Teamgeist von Alaiya ================================================================================ Kapitel 3: Provokation ---------------------- Seufzend saß sie da, wohl wissend, dass es noch zwei Anwesende gab, mit denen sie noch nicht gesprochen hatte: Erin Woodward und Rebecca Powell. Doch während sie darauf wartete, dass Yates eine der beiden herüberschickte, war es Charleigh Aitkins, die zu ihr hinüber kam. „Irgendetwas neues herausgefunden?“, fragte sie und blieb vor Kyra, die den Kopf auf einem Arm abgestützt hatte, während sie ihren Notizblock studierte, stehen. Kyra schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich“, murmelte sie in Gedanken versunken. „Außer, dass MacKey irgendetwas verheimlicht und außerdem einen Freund hat, der sie misshandelt …“ Ein kurzes Schweigen. „Du meinst Madleine?“, fragte Aitkins dann. Überrascht sah Kyra auf. „Ja.“ Aitkins sah sich zum Spielfeld um und folgte offenbar MacKey mit ihrem Blick. „Fuck“, murmelte sie dann, ehe sie sich wieder Kyra zuwandte. „Woran machst du das fest?“ „Würgemale an ihrem Hals“, erwiderte Kyra. „Und sie wirkte verängstigt. Nicht so, als würde sie das ganze freiwillig mitmachen und einfach nur verlegen.“ „Huh.“ Noch einmal sah sich Aitkins zu MacKey um. „Können wir irgendetwas für sie tun?“ „Vielleicht“, erwiderte Kyra. „Ihr einfach anbieten, dass sie mit euch reden kann. Sie darauf aufmerksam machen, dass man ihr helfen kann. So etwas …“ Sie dachte noch immer darüber nach. Auch wenn sie wusste, dass es gar nicht ihre Aufgabe war, diesen Fall zu lösen, so frustrierte sie es doch, dass sie soweit keine wirklich konkreten Hinweise gefunden hatte, die darüber hinaus gingen, dass sie Marcel Reilly verdächtig fand und dass sie glaubte, dass Madleine MacKey etwas verbarg, dass vielleicht, vielleicht auch nicht mit dem Mord an Talia Russel zu tun hatte. Genau diesen Gedanken schien nun auch Aitkins zu haben. „Glaubst du, das ganze hat was mit Talia zu tun?“, fragte sie. Kyra zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht.“ Sie seufzte. „Ist auch nicht meine Aufgabe“, murmelte sie dann. „Ich soll euch nur zu der Sache befragen …“ Sie biss sich auf die Unterlippe und sah wieder auf ihren Notizblock. Für einen Moment sah Aitkins sie schweigend an. „Nun, wenn du noch etwas findest … Sag mir Bescheid.“ „Ja. Mach ich“, erwiderte Kyra. „Sofern es die Ermittlung nicht behindert.“ Aitkins nickte und lief wieder los, als sie sah, dass Rebecca Powell auf dem Weg zur Bank war. Also machte Kyra weiter mit ihren Befragungen, während die Mannschaft Dribbelübungen machte, wenig überrascht, dass auch Powell und Woodward nichts neues zu erzählen hatten. Vielleicht, so dachte sie sich, war es ja auch einfach niemand aus der Mannschaft gewesen. Vielleicht war es ja das Jamie Schwänchen gewesen oder irgendein anderer Liebhaber. Vielleicht war es ein Familienmitglied gewesen. Immerhin sagte niemand, dass sie ausgerechnet mit der Gruppe sprach, in der sich der Mörder aufhielt. Sicher, sie wollte, dass es so war, und ihr Bauchgefühl war davon de facto überzeugt. Aber wer war ihr Bauchgefühl schon? Es war wahrscheinlich viel eher ihr eigener Wunsch Molly und natürlich auch Sutherland zu beeindrucken, indem sie ihnen eine fertige Falllösung, hübsch verpackt und mit Schleife, auf den Tisch legte. Selbst wenn Molly nicht mal an dem Fall arbeitete. Aber hey, man konnte