I'll see you there von LileFarc ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Sie ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Das Handtuch unter ihr war weich und der Sand, der sie an den Füßen kitzelte, warm. Sie konnte schon fühlen, wie der Stress von ihr wich. Mit jeder sanften Brise und mit jedem Wellenrauschen weniger wurde. Die Abschlussprüfungen waren für dieses Semester Geschichte. Eigentlich lernte sie gern, aber es war viel mehr auf einmal gewesen, als sie sonst gewohnt war. Das hatte sogar sie, die sonstige Superstreberin, ein bisschen aus dem Konzept gebracht. Deswegen war dieser Urlaub auch mehr als verdient, wie sie fand. Sie war alleine gefahren. Ohne ihre Eltern und ohne Kommilitonen. Die würde sie alle noch früh genug wiedersehen. Sie wollte einfach nur entspannen und es sich für eine Woche gut gehen lassen, bevor sie zurück zu ihrer Wohnung in Cambridge fliegen würde. Dort galt es dann ein paar Ferienkurse zu belegen. Immerhin wollte sie ihr Studium so schnell wie möglich abschließen. Sie hatte noch viel vor in ihrem Leben. Aber nicht jetzt, nicht heute. Nächste Woche konnte sie wieder an die Zukunft denken. Mit der Sonnenbrille auf der Nase, schloss sie schließlich die Augen, um ein wenig auszuruhen und ihren Körper zu entlasten. Um Sonnenbrand musste sie sich immerhin keine Gedanken machen. Natürlich war es um sie herum nicht vollkommen leise. Es gab andere Besucher. Aber eben nicht besonders viele. Weiter entfernt konnte sie das Paar mit den kleinen Kindern hören. Sie hatte sich ganz absichtlich so weit wie möglich von ihnen entfernt niedergelassen. Hier konnte sie alles noch in relativer Ruhe genießen. In ein paar Stunden würde es hier sicher voller sein, bis dahin würde sie sich schon wieder anderen Dingen widmen. Denn sie wäre nicht Nuo Sun, wenn sie nicht vorher einen Plan erstellte hätte. Es dauerte nicht lange und die Geräusche hatten sie eingelullt. Sie spürte, wie ihr Bewusstsein davon driftete, sich irgendwo über ihr verfing und abwartete. Ihr Körper genoss die Entspannung. Schlaf wollte sich über sie senken und sie hatte nichts dagegen ein bisschen zu dösen. Kaum hatte sie diesen Entschluss gefasst, als ihr plötzlich Wasser ins Gesicht spritzte und sie zusammenzuckte. Sofort öffnete sie die Augen und setzte sich auf. Da hatte sie auch schon jemand in seinen Schatten gestellt. Genervt blinzelte sie nach oben. Da stand ein junger Typ, nur in Badehose und offenbar mit einem Surfbrett in der Hand. Er beachtete sie gar nicht, sondern hatte seinen Blick hin zum Wasser gelenkt. Offenbar hatte er nicht mal bemerkt, dass er sie hier nass gespritzt hatte. „Hey, Sie!“, ihre Stimme erhob sich locker über die anderen Geräusche um sie herum. Er wandte sich prompt zu ihr, sie konnte sandfarbene Haare und ein aufgewecktes Gesicht erkennen. „Ja?“ Sie verzog den Mund. Er hatte es immer noch nicht kapiert. „Würde es Ihnen vielleicht etwas ausmachen, jemand anderen voll zu tropfen?“ Sie deutete auf die paar wenigen Wasserpartikel, die sie abbekommen hatte. Endlich zeigte sich so etwas wie Verständnis auf seinem bartlosen Gesicht und sie bekam ein entschuldigendes Zahnpastalächeln. „Oh, sorry, Miss, das war keine Absicht.“ Er war immer noch nass und offensichtlich gerade erst aus dem Wasser gekommen. Er wedelte kurz mit dem Brett, dass er lässig unterm Arm trug. „Hatte wohl zu viel Schwung.“ Sie nickte, immer noch nicht wirklich besänftigt. Aber sie war im Urlaub und deswegen bereit diesen kleinen Zwischenfall einfach zu vergessen. Dazu musste dieser Kerl aber wieder aus ihrer Sonne verschwinden. Was er nicht tat, sondern sie weiter anlächelte. Plötzlich fühlte sie sich in ihrem schwarzen Bikini, den sie sich extra für diesen Trip gekauft hatte, viel zu nackt. Sie war es auch nicht gewohnt so etwas zu tragen und wusste nicht, wie sie mit den Blicken umgehen sollte. Also zog sie die Mundwinkel noch ein Stück nach unten, vielleicht konnte sie ihn mit Unfreundlichkeit verscheuchen. Es schien erst mal nicht zu helfen. „Sie sollten schwimmen gehen, das Wasser ist herrlich!