Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 55 ---------- Was zuletzt geschah: Jonas hat turbulente Monate hinter sich. Sein Studium lockt ihn vom verschnarchten bayerischen Hinterland in die turbulente Hauptstadt und bald darauf findet er sich in den Armen eines Mannes, den er inzwischen nie wieder loslassen möchte. Nicht alles läuft rosig und viele Hürden müssen gemeistert werden, um Jonas an den Punkt zu bringen, an dem er heute steht. Aber er ist glücklich. Wenn doch nur seine Mutter über ihren Schatten springen könnte. Kapitel 55 Weihnachten war vergangen, doch der nächste Feiertag stand bereits in den Startlöchern: In dieser Nacht läutete der Mitternachtsgong nicht nur den nächsten Tag, sondern ein neues Jahr ein. Derzeit zog jedoch noch feiner Kaffeeduft durch die Gassen und hinter verschlossenen Türen ließ sich gelegentliches Gähnen erahnen. „Christine hat grad geschrieben.“ Jonas streifte ein paar Brotkrümel von seinem Kapuzenpulli und kuschelte sich zu Erik aufs Sofa. „Sie hat noch irgendwas in München zu tun und trifft sich dann direkt dort mit uns.“ „Hm, was treiben wir denn dann den halben Tag?“ „‚Treiben‘ find ich schon mal ‘n ganz gutes Stichwort.“ Nun überwältigte allerdings auch Jonas das allgegenwärtige Gähnen. Halb auf Erik liegend, das Gesicht in dessen Halsbeuge gedrückt, schloss er die Augen. Nur kurz dösen, in ein paar Minuten war er sicher fitter. Das Handy musste lange und laut klingeln, um ihn aus seinem Tiefschlaf zu reißen. Blind tastete er danach, beantwortete den Anruf, ohne auf den Namen zu sehen. „Hallo?“ „Hallo.“ Schlagartig saß Jonas aufrecht. „Hallo, Mama.“ Er hatte seit ihrem Abschied zu Weihnachten nichts mehr von ihr gehört. „Ich wollte fragen, ob du zum Essen kommst, bevor du nach München fährst.“ „Mama, du weißt, dass ich–“ „Ob ihr zum Essen kommt“, verbesserte sich seine Mutter. „Natürlich kann … Erik … mitkommen.“ „Oh, okay, ähm … Ich frag ihn mal.“ Erik saß neben Jonas, ein Buch in der Hand, doch seine Augen bewegten sich nicht. Vermutlich hatte er dem Gespräch wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Zeilen vor ihm. „Ähm, meine Mum fragt, ob wir zum Essen vorbeikommen wollen.“ „Willst du?“ Jonas dachte an ihre letzte Begegnung, seine Hoffnung, ihre Tränen. „Ich glaub, es könnt ganz gut sein.“ „Dann gehen wir.“ Mit einem knappen Nicken hielt Jonas sein Handy wieder ans Ohr. „Okay, wir kommen vorbei. Aber macht euch keinen Aufwand, wir gehen dann in München Abendessen, brauchen also mittags nich‘ so viel.“ „Wir hatten ohnehin nur eine Brotzeit geplant. Seid um halb eins da.“ „Halb ei–?“ Aber seine Mutter hatte schon aufgelegt. „Toll, das gibt uns“, er sah auf sein Display, „zwanzig Minuten. Duschquickie?“ Wortlos sprang Erik auf, entledigte sich seiner Klamotten an Ort und Stelle und zog Jonas mit sich ins Badezimmer. Eine halbe Stunde später standen die beiden gestriegelt und geschniegelt vor Jonas‘ Elternhaus. Sie wechselten einen nervösen Blick, bevor Jonas die wie immer unverschlossene Tür öffnete. „Hallo-o! Wir sin‘ da-a!“ „Kommt rein, kommt rein“, drang die Stimme seines Vaters aus dem Wohnzimmer zu ihnen. Er stand mit dem Rücken zur Tür, drehte sich aber um, als er die beiden hinter sich den Raum betreten hörte und lächelte breit. „Schön, dass ihr‘s so kurzfristig geschafft habt.