nicht alles haben im Leben und es würde absolut reichen, wenn sie ihre Aufgabe – die Befragungen durchzuführen – ordentlich erfüllte. Und das hatte sie hiermit. Also konnte sie genau so gut gehen. Und doch … Zumindest mit Reilly wollte sie reden. Ja, es war explizit nicht ihre Aufgabe, da Reilly bereits von der Polizei befragt worden war, aber sie sollte verdammt sein, wenn sie nicht ein paar Fragen stellte. Selbst wenn sie damit bis zur nächsten Pause warten musste. Es blieb die Frage, was sie bis dahin tun sollte. Geistesabwesend kraulte sie Watson, der aufmerksam neben ihr saß und den jungen Frauen zusah, am Hals. Sie selbst ging noch einmal ihre Notizen durch. Sie musste noch unbedingt mit Irene Duncan sprechen, vor allem wenn sie die Anschuldigungen gegen sie bedachte. Vielleicht sollte sie bis zur Pause zu ihr hinüber fahren? Ihre Eltern lebten von hier aus nicht so weit weg und sollte aktuell gut erreichbar sein. Oder aber … Ein Gedanke schlich sich in ihren Kopf, während sie nun auch die Fußballspielerinnen beobachtete, ohne sie wirklich zu sehen. Nein, sagte sie sich. Das war eine furchtbar blöde Idee. Sie würde sich nur in Probleme bringen und gerade jetzt wollte sie das gar nicht. Immerhin war es eine Sache wenn sie sich selbst in Probleme brachte, eine ganz andere, wenn sie es im Auftrag der Polizei tat. Es hatte nichts mit ihrem aktuellen Fall zu tun – glaubte sie – und vor allem hatte es nichts mit ihrer tatsächlichen Aufgabe zu tun. Es ging sie nichts an, herauszufinden, mit wem Madleine diese Probleme hatte. Klar, an sich sah das britische Gesetz es mittlerweile vor, dass man auch als außenstehender deswegen Anzeige erstatten konnte – weil es immerhin offenbar nicht mehr vorgesehen war, dass erwachsene Menschen einvernehmlichen Kink-Sex miteinander hatten … Doch auch wenn es die Medien so aufspielten, wurde es bei weitem nicht so stark durchgesetzt, wie manche zuerst befürchtet hatten. Also … Was aber, wenn es mit dem Fall zu tun hatte? Dann würde sie hier eine Chance verpassen. Eine Chance, die sie eigentlich der Polizei überlassen sollte. Verdammt. „Komm, Watson“, meinte sie dann leise. „Lass uns ein wenig die Beine vertreten.“ Watson beobachtete das Spielfeld ein wenig, wandte sich dann aber ihr zu und bellte zwei Mal laut, ehe er ihr schwanzwedelnd folgte, jedoch nicht, ohne noch einmal kurz zum Spielfeld zu schauen. Kyra hätte viel dafür gegeben zu wissen, was er sich dabei dachte. Hatte er vielleicht auch eine Vermutung? Hatte er bei einem der Mädchen oder – ja, sie hatte sich zu schnell eine Meinung gebildet – bei Marcel ein Gefühl, dass etwas mit einem von ihnen nicht stimmte? Oder war er vielleicht nur um Madleine MacKey oder Aitkin, die er ja offenbar gemocht hatte, besorgt? Leider aber konnte sie nicht mit ihm reden. Entsprechend blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren eigenen Instinkten zu folgen. Und so machte sie sich auf zum eigentlichen Gebäude des Trainingscenters. Natürlich nicht mit dem Ziel, sich die Beine tatsächlich zu vertreten, sondern viel mehr im Versuch etwas herauszufinden. Dankbarer Weise hatte sie vorher Aitkins begleitet, bis diese in die Umkleide gegangen war, und da sie davon ausging, dass die jungen Damen sich dieselbe Umkleide teilten, konnte sie hoffen, hier vielleicht etwas zu finden. Natürlich gab es da ein Problem, stellte Kyra fest, als sie in die