige starrte regungslos auf den staubigen Boden, dann schnaubte er plötzlich, verzog das Gesicht dabei und drehte sich über den Rücken in die andere Richtung, weg von dem blonden Jungen. „Du kannst ja selber nicht auf dich aufpassen.“ „Aber …“ So war es. Er erinnerte sich … Nachdem die Stahltür sich geöffnet hatte, war sie so unvermittelt über ihn hergefallen, die Angst, dass er sich nicht mehr hatte rühren können. Er hatte auf der Matratze gesessen, mit den Handflächen über den Ohren und fest zusammengekniffenen Augen. Hatte nichts hören wollen, nichts sehen wollen. Der Mann war laut geworden, hatte ihn angeschrien, bis ihm die Tränen gekommen waren. Verstanden hatte er trotzdem nichts. Dann war die Stimme des Mannes auf einmal ganz nah gewesen und der Junge hatte doch die Augen geöffnet. Das Gesicht des Mannes war rot angelaufen gewesen. Der Mann hatte ihn so fest am Oberarm gepackt, dass es richtig wehgetan hatte, hatte ihn auf die Beine gezerrt und vor sich her geschubst. Der Junge war einfach wieder umgefallen, vor lauter Tränen hatte er gar nichts mehr richtig erkennen können. Dann war mit einem Mal der andere Junge aufgesprungen und hatte sich wie eine Katze an einen Arm des Mannes geklammert. Der Mann hatte den Schwarzhaarigen daraufhin wie ein abgelegtes Kleidungsstück einfach in die Ecke geschleudert. Ein kurzer Moment der Stille war eingekehrt, als sich der Mann dann doch mit einem Knurren umgewendet und über den Jungen in der Ecke hergefallen war. „Es tut mir leid.“ Allein der Gedanke an das, was er mit angesehen hatte, trieb dem blonden Jungen wieder Tränen in die Augen. Er hatte nichts unternommen, im Gegensatz zu seinem unfreiwilligen Gefährten. „Es tut mir so leid, ich …“ Er berührte den Jungen mit den schwarzen Haaren sanft an der Schulter, zunächst nur mit den Fingerspitzen, dann legte er seine Handfläche ganz auf. Er hatte das alles doch nicht gewollt, das wollte er dem anderen irgendwie klarmachen. Schniefend verharrte er in dieser Position und auch der Junge mit den schwarzen Haaren rührte sich nicht. Durch das kleine, vergitterte Fenster drang kühles, weißes Mondlicht in den Raum und malte einen hellen Fleck neben die Matratze auf den Boden. Eine vorüberziehende Wolke ließ es im Zimmer für kurze Zeit dunkel werden. Der blonde Junge konnte nicht sehen, dass auch aus dem Augenwinkel des Jungen mit den schwarzen Haaren langsam eine Träne rann. Kapitel 16: ------------ Es ließ ihn nicht los. Ein ums andere Mal hatte David sich in den vergangenen Stunden das Bild auf der Frontseite der alten Zeitung ansehen müssen, hatte auch das Gesicht von Gabriel immer wieder vor Augen gehabt. Es war zum Verrücktwerden. Hatte Gabriel wirklich das halbfertige Portrait dieses verschwundenen Mädchen bei sich zu Hause stehen? Wie konnte das sein? Oder war es am Ende bloß Zufall und es handelte sich gar nicht um dieselbe Person? David stieß einen leichten Seufzer aus. Es brachte doch nichts, wenn er hier in seiner Küche über diese Fragen grübelte. Er würde Gabriel einfach fragen. Irgendwann, wenn er ihn mal wieder sah. Falls er ihn mal wieder sah. Was machte er sich überhaupt solche Gedanken? Das hatte doch nichts mit ihm zu tun. Und wenn Gabriel jeden, den er malen wollte, so bedrängte wie ihn, war es wirklich kein Wunder, wenn ihm die Leute davonliefen. Vielleicht hatte die junge Frau auf der Leinwand einfach keine Lust mehr gehabt, sich weiter mit diesem penetranten Maler abzugeben. Und doch … Am Anfang war David der Maler ja auch mehr als suspekt gewesen, aber nach dem heutigen Besuch konnte er das Ganze nicht mehr so einseitig betrachten. Gabriel hatte ein paar Wochen lang das Gleiche erlebt wie er, das musste sich doch in irgendeiner Form auf ihre Beziehung auswirken. Ganz abgesehen davon, dass diese Zeit Gabriels Leben bestimmt genau so sehr beeinflusst hatte wie seins. David kämmte sich mit den Fingern durch seine Haare. Er war müde, der heutige Tag war doch aufreibender gewesen, als er noch in der Früh, als er zum Atelier aufgebrochen war, gedacht hatte. Und morgen musste er wieder zur Arbeit. Wahrscheinlich war es das Beste, wenn er jetzt ins Bett ging. Die Uhr zeigte halb neun. Schwerfällig stemmte er sich in die Höhe. Der Stuhl verursachte dabei ein scharrendes Geräusch auf dem Fliesenboden, das in dem sonst stillen Raum unnatürlich laut hallte. David schob den Stuhl zurück unter den Tisch, warf noch einmal einen Blick durch die kleine Küche und kontrollierte, ob alles an seinem Platz war. Den Abwasch hatte er gleich schon nach dem Essen erledigt. Dann machte er sich auf den Weg ins Bad, knöpfte unterdessen bereits sein Hemd auf und streifte es ab. Als er am Badezimmerspiegel vorbei kam, fiel sein Blick auf seinen nackten Oberkörper. Er war nichts Besonderes. Also objektiv betrachtet war er wohl ganz ansehnlich, etwas schmal vielleicht, doch dafür, dass er keinen Sport trieb, war das auch kein Wunder. Aber er hatte keine alten Narben, keine Auffälligkeiten, die auf das hindeuteten, was er erlebt hatte. Es fiel ihm nicht schwer, sich von seinem Spiegelbild abzuwenden. David nahm ein frisches Handtuch aus dem Schrank, hängte es an den Haken neben der Dusche an der Wand und entledigte sich dann noch seiner Hose, ehe er in die Kabine stieg. Er duschte sich jeden Abend, musste allen Staub und Schmutz, den er so im Laufe eines Tages an sich sammelte, abwaschen. Nur so wagte er sich ins Bett. Außerdem beruhigte ihn das lauwarme Wasser, bereitete ihn darauf vor, die Dunkelheit der Nacht in Ruhe zu überstehen. An diesem Abend dauerte seine Dusche länger als gewöhnlich und David musste die Temperatur heißer als sonst einstellen. Das Wasser plätscherte sanft über seine Haut, die er lediglich mit einem Schwamm abrubbelte. Nach einer gefühlten Ewigkeit drehte er das Wasser dann doch wieder ab, trocknete sich mit dem Handtuch, ohne dabei einen Blick in den Spiegel zu werfen, und schlüpfte in die Jogginghose, die er bereits heute Morgen bereit gelegt hatte. Ein paar Wassertropfen rannen noch von seinen Haaren über die Schultern und den Rücken, als er ins Schlafzimmer ging. Er sperrte die Tür hinter sich ab, zog die Vorhänge zu und lehnte sich mit der Decke über den Schultern an die Wand hinterm Bett. Auf diese Weise – im Sitzen – konnte er einschlafen, auch wenn diese Nacht eine unruhige war, voller Träume, an die er sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern konnte. Am nächsten Morgen quälte er sich mehr schlecht als recht auf die Beine, frühstückte, zog sich an und gelangte irgendwie zur Arbeit. Der Vormittag zog an ihm vorbei, ohne dass er hinterher sagen konnte, was er diese Stunden über getan hatte. Frau Meier hatte ein, zwei Mal bei ihm vorbeigeschaut, irgendwelche Akten gebracht und er hatte sich wohl auch mit ihr unterhalten, soweit es notwendig gewesen war, was er aber genau zu ihr gesagt hatte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Die Mittagspause kam deswegen gerade richtig. David machte sich wieder auf in den kleinen Park. Es war windig heute und als er bei seiner Bank ankam, musste er feststellen, dass er seine Brotzeit zu Hause vergessen hatte. So etwas war ihm noch nie passiert. Seufzend streckte er die Beine aus, lockerte seine Schultern und den Nacken und blickte in den trüben Himmel hinauf. Es war die Ungewissheit, die ihm zu schaffen machte. Auch wenn er sich noch so sehr einredete, mit der Sache doch gar nichts zu tun zu haben, so war es diese Unklarheit bezüglich des Bildes, die ihn wie ein unsichtbarer Schatten verfolgte und ihm im Moment sein Leben erschwerte. War das nur so, weil es etwas mit Gabriel zu tun hatte? Bestimmt, so musste es sein. Mit leerem Magen machte er sich nach kurzer Zeit auf den Rückweg, um irgendwie auch noch den Nachmittag zu bewältigen. Frau Meier hatte es offenbar eingesehen, dass man heute noch mühsamer als sonst mit ihm ins Gespräch kam. David hatte beinahe ein schlechtes Gewissen gegenüber Frau Meier und seiner Arbeit im Allgemeinen, doch auch für solche Gedanken fehlte ihm die Konzentration. Als es endlich Feierabend wurde, packte er dankbar seine Sachen und machte sich auf in die Stadt. Ein Kaffee konnte die Angelegenheit nur besser machen. Der Wind hatte etwas nachgelassen und es blies nun nur noch ein feuchter Luftzug zwischen den Häuserfronten hindurch, der mit klammen Fingern nach Davids Nacken griff. Dieses Wetter hatte beinahe etwas Herbstliches und David überlegte sich ernsthaft, ob er seinen Kaffee wie im Winter drinnen genießen sollte. Vielleicht, wenn es im Lokal nicht zu voll war. Er bog um die Ecke auf den Platz mit dem Brunnen in der Mitte ein. Es war nicht viel los. David schaute sich um, ließ seinen Blick von links nach rechts und wieder zurück schweifen. Er hielt Ausschau nach Gabriel. Aber natürlich würde Gabriel bei solch einem Wetter nicht mit seinen Malsachen im Freien hantieren. Zumal ja auch keine Laufkundschaft unterwegs war. David war für einen kurzen Moment fast ein wenig enttäuscht, doch wenn er sich vorstellte, dem Maler wirklich gegenüber zu stehen, war er eigentlich ganz froh darüber. Er lief auf die bekannte Markise seines Cafés zu und spähte ins Innere, nachdem er schon von Weitem gesehen hatte, dass zumindest draußen nichts los war. Sollte er sich hinein wagen? Es war relativ leer und im Eck zwischen Fenster und Wand war sogar noch ein Tisch frei. Beim letzten Mal, als er hier unentschlossen gestanden hatte, war auf einmal Gabriel aufgetaucht. Es konnte doch nicht sein, dass er sich seinen Tag so sehr von diesem Maler bestimmen ließ. David straffte die Schultern und drückte gegen die Eingangstür. Ohne auf seine Umgebung zu achten, steuerte er geradewegs auf den freien Tisch in der Ecke zu, den er sich schon von außen ausgesucht hatte, und war einigermaßen erleichtert, als er auf dem Platz saß, von dem aus er sowohl den Raum überblicken als auch aus dem Fenster sehen konnte. Sofort trat eine Kellnerin an ihn heran, die er bislang noch nie gesehen hatte. „Haben Sie sich schon was ausgesucht?“, erkundigte sich die Frau, die ihr kastanienbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, zwar höflich, aber nicht sehr routiniert. Das bestärkte Davids Meinung, dass sie neu war. „Einen Espresso, bitte.“ „Alles klar, kommt sofort“, flötete die Kellnerin und verschwand in Richtung Theke. Hier im Café fühlte sich David irgendwie näher an den anderen Gästen dran als draußen, immerhin befanden sie sich hier allesamt im gleichen Raum, waren auf allen Seiten nach außen abgeschottet. Deswegen kam er gar nicht umhin, sich die Leute, die außer ihm noch im Café saßen, genauer zu betrachten. Nicht, dass es da viel zu sehen gab. Zwei ältere Frauen an einem Tisch, die sich gedämpft unterhielten und ein Stück Kuchen nach dem anderen vertilgten, eine weitere Frau mit Kopfhörern allein an einem Tisch, die in einem Buch las, ein junges Pärchen, das gemeinsam über einem aufgeschlagenen Ordner brütete, vielleicht Studenten. Zum Glück wurde David von niemandem beachtet. Sein Espresso wurde serviert und als er ausgetrunken hatte, stand die neue Kellnerin sofort wieder vor ihm und erkundigte sich nach weiteren Wünschen. Er lehnte wie sonst auch dankend ab, doch irgendwie ließ die Dame nicht locker. Nach zehn Minuten war sie erneut an seinem Tisch. David unterdrückte ein Seufzen. Wo war nur dieser Kellner, der sonst immer um diese Zeit bediente? Wenigstens passte dieser Umstand zum Rest des bisherigen Tages. Es lief heute einfach nicht rund. Ein ganz kleines bisschen nur hoffte David, Gabriel möge ebenfalls zur Tür hereinspazieren. Doch heute ließ er sich nicht blicken, genauso wenig wie der Kellner. Kapitel 17: ------------ Am darauffolgenden Tag reichte David ein Blick ins Café um zu bemerken, dass es wieder die neue Bedienung war, die den Gästen ihre Bestellungen servierte. Seltsamerweise fiel ihm die Entscheidung, auf den Kaffee an diesem Spätnachmittag zu verzichten, nicht schwer. Der Wind hatte nachgelassen und es war einigermaßen lau, wenn auch bewölkt. Nun hatte er sich also entschlossen, nicht ins Café zu gehen, aber was sollte er stattdessen tun? Er machte ein paar Schritte in Richtung Mitte des Platzes, konnte dort aber kein bekanntes Gesicht ausmachen. Vor allem konnte er Gabriel nirgends