“ „Jaah, die Einladung kam etwas überraschend“, gab Jonas zu. Sein Vater wirkte betreten. „Ich weiß. Tut mir leid, dass wir uns so lange nicht gemeldet haben, aber ich dachte … vielleicht ist es ganz gut für deine Mutter, wenn sie ein bisschen Zeit hat, sich alles nochmal durch den Kopf gehen zu lassen. Das Essen heute war übrigens ihre Idee.“ „Wirklich?“ Überraschung, Hoffnung und Furcht verschlangen sich in Jonas zu einem Knoten. „Dann … war das wohl echt ‘ne ganz gute Idee. Wo steckt sie denn?“ „Ist mit Oma in der Küche. Vroni ist bei einer Freundin und Christine gleich nach dem Frühstück abgehauen. Sie meinte, sie hätte irgendwas in München zu erledigen.“ „Hat sie mir auch erzählt. Alles sehr geheimnisvoll. Ähm, wir gehen dann mal ‚Hallo‘ sagen, ja?“ „Nur zu.“ Der Esstisch war bereits gedeckt, neben Tellern und Gläsern fanden sich Butter, Wurst, Käse, Obatzda und pfeffrig duftender Radisalat darauf. In der Küche surrte die Brotschneidemaschine. „Das verstehen deine Eltern unter einer Kleinigkeit?“, raunte Erik Jonas zu. „Was hast du erwartet?“, fragte dieser. „Meine Familie besteht aus Gastwirten. Groß aufzutischen liegt uns im Blut.“ „Habe ich dir schon mal gesagt, dass dich kennenzulernen das Beste war, was mir passieren konnte?“ „Vielleicht. Aber tu’s ruhig noch öfter.“ Entschieden umfasste Jonas Eriks Hand und führte ihn in die Küche. „Hallo zusammen!“ Zwei Köpfe drehten sich zu ihnen. Das ewig nachsichtige Lächeln seiner Oma stand im deutlichen Kontrast zu den dünn zusammengepressten Lippen seiner Mutter. „Du hättest sagen können, dass ihr später kommt.“ „Sin‘ doch bloß zehn Minuten“, erwiderte Jonas achselzuckend. Er hatte keine Lust auf Streit, aber sich sofort anmeckern zu lassen war auch nicht nach seinem Geschmack. „Is‘ ja nich‘ so, als hättest du uns viel Zeit gegeben. Dein Anruf kam schon ‘n bissl überraschend.“ Jonas‘ Oma rettete die Situation, indem sie zu ihm und Erik humpelte und beide nacheinander in die Arme schloss. „Schee, dass’d do seids, Buam.“ Ein Hauch Rot durchzog Eriks Ohrspitzen, nachdem sie ihn aus ihrer Umarmung entlassen hatte und da war dieses Schuljungengrinsen, das er immer dann zeigte, wenn ihn sein Gegenüber sehr glücklich gemacht hatte. „Es ist schön, Sie wiederzusehen, Frau Schwanberger.“ Er wandte sich an Jonas‘ Mutter. „Vielen Dank für die Einladung.“ Sie lächelte nicht, ließ sich aber zu einem Händeschütteln hinreißen. „Setzt euch schon mal. Ich schneide noch das Brot fertig auf.“ Gehorsam nahmen Erik, Jonas und dessen Oma am Esstisch Platz. Kurz darauf folgte auch Jonas‘ Mutter, die ungeduldig nach ihrem Mann rief. Die ersten Minuten des Essens verliefen schweigend, jeder war damit beschäftigt, sich durch das reichhaltige Angebot zu probieren und augenscheinlich froh, mit vollem Mund kein Gespräch beginnen zu müssen. Es war Jonas‘ Mutter, die das Schweigen unvermittelt beendete. „Und, Herr Kolb, wie gefällt es Ihnen bisher in unserer kleinen Ortschaft?“ „Ah, ganz gut“, antwortete Erik sichtlich überrumpelt. „Es ist ungewohnt ruhig für mich. Und bitte, ‚Erik‘ reicht völlig.“ „Ruhig, hm?“ Hatte seine Mutter gerade mit den Augen gerollt? Jonas konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. „Dann sind Sie wohl in Berlin aufgewachsen? Damit können wir hier natürlich nicht mithalten.“ Erik zeigte ein schmales Lächeln. „Eigentlich komme ich aus Stuttgart, aber ich vermute, der Unterschied zwischen Stuttgart und Berlin ist immer noch kleiner als der zwischen Stuttgart und hier.“ „Könntest du dir nicht vorstellen, hier auf dem Land zu wohnen?