“ Er sprach mit einer Begeisterung, die ihn an ihren Vater erinnerte. Er war auch schon immer eine Wasserratte gewesen. Und im Gegensatz zu ihnen, hatte er als kleines Kind noch im echten Meer schwimmen können. Sie winkte allerdings nur ab. „Später vielleicht.“ Sie war selbst gerne im Wasser, aber nicht unbedingt auf Einladung eines völlig Fremden. Gerettet wurde sie schließlich von anderer Seite. „Levi, hey, Levi!“, aus dem Wasser tauchte noch ein junger Kerl auf, offensichtlich ein Surferfreund, denn auch er trug ein Brett unter dem Arm. Endlich wandte sich die Aufmerksamkeit von ihr weg. Erleichtert atmete sie aus und bevor er nochmal die Gelegenheit bekam sie anzusprechen, zog sie ihr Plex aus der Strandtasche und versteckte sich dahinter. Sie legte sich auch wieder auf den Rücken, nur dass sie diesmal die Beine anzog. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie die beiden. Sie glaubte zu sehen, dass der erste Typ – von dem sie jetzt wusste, dass er Levi hieß – nochmal in ihre Richtung schaute. Aber dann zogen die beiden ab. Nuo atmete erleichtert aus und ließ das Plex, das sie nicht mal eingeschaltet hatte, einfach auf ihre Brust sinken. Sie hatte nichts dagegen neue Bekanntschaften zu schließen, aber dann bitte zu ihren Bedingungen und nicht, wenn sie gerade alleine entspannen wollte. Sie wandte den Blick nach oben. Wenn man nicht allzu genau hinsah, dann konnte man wirklich glauben man säße unter einem strahlend blauen Himmel. Leider erkannte sie eine kleine Unregelmäßigkeit, wo sich zwei der Kuppelplatten trafen. Es zerstörte ein wenig die schöne Illusion, jetzt, wo sie es entdeckt hatte. Wieder musste sie seufzen. Jetzt musste sie wieder daran denken, dass nichts hier echt war. Zumindest nicht wirklich. Sie saß nicht am Meer, sondern an einem riesigen Wassertank. Der Strand war genauso künstlich wie das Sonnenlicht. Die Wellen wurden durch eine Maschine erzeugt, genauso wie der frische Wind, der hier wehte. Der Horizont war nicht grenzenlos, sondern an den Stellen markiert, wo die Kuppel aufhörte. Das war zugegeben ein ganzes Stück weit weg und so weit schwammen wirklich nur die allerwenigsten. Trotzdem konnte man es noch gerade so erkennen. Der Grund, warum Nuo sich ausgerechnet für diese Urlaubskuppel entschieden hatte, war einfach. Es gab einen kleinen Teil, den man tatsächlich naturbelassen hatte. Ein bisschen echten Dschungel und ein wenig echtes Meer. Natürlich alles kontrolliert. Als Besucher durfte man nur in Begleitung hinein und nur für ein paar wenige Stunden. Außerdem kostete es ein kleines Vermögen, weswegen nur wenige Leute überhaupt hier waren. Aber man konnte echte Fische und ein paar echte Affen bewundern. Die letzten ihrer Art, die noch so frei lebten. Das Meer, von dem ihr Vater so gerne erzählte, existierte nicht mehr. Schon vor Jahren war es aufgrund der Verschmutzung vollständig umgekippt. Massenaussterben war die Folge gewesen. Nur ein paar wenige Arten hatte man retten können. Die lebten in Zoos, oder kleineren Habitaten. So ähnlich wie hier. Das meiste davon war nur noch Forschern zugänglich. Vielleicht auch ein Grund, warum sie unbedingt Wissenschaftlerin werden wollte. Um noch mehr von der Welt sehen zu können. Wenigstens das bisschen, was sie noch zu bieten hatte. Das unechte Sonnenlicht schien noch immer auf sie hinunter und würde es auch noch für die nächsten paar Stunden. So nahe war Nuo ihrer Heimat Hawaii jetzt schon länger nicht mehr gewesen. Sie war nicht mal mehr hier zur High-School gegangen. Die besten Schulen waren eben in anderen Staaten und ihre Familie achtete sehr auf die entsprechende Bildung. Genauso wie sie selbst. Deswegen war Harvard auch ihre einzige Möglichkeit gewesen. Sie wusste, sie