entdecken. Irgendwie war er die ganze Zeit davon ausgegangen, dass der Maler immer hier war, doch offenbar stimmte das nicht. Er hatte sich ja auch nie bei Gabriel erkundigt. Als er seinen Blick noch einmal über die Umgebung schweifen ließ, fiel ihm in einer abgehenden Seitenstraße ein Zeitungsständer auf. Da er sowieso keine anderen Pläne hatte, ging er darauf zu und inspizierte wenige Augenblicke später die Auslage. Auf den Titelseiten der Zeitungen war diesmal aber nichts von den verschwundenen Personen zu lesen. Eigentlich ein komischer Zufall, dass er zur selben Zeit, als ihm diese Titelstory des Regionalblatts über die vermisste junge Frau ins Auge gestochen war, Gabriel begegnet war. Und dann diese Ähnlichkeit des Gemäldes mit der Vermissten … David wusste seine eigenen Empfindungen nicht zu deuten – Neugierde? Unbehagen? Oder gar Angst? Nein, Angst war es nicht. Das Gefühl der Angst war ihm mehr als vertraut. Aber Unbehagen verspürte er definitiv bei dem Gedanken, jetzt schon in seine Wohnung zurückzukehren. Was sollte er also tun? Es würde noch eine Zeit lang hell bleiben. David verstärkte den Griff um seine Aktentasche und marschierte los. Die Innenstadt wurde mit fortschreitender Zeit lebendiger, David lief jedoch gegen den Strom an. Je weiter er ging, desto weniger Leuten begegnete er. Der Verkehr auf den Straßen neben ihm verschwamm zu einem monotonen Brummen. Seine Absätze klackten gleichmäßig auf dem Asphalt, unterbrochen nur von Wartezeiten an Ampeln, die er pflichtgemäß einhielt. Erst als er näher an das Gewerbegebiet kam, wurde es lauter um ihn. Laster, ab und zu Baumaschinen, doch auch hier hatte die Geschäftigkeit schon viel durch den nahenden Feierabend eingebüßt. David kam an einem Imbiss vorbei, an dem sich bereits eine kleine Menschentraube für ein Feierabendbier angesammelt hatte. Es roch nach Bratwurst und Frittierfett. Er passierte die lachenden, zum größten Teil gutgelaunten Leute und bog dann in die Straße ein, in der Gabriel sein Atelier und seine Wohnung hatte. Unwillkürlich begann Davids Herz schneller zu schlagen. Was machte er hier? Was sollte er antworten, wenn Gabriel ihn danach fragte? Sofern der überhaupt zu Hause war. Unwägbarkeiten, die auf einmal in Davids Bewusstsein sprangen und die ihn langsamer werden ließen. Ihn aus der Trance, in der er den Weg hierher bestritten hatte, rissen. Es waren die gleichen Zweifel, die ihn vor zwei Tagen erst ebenfalls aufzuhalten versucht hatten. Da jedoch war er ihnen Herr geworden. Heute wusste er, worauf er sich einließ. Oder bildete er sich das nur ein? Stück für Stück näherte er sich Gabriels Behausung. Hinaus zur Straße gab es keine Fenster, also war rein gar nicht zu erkennen, was im Innern los war. Der Innenhof, auf den die große Fensterfront des Lofts einen guten Ausblick gewährte, war von einer hohen Mauer umgeben, die David jetzt sogar von der anderen Seite aus erkannte. Vielleicht war das früher einmal eine Einfahrt für Laster gewesen? David schluckte, fuhr sich mit den Fingern ein letztes Mal durch die Haare und drückte auf den Klingelknopf. Dann wartete er. Weglaufen konnte er jetzt nicht mehr, doch es blieb alles still. Wie viel Zeit war vergangen? Sollte er noch einmal klingeln? Wenn Gabriel nicht da war, würde das nichts bringen. David wechselte die Hand, mit der er seine Aktentasche hielt und klingelte ein weiteres Mal. Irgendwo machte sich Erleichterung in seinem Innern breit. Die ganze Aufregung umsonst. Fast konnte er über sich selbst lachen. Es war immer noch alles ruhig. David machte einen Schritt nach hinten, wandte sich um machte sich auf den Rückweg. Warum war er erleichtert? Das Lachen, das er sich gerade eben noch selbst entlockt hatte, schlug in Bitterkeit um. Weil er ein Feigling war, deshalb. Er war kaum ein paar Meter weit gekommen, als es leise hinter ihm klapperte und eine Stimme überrascht seinen Namen ausrief: „David?“ Kapitel 18: ------------ Ganz offensichtlich hatte David den Maler, der etwas atemlos in seinem Hauseingang stand, bei etwas gestört. Nach dem anfänglichen Erstaunen kehrte jedoch sofort dieses hintergründige Lächeln in Gabriels Gesicht zurück, das David zu Beginn ihrer Bekanntschaft empört hatte und das er immer noch gänzlich außer Stande war, zu deuten. „Na, so was! Vor dem nächsten Wochenende hätte ich auf keinen Fall mit dir gerechnet. Was führt dich hierher?“ David war die wenigen Schritte, die er sich schon wieder auf den Nachhauseweg gemacht hatte, zurückgelaufen, nachdem Gabriel zunächst nicht geöffnet hatte. „Tut mir leid für die Störung. Wenn ich ungelegen komme, dann …“ „Quatsch. Ich war nur eben … verhindert.“ Gabriel zwinkerte ihm zu. „Komm rein.“ David folgte dem Maler schweigend und streifte wie beim letzten Mal seine Schuhe gleich am Eingang ab. Es fühlte sich seltsam an, nach der Arbeit nicht in seine Wohnung zurückzukehren, ungewohnt, doch irgendwie … Wenn er an gestern Abend dachte, wie er durch seine engen Zimmer geisterte, allein mit all seinen Gedanken und Einbildungen, dann spürte er die Beklemmung stärker als je zuvor. Hier war er nicht allein. „Ich möchte wirklich nicht stören“, wiederholte David noch einmal, auch wenn er bereits abgelegt hatte. Doch was sollte er auch sonst sagen? „Ich habe ja auch nicht wirklich einen Grund, hier zu sein.“ „Keinen Grund also?“ Gabriel hob die Augenbrauen. „Was ist mit deinem Feierabendespresso? Oder wolltest du ihn am Ende nicht ohne mich trinken? Hast du mich vermisst?“ Jetzt machte sich Gabriel wieder über ihn lustig. David fühlte sich dennoch genötigt, etwas zu erwidern, auch wenn er wusste, dass er dem Maler damit nur in die Hände spielte. „Diese neue Kellnerin, sie … ist unerträglich.“ „Neue Kellnerin?“ Gabriel stockte kurz in seiner Bewegung und David glaubte zu erkennen, wie es im Kopf des Malers ratterte. Kein Wunder, außer ihm machte vermutlich niemand solch einen Aufstand wegen eines Servicekräftewechsels. „Eine Urlaubsvertretung vielleicht?“ „Keine Ahnung.“ David zuckte mit den Schultern. Der Grund war ihm egal, das Ergebnis zählte. Er hatte seine Feierabendpläne über den Haufen werfen müssen. „Setz dich. Was willst du trinken?“ David dachte einen kurzen Moment nach. Jetzt war er hier, ohne genau zu wissen warum, und würde Gabriel bestimmt auch noch Umstände machen, wenn er einen Kaffee verlangte. „Wasser reicht.“ „Sicher? Bist du zu Fuß hier? Ich hätte auch Bier da.“ David fielen die Gestalten am Imbiss ein, die aus ihren Flaschen trinkend den Abend begossen hatten. Um nichts in der Welt sah er sich unter diesen Leuten. „Kein Bier, danke. Einfach Wasser.“ „Wie du willst. Warte bitte kurz.“ Gabriel huschte in die Küche und David schlenderte, anstatt sich zu setzen, durch den großzügigen Wohnraum, an der Sitzgruppe vorbei und hin zu Gabriels Arbeitsecke. Die Staffelei, die letztes Mal schon hier gestanden hatte, war leer; eine Leinwand lehnte neben der Fensterfront an der Wand. David erkannte die junge Frau und nun, da er das Bild auf der Zeitung in den vergangenen Tagen so lange und intensiv angestarrt hatte, war er sich sicher, dass es sich um dieselbe Person handelte. Freilich, die Haare passten nicht, vielleicht hatte die Frau auf dem Foto auch mehr Sommersprossen als hier in der gemalten Version, doch der Ausdruck in ihrem Gesicht, besonders in den Augen, war der gleiche. Erst nach ein paar Augenblicken fiel David auf, dass das Bild von ihm, das Gabriel bei seinem letzten Besuch begonnen hatte anzufertigen, nicht hier war. Da waren zwar noch weitere Leinwände hochkant in dem Regal neben den Farben einsortiert, doch so weit er erkennen konnte, waren diese noch unbemalt. Bevor er in der Lage war, die Sache näher zu inspizieren, kam Gabriel mit zwei Gläsern und einer Wasserflasche aus der Küche zurück. Der Maler warf David einen schnellen Blick zu, sagte jedoch nichts, sondern trat neben das Bücherregal und öffnete ein nicht allzu großes Schranktürchen auf Brusthöhe. David erhaschte an Gabriels Schulter vorbei einen Blick auf eine Minibar. Mit einer Flasche, die etwa noch halb voll mit einer goldbraunen Flüssigkeit war, kehrte Gabriel zum Tisch zurück. „Auch einen Schluck?“ Der Maler hielt die Flasche so, dass David das Etikett lesen konnte. Es handelte sich um Whisky, doch David hatte keine Ahnung davon. Er schüttelte den Kopf und Gabriel goss daraufhin nur in eines der Gläser einen Fingerbreit des Alkohols. Es war in den vergangenen Sekunden ungewöhnlich still im Raum und David merkte, wie er zu schwimmen begann – im übertragenen Sinn. Die altbekannte Verunsicherung befiel ihn hinterrücks und ließ ihn an sich, an seinem Besuch, an seiner Beziehung zu Gabriel zweifeln. Wo blieben der spöttische Blick und der bissige Kommentar des Künstlers, mit denen er gerechnet hatte? Warum sagte Gabriel nichts? Wieso …? „Alles gut bei dir?“ Gabriel griff nach dem Glas mit dem Wasser, war mit drei Schritten bei David und hielt es ihm vor die Nase. David blinzelte. Das beklemmende Gefühl in seiner Brust ließ langsam wieder nach. Er nahm einen großen Schluck der kühlen Flüssigkeit und warf dem Maler einen dankbaren Blick zu. „Entschuldige, das …“ „… passiert dir öfter?“ Gabriel nippte an seinem Whisky. „Du bist echt verkorkst, Mann.“ „Kann schon sein“, murmelte David und trank noch einmal von seinem Wasser. „Danke.“ Gabriel starrte ihn unverwandt an. „Was ist los?“ David leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen, spürte für einen kurzen Moment die glatte Kühle des Glases in seiner Hand, ehe er Gabriels Blick erwiderte. Jetzt oder nie! „Wer ist das?“ Er deutete auf das Gemälde am Boden, gespannt auf die Antwort, die Gabriel ihm nun geben würde. Natürlich machte es der Maler ihm nicht so einfach. „Warum fragst du?“ Gabriels Blick verriet nichts darüber, ob er von der Frage überrascht war, sich darüber ärgerte oder sich ertappt fühlte. „Weil ich …“ David unterbrach sich. Sollte er es wirklich sagen? Was, wenn er recht hatte? Er war sich sicher, dass diese Person eben jene verschwundene Frau war, nach der die Polizei suchte. Kapitel 19: ------------ Gabriel drehte das Glas Whisky nachdenklich in seiner Hand. David beobachtete ihn dabei, war eigentümlich fasziniert von den Bewegungen der Finger, die in diesem Moment das Glas in der Luft hielten, aber auch dazu imstande waren, menschliche Gesichter samt ihrer Gefühle auf Leinwand zu bannen. „Sie wollte ein Bild für ihren Freund. Zum Geburtstag, glaube ich.“ Gabriels Blick wanderte von dem Bild zu David. „Ihren Namen kenne ich nicht.“ „Ein Geschenk?“ So war das also. Das Bild befand sich im gleichen Zustand wie schon vor zwei Tagen, noch immer halbfertig. Und Gabriel konnte es nicht fertigstellen, weil die Frau verschwunden war. Ein merkwürdiger Zufall zwar, aber nicht unmöglich. Ob Gabriel wusste, dass diese Frau vermisst wurde? David war versucht, dem Maler von dem Zeitungsbericht zu erzählen. Bestimmt waren diese Nachrichten sogar im Fernsehen gewesen – das wusste David nur nicht, denn er besaß kein Fernsehgerät. Doch es war da dieser kleine Funke Zweifel in ihm, eine Unsicherheit, die er zuerst beseitigt haben wollte. Und Gabriel konnte dies nicht. Zwar verspürte David keinerlei Angst in der Gegenwart des Künstlers, eigentlich – und das wurde ihm in diesem Moment so richtig bewusst – genoss er sie sogar, doch nichts hinderte Gabriel daran, ihm das zu antworten, was er hören wollte, ob Wahrheit oder Lüge. Es spielte keine Rolle, was Gabriel sagte. David musste es wissen. „Er wird sich bestimmt darüber freuen“, murmelte David und spürte, wie bei diesem Satz die Zweifel, die in ihm nagten, ein wenig stärker wurden. Ein derart tieftrauriger Anblick, wie ihn das Mädchen auf dem Bild vermittelte, konnte doch kein Geburtstagsgeschenk sein. Trotzdem bemühte er sich bei seinen Worten um ein Lächeln. Gabriel, der das Glas zu einem erneuten Schluck angesetzt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne und starrte David an. David runzelte die Stirn, sein Lächeln erstarb. Was war denn nun? „Gabriel?“ „Ach, verdammt!“ Gabriel riss seinen Blick von David los, schnappte sich, ohne richtig hinzuschauen, eine der noch unbeschriebenen Leinwände und einen Stift aus dem Regal und verschüttete dabei beinahe den Rest Whisky. „Was …?