“ Zum ersten Mal seit ihrem Kennenlernen hatte Jonas‘ Vater auf das förmliche Siezen verzichtet und Eriks breiter werdendem Lächeln nach zu urteilen war das auch ihm nicht entgangen. „Ah, so pauschal kann ich das ehrlich gesagt gar nicht beantworten. Das kommt sicher auf die Umstände an und auch darauf, weshalb ich überhaupt umziehen müsste, aber grundsätzlich fühle ich mich in Städten wohler. Das sage ich jetzt allerdings ohne einen wirklichen Vergleich zu haben. Wahrscheinlich fände ich das Landleben am Ende wundervoll, wenn ich mich mal daran gewöhnt hätte. Und wer weiß schon, was die Zukunft bringt.“ Obwohl Erik mit Jonas‘ Vater gesprochen hatte, wusste Jonas, dass die letzten Worte ihm gegolten hatten. Ein Versprechen, den Weg gemeinsam zu gehen, sollte sich Jonas dazu entscheiden, doch wieder in die Nähe seiner Familie zu ziehen. „Du musst einfach mal im Sommer vorbeikommen“, schlug sein Vater vor. „Wenn alles blüht und man Obst und Gemüse frisch vom Feld bekommt. Damit kann auch der beste Bioladen in der Stadt nicht mithalten, das verspreche ich dir.“ „Das glaube ich Ihnen gerne.“ „Ich dachte, wir hatten uns aufs ‚Du‘ geeinigt?“, tadelte Jonas‘ Vater. „Nenn mich doch bitte einfach Martin.“ Erik nickte. „Sehr gerne.“ Jonas warf einen kurzen Blick auf seine Mutter und wurde dabei prompt von ihr erwischt. Wieder formten ihre Lippen einen Strich, aber immerhin blieb sie am Tisch sitzen und beteiligte sich kurz darauf auch am Gespräch. Nichts Tiefgreifendes – es war beeindruckend wie lange man sich über das Wetter unterhalten konnte – und wie schon zu Weihnachten umschiffte sie alle potenziell gefährlichen Themen, scheiterte allerdings daran, ihren grimmigen Gesichtsausdruck durchgehend aufrechtzuerhalten. Eriks und Jonas‘ gemeinsame Erzählung über ihren Versuch den berühmten Schwanberger Apfelstrudel nachzubacken entlockte ihr sogar ein hörbares Lachen. Als sämtliche Teller geleert waren, stand sie auf. „Jonas, hilfst du mir kurz beim Abspülen?“ „Ähm, ja, klar. Erik–“ „Die anderen können sitzenbleiben.“ Niemand wagte, sich dieser Anweisung zu widersetzen. Schweigend standen Jonas und seine Mutter nebeneinander vor der Spüle. Mit einem geblümten Tuch trocknete er die tropfenden Teller, die sie ihm reichte. Die Weigerung seiner Eltern, ihre Spülmaschine zu benutzen würde er nie verstehen, aber er hatte früh gelernt, nicht darüber zu meckern. „Wo geht ihr heute Abend hin?“, durchbrach seine Mutter erneut die Stille. „Das weiß ich noch gar nich‘ so genau“, antwortete Jonas ehrlich. „Wir treffen uns mit Maria, Clemens und noch ‘n paar Leuten in irgend‘nem Restaurant und schauen danach mal, wo‘s uns hintreibt.“ „Fahrt ihr mit dem Auto?“ „Japp, teilweise. Wir parken ein bisschen außerhalb und machen den Rest mit der Bahn.“ „Also trinkst du nichts?“ „Hab ich doch letztes Jahr auch nich‘, Mama, falls du dich erinnerst. Aber dieses Jahr fährt sowieso Erik.“ Beinahe wäre Jonas‘ Mutter der letzte Teller entglitten. „Kannst du dich darauf verlassen, dass er nüchtern bleibt?“ „Absolut.“ Die Sicherheit in Jonas‘ Ton erstickte jede weitere Diskussion und erneut breitete sich Schweigen aus. Sie waren beim letzten Schneidebrett angekommen, als seine Mutter wieder das Wort ergriff. „Ich habe es immer irgendwie geahnt.“ „Was geahnt?“, fragte Jonas verständnislos. „Das du nicht n–“, im letzten Moment konnte seine Mutter das Wort ‚normal‘ vermeiden, aber er wusste dennoch, dass es ihr auf der Zunge gelegen hatte. „Dass du nicht wie die anderen Jungs bist.“ Etwas in seinem Magen verknotete sich. „Woher willst du das gewusst haben?