schlug sich gut dort und knüpfte die richtigen Kontakte. Wenn sie sich geschickt anstellte, dann konnte sie nächstes Jahr schon ihr Grundstudium beenden, dann den Master und den Doktor draufsetzen. Jetzt hatte sie sich schon wieder ablenken und in ihre Gedanken ziehen lassen. Vielleicht hatte ihr Vater Recht und Urlaub war nichts für sie. Eigentlich war sie ein Workaholic, Nichtstun lag ihr auch nicht im Blut. Aber sie hatte das Gefühl gehabt eine Auszeit zu brauchen und ihre Mutter hatte sie ihr nur zu gerne gewährt. Sie war sowieso der Meinung, dass Nuo sich selbst zu hart ran nahm. Trotzdem fehlte ihr jetzt die Ruhe für einen kleines Schläfchen am Strand. Also stand sie auf und ging näher zum Wasser hin. Sie ließ ihre Tasche einfach zurück. Sie hatte keine Angst davor, dass etwas gestohlen werden könnte. Hier hingen sowieso überall Kameras. Ein eventueller Dieb war schneller geschnappt, als er sich umdrehen und weglaufen konnte. Tatsächlich war das Wasser angenehm warm. Herrlich wie der junge Mann eben gesagt hatte. Sie musste ein klein wenig schmunzeln. Sie ging, bis sie etwa knietief im Wasser stand. Sanfte Wellen schlugen ihr gegen die Beine. Zum Surfen war es jetzt eindeutig zu wenig. Deswegen waren die beiden wohl auch verschwunden. Jetzt begann eher der ruhige Familienbetrieb. Es würde sicher bis Morgen früh dauern, bis man die Wellen wieder so weit hochschraubte, dass man hier surfen konnte. In ihrer Heimat war das noch immer weit verbreitet. Dort gab es viele dieser Wellenanlagen. Sie schlenderte weiter und tauchte schließlich ins Wasser ein. Fische oder andere Meeresbewohner gab es hier nicht. Nur ein paar genau platzierte Felsen und ein paar Algen für die Atmosphäre. Man gab sich Mühe. Aber ein echtes Erlebnis konnte man nicht ganz rekonstruieren. Nuo verbrachte den Morgen am Strand. Und vor allem mit schwimmen. Es tat ihr richtig gut. Dabei entspannte sie mehr, als wenn sie sich einfach stur hinlegte. Das hätte sie von Anfang an ahnen sollen. Als es gegen Mittag doch etwas voller wurde, packte sie ihre Sachen zusammen und ging zurück ins Hotel. Morgen schon würde sie das tatsächliche Meer sehen. Wirklich das Salz riechen. Ihr Vater schwärmte davon immer ganz besonders. Vor dem Trip hatte er ihr gesagt, dass sie ein Glas davon mitbringen sollte. Sie lächelte vor sich hin, während sie für sich alleine im Zimmer aß. Ganz lassen konnte sie es schließlich doch nicht. Sie nahm ihr Plex heraus und suchte sich ein paar Lexika heraus, um auf die vielen Wunder Morgen vorbereitet zu sein. Sie mochte es vorher schon ahnen zu können was kommen würde. Den Rest vom Tag verbrachte sie in dem angrenzenden Städtchen, das den Flair eines südlichen Traumdorfes versprühen sollte. Sie musste zugeben, dass es einigermaßen gut gelang. Sie fühlte sich wohl hier, auch wenn sie wusste, dass es eigentlich nichts anderes als eine Touristenfalle war. Das zeigten einem auch die Preise, die hier exorbitant hoch waren. Sie schlenderte einfach nur an allem vorbei, sah sich die Leute an, machte ein paar Fotos für ihre Eltern, ein paar frechere für ihre Freunde und verbrachte so die Stunden bis zum Abend. Heute wollte sie noch nicht ausgehen, damit sie Morgen ausgeschlafen war. Aber ganz ohne zu feiern würde dieser Urlaub nicht an sich vorbeiziehen, das stand auch schon für sie fest. Sicher konnte man hier viele interessante Leute kennenlernen. Sie ging früh zu Bett, packte schon ihre Tasche für den Ausflug. Tauchen durfte sie nicht, das war ihr dann doch eine Spur zu teuer gewesen. Aber sie würde die Fische durch ein unter dem Wasser angebrachtes Aquarium sehen können. Unter dieser Kuppel wurde den Gästen nur das Beste geboten. Sie schlief ruhig und wesentlich besser als in den letzten paar Wochen. Lernstress war kein schöner Stress, das stand fest. Sie war ziemlich froh, wenn sie das irgendwann hinter sich hatte. Dabei mochte sie den Unterricht, die