“ David war nun mehr als verwirrt. Gabriel schien plötzlich vor Energie zu sprühen und ein Knistern lag in der Luft, das David leise über Nacken und Rücken kroch. „Setz dich“, brachte Gabriel atemlos hervor, streifte David leicht am Oberarm und warf sich selber mit einem Satz in den Sessel. Sofort begann er wie wild mit dem Stift auf der Leinwand herumzumalen. Das Whiskyglas hatte achtlos auf dem Tisch abgestellt. David konnte so schnell gar nicht reagieren. Dass Gabriel derart impulsiv seiner Kunst nachging, hätte er nicht erwartet. So war wenigstens die Frage nach der Frau auf dem Bild vorerst erledigt. David tappte zum Sofa. Was hatte er denn getan, um diesen Anfall an Betriebsamkeit bei Gabriel auszulösen? Eigentlich war es beinahe niedlich, wie angestrengt der Maler auf die Leinwand starrte, sich dabei sogar auf die Lippe biss. Diese Begeisterung zu sehen entlockte David erneut ein Lächeln, bei dem ihm jedoch im selben Moment wieder bewusst wurde, dass es nichts gab, was eine solche Leidenschaft in ihm auslöste. Bislang hatte ihn das nicht gestört, es war eben so, doch jetzt, da er die Aufregung des Malers förmlich greifen konnte, war er sich nicht mehr so sicher, ob da nicht doch ein leerer Fleck irgendwo in ihm war. Während sich dieser Gedanke kaum merklich einen Weg in seinen Kopf bahnte, schaute Gabriel von der Leinwand zu ihm auf und ihre Blicke trafen sich. David erstarrte. Seine Brust fühlte sich an, als würde sie von einem heißen Griff fest umfasst werden. Er wurde regelrecht von der Intensität in den Augen des Malers überrollt. Rastlos flog Gabriels Hand über die Leinwand – von links nach rechts, wieder zurück, nach oben und unten. David rührte sich nicht, gleichsam fasziniert und betrübt von diesen außergewöhnlichen Minuten. Die Zeit verstrich. Wie lange es tatsächlich dauerte, konnte David nicht sagen. Doch irgendwann wurden Gabriels Bewegungen langsamer, immer langsamer, bis er schließlich die Hand mit dem Stift sinken ließ. Eine Schweißperle rann über die Schläfe es Malers. „Puh!“ Richtiggehend erschöpft von seiner plötzlich aufgeflammten Begeisterung legte Gabriel Stift und Leinwand beiseite und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Das war krass.“ Er sprach mehr zu sich selbst, als zu David. Suchend wanderten seine Augen über den Tisch bis er seine Zigaretten neben einer weißen Porzellanfigur entdeckte, von der David nicht erkennen konnte, was sie darstellte. Gabriel zündete sich eine Zigarette an und ließ sich in die Polster des Sessels zurücksinken. Die elektrisierende Anspannung, die Gabriels Zeichenwut in ihm ausgelöst hatte, fiel nach und nach von David ab. Sein Blick glitt zu der Leinwand, die nun beinahe unbeachtet an der Seite des Sessels lehnte. Es war eine grobe Skizze, viel kantiger als das, was er sonst von Gabriel gesehen hatte. Doch das war eindeutig er; die wilden Striche auf der Leinwand formten sich zu seinem Gesicht. Sein Bildnis hatte ein Lächeln auf den Lippen, aber es – oder besser gesagt er – wirkte nicht glücklich. Er sah auf der Leinwand genau so aus, wie er sich fühlte. Und da dämmerte es David, ihm wurde Folgendes klar: „Du malst gar nicht die Leute“, stellte er nüchtern an den Maler gewandt fest, „du malst Gefühle.“ Gabriels Blick streifte ihn kurz, dann schaute der Maler dem träge aufsteigenden Zigarettenqualm nach. Er fing mit leiser Stimme an zu sprechen. „Weißt du was? Früher konnte man aus dir lesen wie aus einem Buch. Das war … interessant, faszinierend. Die Menschen sind zu so vielen verschiedenen Gefühlen fähig. Und jetzt kenne ich auch dein Lächeln“, Gabriel lächelte in diesem Augenblick selbst, „aber nicht deine Freude. Du grübelst so viel, denkst so viel nach. Vielleicht“, er nahm einen weiteren Zug, „kannst du keine Freude mehr empfinden. Vielleicht auch noch nicht.“ Der Maler verfiel in Schweigen, wirkte nun selbst gerade nachdenklich. Und David war … überfordert. Da sagte dieser Maler solche Sachen zu ihm, über ihn, und er saß einfach da und konnte nicht anders, als Gabriel im Stillen beizupflichten. Was war nur los mit ihm? Was lief bei ihm falsch? Plötzlich blitzten Gabriels Augen auf, während er genüsslich eine weitere Zigarettenrauchsäule in die Luft blies. Dadurch, dass er von David aus gesehen im Gegenlicht saß, zeichneten sich tiefe Schatten auf seinem Gesicht ab und er wirkte auf einmal wie ein Raubtier. „Deinen Gesichtsausdruck, wenn du Todesangst ausstehst, habe ich seit damals im Gedächtnis.“ Mit der freien Hand deutete der Künstler auf seinen Kopf. Er nahm einen weiteren tiefen Zug. Die Zigarette war beinahe bis zum Filter aufgeraucht „Steht dir nicht so besonders gut, aber …“ Jetzt fixierte er David mit durchdringendem Blick. Es war nicht wie vorhin, als David sich wie festgenagelt von dem Feuer in Gabriels Augen vorgekommen war, das ihn in gespannte Aufregung versetzt hatte. Jetzt lag etwas Herausforderndes, beinahe Aufreizendes in seinem Blick und David fühlte sich ausgeliefert, ohne einen Impuls zur Flucht. „Deine stoische Maske, diese augenscheinliche Beherrschtheit, mit der du tagein, tagaus dein Leben fristest …“ Ein anzügliches Grinsen umspielte die Mundwinkel des Malers. „Ich möchte zu gerne sehen, wie sie dem Ausdruck grenzenloser Lust weicht, zügellos, befreit, im Moment des Höhepunkts …“ Es dauerte einen Moment, ehe David die Bedeutung dieser Worte erfasst hatte. Dann aber merkte er, wie ihm Röte in die Wangen stieg und er schnappte nach Luft. Das war doch nicht zu glauben! Dieser Kerl! Gabriel grinste. „Ich kann es mir nur ansatzweise vorstellen …“, ließ der Maler seine Ausführungen in der Luft hängen. Er blies eine weitere Rauchschwade aus und schloss Augen. Er schien es sich wirklich vorzustellen. David hörte sein Blut in den Ohren rauschen, er atmete einmal tief durch, ein zweites Mal. Seine Umgebung schien plötzlich in weite Ferne gerückt zu sein. Unwillkürlich ballte er seine Hand zur Faust, spürte seine kurzen Fingernägel in die Handfläche stechen. Trotz dieser Worte war er jedoch nicht erbost. Er fühlte … etwas anderes, konnte dieses Gefühl nicht festmachen. Was war es, das Gabriel gerade vor seinem inneren Auge hatte? David besah sich das Profil des Künstlers, der mittlerweile mehr in seinem Sessel lag als saß und den Kopf in den Nacken gelegt hatte. Diese Pose ließ seine Sehnen am Hals deutlich hervortreten. David schluckte. „Du bist doch nicht normal …“, murmelte er. Das Geräusch seiner eigenen Stimme holte den übrigen Raum zurück ins Hier und Jetzt und setzte auch seine Gedanken wieder in Fahrt. Bilder schoben sich vor sein inneres Auge, Bilder von Gabriel, der mit blauen Flecken auf einem staubigen Betonboden lag. Zerschunden, misshandelt. Sein eigener Arm, den er nach dem schwarzhaarigen Jungen ausstreckte, sah nicht viel besser aus. David schob diese Bilder schnell wieder fort, doch sie hinterließen einen fahlen Geschmack in seinem Mund. Wie kam Gabriel nach dem, was er erlebt hatte, bloß auf solche Gedanken? Fühlte er dabei keinen Schmerz? Zum wiederholten Male musterte David den Maler eingehend, der scheinbar völlig unbekümmert in seinem Sessel lümmelte und in diesem Moment die Augen wieder aufschlug. „Da hast du vermutlich recht.“ Gabriel wollte einen weiteren Zug nehmen, doch die Zigarette war mittlerweile ausgegangen. „Aber wer ist das schon?“ Kapitel 20: ------------ Lange sprach keiner von ihnen ein Wort. In David rumorte es, alles fiel durcheinander. Im einen Moment fühlte er sich wie leergefegt, im nächsten wusste er nicht, welchen Gedanken er zuerst verfolgen sollte, so viele davon rasten durch seinen Kopf. Gabriel schwang seine Beine, die über der Armlehne des Sessels gebaumelt hatten, zurück auf den Boden und setzte sich auf. Er beugte sich vor, streckte seinen Arm aus und griff über den Tisch nach David. David schreckte zusammen, fuhr zurück und entging so Gabriels Hand. Sein Herz schlug auf einmal doppelt so schnell wie davor, während er auf die Finger starrte, die vor ihm in der Luft verharrten. Der Maler runzelte die Stirn. „Dein Glas … Es ist leer. Ich wollte …“ Gabriel ließ den Arm sinken und senkte den Blick. „Ich hab dir doch schon gesagt, ich bin nicht wie er. Ich werde dir nichts tun.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Auch wenn ich durchaus ernst meine, was ich vorhin gesagt habe. Aber …“ Jetzt fixierte er David mit einer derart eindringlichen Miene, dass dieser gar nicht anders konnte, als den Blick zu erwidern. „Ich werde mich hüten, das letzte Bisschen deines Selbst, das du dir bewahrt hast, zu zerstören. Also bitte …“ Gabriel presste für einen kurzen Moment seine Lippen aufeinander. Einen Moment, in dem er ungewohnt verletzlich wirkte. „Verschließ dich nicht vor mir. Weis mich nicht ab.“ David atmete schwer, seine Brust hob und senkte sich merklich. Jetzt brachte ihn dieser Maler schon wieder komplett durcheinander, auch ohne seine spöttische Art. Das war … verwirrend. Dieses ständige auf und ab der Gefühle! Wie sollte man so etwas aushalten? Wenn David jetzt in Gabriels dunkle Augen blickte, fühlte er sich irgendwie schuldig. Er suchte nach den passenden Worten. „Ich …“ Er senkte den Kopf, sah seine Finger, die um das leere Wasserglas gekrampft waren. Er zwang sich, locker zu lassen, und brachte es mit einiger Mühe fertig, das Glas leise auf dem Tisch abzustellen. „Entschuldige, Gabriel, ich … weiß nicht, was ich sagen soll.“ Seine Stimme klang eigentümlich belegt und wie aus weiter Ferne. „Ich bin so durcheinander.“ „Das ist dann wohl meine Schuld.“ Gabriel zeigte schon wieder ein schiefes Grinsen und weckte David damit aus seiner Passivität, zumindest ein wenig. David hob die Augenbrauen und war sich sicher, dass wenigstens seine Skepsis ob dieses Ausspruchs in diesem Moment deutlich wurde. Er brauchte etwas Zeit für sich, Zeit zum Durchatmen. „Gabriel, kann ich kurz mal dein Bad benutzen?“ „Sicher. Da lang.“ Gabriel deutete auf die Tür, die hinter der Küche von dem geräumigen Wohnbereich abging. Mit einem leicht schwammigen Gefühl in den Beinen stakste David darauf zu und atmete auf, als er die Tür hinter sich schloss. Das hatte er davon, dass er solch unüberlegten, spontanen Ideen nachging. Warum war er wirklich hergekommen? Doch nicht wegen eines entgangenen Espressos. Es musste wegen Gabriel sein. Da war etwas an diesem Menschen, das sein Interesse weckte. Eine Art Neugier, wobei er diese nicht so recht einzuordnen wusste. Und genau so wenig war ihm klar, was Gabriel umgekehrt von ihm wollte, von ihm erwartete. Der Maler hatte von Lust gesprochen … David war zwar nicht komplett blöd, aber so richtig konnte er sich das nicht vorstellen; das ergab doch keinen Sinn. Um überhaupt irgendetwas zu tun, ging David schnell auf die Toilette und wusch sich anschließend die Hände. Dann klatschte er sich ein paar Handvoll Wasser ins Gesicht und hoffte, dadurch ein wenig klarere Gedanken zu bekommen. Es war wohl besser, wenn er erst einmal wieder nach Hause ging. Er war schon viel später dran als sonst und hatte zudem einen längeren Heimweg als nur von der Innenstadt nach Hause. Er musterte sein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Es sah aus wie immer – er sah aus wie immer. Vielleicht hatte er leichte Schatten unter den Augen, aber ansonsten war ihm sein aufgewühltes Inneres überhaupt nicht anzusehen. Gut so. Und abgesehen von der Sache eben, von Gabriels wenig überraschend unberechenbarem Verhalten, war da immer noch die Sache mit diesem Bild. Das Gesicht des Mädchens verfolgte ihn beinahe wie ein Geist, spukte ohne locker zu lassen in seinem Kopf umher. Er musste etwas dagegen unternehmen. Nur was? Er war sich doch sicher, dass die Gestalt auf Gabriels Bild und das Mädchen auf dem Zeitungsfoto ein und dieselbe Person war. Was sollte er also tun, damit sie endlich aus seinen Gedanken verschwand? David trocknete sich Gesicht und Hände ab und kehrte zu Gabriel zurück, nun wieder etwas mehr Herr seiner Sinne und mit einem festen Vorsatz. „Es ist schon spät, ich sollte aufbrechen“, meinte er halblaut und ging gleich hin zur Garderobe, um sich Mantel und Schuhe anzuziehen. Wer wusste schon, was passierte, wenn er sich noch einmal setzte? „Wie jetzt, auf einmal?“ Gabriels Verwunderung war kaum zu überhören. David vernahm ein Rascheln und spürte dann den Maler hinter sich. „Es ist noch nicht mal sieben.