“ „Du hast schon im Kindergarten mehr mit Mädchen gespielt–“ „–ich glaub nich‘, dass das irgendw–“ „–du hast dich von Anfang an so toll um Vroni gekümmert“, unterbrach ihn seine Mutter und zählte ihre Punkte an den Fingern ab. „Auch das dürfte wenig damit zu t–“ „–und dann die Art, wie du Clemens angesehen hast.“ Dieses Mal war es Jonas, dem das Geschirr aus der Hand glitt. Polternd fiel das Schneidebrett zu Boden. Er kümmerte sich nicht darum. „Warum hast du nie was gesagt?“ „Weil ich es nicht wahrhaben wollte. Ich dachte, wenn ich keine große Sache daraus mache, wird es sich schon irgendwann verwachsen. Du ahnst nicht, wie erleichtert ich war, als du uns Maria vorgestellt hast.“ Seine Mutter schnaubte. „Ich war überzeugt, du hättest doch noch die richtige Entscheidung getroffen.“ „Das is‘ aber keine Entscheidung, Mama. Ich kann nich‘ einfach–“ „Du hättest die Chance auf ein normales Leben gehabt!“ „Ich führe ein normales Leben!“ „Du weißt, dass das nicht stimmt!“ Ihre Hände schnitten durch die Luft. „Die Leute reden. Hör doch nur, was im Dorf los ist, weil du dich nicht zusammenreißen konntest und wie ein Gockel durch die Straßen stolziert bist!“ „Ich hab Erik meinen Heimatort gezeigt!“, erwiderte Jonas hitzig. „Und ja, dabei hab ich seine Hand gehalten. Wie man das eben macht, wenn man verliebt is‘!“ Als seine Mutter nichts erwiderte, atmete er tief durch und mahnte sich zur Ruhe, bevor er erneut das Wort ergriff. „Ich weiß, dass die Leute reden. Ich bin nich‘ taub. Oder dumm. Was glaubst du, warum ich so lang mein Maul gehalten hab? Warum ich so viel Angst hatte jemandem die Wahrheit zu sagen?“ Mit Mühe lockerte er seine zur Faust geballten Finger. „Ich bin‘s leid, mich zu verstecken. Davon wird’s nich‘ besser und ändern tut sich schon gleich gar nix. Und ich hab’s satt einen Menschen zu verleugnen, den ich liebe, bloß, weil wir dasselbe Geschlecht haben. Das hab ich lang genug getan und ich wär beinahe dran zerbrochen.“ Seine Mutter starrte auf das schmutzige Wasser vor ihr. „Ich will doch nur, dass es dir gut geht.“ Jonas rieb sich über die Augen. Ein Rest Spülmittel brannte darin und er blinzelte. „Aber mir geht’s nich‘ gut, Mama. Und ‘ne ganze Weile ging’s mir noch viel beschissener. Ganz ehrlich?“ Er zwang sich, seine Mutter anzusehen. „Im Moment könnt ich richtig glücklich sein. Der einzige Grund, warum ich’s nich‘ bin, bist du.“ Seine Mutter öffnete den Mund, sagte aber nichts. „Sorry, das klingt fies“, gab Jonas zu. „Ich weiß nur nich‘, wie ich dir sonst klarmachen soll, wie ernst die Situation zwischen uns grad is‘. Weil im Moment, Mama, im Moment …“ Er holte Luft. Alles in ihm sperrte sich dagegen, zu sagen, was er zu sagen hatte, aber er wusste, dass ihm keine Wahl blieb. „Im Moment heule ich mir wegen dir fast jede Nacht die Augen aus und das kann so nich‘ weitergehen. Ich muss meinen Weg gehen und wenn du dir wirklich so gar nich‘ vorstellen kannst mich dabei zu begleiten, dann müssen wir uns voneinander verabschieden.“ Er sah den Schmerz, den er seiner Mutter zufügte und hasste sich dafür. „Empfindest du das wirklich so?“ „Wie soll ich’s denn sonst empfinden? Du bist abgehauen, unmittelbar nachdem ich mich vor euch geoutet hatte. Weißt du wie weh das tat? Wie viel Mut mich das gekostet hat und wie schlimm’s war, dafür bestraft zu werden? Du hast keine Sekunde investiert, um mir mal zuzuhören, sondern mich einfach mit Schweigen bestraft. Du hast dich sogar mit Papa verkracht, weil er versucht hat einen Schritt auf mich und Erik zuzumachen. Seit wir hier sind behandelst du Erik wie einen Aussätzigen, den du am liebsten auf die Straße verbannen würdest. Und hast du mich ein einziges Mal gefragt, wie’s mir in den letzten Monaten so ergangen is‘? Was das Studium macht, ob ich Freunde gefunden hab, wie’s mir eben so geht?