Seminare, die Workshops. Sie bekam jetzt schon viel zu sehen, was die meisten Menschen nie zu Gesicht bekommen würden. Sie bereiste Kuppeln mit Forschungseinrichtungen, hatte schon echte Wälder gesehen. Bäume, die nicht zerstört worden waren. Noch nie hatte sie so frische Luft gerochen wie unter dieser Kuppel. Kein Filtersystem der Welt konnte eine echte Pflanze ersetzen. Der nächste Morgen fing für sie früh an. Sie wusste, sie würde heute viel auf den Beinen sein, also zog sie entsprechendes Schuhwerk und luftige Kleidung an. Sie schnallte sich einen kleinen Rucksack auf den Rücken. Im Spiegel betrachtete sie sich nochmal kritisch und fand, dass sie immer noch genug nach reicher Tochter und gleichzeitig nach neugieriger Wissenschaftlerin aussah. Das befand sie für gut und verließ das Hotel, um sich frühzeitig am Treffpunkt einzufinden. Wie üblich eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Termin. Sie würden wahrscheinlich zwischen zehn und zwanzig Leuten sein. Mehr wollte man dem Gebiet auf einmal nicht antun. Auch wenn es ziemlich groß war. Aber die kleinsten Unstimmigkeiten konnten dazu führen, dass das Ökosystem dort zusammenbrach und das Risiko wollte keiner eingehen, wo es doch so viel kostete alles aufrecht zu erhalten. Sie näherte sich der Haltestelle für die magnetische Schwebebahn, als sie zu ihrer Überraschung schon einen breiten Rücken erkennen konnte. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand vor ihr irgendwo war. Zu ihrer noch größeren Überraschung konnte sie beim Näherkommen feststellen, dass sie diesen speziellen Gast schon kannte. Es war der junge Mann von gestern. Der, der gemeint hatte sie nass spritzen zu müssen. Zumindest hatte er dieselbe Statur und dieselben sandfarbenen Haare. Er hob den Kopf als sie näherkam. „Aloha!“ rief er ihr entgegen und hob zur Begrüßung die Hand. Ein wenig schüchterner erwiderte sie. Am liebsten wollte sie etwas von ihm entfernt stehen bleiben, aber das empfand sie als zu unhöflich. „Verfolgen Sie mich?“, fragte der Kerl mit einem viel zu breiten und frechen Grinsen. Nuo entging sein spaßiger Unterton. Entrüstet schnappte sie nach Luft. „Wie bitte? Ganz bestimmt nicht!“ Verärgert schoben sich ihre Brauen auf der Stirn zusammen. Was erdreistete sich dieser Typ eigentlich? „Ich bin hier für die Tour! Nicht für Sie!“ Mit ihrer heftigen Reaktion hatte er eindeutig nicht gerechnet. Er hob sofort beide Hände in einer defensiven Haltung. Zum ersten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatte, verschwand das Grinsen von seinem Gesicht. „Das... war nicht ernst gemeint!“, verteidigte er sich schnell und kratzte sich dann am Kopf. Sie musste zugeben, dass er sich schnell wieder gefangen hatte. Sie nahm sich jetzt allerdings das Recht heraus, sich beleidigt von ihm abzuwenden. Sie konnte nur hoffen, dass schnell noch andere Leute dazukamen. Er räusperte sich hinter ihrem Rücken. Es war deutlich, dass er ihre Aufmerksamkeit wieder haben wollte. Einen Moment noch weigerte sie sich, dann drehte sie ihren Kopf. „Ist noch was?“, fragte sie, durchaus gereizt. „Ja, also, das tut mir leid. Wegen eben, ich wollte Sie gar nicht beleidigen.“ Sein Lächeln war zurück. Er war ziemlich resistent, was ihre Art anging. Die wenigstens Fremden kamen auf Anhieb mit ihr parat. Was meistens daran hing, dass sie immer sofort irgendwelche Motive vermutete. Sie kam aus einer Familie mit Geld und er wäre nicht der erste, der versuchte das auszunutzen. Andererseits hatte jeder, der hier war, auch Geld. Sonst könnte er sich den Urlaub gar nicht leisten. Sie überlegte kurz. Ihn entschuldigen wollte sie eigentlich nicht. Er merkte das wahrscheinlich. Und er öffnete gerade den Mund, als plötzlich eine kleine Gruppe laut schnatternd zu ihnen stieß. Das schnitt ihn mitten in der Bewegung ab und er blieb still. Sie war froh darum, konnte sie sich doch endlich wieder ihrer Einsamkeit