“ „Ich muss morgen wieder zur Arbeit.“ Er zog seinen Mantel an. „Außerdem brauche ich frische Luft.“ David hörte ein Schnauben. „Also doch.“ Plötzlich langte Gabriel an ihm vorbei und schnappte sich seinerseits eine Jacke vom Haken. „Ich komme mit.“ „Aber …“ Es war nur ein kurzer Moment, in dem David inne hielt. Dann stieß er einen tonlosen Seufzer aus und widmete sich seinen Schuhen. „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Er schlüpfte in die Lederschuhe und ging in die Hocke, um sie zu binden. Aus dem Augenwinkel erhaschte er kurz einen Blick auf Gabriels geknickten Gesichtsausdruck, doch als er den Maler sprechen hörte, war von Enttäuschung nichts zu hören. „He, du hast doch bestimmt noch nichts zu Abend gegessen. Wir könnten irgendwo hingehen?“ David hatte keinen Hunger. Er wollte auch nicht, dass Gabriel in die Nähe seines Zuhauses kam. Er erinnerte sich wieder an die Aufdringlichkeit, die ihn gleich zu Beginn an dem Maler gestört hatte. Deswegen hatte er sich nicht auf ihn einlassen gewollt. Allerdings hatte er zu Beginn auch noch nicht gewusst, wer der Maler war. Er rief sich ins Gedächtnis, dass das auch immer noch so war – David dachte dabei vor allem an das Bild der verschwundenen Frau. Allerdings durfte gerade er sich nicht wegen möglicherweise sozial fragwürdigen Verhaltens beschweren. Es war durchaus möglich, dass Gabriel nicht allein sein wollte und dies auf übereifrige Weise, die David vielleicht auch nur so penetrant vorkam, weil er selbst das glatte Gegenteil davon war, zu verhindern gedachte. „Jetzt guck nicht so missmutig.“ Gabriel hatte Jacke und Stiefel angezogen und trat an David heran. „Sonst muss ich mir doch eine andere Art überlegen, deine Gefühlswelt anzuregen.“ Er grinste hintergründig. Vielleicht, wenn er sich noch ein bisschen mehr ins Zeug legte, würde Gabriel es tatsächlich schaffen, David wütend zu machen. Vorerst schwieg David aber und akzeptierte sein Schicksal. Sie verließen Gabriels Loft und unter freiem Himmel, der mittlerweile von einer Vielzahl Sternen gesprenkelt war, merkte David doch, wie sich die angespannte Nervosität, die ihn am Denken hinderte, von ihm löste. Hier befand er sich nicht mehr in Gabriels Refugium. Ihn anregen? Das hatte Gabriel doch gerade eben gesagt. Schon wieder so ein Spruch, der ihn aus dem Konzept brachte. Aber genau das durfte er sich nicht gefallen lassen, oder besser, er durfte nicht drauf eingehen. Er war kein Typ für Konfrontation, also war Weghören und Ausweichen für ihn die passendere Wahl. „Da vorn um die Ecke und dann ein Stück geradeaus ist ein Italiener.“ Gabriel deutete in besagte Richtung. „Lust auf Italienisch?“ „Nicht besonders.“ „Mmh, also … Nicht direkt auf dem Weg in die Innenstadt, in einer Seitenstraße, gibt’s nen Koreaner, der ganz passables Essen serviert.“ „Koreanisch?“ David hatte noch nie Koreanisch gegessen. Er war sich sicher, dass sein Unmut deutlich in seiner Stimme zu hören war. Gabriel hatte seinen Schritt Davids angepasst. Die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, schlenderte der Maler mit langen Schritten neben ihm her. Die Stiefel klapperten leise, während Davids Schuhe bei jedem Auftreffen auf dem Boden ein kurzes „Klack“ verursachten. Ab und an blickte der Maler in den Himmel hinauf, dann wieder flüchtig zu David. David sah das aus dem Augenwinkel. Wenn er mit Gabriel etwas essen ging, so überlegte er, konnte er sich hinterher von dem Maler verabschieden und allein nach Hause gehen. Den Maler so auf offener Straße loszuwerden, würde vermutlich weitaus mehr Diskussion erfordern. „Irgendwo müsste es auch einen Mexikaner geben, ich weiß nur nicht genau, wo. Oder wär dir deutsches Essen lieber? Rouladen, Schweinebraten?“ Bloß das nicht, dachte David. Das brachte ihm schon immer seine Mutter. Natürlich sagte er das Gabriel nicht. Er ließ lediglich ein „Kein Schweinebraten“ verlauten. „Was dann?“ David wunderte sich, dass Gabriel gar nicht ungeduldig zu werden schien. Oder genervt. Schließlich machte er es ihm nicht gerade leicht. In der Hoffnung, dass seine Überlegung, entweder mit Gabriel essen zu gehen oder von ihm bis nach Hause begleitet zu werden, richtig war, antwortete er diesmal: „Such du dir was aus. Mir ist alles recht, außer deutsche Hausmannskost.“ Bei diesen Worten sah er Gabriel grinsen, aber der Maler fragte nicht weiter nach, was es mit seiner Abneigung gegen Braten auf sich hatte. Sie landeten schließlich in einer ruhigen Pizzeria und David war sich sicher, dass Gabriel darauf geachtet hatte, keinen zu vollen, angesagten Laden auszusuchen. Zu seiner Pizza Americana, einem fettig-glänzenden Teigfladen mit Hackfleischbelag und gelben Maistupfern, trank Gabriel mehr als ein Glas Rotwein, während David sich, während er seinen Salat verspeiste, an Wasser hielt. Außer leicht geröteten Wangen schien der Alkohol kaum Einfluss auf Gabriel zu haben, wie David feststellte. Jetzt, wo er schon einmal hier war, bemühte er sich wirklich, loszulassen und den Abend in dem kleinen Lokal, in dem im Hintergrund unaufdringlich italienische Schlager dudelten, zu genießen. Und es gelang ihm sogar einigermaßen. Womöglich lag das zu einem großen Teil auch an Gabriel, der ihm trotz seiner Unberechenbarkeit ein Gefühl von Vertrautheit vermittelte. Eine ausgedehnte Unterhaltung führten sie nicht und als sie fertig gegessen hatten und die Pizzeria verließen, schaffte David es tatsächlich, sich von Gabriel mit einem Händedruck zu verabschieden und den Weg nach Hause unbegleitet einzuschlagen. Kapitel 21: ------------ Nach seinem Besuch gestern bei Gabriel war David sich sicher, dass das die gleiche Person war. Die verschwundene junge Frau und die Frau auf dem Portrait. Aber was hatte das nun zu bedeuten? Er konnte sich das noch so oft fragen und doch keine Antwort darauf finden. Er musste etwas tun. Nur was? David starrte auf die Akten, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen; die musste er heute noch abarbeiten – eigentlich. Wenn er sich an seinen Wochenplan hielt. Wenn er sich nicht daran hielt, bekam das jedoch nur er mit und niemand sonst. Er schielte zu dem Computer hinüber. Es war verboten, den PC für Angelegenheiten zu verwenden, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten. So stand es in seinem Vertrag. Bislang hatte er sich an diese Regel immer gehalten, womit er vermutlich der einzige Mitarbeiter in der gesamten Abteilung war. Er lehnte sich zurück, strich sich mit den Fingern durch die Haare und rollte dann kurzerhand den halben Meter mit seinem Bürostuhl zum Computer. Der war auf Stand-by und es dauerte einen kurzen Moment, ehe der Bildschirm den vertrauten Desktop zeigte. David fühlte sich erstaunlich entspannt, als er auf das Symbol des Internetbrowsers klickte und das Suchfeld erschien. Jetzt hatte also auch er den Pfad des rechtschaffenen Angestellten verlassen. Er wusste, wie überzogen das klang, dennoch schossen ihm diese Gedanken wie von selbst durch den Kopf. Er tippte seine Suchanfrage in das entsprechende Feld und es dauerte keine Sekunde, bis eine lange Liste an Ergebnissen mit vermeintlichen Antworten erschien. Er blätterte durch die Resultate und fand relativ schnell die Informationen, nach denen er suchte. So schwierig war das jetzt nun nicht gewesen. David starrte auf den Bildschirm und versuchte sich zu erinnern, doch er musste sich eingestehen, dass das einfacher gewollt als getan war. Er biss sich auf die Unterlippe und ließ sie langsam unter den Zähnen wieder nach vorne gleiten. Was also tun? Er kannte die Lösung, doch sie behagte ihm nicht unbedingt. Trotzdem hatte er wohl kaum eine andere Wahl, wollte er der Sache nachgehen. Er würde es schon überstehen, aber erst nach Feierabend. Die Mittagspause reichte für sein Vorhaben nicht aus. Außerdem wäre es bestimmt nicht verkehrt, wenn er sich noch etwas vorbereitete, schließlich wollte er ja sichergehen. Geschwind stemmte er sich aus seinem Stuhl hoch, ging um den Schreibtisch herum und spähte auf den Gang vor seinem Büro. Im Moment war niemand zu sehen, also schnell zum Computer zurück und die paar Seiten gedruckt, die er herausgesucht hatte. Er wartete direkt neben dem Drucker, bis dieser alles ausgespuckt hatte. Eine Tür klapperte und das genügte schon, um Davids Pulsschlag zu beschleunigen, denn der Drucker war noch nicht fertig. Herr Grubinek betrat den Gang und kam auf ihn zu. Hoffentlich hatte der Kollege nicht auch etwas gedruckt und wollte nun den Stapel durchsehen um seine Drucke herauszusuchen. „Guten Morgen, Herr Keller.“ Das Lächeln, das Herr Grubinek aufgesetzt hatte, war geschäftsmäßig. Er verlangsamte seinen Schritt. „Guten Morgen.“ Der Drucker musste doch nun alles fertig haben, oder? David spähte auf den Stapel hinunter, doch die Blätter kamen natürlich verkehrt herum heraus. „Haben Sie Frau Meier gesehen?“ Herr Grubinek blieb genau neben David stehen. David hätte am liebsten einfach die Drucke an sich gerissen und wäre in sein Büro zurückgestürmt, doch natürlich konnte er das nicht einfach machen. Der Mitarbeiter, der etwa fünfzehn Jahre älter als David war, blickte ihn fragend an. „Nun …“ Was hatte Herr Grubinek nochmal wissen wollen? David konnte gar nicht mehr klar denken. Der Drucker spuckte das letzte Blatt aus und wurde dann still. „Frau Meier?“ David konzentrierte sich auf seine Füße, die fest auf dem Boden standen – so konnte er in der Regel das Schwindelgefühl, das ihn in Panikmomenten ergriff, einigermaßen zurückdrängen. Seine Stimme klang etwas gepresst, doch das würde Herrn Grubinek vermutlich nicht auffallen. Sie unterhielten sich nicht oft miteinander. „Tut mir leid, die habe ich nicht gesehen.“ „Ach, na dann“, wandte sich Herr Grubinek wieder um. „Schönen Tag noch.“ „Ihnen ebenfalls.“ David blieb noch für ein paar Sekunden wie versteinert stehen. Als Herr Grubinek längst außer Sichtweite war, griff er sich die ausgedruckten Blätter und kehrte mit leichten Kopfschmerzen in sein Büro zurück. Kapitel 22: ------------ An diesem Abend war im Ausstellungsraum viel weniger los als das letzte Mal, als er mit seiner Abteilung hier gewesen war. Kein Wunder. Es gab ja auch nichts zu trinken. Ein Glück lief die Ausstellung noch, ansonsten wäre es schwieriger gewesen, die Bilder noch einmal zu sehen. Gut, er hätte Gabriel nach ihnen fragen können, aber dann wären nur wieder unangenehme Fragen im Raum gestanden. So war es deutlich einfacher. Davids Weg führte ihn zielstrebig zu den Porträtserien von Gabriel, die in der Ausstellung präsentiert wurden. Da waren die Bilder, die einen jungen Mann zeigten und die ihm bei seinem letzten Besuch schon aufgefallen waren. Außerdem waren da noch zwei Frauen, die ebenfalls jeweils auf mehreren Bildern verewigt waren. Die eine hatte langes, fließendes Haar, das ihr Gesicht wie ein seidiger Schleier umrahmte. Der Schrecken, den sie auf einem Bild zeigte, passte so gar nicht zu ihrer eleganten Erscheinung, wohl aber der aufreizende Blick auf einem weiteren Bild, der den Betrachter unweigerlich in seinen Bann zog. Sie hatte schöne Augen. In Davids Brust bildete sich ein Kloß und sein Herzschlag beschleunigte sich, doch er wollte sich zuerst noch die dritte Person auf den Bildern ansehen, wollte den Moment der Gewissheit hinauszögern. Die Frau, die in der dritten Porträtserie abgebildet war, hatte Sommersprossen, eine markante Nase und volle Lippen. Ihr kurzer Haarschnitt ließ sie sportlich wirken, und auf der Mehrheit der Bilder sprang David ihre Energie förmlich entgegen. Nur auf dem letzten starrte sie den Betrachter mit solcher Resignation an, dass David gar nicht anders konnte, als selbst in ähnlich niedergeschlagener Stimmung langsam die Mappe, in die er die ausgedruckten Papiere gesteckt hatte, unter seinem Mantel hervorzuziehen. Lange Zeit starrte er den grauen Karton an, der ganz leicht in seiner Hand zitterte. Die übrigen Ausstellungsbesucher nahm er überhaupt nicht wahr. In diesem Moment war er in seiner Realität der einzige Besucher. Die Zeit schien stillzustehen, als er die Mappe öffnete und die Ausdrucke hervorholte. Er senkte den Blick und schaute auf das Foto, das zuoberst lag. Es war die Frau mit dem sportlichen Kurzhaarschnitt, die ihm entgegenblickte. Den zugehörigen