Umkleide kam, die im Vergleich zur Umkleide in ihrer Highschool erstaunlich sauber roch: Es gab Schließfächer in denen auch ein guter Teil der Wertgegenstände sein würde. Und wenn sie hier irgendwo einen Hinweis finden konnte … Vor den Schließfächern standen nur die Schuhe und in ein paar Fällen vielleicht auch ein paar Hosen – in unterschiedlich ordentlichen Zuständen. Eigentlich machte sie es sich zu kompliziert, sagte sie sich und wies Watson mit einer Geste an, an der Tür stehen zu bleiben. Vielleicht sollte sie zuerst etwas anderes nachschauen. Sie holte ihr Smartphone heraus und fand sich schon sehr bald auf Facebook und Instagram, nur um ein, zwei Sachen zu überprüfen und außerdem eine andere Schlussfolgerung zu ziehen. Oh Gott, wenn jetzt jemand hier rein kam, würde sie so einen Ärger bekommen. Zumindest eine Sache konnte sie nach dem Checken von MacKeys relativ aktiven Facebook-Accounts feststellen: Von einem neuen Freund fehlte jede Spur. Tatsächlich gab es nur zwei Personen, mit denen sie Augenscheinlich sehr viel Zeit verbrachte: Maia Kerr und Thomas Hober, der offenbar ihr Mitbewohner war. Bildete Kyra sich das nur ein, oder wirkte MacKey wirklich in allem Bildern, die sie von sich und Kerr gepostet hatte, angespannt? Vielleicht hatten die beiden etwas damit zu tun? Vielleicht war es auch Kerr gewesen, die MacKey gewürgt hatte? Immerhin wusste Kyra nichts über die Sexualität der beiden. Sie ging die Schließfächer durch, auf die davor abgestellten Schuhe achtend. MacKey war relativ petit, Kyra schätzte ihre Schuhgröße nicht über fünf. Damit dürfte sie herausstechen. Wenn sie außerdem nach den Bildern auf Facebook sah, schien sie tatsächlich relativ hübsche Schuhe zu tragen – sie hatte sogar zwei Einträge in letzter Zeit zum Thema Schuhe geschrieben. Wie Klischee. Doch gerade half es Kyra. Sie fand ein Paar, das dazu passte. Aus ihrer Jackentasche fischte sie ein Paar Einmalhandschuhe hervor und zog es sich über. Nun, dankbarer Weise hatte sie zu viel Freizeit gehabt, während diese Schließfächer mit einfachen Vorhängeschlössern gesichert waren. Dabei noch jene Art, die nicht besonders schwer zu knacken waren, selbst wenn man nur eine stereotype Haarnadel dabei hatte. Natürlich war Kyra besser vorbereitet als das. Sie hatte ein Dietrichset dabei, dass sie die meiste Zeit in ihrer Innentasche mit sich herum schleppte, wohl wissend, dass es meistens nicht zum Einsatz kam, da es rein rechtlich gesehen das auch nicht durfte. Sie horchte kurz und dann machte sie sich daran, das Schloss zu öffnen, was ihr sogar – ihrer eigenen Meinung nach – recht elegant gelang. Noch einmal lauschte sie und sah prüfend zu Watson hinüber, dessen Ohren nicht aufgestellt waren. Sie hoffte, dass er ein guter Wachhund war. Vorsichtig öffnete sie das Schließfach und kramte vorsichtig MacKeys Handtasche heraus. Eine relativ handliche, aber sportliche kleine Umhängetasche. Sie ging die Handtasche durch, auf der Suche nach einem Foto oder irgendetwas, das entweder mit dem aktuellen Fall oder demjenigen, dem sie wohl die Würgemale zu verdanken hatte, zu tun hatte. Viel fand sie jedoch nicht. Keine Adressen, keine Fotos, nichts. War vielleicht auch ein zu weit gefasster Versuch. Eine Sache konnte sie jedoch noch machen. Eine Sache, die sie eventuell in noch mehr Schwierigkeiten bringen konnte, doch viel schlimmer konnte es gerade nicht mehr werden. Da