unter all den Menschen widmen. Eigentlich gefiel es ihr so ganz gut. So konnte sie im Hintergrund bleiben und beobachten. Sie fiel nicht besonders gerne auf. Es wunderte sie allerdings dass der junge Mann auch ohne Begleitung hier war. Sie hätte erwartet, dass wenigstens sein Kumpel von gestern dabei sein würde. Aber warum machte sie sich darüber überhaupt Gedanken? Das konnte ihr doch auch vollkommen egal sein! Sie schüttelte den Kopf und studierte stattdessen wieder das Lexikon auf ihrem Plex. Bald füllte sich der Platz um sie herum mit Neugierigen. Sie vermutete, dass sie wohl vollständig waren. Fehlte nur noch derjenige, der sie herumführen würde. In der Ferne konnte sie jetzt jedenfalls die Schwebebahn erkennen, die sich unaufhaltsam näherte. Plötzlich erhob sich vor der ganzen Gruppe eine Stimme, die ihr viel zu vertraut war. „Aloha, alle zusammen. Ich bin Levi Jenkins und für heute Ihr Tourguide. Bitte drängeln Sie nicht, wenn Sie gleich in die Bahn einsteigen, Sie werden alle ankommen, versprochen.“ Es gab vereinzeltes Gelächter. „Erinnern Sie sich daran bitte keinen Müll in der Wasserzone zu hinterlassen, seien Sie darauf bedacht, dass es sich um das letzte, intakte ozeanische Ökosystem handelt. Bitte.“ Hinter ihm schwangen die Türen der Bahn auf und alle drängten hinein. Nuo stand da wie vom Donner gerührt. Das war ihr Tourguide? Dieser Typ? Ausgerechnet? Sofort stieg ihr eine leichte Röte ins Gesicht. Sie hatte das Gefühl sich vor ihm lächerlich gemacht zu haben. Weil er hier war, um die Gruppe zu führen. Er war nicht einfach nur irgendein Gast hier, er lebte hier. Sie war so perplex, dass sie als eine der letzten einstieg, obwohl sie so früh hier gewesen war und deswegen eigentlich das Recht gehabt hätte, sich einen schönen Platz auszusuchen. So endete sie neben einem offensichtlich sehr aufgeregten Studenten. Der versuchte sie sofort in ein hektisches Gespräch zu verwickeln, das Nuo nur abwehren konnte, weil sie wirklich unaufmerksam war. Untypisch für sie, aber sie hing noch den Gedanken an ihre winzige Auseinandersetzung mit ihrem Tourguide nach. Der jetzt aufstand und schon mal in der Bahn einiges erklärte. Das meiste davon hatte Nuo schon in ihrem Lexikon nachgelesen, aber sie konnte ihm nicht nur deswegen nicht zuhören. Es fiel ihr schwer ihn anzusehen. Seine Stimme, die jetzt einen sachlichen Ton angenommen hatte, passte überhaupt nicht zu der frechen Bemerkung von vorhin. Man merkte ihm an, dass er diese Dinge schon viele Male gesagt hatte. Sie hörte trotzdem eine gewisse Begeisterung aus seinen Worten. Er war auf jeden Fall auch interessiert am Meer. Sie drückte sich eine Hand gegen die Schläfe und versuchte den Vorfall einfach abzuhaken. Es gelang ihr nicht besonders gut. Denn je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger wollte sie hier sein. Dabei hatte sie sich so darauf gefreut! Und sie war Nuo Sun! Sie würde sich nicht von einem Tourguide diesen Trip vermiesen lassen! Mit diesem Vorsatz ging es ihr besser. Sie ignorierte den Studenten neben sich, der immer noch ganz aufgeregt davon erzählte, dass er auch hier arbeiten wollte. Denn wer konnte schon von sich behaupten, regelmäßig das echte Meer zu sehen. Levi, kam es ihr sofort in den Kopf und ärgerte sich darüber. Sie sah fast schon trotzig nach vorne und betrachtete den Hinterkopf des jungen Mannes, der sich für den Moment gesetzt hatte und wie alle anderen darauf wartete, dass das Wasser endlich in Sicht kam. Es dauerte auch keine fünf Minuten mehr. Die Luft in der Bahn wurde gefiltert, aber selbst hier drin konnte man plötzlich einen ganz anderen Geruch wahrnehmen. Salzwasser. Wie ihr Vater es angekündigt hatte. Es überwältige Nuo beinahe, weil sie nicht geglaubt hatte, dass es so intensiv sein konnte. Es roch ganz anders als sämtliche, künstlichen Becken, in denen sie je geschwommen war. Levi streckte den Arm aus. „Wenn Sie alle nach links sehen, dann können Sie jetzt die ersten Ausläufer vom letzten Meer auf dieser Welt erkennen.