Zeitungsartikel, den er ebenfalls im Internet herausgesucht hatte, musste er nicht noch einmal lesen um sagen zu können, dass dies die dritte verschwundene Person war, die der Vermisstenserie zugeschrieben wurde. Dabei war es nicht einmal das Aussehen, das im Gemälde kopiert war. Haarschnitte und Frisuren konnten sich ändern, genau wie die Kleidung. Es war vielmehr das Gesicht und dessen Ausdruck, die Ausstrahlung der Frau, was es für David eindeutig machte. Davids Körper war auf einmal taub, sein Kopf wie leergefegt. Ohne Gefühl in Händen und Fingern legte er umständlich das nächste Blatt seiner Ausdrucke obenauf. Eigentlich war das unnötig, denn sein Gefühl sagte ihm, dass er auch die anderen beiden Porträtierten unter den Vermissten finden würde. Doch selbst wenn er sich darin täuschen sollte, so waren allein schon zwei Personen mehr als ein blöder Zufall. Das Mädchen auf dem unfertigen Bild bei Gabriel im Atelier und die Frau mit Kurzhaarschnitt hier in der Ausstellung – beide verschwunden und beide von Gabriel porträtiert. Die andere Frau, die mit den fließenden, langen Haaren, die beinahe wie ein Model aussah, war die zweite Person der Vermisstenserie. Die Ähnlichkeit war wieder nicht auf den ersten Blick erkennbar, aber da David nun ungefähr wusste, worauf er zu achten hatte, oder besser, worauf Gabriel in seinen Bildern Wert legte, war alles klar. Den Mann, dessen Gesicht ihm von den Gemälden entgegenblickte, identifizierte David als die vierte vermisste Person. Von der fünften Vermissten befand sich ein Bild ja bei Gabriel zu Hause. Lediglich von der ersten Person, ebenfalls einem jungen Mann, fand David nichts. Doch das war egal. Selbst wenn es von behördlicher Seite bislang noch nicht einmal sicher war, dass es sich um ein Serienverbrechen handelte, so hatte zumindest David darüber nun Gewissheit. Und obwohl er, seit ihm das mit dem Mädchen auf der Zeitung und dem Bild bei Gabriel aufgefallen war, so ein dumpfes Gefühl im Kopf gehabt hatte, traf ihn die sichere Erkenntnis nun doch wie ein Vorschlaghammer. Dabei war es nicht einmal Wut oder Angst, die er spürte, es war etwas anderes. Trauer vielleicht, Resignation, oder Bedauern. Was es auch war, das er nicht benennen konnte, es raubte ihm den Atem. Schweiß brach auf seiner Stirn aus und er schnappte nach Luft. Eine Erinnerung bahnte sich ihren Weg nach oben und überfiel ihn dermaßen rücksichtslos, dass seine Beine nachgaben und er zu Boden sank. >< Der Junge mit den schwarzen Haaren saß neben ihm auf der Matratze, Haarsträhnen quer übers Gesicht geklebt. Er selbst sah wahrscheinlich nicht besser aus. Wie lange waren sie schon hier? Er wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Nichts was er sagte, änderte etwas an ihrer Situation. Außerdem war er sich nicht einmal sicher, dass seine Stimme ihm gehorchen würde. „Guck nicht so.“ Der andere hatte seinen Blick offenbar bemerkt. Er zuckte zusammen. „Wie denn?“, fragte er leise. „Na so. So wehleidig.“ „Tut mir leid.“ Er blickte zu Boden und kämpfte gegen die plötzlich aufwallenden Tränen an. Warum musste er auf einmal weinen? Er wollte das doch gar nicht, vor allem nicht vor dem anderen Jungen. Er biss die Zähne aufeinander und versuchte alles, um die aufsteigenden Tränen niederzukämpfen. Ein Seufzen ertönte neben ihm und klang in dem düsteren, kahlen Raum viel lauter, als es eigentlich war. Danach blieb es einige Zeit ruhig. Wie lange das tatsächlich war, konnte er nicht sagen, doch als ein vertrautes Klappern ertönte, schreckte er auf. Er musste eingedöst sein. Das Klappern wurde lauter und dann zischte der andere Junge, der noch immer neben ihm saß, auf einmal etwas völlig Unerwartetes. „Pass auf!“ Er verstand nicht, worauf sollte er aufpassen? Doch bevor er nachfragen konnte, drehte sich der Schlüssel im Schloss und die Tür schwang auf. War es zuvor ruhig gewesen, so herrschte nun eine Totenstille im Raum, zumindest für kurze Zeit. Der Fettsack begann mit schleimiger Stimme zu sprechen. „Wie geht’s meinen beiden Hübschen denn so? Wenn ihr brav seid, gibt’s nachher auch etwas zum Abendessen. Zuvor aber …“ Der Mann kam auf sie zu, langsam, mit schlurfenden Schritten und einem speckigen Grinsen im Gesicht. Er wollte das nicht sehen, schloss die Augen und spürte gleich darauf eine Hand auf seinem Kopf, über sein Haar streichen. Es war die Hand des Mannes, das merkte er, genau so, wie er mehr als deutlich das schwere Schnaufen hörte. Er hatte Hunger, richtigen Hunger, auch wenn er das bohrende Gefühl in seinem Magen bisher ignoriert hatte. Doch auch mit der Aussicht auf etwas zu essen zuckte er unter der Berührung zusammen und machte sich ganz klein. Die Abscheu war einfach zu groß. Dann hörte er neben dem Schnaufen über sich ein plötzliches, leises Knurren von der Seite. „Jetzt!“ So schnell, dass er es gar nicht sehen, geschweige denn begreifen konnte, war der andere Junge aufgesprungen und hatte sich mit aller Wuchte, die er mit seinem dünnen Körper aufbringen konnte, gegen den Mann geworfen. „Los, hau ab!“ Der Mann hatte die Tür nicht abgesperrt, sondern sie nur zugeschoben. Er wusste, was der andere Junge von ihm wollte. Abhauen. Das war etwas, das er sich die ganze Zeit über gewünscht hatte. Er brauchte dennoch mehrere Augenblicke, ehe er auf die Füße kam. Wacklig lief er zur Tür und hatte dabei den Gedanken, dass der schwarzhaarige Junge für den Fettsack doch kein Problem war. Er kam bei der Tür an, zog an der Klinke und drehte sich im selben Moment noch einmal um. Mit aller Gewalt krallte sich der andere Junge an dem Mann fest, versuchte ihn aufzuhalten. Doch es war aussichtslos. Gerade bekam der schwarzhaarige Junge einen Schlag auf den Kopf, stöhnte auf und wäre fast zu Boden gegangen. So konnte er den anderen doch nicht zurücklassen. Nein! Er machte wieder einen Schritt zurück. Er musste etwas tun, irgendetwas. Der Fettsack war so wütend, das würde niemals gut ausgehen für den anderen. Aber … Der andere Junge blitzte ihn wütend an, während er an den Haaren von dem Fettsack in die Höhe gezogen wurde. „Hau ab, verschwinde! Sonst …“ Der andere Junge bekam einen Schlag ins Gesicht. Der Fettsack tobte und holte bereits wieder mit seiner Hand aus. Mit einem merkwürdigen Gefühl wandte er sich um und schlüpfte durch die Tür nach draußen. Er war tatsächlich aus dem Raum! Doch schon hörte er das wütende Geschrei des Fettsacks hinter sich, einen dumpfen Aufprall und dann Schritte, die näher stürmten. Er hatte keine Ahnung, wo er war oder wo er hin sollte, aber er hatte jetzt verstanden, was der andere Junge von ihm wollte. Er musste Hilfe holen. Selbst hätte er den Fettsack keine Sekunde aufhalten können, also hatte der andere das übernommen. Nun war es an ihm, sich um den Rest zu kümmern. Kapitel 23: ------------ „He, Sie! Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Irgendjemand sprach ihn an. „Alles klar? Soll ich einen Notarzt …?“ David schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Geht’s Ihnen gut?“ Eine Hand berührte seine Schulter und David blinzelte. Das war doch der Kellner aus dem Café, oder? Diese beruhigende Stimme mit dem besorgten Unterton. David rang sich ein Lächeln ab und wollte sich in die Höhe stemmen. „Es geht schon“, versuchte er in möglichst unbeschwertem Tonfall die Besorgnis des anderen abzuwehren. „Nur ein kleiner … Ich hatte wohl zu wenig getrunken den Tag über.“ David blickte nun endlich der Person ins Gesicht und stellte gleich fest, dass es doch nicht der Kellner war. Da hatte ihm sein Kopf einen Streich gespielt. Der ältere Mann sah dem Kellner aus dem Café noch nicht einmal ähnlich. Was für ein dummer Gedanke. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ „Ja, sicher. Es geht schon wieder. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ David wollte nicht unhöflich sein, aber er musste allein sein. Er schaute sich verstohlen um, ob noch jemand der Museumsgäste ihn irgendwie beachtete. Das wäre das Letzte, was er wollte. Doch sie waren tatsächlich nur zu zweit in dem großen Raum. Selbst vom Museumspersonal war niemand zu sehen. David vergewisserte sich, dass er keine seiner Unterlagen fallen gelassen hatte, dann verabschiedete er sich hastig von dem Helfer und verließ die Ausstellung. Der Himmel über der Stadt leuchtete bei Nacht in einem sanften, dunklen Violettton. Wegen der umgebenden Straßenlaternen konnte David gerade keine Sterne ausmachen, als er nach oben blickte. Ob Sterne oder nicht, was sollte er nun tun? Was mit seinem Wissen anfangen? Es war nicht richtig, es war ein Verbrechen, und dennoch … David hatte keine Angst vor Gabriel. Er mochte ihn. Er musste noch nicht einmal darüber nachdenken um sagen zu können, dass Gabriel der bislang erste Mensch war, von dem er das behaupten konnte. Gabriel war ganz offensichtlich nicht richtig im Kopf, aber er selbst war ja ebenfalls krank; da brauchte er sich nichts schönreden. Und es war verdammt noch mal nicht ihre Schuld, dass es so war. Weder Gabriel noch er hatten sich das ausgesucht. David dachte aber auch an das Mädchen. Wenn Gabriel sie tatsächlich malte, nachdem sie verschwunden war, dann musste er sie irgendwo gefangen halten. Oder gefangen gehalten haben. Das Mädchen war wie David. Sie war er. Dieser Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Auch wenn David nicht wusste, was Gabriel mit ihr machte, so war er sich doch sicher, dass sie nichts sehnlicher wollte, als da raus zu kommen, wo auch immer sie war. Wenn sie noch am Leben war. Aufgetaucht war sie bislang nicht, das hätten die Medien bestimmt berichtet. Also war sie entweder noch gefangen oder tot. Ob die anderen vier wohl tot waren? Davids Kopf pochte. Das war zu viel. Einfach zu viel. Doch er musste etwas tun. Das Mädchen war er. Das Mädchen war aber auch Gabriel. Der Maler schien das vergessen zu haben. Er musste etwas tun. Kapitel 24: ------------ „David, ich …“ Gabriel ließ seine Stirn gegen Davids Brust fallen, krallte seine Hand dabei in Davids Oberarm und verhinderte nur dadurch, dass David nicht nach hinten umfiel. David war auf diese Reaktion nicht gefasst gewesen. Es war Samstag, einen Tag nach Davids erneutem Ausstellungsbesuch. David hatte sich am helllichten Tag, noch vor dem Mittagessen, auf den Weg gemacht. Er hatte keinen Plan, war sich nur in zwei Punkten sicher: Zum einen musste er das Mädchen finden, auf eigene Faust, denn, das war sein zweiter Gedanke, Gabriel sollte nichts geschehen. Also würde er auf keinen Fall irgendjemandem davon erzählen. Er hatte jedoch keine Ahnung, wie der Maler reagieren würde, sollte dieser von Davids Vorhaben erfahren. Entsprechend war David einigermaßen mulmig zumute gewesen, als er sich auf den Weg gemacht hatte. Nun jedoch waren diese Gedanken erst einmal vergessen. Ihm war schon beim Eintreten aufgefallen, dass Gabriel ungewohnt blass aussah, mit leichten Ringen unter den Augen. Nach kurzem, belanglosem Geplänkel hatte sich Gabriel dann ohne Vorwarnung an ihn gelehnt. David spürte jetzt die warme Stirn des Malers an seinem Oberkörper und den festen Griff an seinem Arm. Was war auf einmal los? Hatte er etwas verpasst? „Ich kann nicht mehr.“ David schnappte leise nach Luft. Er wurde unruhig, nervös, sein Herzschlag beschleunigte sich. Nicht weil er sich bedroht fühlte, das war nicht das Problem. Es war die Situation an sich, denn etwas hatte sich verändert. Ihre Rollen hatten sich mit einem Mal vertauscht. Das war zu viel für ihn, er fühlte sich überfordert. Was tat man in solch einem Moment? Was sollte er jetzt tun? Ob er wollte oder nicht, kam ihm in dieser Situation, so nah bei Gabriel, dessen mehr oder weniger eindeutiger Ausspruch von ihrem letzten Treffen in den Sinn. „Was …?“ Seine Stimme bebte und er räusperte sich kurz. „Was hast du?