“ Seine Mutter blieb stumm. „Siehst du. Stattdessen hast du dir echt Mühe gegeben mir ‘n schlechtes Gewissen zu machen, weil ich … Keine Ahnung. Existiere? Oder nich‘ so bin, wie du mich gerne hättest?“ Hilflos hob Jonas die Hände. „Also sag mir, wie soll ich’s denn empfinden?“ „Ich weiß es nicht.“ Sie schloss die Augen. „Doch, natürlich weiß ich es. Ich weiß nur nicht, wie ich jemals diesen Keil zwischen uns treiben konnte. Ach Spatz, es tut mir so unendlich leid.“ Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie matt und erschöpft aus, keine Spur von der energiegeladenen Frau, die Jonas durch so viele Krisen getragen hatte. Nur nicht durch diese eine. „Aber eine einfache Entschuldigung reicht nicht, um zu reparieren, was zwischen uns kaputtgegangen ist, oder?“ „Keine Ahnung. Wahrscheinlich nich‘.“ Jonas wünschte sich, etwas anderes sagen zu können. Seine Mutter nickte resigniert. „Ich will dich nicht verlieren, aber ich kann auch nicht alles über Bord werfen, woran ich so lange geglaubt habe.“ „Das is‘ wohl so.“ „Deshalb muss ich dich um noch mehr Geduld mit mir bitten. Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber ich fange gerade erst an zu verstehen, dass das … Dass er“, sie nickte Richtung Wohnzimmer, in dem Erik und Jonas‘ Vater saßen, „keine Entscheidung ist, die du bewusst getroffen hast.“ „Erik is‘ eine bewusste Entscheidung“, widersprach Jonas, aber ohne den Zorn, der bis eben noch seinen Körper geflutet hatte. „Dass ich schwul bin nich‘, aber Erik … Ihn würde ich immer wieder wählen.“ „Wie du meinst. Du warst ehrlich zu mir, also bin ich auch ehrlich zu dir. Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, was im Leben noch auf dich zukommt. Du wirst es immer schwerer als andere haben.“ „Vielleicht.“ „Verstehst du, dass sich das keine Mutter für ihr Kind wünscht?“ „Du würdest es mir schon leichter machen, wenn du einfach …“ Jonas schüttelte den Kopf. „Kannst du mich nich‘ einfach akzeptieren? Nich‘ … Du musst es ja nich‘ gleich gut finden, aber is‘ Akzeptanz echt zu viel verlangt?“ Das Ticken des Sekundenzeigers hämmerte das Schweigen seiner Mutter in seine Ohren. Sekunde um Sekunde verstrich. Nach der sechzigsten trat er von der Spüle zurück. „Ich geh dann jetzt. Mach’s gut, Mama. Ich wünsche mir, dass du eines Tages anders darüber denkst, aber ich habe keine Kraft mehr darauf zu warten.“ Plötzlich fand er sich in einer unerwarteten Umarmung wider. „Bitte bleib.“ Die Stimme seiner Mutter war nur ein ersticktes Flüstern. „Bitte bleib noch lange genug, damit ich dir sagen kann, wie sehr ich dich liebe und wie stolz ich auf dich bin. Daran wird sich nichts ändern, ganz egal, was passiert.“ „Mama, ich–“ „Ich kann nicht wiedergutmachen, was ich in den letzten Monaten zerstört habe, damit werde ich leben müssen. Und ja, ich habe unglaubliche Angst um dich und ich werde nicht lügen und behaupten, ich würde mir nicht wünschen, dass alles ein wenig anders wäre.“ „Mama, das–“ „–ist nicht das, was du hören willst. Schon klar. Ich bin aber noch nicht fertig. Du willst meine Akzeptanz und du hast sie. Meine Liebe kriegst du noch obendrauf. Glaubst du mir das?