“ Sämtliche Touristen drängten nach links und Nuo bildete keine Ausnahme. Eigentlich waren ihr die Körper ringsum jetzt um einiges zu nahe, aber das merkte sie gar nicht richtig. Wie alle anderen drückte sie sich die Nase an den großen Scheiben der Schwebebahn platt. Und tatsächlich. Da war das Meer. Noch konnte man nur die ersten Ausläufer sehen, aber sie kamen mit rasender Geschwindigkeit näher. Es gab hier einen Strand. Nicht für Menschen, sondern für die Lebewesen, die es hier noch gab und sie hörte aufgeregtes Gemurmel, denn viele, dunkle Flecken waren dort zu sehen. Tiere. Schildkröten, Seelöwen, Vögel. Nuo war überwältigt. Wie alle anderen auch. Niemand konnte es mehr erwarten alles von noch viel näherem zu sehen. Die Bahnstation schien jetzt ewig weit weg. In dem Waggon herrschte aufgeregte Erwartung. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass Levi die ganze Gruppe mit einem Lächeln beobachtete. Er musste das hier schon hunderte Male gesehen haben. Die Leute, die sich auf die eine Seite drängten, nur um einen Blick zu erhaschen. Trotzdem freute er sich ganz offensichtlich darüber. Ihre Blicke trafen sich. Sein Lächeln wurde ein bisschen schiefer, dann wandte er sich ab. Hm. Wenigstens war sie nicht die einzige, der das alles ziemlich peinlich war. Sie ging zurück auf ihren Platz, wie die meisten anderen auch. Es wurden viele Fotos gemacht. Sie wollte damit noch warten, bis sie wirklich etwas sehen konnte. Sie durchquerten die unsichtbare Barriere. Ein Energiefeld, wie Levi ihnen erklärte, dass die Tiere innerhalb eines bestimmten Gebietes hielt. Er wies ausdrücklich darauf hin, dass es nur den inneren Kompass beeinflusste und den Tieren niemals weh tat. Einige schienen Erleichterung darüber zu verspüren. Nuo hatte das natürlich schon gewusst. Und sie war stolz auf sich, jedes Mal, wenn ihr Tourguide ein Detail erzählte, das sie schon kannte. Sie maß sich mit den anderen Touristen. Es lag ihr einfach im Blut immer wieder den Wettkampf zu suchen. Und soweit sie erkennen konnte, kannte sich außer Levi niemand so gut aus wie sie. Den Triumph darüber feierte sie eher stumm. Schließlich durften sie aussteigen und bekamen nochmal eine Einweisung. Unter gar keinen Umständen durften sie sich zu weit von ihrem Tourguide entfernen. Keinen Müll herumliegen lassen und die Tiere nicht erschrecken. Das dauerte alles nochmal eine halbe Stunde. Dann ging es endlich los. Nuo spürte, wie ihr Herz höher schlug, während sie eine Sanddüne emporkletterten und irgendwann oben standen. Es war ihr erster, wirklich ungehinderte Blick auf das Meer. Sie hörte, dass irgendwo neben ihr, jemand die Luft zwischen den Zähnen einsaugte. Sie konnte das Gefühl nachvollziehen. Es war... wunderschön. Das Wasser glitzerte, hier waren die Bedingungen mehr dem echten Leben angepasst, die Sonne schien intensiver, das machte die Farben prächtiger. Nuo legte den Kopf in den Nacken, aber hier konnte sie das Dach der Kuppel nicht einmal erahnen. Sie musste riesig sein. Am Strand unter ihnen war allerlei los. Noch nie hatte sie so viele Tiere auf einmal gesehen. Und vor allem zusammen. Sie musste den Kopf schütteln, weil sie kurz glaubte, dass sie das hier alles nur träumte. Schließlich tat sie es allen anderen nach und machte Fotos. Sie wollte etwas mitnehmen von dieser Schönheit. Und wenn es nur der billige Abklatsch eines Bildes war. Aber schon nach kurzer Zeit ließ sie die Kamera wieder sinken. Sie hatte sich noch nicht sattgesehen an allem. Und sie hatte das Gefühl etwas zu verpassen, wenn sie zu viel Zeit hinter einer Linse verbrachte. Damit war sie allen anderen unähnlich. Denn jeder schoss ein Foto nach dem anderen. Sie hörte unterdrücktes Gelächter. Man sollte immerhin die Tiere nicht aufscheuchen, aber alle waren damit beschäftigt so viel von dem hier mitzunehmen, wie sie konnten. Nuo dagegen atmete tief durch. Sie wollte vor allem dieses Gefühl mitnehmen. Das, von dem ihr Vater immer vorschwärmte. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass sie ihn verstehen konnte. „Möchten Sie, dass ich ein Foto von Ihnen mache, Miss?“, ohne dass sie es bemerkt hatte, war Levi neben ihr aufgetaucht. Sie zuckte zusammen, weil er sie schon wieder in ihrer Ruhe störte. Sein Blick wurde sofort entschuldigend und seine Stimme war auch nicht aufdringlich, sondern fast zurückhaltend. Sie sah ihn an. Schuldbewusst sah er aus. Seine Augen waren dunkel. Er ragte über ihr auf, er war verdammt groß. „'tschuldigung. Ich dachte nur... Ich lass' Sie lieber wieder allein.“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter und war offensichtlich schon wieder dabei das Weite zu suchen. Eigentlich sollte ihr das Recht sein, aber ihr Mund öffnete sich. „Nein, warten Sie, bitte.“ Er drehte sich überrascht zu ihr und neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Ich hätte gerne ein Foto.“ Sie reichte ihm die Kamera und ging ein paar Schritte zurück. Wenigstens eins für ihren Dad, in dem sie nicht selbst die Kamera halten musste. Ihr Lächeln war nicht breit, aber ehrlich. Levi nickte nur und drückte ganz stumm auf den Auslöser. „Schon fertig.“ „Dankeschön.“ Sie kam zu ihm zurück und sah sich das Bild an, das er gemacht hatte. Schön war es. Sie schluckte, weil sie nicht wusste, was sie sonst noch sagen sollte. „Ich sehe nicht viele Leute, die darauf verzichten können wie wild Fotos zu schießen, wenn sie herkommen.“ Wieder hörte sie die Vorsicht aus ihm. Es war klar, dass er sie nicht nochmal so abschrecken wollte, wie vorhin am Einstieg. Sie lächelte und hob die Schultern. „Ich glaube, ich muss das alles erst mal auf mich wirken lassen. Es ist wirklich...“ Ihr fehlten die Worte, was ihr nicht oft passierte. Sie konnte nur etwas verlegen lachen, und den Mund wieder zuklappen. Mit dem Arm fing sie einfach die komplette Umgebung ein. Levis Lächeln war breit und er wirkte auf einmal viel offener. Es war keine mühsam hervorgebrachte Coolness mehr an ihm, sondern nur noch ehrliche Freude. Er nickte mehrmals. „Ich weiß genau was Sie meinen. Als ich zum ersten Mal hier gestanden hab, konnte ich danach für eine halbe Stunde gar nichts mehr sagen.“ Er sah raus auf das Meer und sie tat es ihm nach. In ihrer beider Augen war ein Glitzern, das die meisten anderen über ihre Fotos ganz vergaßen. Irgendwann erwachten sie wieder aus ihrer Starre und der junge Mann streckte ihr die Hand hin. „Levi Jenkins.“ Sie musste leise lachen, weil sie beide wussten, dass er das nur machte, um ihren Namen zu erfahren, wo sie doch schon längst wusste, wie er hieß. „Nuo Sun.“ Sie schüttelte seine Hand. Der Druck war kräftig, aber nicht zu hart. Genau richtig, irgendwie. „Freut mich Sie kennenzulernen.“ Sie erwiderte sein Lächeln. Fast hatte sie vergessen, dass sie sich hier auf einer Exkursion der besonderen Art befand und dass außer ihnen beiden noch viele andere Leute da waren. Ihm schien es genauso zu gehen. Kaum hatte sie das gedacht, wurden sie auch schon von einem der anderen Touristen unterbrochen. Levi schien sich an seine eigentliche Aufgabe zu erinnern und sie gingen weiter. Nahe am Strand entlang. Sie verbrachten eine Stunde hier. Dann ging es zum unterirdischen Aussichtspunkt. Dort waren sie lange. Nuo suchte immer wieder eine Gelegenheit näher zu Levi zu kommen und vielleicht nochmal ein Gespräch anzuzetteln. Sie hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, da tat sich plötzlich eine Lücke auf. Weil sie wirklich großes Glück hatten und ein Hai sich blicken ließ. Alle stürmten auf den einen Punkt zu, von dem aus man ihn am besten sehen konnte. Nur Nuo und Levi blieben zurück. Sie tauschten einen Blick und grinsten. „Wie lange machen Sie das hier schon?