“ Er musste sich zusammenreißen. Das war doch normal, oder? Eine normale Situation zwischen zwei … Bekannten? Freunden? Was auch immer sie waren. Gabriel schien es nicht gut zu gehen, war es einfach nur das? Zögerlich hob David seinen freien Arm, wollte Gabriel berühren, seinen Rücken streicheln, doch etwas hemmte ihn. Er traute sich nicht, sah seinen Arm stattdessen auf halbem Weg in der Bewegung innehalten. Dabei konnte ihm doch nichts passieren, wenn er Gabriel anfasste. Der Maler hatte ja offenbar auch keine Probleme mit körperlicher Nähe. Doch was, wenn er es als Einladung verstand? Er hatte zwar gesagt, er würde nichts tun, aber das würde vielleicht nur so lange gelten, wie David etwas dagegen hatte, oder? Es war ein unwirklicher Moment für David. Seine Hand schwebte noch einige Zentimeter über Gabriels Rücken, als plötzlich wieder Leben in den Maler einkehrte und David damit aus seiner eigenen Erstarrung erlöste. Ihm kam es wie eine Befreiung vor. Die vielen Fragen, die sich in ihm aufgestaut hatten, erübrigten sich damit. Ein leises Lachen war zu hören, was Gabriels Schultern zum Beben brachte. „Entschuldige, David.“ Der Maler richtete sich langsam wieder auf, ein Grinsen im Gesicht, als wäre nichts gewesen. David war irritiert und irgendwie auch erleichtert. Das Pochen in seiner Brust beruhigte sich nur allmählich. Er spürte, wie Gabriel nochmal kurz seinen Arm drückte, dann ließ der Maler auch diesen los. David entspannte sich. Der Maler lief ein paar Schritte durch den Raum, blieb stehen und drehte sich wieder zu David um. „Aber weißt du was? Du solltest wirklich in der Lage sein, dich zu wehren. Nicht, dass noch jemand auf blöde Gedanken kommt.“ „Das …“ Davids Körper versteifte sich bei dieser flapsigen Bemerkung und ehe er sich wirklich dessen bewusst war, zischte er zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor, „… ist wirklich alles andere als witzig.“ Jetzt war es Gabriel, der in seiner Bewegung innehielt. Mit dieser Reaktion schien er nicht gerechnet zu haben. Seine Augenbrauen hoben sich und der Anflug eines Grinsens spielte um seine Mundwinkel. „Genau so …“ Immer noch lächelnd drehte er sich wieder um, stakste zum Schrank mit den Alkoholvorräten und holte die Flasche Whisky, von der er neulich schon getrunken hatte, hervor. Außerdem stellte er auch zwei Gläser auf dem Couchtisch ab. „Setz dich.“ Gabriel wies auf das Sofa. Er wirkte wie immer. Nicht bedrohlich oder misstrauisch, sondern einfach normal – zumindest so normal, wie David den Maler kennen gelernt hatte. „Du trinkst vor dem Mittagessen schon Schnaps?“ „Das ist nicht irgendein Schnaps.“ Mit einer tadelnden Geste trat Gabriel wieder vor David. „Der Whisky wurde in einem alten Sherryfass gelagert, fünfzehn Jahre lang. Wenn du einfach nur Schnaps dazu sagst, muss ich mir wirklich nochmal überlegen, ob ich dir wirklich einen Schluck anbieten soll.“ „Dann ist es ja gut, dass ich sowieso nicht trinke.“ „Nicht mal ein bisschen?“ „Nicht mal ein bisschen.“ David zögerte. Sein Blick fiel auf die Whiskyflasche, deren goldbrauner Inhalt im einfallenden Licht orangefarbene Reflexe auf die Tischplatte warf. „Zumindest bis jetzt.“ „Oho“, raunte Gabriel und zwinkerte ihm zu. „Alkohol oder Koffein, wie groß ist da schon der Unterschied?“ Der Maler zog den Stöpsel aus der Flasche und schenkte in beide Gläser je zwei Fingerbreit des Getränks ein. Dann hielt er David eines der Gläser hin. Als David danach griff, berührten sich ihre Finger. Unwillkürlich hielt er für einen Augenblick die Luft an. Gabriels Hand war beinahe so kalt wie der Alkohol. Dann war der Moment vorüber. „Auf was sollen wir anstoßen?“ Gabriel blickte ihn fragend an. Auch wenn er sich so gab, als wäre alles in Ordnung, stimmte das nicht. David konnte die Schatten unter den Augen nicht übersehen. „Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Schultern. „Brauchst du einen Grund, um früh um zehn Whisky zu trinken?“ David versuchte sich in einem Lächeln. Er wusste zwar, dass ihm das nie so richtig gelang, doch jetzt schien ein guter Anlass dafür zu sein, es zu versuchen. Der einzige Grund dafür, dass er sich Gabriel gegenüber gerade einigermaßen ebenbürtig fühlte, war der, dass Gabriel nicht ganz bei sich zu sein schien. David hoffte nur, dass das auch wirklich ein Vorteil war und am Ende nicht zu etwas vollkommen Unberechenbarem führte. Denn er war sich sicher, dass ihn das kleinste Anzeichen einer Unregelmäßigkeit sofort wieder in Verteidigungshaltung bringen würde. Er drängte diesen Gedanken ganz weit zurück und hielt sich stattdessen das Glas unter die Nase und schnupperte. Ob der Schnaps nun in einem Sherryfass oder sonst wo gelegen hatte, er roch hauptsächlich scharf. David musste seine gesamte Selbstbeherrschung aufwenden, um nicht das Gesicht zu verziehen. Er prostete Gabriel schweigend zu und setzte das Glas dann an die Lippen. Gabriel tat es ihm gleich. Der Maler leerte seines in einem Zug bis zur Hälfte. David kippte sein Glas ein Stück weit, aber nicht weit genug. Kein einziger Tropfen Whisky berührte seine Lippen. David schlenderte durch den Raum, in Richtung von Gabriels Arbeitsbereich. Nach wenigen Schritten blieb er stehen, atmete einmal tief durch und wandte sich dann Gabriel zu. „Kann ich das Bild noch einmal sehen?“ Gabriel, der noch neben dem Sofa stand, runzelte die Stirn. „Welches Bild?“ „Das von dem Mädchen, das neulich dort hinten gestanden hat.“ David beobachtete den Maler ganz genau. Gabriel stieß einen leisen Seufzer aus, schloss für einen kurzen Moment die Augen und ließ seinen Blick dann wieder auf David ruhen. Sie starrten sich gegenseitig an. David war angespannt, doch Gabriel schien die Ruhe selbst zu sein. „Es ist weg.“ Gabriel machte eine Pause, doch David hatte das Gefühl, dass da noch etwas kam, und wartete deshalb. „Ich konnte es nicht weitermalen, also hab ich es fortgeschafft.“ Fortgeschafft? Was hatte das zu bedeuten? Offenbar hatte David seine Gesichtszüge diesmal nicht unter Kontrolle gehabt, denn Gabriel fügte mit einem schwachen Lächeln hinzu: „Inspiration lässt sich nicht erzwingen. Ich habe ein besseres Motiv gefunden. So ist das eben.“ In David arbeitete es. Er beobachtete, wie Gabriel zu seinem Sessel ging. Für den Maler war die Sache damit wohl beendet. Für ihn noch lange nicht, aber Gabriel würde wohl nicht mehr dazu sagen. „Was ist? Bist du nur deswegen gekommen?“ David schüttelte den Kopf. „Nein …“ Er kehrte ebenfalls zur Sitzgruppe zurück und nahm auf dem Sofa Platz. Ihm fiel auf, dass Gabriel sein Glas bereits geleert hatte. Er hatte keinen Plan, hatte stattdessen das Gefühl, auf einem zugefrorenen See zu stehen, wobei er langsam aber sicher auf die Stelle zu schlitterte, an der ein Bach plätschernd in das stehende Gewässer mündete. „Weißt du was?“ Der Maler stieß sich vom Rückenteil des Sessels ab, an dem er gelehnt hatte. „Eigentlich ist es mir egal, warum du da bist.“ Er griff nach der Flasche und schenkte sich nach. „Hauptsache, du bist da.“ Er umrundete das Sofa und ließ sich neben David darauf nieder. David erstarrte. „Bleib einfach so sitzen.“ Gabriel nahm einen weiteren Schluck, stellte sein Glas auf dem Tisch ab und ließ sich dann langsam zur Seite fallen, bis sein Kopf auf Davids Schulter lag. Er seufzte leise, machte ein paar ruhige Atemzüge und rutschte dann weiter nach unten. David rührte sich nicht. Er merkte seine Verunsicherung, aber sie war nicht so stark, wie er sie noch vor wenigen Tagen in solch einer Situation erwartet hätte. Gabriel lag schließlich auf dem Sofa, mit dem Kopf auf Davids Oberschenkel und schielte nach oben. „Nur für einen kurzen Moment, ja?“, flüsterte der Maler und warf David ein flüchtiges Lächeln zu. Dann schloss er die Augen. David zögerte auch diesmal, doch dann rang er sich durch und drückte sanft Gabriels Schulter. Würde er sich wohl bald entscheiden müssen? Er hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen. Kapitel 25: ------------ Gabriel schlief. Seine schwarzen Haare schimmerten matt im Licht, das von draußen durch die großzügige Fensterfront in das Loft einfiel. Ein paar Strähnen hatten sich aus dem Pferdeschwanz gelöst, den er wie üblich trug, und breiteten sich nun über Davids Beinen aus. Davids Hand ruhte noch immer auf Gabriels Schulter und ihm fiel erst nach einiger Zeit auf, dass er mit dem Daumen langsam kreisende Bewegungen ausführte. Als er sich dessen bewusst wurde, hörte er sofort auf. Er blickte in Gabriels schlafendes Gesicht und konnte in diesem Augenblick weder die spöttische Maske ausmachen, die der Maler sonst so häufig zur Schau stellte, noch die verbissene Sturheit, die David vor vielen, vielen Jahren, als sie beide noch Jungen gewesen waren, kennen gelernt hatte. In diesem Moment lag beinahe etwas Friedliches in dem Ausdruck des Malers. Welches dieser vielen Gesichter war der echte Gabriel? David biss die Zähne aufeinander. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen. Gabriel schlief. Jetzt, nachdem tatsächlich das eingetreten war, was David sich vorgestellt hatte, gab es kein Zurück mehr. Vorsichtig fasste er Gabriels Kopf, hob ihn gerade so weit an, dass er seine Beine darunter hervorziehen konnte und schob ein Kissen an ihre Stelle, ehe er ihn vorsichtig wieder losließ. Ein Stück weit sank Gabriels Kopf in das Kissen ein, tiefer, als er auf Davids Beinen gelegen hatte, und der Maler gab ein leises Brummeln von sich, doch er wachte nicht auf. David hielt die Luft an, sein Herz klopfte wie wild und erst nach einigen Sekunden erinnerte er sich daran, weiter zu atmen. Noch war nichts geschehen, noch hatte er nichts gesehen. Er könnte sich einfach ein Glas Wasser holen, auf Klo gehen oder ganz nach Hause verschwinden. Nichts würde passieren. Doch dazu war er nicht gekommen. David ließ seinen Blick durch den gesamten Raum schweifen. Es war ein Loft, das kaum versteckte Nischen oder Winkel bot. Ihm sprang die Treppe ins Auge, die auf die balkonartig eingezogene Zwischendecke führte. Er vermutete ja, dass sich Gabriels Schlafbereich dort oben befand. Das konnte er auf jeden Fall überprüfen. David ging hinüber zur Treppe. Es handelte sich um eine solide Metallkonstruktion, doch auch Metall konnte Geräusche verursachen. Er musste vorsichtig sein, wenn er Gabriel nicht wecken wollte. Was er tun würde, sollte der Maler doch erwachen, darüber wollte er sich gerade keine Gedanken machen. Ansonsten würde mit einem Schlag die Panik zurückkehren. Prüfend setzte er nun einen Fuß auf die unterste Stufe und verlagerte langsam sein Gewicht darauf. Es blieb alles ruhig. David machte einen tiefen Atemzug und stieg dann ohne eine Pause zu machen die restlichen Stufen hinauf. Als sein Kopf auf Höhe der Zwischendecke war, sah er die Matratze, die tatsächlich Gabriels Bett zu sein schien. Sie lag ohne einen Rahmen oder ähnliches direkt auf dem Boden, der mit Reisstrohmatten ausgelegt war. Das Bettzeug war ordentlich gemacht. Eine kleine Stehlampe, neben der sich ein paar Bücher stapelten, befand sich am Kopfende der Matratze. Außer diesem Möbel und dem Bett selbst war nur noch ein weiterer Gegenstand hier oben zu sehen. Davids Blick fiel auf ihn, als er seinen Fuß auf die Strohmatten setzte. Instinktiv krampfte sich seine Hand am Geländer fest. Fast genau gegenüber dem Treppenaufgang lehnte ein Bild an der Wand, das David sofort erkannte. Ihm blickte sein eigenes Konterfei entgegen. Es war das Bild, das Gabriel neulich innerhalb von wenigen Minuten gezeichnet hatte. Nun, es war nicht genau dieses Bild. Das Kunstwerk, das David gerade anstarrte, war feiner ausgearbeitet, zeigte aber das gleiche traurige Lächeln – sein Lächeln. Sich selbst so zu sehen, auf diese Weise einen Spiegel vorgehalten zu bekommen, war merkwürdig, denn er wusste, dass das Bild die Wahrheit zeigte. Unwillkürlich verzog sich Davids Mund zu demselben Lächeln, das ihm sein Leinwand-Ich entgegenbrachte. Es erstarb in dem Augenblick, in dem er sich fragte, warum Gabriel ein Bild von ihm direkt neben seinem Bett stehen hatte. David schloss die Augen und presste seine Lippen aufeinander. Es spielte keine Rolle. In diesem Moment spielte es keine Rolle. Er machte die Augen wieder auf, spähte kurz über das Geländer hinunter zum immer noch schlafenden Gabriel und suchte dann noch einmal dessen Schlafbereich nach etwas Auffälligem ab, das nicht sein Porträt war. Es gingen von hier keine Türen ab, nur die Treppe, die nach unten in den großen Wohnbereich führte, wohin David nun zurückkehrte. Was hatte er erwartet? Es war doch klar, dass dort oben, so offen wie der Schlafbereich in den gesamten Raum integriert war, nichts zu finden sein würde. War es einfach nur Neugierde gewesen? Zum wiederholten Mal wendete sich Davids Aufmerksamkeit Gabriel zu. Im Schlaf wirkte der Maler so