war ihr Handy, das, wie sie feststellte, nicht einmal ordentlich mit einem Muster oder Entsperrungs-PIN gesichert war. Einfach ein Swipe nach rechts und das Handy war entsperrt. Wunderbar. Noch einmal lauschend, ob sie jemand näherte, öffnete sie die Chronik der vergangenen Telefonate. Diese war erstaunlich einseitig: „Mama“, „Maia“, „Marcel“, „Thomas“, „Anastasia“ und – zu Kyras Überraschung – auch zwei Telefonate mit „Talia“ vor knapp zwei Wochen kurz nacheinander. „Hmm“, machte Kyra unwillkürlich und schrieb sich das Datum auf. In der Nacht des Mordes hatte MacKey mehrfach versucht Marcel anzurufen, hatte ihn nach den Gesprächsdauern nach zu urteilen erst um drei Uhr erreicht. Auch über WhatsApp hatte sie vorrangig mit Maia, Marcel, Thomas und dieser Anastasia geschrieben, auch wenn es einen Gesprächsverlauf einer Mannschaftsgruppe gab, in der sie jedoch offenbar wenig geschrieben hatte. Sie ging den Verlauf der Dreiergruppe, in der sie mit Maia und Marcel war, durch, in der festen Erwartung irgendetwas zu finden, dass ihr einen Hinweis gab. Doch nichts dergleichen fand sich hier. Stattdessen nur kurze Anfragen, wie „Morgen Abend, 8 Uhr?“ und „Morgen nach dem Training?“. Ab und an ein paar durchaus kokett wirkende Nachrichtenabfolge zwischen Marcel und Maia, an denen sich MacKey jedoch selbst nicht beteiligt hatte. Zu schade. Sie hatte gehofft. Ja, was hatte sie eigentlich gehofft? Auf weitere Hinweise in ihrem Fall oder einen Hinweis darauf, wer sich an MacKey vergangen hatte. Wenn es unfreiwillig gewesen, merkte eine Stimme in ihrem Kopf an, der sie unwillkürlich Ruhe gebot. Da richtete Watson seine Ohren auf und gab einen leise knurrenden Laut von sich – dankbarer Weise kaum Hörbar. Kyra lauschte noch einmal und dieses Mal hörte sie Schritte. „Verdammt noch mal“, murmelte sie leise, beendete die aufgerufenen Programme auf den Smartphones und stellte es wieder in den Standby, ehe sie es in die Tasche und diese zurück in das Schließfach steckte. Dankbarer Weise war es nicht schwer, das Schloss wieder zu verriegeln, doch bis sie das getan hatte, hatten die Schritte beinahe die Tür erreicht. Also. Wohin? Ihr Blick viel auf die Tür zu den anliegenden Duschen. Nun, hoffentlich kam da niemand rein. Sie schnappte sich Watson am Halsband und zog ihn mit sich, um in den Duschen zu verschwinden. Keinen Moment zu früh, da sie einen Augenblick später ein Paar Stimmen hörte. „Alles okay?“, fragte jemand. Kyra glaubte, dass es Crawford war. „Ja“, erwiderte ein zierliches Stimmchen, das wiederum ohne Frage zu MacKey gehörte. „Nur Schwindelig.“ Das wunderte Kyra nicht. Es brachte sie nur umso mehr in Verlegenheit. Was, wenn MacKey jetzt bemerkte, dass jemand an ihren Sachen gewesen war? Was, wenn sie jetzt duschen und nach Hause ging? Die zweite Stimme bestätigte sie darin: „Willst du nicht doch lieber gehen?“ Ein kurzes Schweigen. Kyra meinte, dass das Schließfach geöffnet wurde. „Nein“, sagte MacKey dann. „Es geht schon. Nur ein bisschen Ruhe und etwas zu trinken.“ Eine Flasche wurde geöffnet, wie Kyra am Zischen entweichender Kohlensäure festmachte. „Danke, Abbey.“ Also hatte sie richtig gelegen. Crawford schien zu zögern. „Bist du dir sicher?“ „Ja …“ MacKeys Stimme klang matt. „Geh ruhig schon zurück.“ „Ganz sicher?“ Stille machte sich breit, ehe MacKey antwortete: „Ja. Schon gut.