“ Das Spülwasser, das noch an den Händen seiner Mutter klebte, durchnässte Jonas‘ Oberteil bis auf die Haut, aber das war ihm gerade völlig egal. Er glaubte ihr. Gegen Tränen kämpfend drückte er seine Nase in ihr Haar. „Ich hab ich dich auch lieb, Mama.“ Dieses Mal fegte kein kalter Wind zwischen ihren Beinen hindurch, aber das Schluchzen war dasselbe wie bei ihrer letzten Verabschiedung. Und doch anders. Nun lag Hoffnung darin. Jonas‘ Mutter strich mit der Hand über seine feuchte Wange. „Kommt morgen wieder zum Abendessen vorbei, wenn ihr wollt. Ich könnt jeden Tag kommen, solange ihr da seid. Gebt uns nur kurz Bescheid, damit wir genug einkaufen können.“ „Okay.“ „Und habt viel Spaß heute Abend.“ „Werden wir.“ „Fahrt vorsichtig.“ „Ja, Mama.“ „Denkt immer daran, dass genug andere Idioten unterwegs sind, egal, wie verantwortungsbewusst ihr selbst seid.“ „Ja, Mama.“ „Und nehmt lieber ein Taxi zurück, falls ihr doch was trinkt. Auch, wenn es teuer ist.“ „Ja, Mama.“ „Und–“ „Mama“, unterbrach Jonas sie sanft. „Das hatten wir doch alles schon letztes Jahr. Ich gelobe hiermit feierlich, dass wir unser Möglichstes tun werden, die heutige Nacht zu überleben.“ „Sei nicht so frech“, schalt Jonas‘ Mutter, allerdings nur halbherzig. „Ich mache mir nur Sorgen.“ „Weiß ich doch.“ „Versprich mir einfach, aufzupassen. Und behalte Christine ein bisschen im Blick.“ „Christine hat sich die letzten drei Monaten erfolgreich durch Australien gekämpft. Die wird Silvester in München schon überstehen.“ „Jonas Sta–“ „Jaah, is‘ ja gut!“, gab er nach. „Ich bin ein verantwortungsvoller großer Bruder und kümmere mich um meine kleine Schwester. Versprochen. So, jetzt werd ich aber abhauen, bevor du mir auch noch die Verantwortung für Maria und Clemens aufhalst.“ Mit der Leichtigkeit jahrelanger Übung duckte sich Jonas unter dem nach ihm geworfenen Spüllappen weg und hüpfte lachend aus der Küche. Nicht alle seine Hoffnungen hatten sich erfüllt, aber wenn das kein verdammt großer Schritt in die richtige Richtung war, wusste er auch nicht. Jonas‘ Blick streifte über schlammiges Gras, kahle Baumwipfel und die Reste des weihnachtlichen Schneefalls. Auf seinem Gesicht fühlte er den Wind und in seinem Rücken die unverwüstlichen Säulen des Monopteros. Zahlreiche Menschen hatten sich im Englischen Garten versammelt, um das neue Jahr willkommen zu heißen, doch für ihn zählte nur die kleine Gruppe, in deren Herzen er stand. Dimi und Sophia, die alle anderen mit Glühwein und Kinderpunsch versorgten. Christine, deren Zunge seit Stunden in Nicks Hals feststeckte. Clemens hatte den Arm locker um die Schultern einer frisch auf dem Weg aufgegabelten Bekanntschaft geschlungen, während Maria ihre Finger an einem mit Glühwein gefüllten Pappbecher wärmte und das Treiben der anderen beobachtete, unschlüssig, ob sie schmunzeln oder den Kopf schütteln sollte. Und dann war da noch Erik, dessen Hand warm in Jonas‘ lag. Erik, mit seinem spitzbübischen Lächeln, das in diesem Augenblick niemand anderem als Jonas galt. „Wäre das eine Option für dich?“ „Was?“, fragte Jonas verwirrt. „München.“ „München?“ Allmählich dämmerte Jonas, worauf Erik hinauswollte. „Du meinst, wenn ich mitm Studium fertig bin?“ „Mhm. Es wäre ein Kompromiss, oder? Deutlich näher an deinen Eltern und die Strecke nach Stuttgart ist auch kürzer. Zugegeben, vielleicht etwas spießiger als Berlin, aber das heißt auch, dass sie hier echt ein paar Leute wie dich gebrauchen könnten. Und der eine oder andere Job für einen BWLer wird sich wohl auch finden.