harmlos wie ein Hundewelpe. Vielleicht war es Neugierde gewesen, dass er dort hinaufgegangen war, aber nicht nur. Es war vor allem Angst – wieder einmal. Angst, etwas zu finden, sich entscheiden zu müssen. David war ein Meister darin, Sachen zu verdrängen oder sie, so gut es ging, hinauszuzögern. Auf die Arbeit traf das natürlich nicht zu, denn sie war unpersönlich und Korrektheit dabei das oberste Gebot. Doch sobald es persönlich wurde, sobald etwas ihn direkt betraf, war sein erster Impuls stets die Flucht. Zumindest heute, zumindest jetzt durfte er nicht fliehen. Noch nicht. Es war nur ein Raum in Gabriels Wohnung übrig, den er noch nicht betreten hatte. Wenn sich hier tatsächlich ein Hinweis auf den Verbleib des Mädchens befand, dann in diesem Raum. David riss seinen Blick von Gabriel los, drehte den Kopf und fasste die Tür in der Nähe des Eingangs ins Auge, hinter der er bisher eine Abstellkammer für all das Zeug vermutet hatte, das man in einem Haushalt eben so hatte und für das kein bestimmter Platz vorgesehen war. Eine seltsame Macht schien jetzt, da das der einzig übriggebliebene Raum war, von der Tür auszugehen. Eine Macht, die ihn gleichzeitig anzog und dort an den Boden fesselte, wo er gerade stand. Er biss sich auf die Unterlippe und hob dann in einer schier endlosen Sekunde das Bein, um einen ersten Schritt auf besagte Tür zuzumachen. Ein zweiter Schritt folgte, ein dritter und noch ein paar, bis er schließlich vor der Klinke stand. Durch das Sonnenlicht, das durch die große Fensterfront einfiel, zeichnete sich sein eigener Schatten auf der Tür ab. David warf einen schnellen Blick über die Schulter hin zu Gabriel um sich zu vergewissern, dass der Maler noch schlief, packte dann die Klinke und drückte sie, ohne noch einen weiteren Gedanken an irgendetwas zu verschwenden, nach unten. Die Tür war abgesperrt. Als würde das Metall der Klinke mit einem Mal heiß glühen, machte David einen Satz zurück. Das Blut rauschte in seinen Ohren und sein Herzschlag hämmerte in seiner Brust wie nach einem Kurzstreckensprint. Entgeistert starrte er auf die Hand, die eben noch die Türklinke umfasst hatte. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Was hätte er denn gemacht, wenn in dem Raum tatsächlich etwas gewesen wäre? Was hätte er denn, nüchtern und realistisch betrachtet, wirklich getan? David taumelte, das Loft schien sich immer schneller um ihn zu drehen und er spürte, wie die altbekannte Panik ihm langsam aber sicher die Kehle zuschnürte. Er hatte Mühe zu atmen, ja Mühe, mit beiden Beinen auf dem Boden stehen zu bleiben. In einem Anflug von Geistesgegenwart drehte er sich etwas und ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand neben der zugesperrten Tür plumpsen. Mit den Händen auf die Knie gestützt fixierte er einen Punkt auf dem wabernden Boden und wartete. Dabei zwang er sich, in regelmäßigen Abständen ein- und auszuatmen; er zählte sogar die Sekunden zwischen den Atemzügen, um Ordnung und Kontrolle über seinen widerspenstigen Körper zurückzuerlangen. Wenn es wirklich nur sein Körper wäre … David spürte, wie eine Schweißperle seine Schläfe hinab rann. Minuten vergingen, wie viele, das konnte er nicht sagen. Irgendwann hatte er sich so weit beruhigt, dass er den Kopf wieder gefahrlos heben konnte, ohne dass ihm schwindlig wurde. Halb erwartete er, dass Gabriel ihn vom Sofa aus mit einem süffisanten Grinsen bedachte, doch er musste feststellen, dass sich der Maler noch immer im Land der Träume aufzuhalten schien. Damit war es also immer noch an ihm, sich zu entscheiden. Eine Abstellkammer war für gewöhnlich nicht abgesperrt, außer vielleicht, der Besitzer schämte sich wegen einer eventuellen Unordnung. Das konnte sich David beim besten Willen nicht vorstellen, wenn er einen Blick hinüber zu Gabriels Arbeitsbereich warf. Vielleicht befand sich also tatsächlich etwas in diesem Raum, das es sich einzusperren lohnte. Wo aber war der Schlüssel? Nicht sehr zuversichtlich spähte David durch das Loft. So übersichtlich der Grundriss im Prinzip auch war, es gab dennoch mehr als genügend Möglichkeiten, einen Gegenstand von der Größe eines Schlüssels zu verstecken. Hatte es überhaupt einen Sinn, irgendwo zu suchen anzufangen? Es hatte wohl auch keinen Zweck, wenn er überlegte, wo er denn den Schlüssel ablegen würde, denn er war nicht Gabriel. Allerdings … Er hatte den Maler als jemanden kennen gelernt, der nichts gern dem Zufall überließ. David dachte dabei an ihre erste Begegnung im Café, an die Einladung hierher ins Atelier oder an Gabriels Offenbarung. Gabriel behielt gern die Kontrolle, darin waren sie sich gar nicht so unähnlich. Auch wenn Gabriel das besser auf die Reihe zu bekommen schien als er. Insofern war es aber wohl gut möglich, dass der Maler den Schlüssel am eigenen Körper trug, um ihn so ständig bei sich zu haben. Das war vermutlich das beste Versteck, das er hatte wählen können, wenn David derjenige war, der den versteckten Gegenstand aufspüren sollte. In Davids Kopf flogen die Gedanken schon wieder kreuz und quer. Zwischendurch hatte er, wegen all seiner Fragen bezüglich des Bilds, die Gewissheit gehabt, dass Gabriel genau wusste, worauf er hinaus wollte. Dass er über das Mädchen Bescheid wusste – oder zumindest Bescheid zu wissen glaubte. Womöglich war er sogar der einzige Mensch, abgesehen von Gabriel, der einen Verdacht hatte. Doch nun schlief Gabriel hier einfach so seelenruhig unter Davids Anwesenheit vor sich hin. War das Glück? Vielleicht traute Gabriel ihm auch gar nicht zu, irgendetwas zu wissen, geschweige denn, irgendetwas zu unternehmen. Vielleicht war ja am Ende überhaupt nichts los. Vielleicht bildete er sich alles nur ein und er war in Wahrheit noch zehnmal verdrehter als der Maler. Vielleicht … David stöhnte auf und presste seine Fingerspitzen links und rechts gegen die Schläfen. Es hatte keinen Zweck. Was auch immer in diesem Raum war, er hatte das Gefühl, dass er, wenn er es nicht schaffte, einen Blick hinein zu werfen, definitiv neben der Spur bleiben würde. Er stieß sich von der Wand ab und tappte eilig, bevor der Anfall von eingebildetem Selbstbewusstsein vorüber war, zur Couch und dem schlafenden Gabriel hinüber. Mit zusammengekniffenen Augen beugte er sich über den Maler. Auch jetzt wollte David sich nicht ausmalen, wie er reagieren würde, sollte Gabriel ihn in dieser merkwürdigen Pose erwischen. Dadurch, dass Gabriel ein lockeres, ärmelloses Hemd, das nur lässig zugeknöpft war, trug, konnte David erkennen, dass keine Kette um den Hals gelegt war. Insbesondere konnte also auch kein Schlüssel an dieser nicht vorhandenen Kette hängen. David starrte auf die dezent gebräunte Haut. Er war sich sicher, neben dem Kehlkopf und den Sehnen, die sich darunter abzeichneten, auch die Male von Händen, die sich einst mit stählernem Griff um diesen Hals gelegt hatten, zu erkennen. Als er jedoch blinzelte, waren die Male nicht mehr zu sehen. Er blinzelte nochmals, doch es blieb dabei, es war nichts Sonderbares, abgesehen von einem leichten Bartschatten, zu sehen. So war es immer. Irgendeine Kleinigkeit, die gar nicht existierte, verunsicherte ihn, brachte ihn bisweilen auch vollkommen aus dem Konzept. So wie jetzt. Mit Mühe riss er sich von Gabriels Hals los und ließ den Blick über den Körper des Malers tiefer wandern. Wirklich, wenn Gabriel jetzt aufwachte, musste er auf falsche Gedanken kommen. Das Hemd hatte keine Taschen, wohl aber die Hose, eine dünne, helle Jeans. David konnte förmlich spüren, wie ihm das Herz in die eigene rutschte. Er konnte doch nicht … Oh Mann, das konnte er nicht tun. Gabriel lag auf dem Rücken, allerdings ein wenig schief, sodass er leicht nach rechts gedreht war. Das hieß, die linke Hosentasche zu erreichen war kein Problem, wohl aber die rechte. Gabriel war Rechtshänder, soweit David sich in diesem absurden Moment richtig erinnerte, und somit wäre der Schlüssel wohl auch eher in der Hosentasche auf dieser Seite zu finden – falls er überhaupt in einer der Taschen war. Oh Mann … David fixierte die linke Hosentasche, ihm blieb ja erst mal nichts anderes übrig. Langsam streckte er seinen Arm aus, langsam, richtig langsam. Der Augenblick schien still zu stehen und David hätte tatsächlich geglaubt, dass er festgefroren war, wäre da nicht das Beben in seinen Fingern gewesen. Er hielt die Luft an, hörte seinen Herzschlag in den Ohren dröhnen und näherte sich in Zeitlupentempo Gabriels Seite. Das war doch nicht zu glauben, das war doch … Ein Schauder durchfuhr ihn, als er den Stoff der Hose berührte und sich vorstellte, dass Gabriels Haut nur wenige Millimeter von seinen Fingerspitzen entfernt war. Wenn er jetzt aufwachte … Er schob die Hand tiefer, spürte dabei überdeutlich den warmen Körper unter seinen eigenen, eiskalten Fingern. Tiefer, ohne zu sehr zu drücken oder zu sehr am Stoff zu ziehen. Es war alles andere als einfach. Es war alles andere als angenehm. Und doch stand er hier und hatte seine Hand in jemand anderes Hosentasche. Und er fühlte etwas Hartes. David ließ mit einem Mal alle Luft, die er unbewusst einbehalten hatte, aus seinen Lungen weichen. Es hörte sich beinahe wie ein Japsen an und er blickte erschrocken zu Gabriels Gesicht, um zu schauen, ob der Maler davon aufgewacht war. War er nicht. Mit zittrigen, beinahe tauben Fingern tastete David nach dem metallenen Gegenstand. Er bekam ihn zu fassen und hielt wenige Augenblicke später einen stinknormalen, silbrigen Schlüssel in Händen. Einfach so. David taumelte, doch er bekam die Sofalehne rechtzeitig zu fassen. Er wartete, eine Minute, zwei, bis das Hämmern in seiner Brust auf ein erträgliches Maß abgeklungen war. Er betrachtete den Schlüssel in seiner Handfläche. Sein erster Diebstahl. Ein resignierendes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Vielleicht bekam er ja mildernde Umstände. Seine Finger schlossen sich um den kleinen Gegenstand und mit mehr Willenskraft, als er je in sich verspürt hatte, wankte er zurück zum versperrten Raum. Kapitel 26: ------------ Beinahe lautlos glitt die Tür auf. Sie hatte es fast nicht bemerkt, hatte vor sich hingedöst. Nun hob sie ihren Kopf gerade so weit, dass sie ihn aus den Augenwinkeln durch ihre Wimpern hindurch sehen konnte. Wenn sie den Kopf höher hielt, drückte der Knebel sonst zu arg, außerdem musste er ja nicht gleich mitbekommen, dass sie wach war und ihn beobachtete. Was er wohl heute vorhatte? Sie hatte eigentlich gedacht, dass wieder einmal Besuch da war, hatte gedämpfte Stimmen vernommen, aber vermutlich war der Gast schon wieder gegangen, was sie wegen ihrer Schläfrigkeit nicht mitbekommen hatte. Andernfalls wäre er nicht zu ihr gekommen. Was würde nun also geschehen? Vielleicht konnte sie ihn noch einmal beißen. Aber nein, der Knebel … Er trat einen Schritt in den Raum. „Was …?“ Ein erstickter Laut drang an ihre Ohren. Sie hob nun doch den Kopf an und sah, dass der Mann eine Hand vor den Mund geschlagen hatte. Daher der erstickte Laut. Mit der anderen hielt er die Klinke umklammert. Sie riss die Augen auf, als sie erkannte, dass das nicht er war. Ihr Herz begann zu rasen und Furcht ergriff von ihr Besitz. Furcht, und ein Funke Hoffnung. Sie wollte etwas sagen, doch unter dem Knebel drangen nur unverständliche Laute hervor. Sie zerrte an den Fesseln, wollte zumindest ihre Hände frei haben, um sich wehren zu können. Sie wollte … „Schh…“ Der Unbekannte bedeutete ihr, still zu sein. Still sein? Sie war die ganze Zeit über still! Ihr blieb doch gar nichts anderes übrig. Wie konnte er ihr vorschreiben, still zu sein? Er hatte die Hand vom Mund genommen und einen weiteren Schritt in den Raum gemacht. Hektisch blickte er sich um, mit aufgerissenen Augen. Sie waren so weit aufgerissen wie ihre und Angst und Entsetzen spiegelten sich darin. Für einen kurzen Moment war er wie gelähmt, schwankte auf der Stelle und fiel vermutlich nur deshalb nicht um, da er die Klinke immer noch umklammert hielt. Dann plötzlich schien er sich an etwas zu erinnern und er warf einen erschrockenen Blick über die Schulter nach draußen. Sie konnte nicht sehen, was er dort sah. Dann drehte er sich zu ihr zurück und in dem Moment, als sie sich in die Augen schauten, ließ die Panik in ihr etwas nach. Sie merkte, wie sie ruhiger wurde. Zwar pfiff ihr Atem noch immer durch ihre Nasenlöcher, aber das war auch kein Wunder. Sie war geknebelt. Sie konnte nicht sagen, was es war, was genau da in seinem Blick lag. Er hatte schöne Augen, schoss es ihr unvermittelt durch den Kopf, selbst, wenn sie so gehetzt wie jetzt wirkten. Er war etwas kleiner als der andere Kerl und blond. Sie erwiderte seinen Blick, versuchte, ihm zu verstehen zu geben, dass sie ruhig war, dass sie verstanden hatte. Sie verstand zwar eigentlich gar nichts, aber er würde ihr nichts tun. Das lag in seinem Blick. Er würde sie hier rausholen. Er schaute noch einmal über die Schulter in den dahinterliegenden Raum. Nur kurz, dann kam er auf sie zu. Sie sah, dass er zitterte, und sie sah den feinen Schweißfilm auf seiner Stirn. Sein Gesicht war blass. Außer dem ersten, unterdrückten Aufschrei hatte er noch kein Wort gesagt. Jetzt flüsterte er beinahe: „Sei bitte leise, ja?