“ „In Ordnung“, antwortete Crawford langsam und zurückhaltend. „Bis nachher …“ Dann öffente sich eine Tür und Schritte schienen sich zu entfernen. Kyra sah zu Watson. Was sollte sie jetzt tun? Wenn die Mannschaft bald Pause machte, kam sie hier nicht raus, um mit Marcel zu reden. Aber sie konnte auch nicht einfach rausgehen, während MacKey hier war. Es sei denn, sie konfrontierte sie direkt. Wenn sie mit ihrem Bauchgefühl – oder eher ihrem bestandslosen Verdacht – richtig lag, hatten entweder Kerr oder Reilly etwas mit den Würgemalen zu tun und vielleicht war es einfacher darüber zu sprechen, wenn die beiden nicht gerade in der Nähe waren. Dann wiederum konnte sie es dennoch in Probleme geben, wenn sie zugab, dass sie überhaupt hier gewesen war. Aus welchem Grund auch immer. Nervös sah sie Watson an, der dankbarer Weise genug verstand, um in dieser Situation still zu sein, während sie wartete. Sie holte ihr eigenes Handy heraus, um auf die Uhr zu schauen. Wenn sie nachdem ging, was ihr vorher gesagt worden war, würden es noch etwa 15 Minuten sein, ehe die Pause war. Also konnte sie noch hoffen, dass MacKey vorher wieder raus ging. Oder, kam ihr ein Gedanke, sie ging aufs Klo, wofür sie in den Duschraum, neben dem die Toiletten gelegen waren, musste. „Fuck“, flüsterte sie leise und zog Watson erneut mit sich, um ihn in eine der Duschkabinen zu ziehen. Diese hatten zwar keine Türen, boten aber zumindest etwas Sichtschutz, wenn man nicht gerade in den Raum ganz hinein ging, was für die Toiletten nicht notwendig war. So hockte sie hier auf dem Boden, mit einem Ohr lauschend, darauf wartend, dass MacKey die Umkleide verließ. Gleichzeitig sah sie auf ihr Handy, um die Zeit im Blick zu behalten. Sie hatte doch gewusst, dass es eine dumme Idee war. Was sollte sie jetzt tun? Was konnte sie überhaupt tun? Die ehrliche Antwort war: Nicht viel. Allerdings konnte sie darüber nachdenken, was sie erfahren hatte. Denn in einer Sache war sie sich sicher: Irgendetwas stimmte nicht mit MacKey und Kerr. Die einzige Sache, die sie nicht sicher sagen konnte, war, ob das ganze nur etwas zwischen ihnen und eventuell Reilly war, ob es mit einem Verbrechen zu tun hatte oder ob es tatsächlich auch mit Russels Tod in Verbindung stand. Sie ließ sich zu Boden gleiten und zog ihre Beine an sich heran, wobei sie es zuließ, dass Watson seinen Kopf auf ihre Knie legte und sie fragend ansah. Es war ja gar nicht ihre Aufgabe, sagte sie sich noch einmal. Nicht ihre Aufgabe. Alles was sie noch machen sollte, war zu Irene Duncan zu fahren, sie zu befragen und dann das ganze abzugeben. War es ihr Stolz, der sie davon abhielt, oder ihr Gerechtigkeitssinn? Vielleicht auch ein mangelndes Vertrauen in die Polizei. Schon ironisch, wenn sie ihre Situation bedachte. Ach, verdammt. Die Tür öffnete sich. und Kyra hielt den Atem an, als langsame Schritte zur Toilettentür gingen und diese öffneten. Angespannt stellte Watson seine Ohren auf, machte dankbarer Weise jedoch keinen Mucks. Kyra schloss die Augen und wartete angespannt, wohl wissendlich, dass sie ohnehin nichts tun konnte, während ihre Gedanken rasten. Dann auf einmal kam ihr ein Gedanke. Sie öffnete die Augen. Etwas, das mit Kerrs Aussage nicht gestimmt hatte. Sie hatte es bei der Befragung nicht bemerkt, aber sie hatte etwas gesagt, dass sie eigentlich – wahrscheinlich – nicht wissen sollte. Es sei denn man hatte es Marcel Reilly oder Aitkins gesagt und