“ Ein wenig überrumpelt von dem Vorschlag trank Jonas einen Schluck Glühwein, bevor er antwortete. „Könntest du dir denn vorstellen, hier mit mir zu leben?“ „Ich könnte mir vorstellen, überall mit dir zu leben“, erwiderte Erik schulterzuckend. „Aber hier könnte es mir sogar gefallen. Kannst du dir denn vorstellen, hier mit mir zu leben?“ „München …“ Jonas wälzte die Idee in seinem Kopf und den Namen auf seiner Zunge. Die Entscheidung ließ nicht lange auf sich warten. „JA!“ Nach einem verlegenen Räuspern fügte er leiser hinzu: „Ähm, ich mein, ich könnt’s mir schon auch vorstellen.“ Da war ein Leuchten in Eriks Gesicht, das Jonas bisher nicht oft an ihm gesehen hatte. Kühle Lippen streiften Jonas‘ Wangen, seine Stirn, sogar seine Nasenspitze, weigerten sich aber, sich von ihm schmecken zu lassen. Kurzerhand verhakte Jonas die Finger hinter Eriks Nacken und hielt ihn an Ort und Stelle, bis sich endlich Glühwein und Kinderpunsch mit dieser vertrauten Note mischten, die Jonas inzwischen fest mit Erik verband. Er verschwendete keinen Gedanken daran, wer sie gerade beobachtete und was diejenigen über sie dachten. „Dann überleg dir mal, was du dir noch so für die Zukunft wünscht“, raunte Erik, nachdem Jonas von ihm abgelassen hatte. „Du hast noch“, er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, „zwei Minuten.“ „Oh, ähm …“ Jonas wandte seinen Blick zum Himmel. Stockdunkel, mit vereinzelten Sternen und Wolken, die vom Wind übers Firmament getrieben wurden. Über seine Zukunftspläne musste er etwa so lange grübeln wie über einen Umzug nach München. Fast gar nicht. „Das klingt jetzt so viel spießiger als mir lieb is‘, aber wenn ich ehrlich bin, will ich ‘ne Familie. Heiraten und Kinder. Und, ähm … Ich weiß, dass Kinder ‘n blödes Thema für dich sin‘ und es für dich auch schon viel realer is‘ als für mich, weil … seien wir ehrlich, wirklich relevant wird es für mich in frühestens fünf, eher zehn Jahren und ich hab natürlich auch keine Zauberlösung, für den, naja, biologischen Aspekt, aber …“ Jonas schluckte. „Ich glaub, alles worum ich dich bitten will, is‘, die Tür nich‘ ganz zu schließen. Keine Ahnung, stopf ‘nen Kaugummi ins Schließblech, damit sie nich‘ komplett einrastet oder so …“ Eriks verdutzter Gesichtsausdruck ließ ihn verstummen. Schüchtern fragte er: „Ähm, was wünscht du dir denn für die Zukunft?“ „Ah, ich wollte eigentlich sagen, dass ich gerne mal wieder Urlaub am Meer machen würde.“ „Oh.“ Jonas vergrub das Gesicht in den Händen. „Oooohh! Du meintest … was ich mir fürs kommende Jahr wünsche?“ „Mhm, ursprünglich schon.“ Das schelmische Lächeln kehrte auf Eriks Lippen zurück. „Hochzeit, also?“ „Ähm … irgendwann schon irgendwie, ja.“ Dieses Mal war es Erik, der zum Himmel aufsah. „Witzig, bis vor Kurzem hatte ich das für mich nie wirklich in Betracht gezogen.“ Plötzlich brandete erster Jubel um sie herum auf. „ZEHN!“ „Aber …“ Erik richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Jonas. Die Dunkelheit verbarg die Farbe seiner Augen, aber Jonas wusste auch so, dass sie grau waren. Und jetzt gerade nur ihn wahrnahmen. „Je länger ich darüber nachdenke, umso besser gefällt mir die Idee.“ „FÜNF!“ „Irgendwann“, warf Jonas grinsend ein. „DREI!“ „Irgendwann“, bestätigte Erik. „EINS!“ Feuerwerk zauberte bunte Lichter auf Jonas‘ Gesicht und in Eriks Armen begrüßte er jubelnd die Abenteuer, die die Zukunft für sie bereithielt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)