“, fragte sie, mit gedämpfter Stimme, auch wenn man sie über das aufgeregte Geschnatter der anderen sowieso nicht belauschen konnte. „Seit einem halben Jahr. Ich schreibe hier meine Doktorarbeit.“ Erstaunt wandte sie ihm den Kopf zu. Ihre Augenbrauen sprangen nach oben. „Ach ja?“, großes Interesse sprach aus ihr, das er auffing. „Mhm. Ich hab Ozeanologie studiert. Das hier ist sozusagen der nächste Schritt.“ Er war stolz auf sich, sie konnte es deutlich hören. Und das sollte er auch sein. Ihre Augen wurden groß. Sie deutete auf sich. „Biogeochemoökonomie. In Harvard.“ Jetzt war er es, dem fast die Augen übergingen. „Ist nicht wahr! Wahnsinn!“ Auf einmal wirkte er viel unprofessioneller. Pure Begeisterung sprach aus ihm, sie merkte, dass er am liebsten auf der Stelle anfangen wollte mit ihr zu fachsimpeln. Und sie merkte, zu ihrem eigenen Erstaunen, dass sie das auch wollte. Aber wieder kam es nicht so weit. Der Hai war verschwunden und die Meute kehrte zurück. Sie mussten sich beide im Zaum halten und dann neigte sich der Ausflug auch schon wieder dem Ende zu. Sie mussten zurück, die Schwebebahn brachte sie durch einen Verbindungstunnel in die Touristenfalle. Levi wurde gerade von dem anderen Studenten belagert, der unbedingt auch dort arbeiten wollte. Sie sah ihm an, dass er ihn schnell wieder loswerden wollte, um mit ihr zu reden, vielleicht? Aber der ließ sich gar nicht abwimmeln. Nuo blieb ein wenig enttäuscht zurück. Irgendwann war es Zeit auszusteigen. Sie trödelte ein wenig, aber Levi war zu beschäftigt. Viele wollten ihm danken, als ob er persönlich dafür verantwortlich wäre, dass sie diesen Ausflug machen durften. Nuo zuckte mit den Schultern. Vielleicht würde sie ihn die Tage nochmal beim Hotel treffen. Das schien ja immerhin der Punkt zu sein, an dem er sich mit Freunden traf um zu surfen. Kurz blitzte der Anblick von ihm nur in Badehose auf. Gestern hatte sie dafür nicht so den Sinn gehabt, aber heute ging ihr auf, wie trainiert er war. Sie schüttelte den Kopf. Das waren keine Gedanken für jetzt. Außerdem hatte sie noch andere Pläne für heute. Ihre Tagesliste musste abgearbeitet werden. Sie war schon halb wieder auf dem Weg zum Hotel, um ihre Eindrücke zu ordnen und ihren Eltern ein paar Bilder zu schicken, als sie hinter sich hektische Schritte hörte. „Miss Sun! Warten Sie!“ Das war Levi und in ihr Magen machte einen Hüpfer, als sie sich umdrehte. Er war außer Atem, als er bei ihr ankam, aber seinem Strahlen tat das keinen Abbruch. „Ich muss gleich wieder los, die nächsten Gäste kommen. Aber...!“, er musste tief Luft holen, „Ich wollte Sie... dich fragen, ob du heute Abend mit mir was trinken gehen willst. Ich kann dir ein paar echt coole Gegenden hier zeigen. Und wir... ich würde gerne mehr über dein Studium erfahren... über dich.“ Er sprach schnell, als wäre er aufgeregt. War er auch. Genauso wie sie. Ihr war warm und sie musste schlucken. Aber sie nickte mehrmals. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war breit, aber sie lief gleichzeitig auch rot an, was Levi entweder nicht bemerkte oder es war ihm egal. „Sehr... sehr gerne!“ Sofort wich die Anspannung aus ihm und jetzt nickte auch er begeistert. „Gut, okay! Dann... bis heute Abend.“ Er ging zwei Schritte zurück, in denen sie beide sich nur ansahen und wohl beide erstaunt über diesen Ausgang waren. Dann rief sie ihn nochmal zurück. „Hey, Levi! Wo treffen wir uns denn?“ „Ach ja!“ Er kam wieder und diesmal war er derjenige mit dem roten Gesicht. „Am besten komme ich dich einfach im Hotel abholen...?“ „In Ordnung.“ Sie lachten beide nervös. Dann ging er wieder. Und sie ging auch. Sie biss sich auf die Unterlippe. Dieser Urlaub war viel geselliger als sie ihn sich vorgestellt hatte. Aber es störte sie überhaupt nicht mehr. Mit federleichten Schritten erreichte sie das Hotel und plante im Kopf schon, wie der heutige Abend verlaufen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)