“ Sie nickte um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Egal wer dieser Mann war, für sie war er ihr rettender Engel. Sie hielt ganz still, als er sich von der Seite zu ihr hinunter beugte. Sie sah, wie seine Finger bebten, dann verschwanden sie aus ihrem Sichtfeld, als er sich an dem Knoten des Knebels zu schaffen machte. Sie hörte seinen schnellen Atem und fürchtete schon, dass er im nächsten Moment zusammenklappte. Doch er hielt sich auf den Beinen und nach einer kurzen Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, lockerte sich das Stück Stoff in und um ihren Mund und fiel schließlich auf ihre Brust. Ohne dass sie es bewusst tat, schnappte sie nach Luft. Sie sog einen langen Atemzug in ihre Lungen, so viel und tief wie möglich. Deswegen merkte sie nicht gleich, dass er auch ihre Fesseln gelöst hatte, mit denen ihre Hände über ihrem Kopf am oberen Bettende befestigt gewesen waren. Sie konnte es kaum glauben. Dieser Kerl kam einfach hereinspaziert, um sie zu befreien. „Wer …?“, wollte sie mit rauer Stimme wissen, doch er bedeutete ihr sogleich, den Mund zu halten. Ihre Finger kribbelten, nachdem sie von dem Seil befreit waren, doch es dauerte einen Moment, bevor sie ihre steifen, schmerzenden Schultern dazu brachte, ihre Arme in eine normale Position zu bringen. Sie kam sich schwach vor, ungelenk, und das war sie auch. Wie lange hatte sie hier gelegen? Auf diesem Bett in diesem Zimmer. Zwei Tage? Zwei Wochen? Noch länger? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber jetzt gerade, in diesem Moment, spielte das keine Rolle. Raus hier, nur raus. Während ihre Gedanken so durcheinander fielen, realisierte sie erst nach einer Weile, dass der Mann sich nun auch an ihren Fußfesseln zu schaffen machte. Sie spürte die Rauheit des Seils schon gar nicht mehr, aber sie sah, dass er sich mit fahrigen Bewegungen vergeblich an dem Knoten abmühte. Er warf ihr einen schnellen Blick zu und wieder blieb dabei für einen kurzen Augenblick die Zeit stehen. Wenn sie vielleicht etwas klarer im Kopf gewesen wäre, hätte sie den Ausdruck in seinen Augen deuten können, so aber machte die Welt einfach einen Hopser und lief dann, als wäre nichts gewesen, unbeirrt weiter. Ihr Retter hielt in seinem Tun inne, nahm langsam die Hände von ihren immer noch verschnürten Knöcheln und holte tief Luft. So kurz vor dem Ziel … Mit aller Energie, die sie aufbringen konnte, warf sie sich nach vorne. Sie zwang ihre eigenen, steifen Finger dazu, aus ihrer Lethargie zu erwachen und machte sich in dem Moment selbst an den Fesseln zu schaffen, in dem auch der Mann wieder seine Hände danach ausstreckte. Sie spürte seine kalte Haut, als sich ihre Finger berührten, und zuckte unwillkürlich zurück. Nur ein kleines Stück, aber es konnte ihm nicht entgangen sein. Er zitterte noch immer, das konnte sie jetzt deutlich erkennen. Trotzdem nahm er ihre steifen Finger kurz in seine Hände, drückte sie sanft und sie hatte tatsächlich das Gefühl, dass dadurch etwas Leben in ihre geschundenen Gliedmaßen zurückkehrte. Dann ließ er sie wieder los, stand leise auf und warf einen Blick zurück in den angrenzenden Raum. Es war ihr egal, was dort war. Sie durfte nur keine Zeit verlieren. Verbissen machte sie sich an den Fesseln zu schaffen. Sie zerrte an dem Knoten, nutzte ihre Fingernägel, die jetzt viel länger waren, als sie sie normalerweise trug, und irgendwann konnte sie fühlen, wie das Seil ein wenig nachgab. Der Mann kehrte zu ihr zurück, aber sie hatte es fast schon geschafft. Mit einem letzten, verbissenen Ruck riss sie an dem Strick, dann glitt er mit einem leisen Geräusch auf die Bettdecke hinab und blieb dort wie die leere Haut einer Schlange liegen. Kapitel 27: ------------ Es war eine komplett unwirkliche Situation. Aufregung und Ohnmacht kämpften in seinem Inneren um die Vorherrschaft, ohne dass sich ein Sieger hervorgetan hätte. Wie ging es nun weiter? „Raus, ich muss sie rausbringen.“ Über das Dröhnen in seinem Kopf formte sich doch irgendwann dieser Gedanke. David blickte zu der jungen Frau auf dem Bett. Sie hatte ihre Beine frei bekommen und versuchte nun aufzustehen. Es klappte nicht, sie war zu schwach dafür. Natürlich. Wie lange gedachte er denn noch, tatenlos herumzustehen? Er musste hin und ihr helfen. Behutsam näherte er sich ihr, zumindest so behutsam, wie es ihm unter den momentanen Umständen möglich war. Er durfte sie nicht verschrecken. Was sollte er nur tun, wenn Gabriel jetzt aufwachte? Wie in Zeitlupe streckte er eine schweißnasse Hand nach ihr aus. Wenn er ihren Arm um seine Schulter legte, konnten sie vielleicht nach draußen gelangen, vorausgesetzt, sie ließ es zu. Seine Bedenken waren unnötig. Als er sich zu ihr hinabbeugte, reckte sie sich ihm mit einem mehr als dankbaren Ausdruck entgegen und im Nu stand sie auf ihren nackten Beinen an David gelehnt da. Sie war schwer, vermutlich nicht wirklich schwer, aber er war eben kein Kraftpaket und so etwas nicht gewohnt. David machte einen kleinen Schritt und sie tat es ihm gleich, aber die Balance zu halten war kaum möglich, so, wie sie an seiner Schulter zerrte. Es wäre alles einfacher, wenn er auch seinen Arm um sie legte, aber … Er schloss kurz die Augen. Dass er einmal auf solch einen Gedanken kam! Ihm fiel ein, wie er erst vor Kurzem Gabriel an der Schulter berührt hatte. Er konnte diese Schranke also durchbrechen. Überhaupt fühlte er sowieso schon ihren schlanken Körper auf der gesamten Länge seiner Seite. So nah … Er merkte, wie sich sein Brustkorb verengte. Nicht nachdenken, schalt er sich selbst zur Ordnung. Nicht nachdenken und weiteratmen. Halt sie fest und dann so schnell wie möglich raus. Kurzerhand stützte er sie mit seinem freien Arm von hinten und gemeinsam schwankten sie aus dem kleinen Raum. Als sie die Schwelle in das großzügige Loft hinaus überschritten, wanderte Davids erster Blick hinüber zum Sofa. Gabriel hatte sich so hingedreht, dass sein Gesicht in Richtung Lehne zeigte. David konnte lediglich den schwarzen Haarschopf sehen. An seiner Seite fuhr das Mädchen deutlich zusammen und stieß ein tonloses Keuchen aus. Auch sie starrte zu dem Schlafenden hinüber, der Blick war angsterfüllt. Ihr Zittern nahm zu und David befürchtete schon, sie würde jeden Moment zu Boden rutschen. Er krallte seine Finger fester in ihre Seite, unterhalb ihrer Achselhöhle, und zerrte sie sanft weiter. Sie mussten nach links, in den Flur, der sie zur Haustür führen würde. Er wünschte, sie würde einfach die Augen zumachen, dann bräuchte sie Gabriel nicht anzusehen. Noch während er dies dachte, wandte sie sich mit einem Ruck von dem lichtdurchfluteten Raum ab und folgte David in den engen Gang. Sie konnten hier nicht vernünftig nebeneinander gehen, und so schoben sie sich seitlich die wenigen Meter voran. David war selbst erstaunt, wie ruhig alles ablief. Zwar hämmerte sein Herz wie ein Presslufthammer, aber das konnte nur er selbst hören. Das Mädchen konnte es allenfalls spüren. Um die Haustür zu öffnen, musste er ihren Arm, der um seinen Nacken lag, kurz loslassen. Er fasste nach der Klinke, fühlte sie unter seinen kalten, tauben Fingern kaum und drückte sie nach unten. Widerstandslos schwang die Eisentür nach innen auf und gab den Blick frei auf einen spätvormittäglichen, sonnigen Straßenzug, der, trotzdem dass Samstag war, relativ verlassen dalag. David wollte wieder das Handgelenk der jungen Frau packen, doch sie löste sich etwas von ihm und machte selbst einen Schritt an ihm vorbei ins Freie. Sie blinzelte heftig und schirmte ihre Augen mit dem Unterarm ab. Ihr Gesichtsausdruck war dabei nicht zu deuten. David warf noch einmal einen Blick zurück ins Loft. Von hier aus konnte er nicht viel erkennen, sah lediglich das Bücherregal von der Seite und ein Eck des Sofas. In diesem Moment war er sich nicht im Klaren darüber, was er lieber tun wollte – mit dem Mädchen mitgehen oder doch wieder zurück zu Gabriel. Er konnte es wirklich nicht sagen. Die Entscheidung wurde ihm vorerst abgenommen, als die junge Frau an seiner Seite gegen ihn sank. Er fing sie auf. Sie war bei Bewusstsein, konnte sich aber nicht mehr auf den Beinen halten. Und sie konnte definitiv nicht hier bleiben. Er verlor keinen Gedanken daran, wie sie aussehen mussten oder wer sie bei ihrer merkwürdigen Flucht sah. Ob sie überhaupt jemand sah. Sie humpelten ein Stück weit die Straße in Richtung Innenstadt entlang, vielleicht zwei, drei Blocks, ehe David in einer schmalen Seitengasse Halt machte. Er konnte einfach nicht mehr. Mit letzter Kraft setzte er das Mädchen vorsichtig an eine Hausmauer gelehnt ab und ging dann selbst in die Knie. Für eine kurze Zeit behielt er die von der Sonne beschienene Straße noch im Auge, dann ließ er sich nach hinten fallen, bis er mit dem Rücken gegen einen großen Müllcontainer stieß, und versuchte erst einmal, an überhaupt nichts zu denken. Das war natürlich komplett unmöglich. Er konnte das Durcheinander in seinem Kopf nicht durchdringen. Trotzdem spürte er immerhin, wie sich seine Nervosität etwas legte. Mit dem kalten Metall im Rücken ließ er seinen Blick kurz durch die schattige Gasse wandern und betrachtete schließlich mit Verwunderung seine Füße. Er hatte keine Schuhe an. Die standen noch bei Gabriel. Unwillkürlich musste er lachen und wackelte dabei mit den Zehen. Die junge Frau hob, von diesem Geräusch überrascht, den Kopf. Sie trug lediglich ein cremefarbenes Hemdchen, im Gegensatz zu ihm noch nicht einmal Socken und schon gar keine Schuhe. Ihr musste kalt sein, trotz der warmen Frühlingssonne. Überhaupt brauchte sie einen Arzt. Und dann? Irgendjemand würde natürlich auch die Polizei informieren. Gabriel würde verhaftet werden. Bestimmt. Und er? Er hatte doch nichts Verbotenes getan, oder? Auf jeden Fall aber hatte er Gabriel ausgeliefert. Diese Gewissheit verursachte einen schmerzhaften Stich in seiner Brust. Er hatte den Menschen verraten, der ihm damals die Flucht ermöglicht hatte. Hätte es nicht einen anderen Weg geben müssen? Nur welchen? David war nicht zur Polizei gegangen, doch das würde die junge Frau für ihn erledigen, zu Recht. Etwas anderes war niemals zu erwarten gewesen. David schaute zu ihr hinüber und stellte dabei überrascht fest, dass sein Blick getrübt war. Eine Träne rann seine Wange hinab. Schnell wischte er sie mit dem Handrücken beiseite und mühte sich dann zurück auf die Beine. „Ich habe kein Telefon dabei. Soll ich ein Auto anhalten oder schaffst du es zu Fuß bis zum nächsten Krankenhaus?“ Er wollte ihr die Wahl lassen. Die Frau schluckte einmal, bevor sie zu sprechen ansetzte. Es waren die ersten Worte, die sie zu David sagte. „Ich schaffe es so.“ David nickte und hielt ihr seine Hand hin. „Dein Name ist Theresa, nicht wahr?“ Er hatte sich an das erinnert, was in dem Zeitungsartikel gestanden hatte. „Komm, Theresa, gehen wir.“ Niemand sprach sie auf dem Weg zum Krankenhaus an und Davids kreisende Gedanken kehrten zu Gabriel zurück. Er erinnerte sich an die seltsame Stimmung, in der Gabriel ihn empfangen hatte, und an die nicht gerade geringe Menge Alkohol, die der Maler in sehr kurzer Zeit zu sich genommen hatte. Nur um dann in Davids Anwesenheit einzuschlafen. Jetzt, wo David so darüber nachdachte, kam es ihm beinahe so vor, als hätte Gabriel gewollt, dass er das Mädchen fand. – Ende – Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)