diese hätten ihr es weitererzählt … Das konnte sie nicht ausschließen, aber sie war sich beinahe sicher, dass es nicht so war. „Abgestochen“, hatte sie gesagt. Eigentlich hatte sie das nicht wissen sollen. Oder? Hmm. Vielleicht hatte sie es auch einfach nur so daher gesagt. Eine Toilettenspülung wurde betätigt, dann lief ein Wasserhahn, ehe sich noch einmal Schritte durch den Raum bewegten. Dann schloss sich die Tür. Rasch stand Kyra auf und lauschte. Auch in der Umkleide wurde eine Tür geöffnet und geschlossen, also war MacKey gegangen. Sehr gut. Vorsichtig schaute Kyra und den Raum, ehe sie schnellen Schrittes hindurch lief und auf demselben Weg, den sie gekommen war, zum Trainingsfeld zurückkehrte. Sie bemerkte, dass einige zu ihr hinübersahen, doch dankbarer Weise sprach sie niemand an. Sofern es also keine Sicherheitskamera gab, die sie übersehen hatte, war alles im grünen Bereich. Und hey, in der Umkleide selbst würde es schon keine Sicherheitskamera geben. Also wartete sie die letzten vier Minuten, ehe Alexa Bell, die das Training vorerst zu leiten schien, in eine Pfeife bließ und eine Pause ansagte. Sie ging kurz zu Reilly hinüber, der mit ihr sprach. Die Hände in ihren Jackentaschen vergaben, ging sie zu ihnen hinüber, gerade als sich Alexa Bell abwandte und den anderen jungen Frauen folgte, die teilweise zum Center gingen, teilweise zum Rand des Spielfeldes, wo ein Teil die Getränkeflaschen abgestellt hatte. „Mr. Reilly?“, fragte Kyra und wurde sich erst zu spät dessen bewusst, dass ihre Stimme unnötig kühl klang. „Ms. Detective“, erwiderte der Mann trocken und sah sich kurz um. „Was kann ich denn noch für sie tun?“ „Wie gesagt“, begann sie, „ich wollte nur ein paar Dinge mit Ihnen abklären.“ Er musterte sie, zuckte dann mit den Schultern. „Würde es Sie stören, mir ins Trainerbüro zu folgen? Dort haben wir ein wenig mehr Ruhe.“ Unsicher zögerte Kyra für eine Weile. Der paranoide Teil ihres Gehirns warnte sie davor. Immerhin konnte sie nicht wissen, ob er nicht wirklich ein Mörder war und was würde er dann machen? Dann erinnerte sie sich daran, dass die wenigsten Mörder Serienkiller waren. Also sollte sie sich keine Sorgen machen. Wenn sie mit ihrer Paranoia so weiter machte, konnte sie ihren Job bald vergessen. Auf der anderen Seite hielt ein gesundes Maß Paranoia einen auch am Leben … Sie nickte. „Natürlich nicht. Gehen Sie voraus.“ Auch er nickte kurz und ging los, wobei er sich jedoch zu bemühen schien, sie im Blick zu behalten. Gerade hatten sie den Rand des Spielfeldes erreicht, als er die Stimme erhob: „Sagen Sie, haben Sie überhaupt die Erlaubnis mich noch einmal zu befragen?“ Kyra zuckte mit den Schultern. „Ich habe nicht die konkrete Aufgabe, aber sofern sie keine Einwände haben, spricht auch nichts dagegen, dass ich sie noch einmal befrage.“ Sie bemühte sich wieder einmal um ein profesionelles Lächeln, befürchtete aber, dass es dieses Mal reichlich kühl ausfiel. „Sie müssen nicht, aber ich wollte eigentlich nur ein paar Dinge, die ich gehört habe mit Ihnen abklären. Das würde mir und sicher auch der Polizei sehr helfen. Und ich bin mir sicher, dass es für Sie auch angenehmer ist, als morgen oder übermorgen noch einmal zur Polizeistation zu fahren.“ „Ich habe keine Einwände“, erwiderte Reilly, wobei auch seine Stimme reichlich kühl klang. „Ich wollte nur nachfragen.“ Kyra nickte nur noch einmal und folgete ihm weiter – in das Gebäude hinein und dort in einen Raum, von dem aus man einen guten Blick auf die verschiedenen Trainingsspielfelder hatte. Hier setzte Reilly sich an einen reichlich kleinen Schreibtisch, hinter dem die Wand mit Bildern der Mannschaft und einigen Urkunden geschmückt war, und sah sie an. „Also. Was kann ich für Sie tun?“ Er bot ihr nicht an, sich auf den auf Sitzpolster und Lehne mit verblassten roten Stoff überzogenen Stuhl zu setzen, was sie jedoch dennoch tat. Watson hockte sich neben sie und sah zum Rand des Schreibtisches hinauf. „Nun, ich hatte gehofft, dass sie mir zu ein paar Dingen etwas sagen könnten“, meinte Kyra und holte ihren Block hervor. „Zum einen: Ich habe gehört, dass es vor einigen Wochen einen Streit zwischen Ms. Russel und Ms. Anderson gegeben hat. Wissen Sie darüber mehr?“ Reilly lehnte sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt und musterte sie erneut ein, zwei Sekunden lang, ehe er antwortete. „Ich habe davon gehört, war aber selbst nicht dabei. Von allem, was ich gehört habe, hatte sich die Sache jedoch relativ schnell geklärt. Die beiden hatten zumindest keine ungewöhnlichen Probleme mehr.“ Kyra notierte sich das. „Ungewöhnlich? Sie meinen, wegen Russels Art, sich oft mit anderen Mannschaftsmitgliedern zu streiten?“ „Nun, Talia war halt eine Persönlichkeit.“ Die Stimme des Mannes klang matt und ein wenig reumütig. Er deutete ein Schulterzucken an. „Sie hatte oft eine Meinung und wollte nicht von dieser zurückweichen.“ Er pausierte und sah aus dem Fenster. „Aber wir haben ein paar Persönlichkeiten dieser Art, da sind Streitigkeiten nicht ausgeschlossen. Das ist normal in einem Team, oder?“ „Vielleicht“, erwiderte Kyra unverbindlich. „Sie müssen sehen, Ms. Detective, dass es in letzter Zeit einigen Leistungsdruck gab“, meinte er. „Letztes Jahr haben wir in der Liga nicht besonders gut abgeschlossen und dann ist vor ein paar Wochen dieses … Malleur passiert mit unserem letzten Trainer. Sie haben davon sicher schon gehört?“ „Ja, habe ich.“ Kyra musterte ihn. „Da wäre das letzte, was die Mannschaft gebrauchen konnte, noch eine Spielerin wegen ähnlichen Dingen zu verlieren, oder?“ Reilly hob nun eine Augenbraue und lehnte sich noch weiter zurück. „Wollen Sie damit irgendetwas bestimmtes implizieren?“ „Nein“, murmelte sie. „Ich meine nur. Ich habe ein wenig Klatsch in der Richtung gehört, wissen Sie?“ Sie sah ihn mit Absicht nicht direkt an, sondern musterte ihn viel mehr aus den Augenwinkeln, in der Hoffnung, dass er sich so weniger beobachtet fühlte. Für einen Moment wirkte er verunsichert. „Was für Klatsch?“ Kyra zuckte die Schultern. „Einige Ihrer Spielerinnen haben gemeint, Sie hätten Ms. Russel Avancen gemacht.“ „Ich versichere Ihnen, dass an diesen Gerüchten nichts dran ist“, antwortete er und setzte dann hinzu: „Sonst noch etwas?“ „Tatsächlich“, erwiderte Kyra. „Zwei weitere Dinge: Können Sie mir etwas zu dem Streit zwischen Ms. Duncan und Ms. Russel von vor zwei Wochen erzählen? Und zum anderen: Was können Sie mir sagen, wie die Beziehung zwischen Ms. Kerr und Ms. Russel war?“ „Von allem was ich gehört habe – das ganze ist wohl in der Umkleide passiert, wo ich natürlich nichts zu suchen habe“, begann Reilly, „war Irene Talia ein wenig zu besorgt gewesen und Talia war gereizt und hat deswegen einen Streit begonnen. Wie gesagt, wir stehen aktuell alle ein wenig unter Druck.“ Er ließ ein schweres Seufzen hören. „Nun natürlich umso mehr.“ Dann pausierte er. „Was die Sache mit Maia angeht … Maia ist halt auch so eine Persönlichkeit, wissen Sie? Sie und Talia haben immer eine explosive Mischung abgegeben.“ „Wie explosiv?“, fragte Kyra kurz angebunden. Ein Schulterzucken. „So genau kann ich das leider nicht einschätzen.“ Missmutig biss sich Kyra auf die Unterlippe, sagte aber nichts. Stattdessen schrieb sie sich auch das einfach nur auf und fragte dann langsam. „Was ist mit Ms. MacKey?“ „Was sollte mit ihr sein?“ „Sie wirkt irgendwie sehr abgelenkt und bedrückt“, erwiderte Kyra. „Beinahe verängstigt.“ Er räusperte sich auf eine beinahe schon herablassende Art. „Ms. Detective …„ Kyra unterbrach ihn: „Ms. Hare, bitte.“ „Ms. Hare“, verbesserte er sich. „Ich mache Sie noch einmal darauf aufmersam: Eine Teamkollegin von Ms. MacKey und den anderen Damen ist vor drei Tagen ermordert worden. Natürlich sind sie alle angespannt und bedrückt. Was erwarten Sie?“ Kyra musterte ihn. „Sie wirken nicht besonders bedrückt“, stellte sie dann trocken fest. Seine Stimme gewann an Anspannung. „Wollen Sie damit etwas implizieren?“ Anstatt zu antworten, schüttelte Kyra nur mit dem Kopf und zuckte dann mit den Schultern. „Ich sage Ihnen etwas, Ms. Hare“ – dieses Mal sprach er ihren Namen mit übertriebenem Nachdruck aus – „ich bin um jede meiner Spielerinnen besorgt und natürlich trifft mich Talias Tod. Immerhin sind wir so etwas, wie eine Familie.“ Er funkelte sie an. „Eine Familie, in der jeder Missgunst gegen die Hälfte der anderen hegt?“, konterte Kyra. „Ist das nicht beinahe normal in einer Familie?“ Erneut zuckte Kyra nur mit den Schultern, um abzuwarten, was er sonst noch zu sagen hatte. „Ich bin betroffen von Talias Tod, das können Sie mir glauben“, fuhr er schließlich fort. „Aber ich habe einen Job den ich dennoch zu tun gedenke. Vor allem nun, da wir zwei Spielerinnen und einen Trainer verloren haben.“ „Gut, gut“, meinte Kyra nur. „Ich meine ja nur …“ Sie war sich dessen bewusst, dass sie provozierte. Nicht, dass es bei ihr je unktioniert hätte, aber rein theoretisch sollte es das ja. „Ich meine nur … Mir sind ein paar Dinge aufgefallen. Unter anderem, dass Ms. MacKey vor Ihnen Angst zu haben scheint.“ „Woran machen Sie das fest?“, fragte er herablassend. „Sie ist merkwürdig steif geworden, als Sie auf das Spielfeld gekommen sind“, antwortete Kyra nüchtern. „Beinahe, als hätten Sie ihr etwas angetan.“ Da war etwas. Er zuckte zusammen und für einen Moment wich er ihrem Blick deutlich aus, ehe er sich wieder fasste. „Sie gehen zu weit“, sagte er langsam, aber mit einer deutlichen Drohung in der Stimme. „Vielleicht“, meinte Kyra. Sie wusste, dass sie besser aufhören sollte, doch konnte sie sich einfach nicht beherrschen. Vielleicht schaffte sie es noch ein wenig mehr aus ihm heraus zu kitzeln, wenn sie weiter provozierte. Wenn nicht, würde es ihr zumidnest auf eine gewisse Art und Weise Genugtuung verschaffen, da es irgendetwas an diesem Kerl gab, dass sie auf die Palme brachte. „Soll ich Ihnen sagen, was ich glaube?“ „Nein“, antwortete er kühl. Natürlich hörte sie nicht auf Ihn. „Ich glaube, dass Sie Ms. Russel und einigen anderen Spielerinnen sexuelle oder vielleicht auch romantische Avancen gemacht haben und einen Streit mit Ms. Russel hatten, da diese Sie bereits mehrfach abgewiesen hat. Deswegen haben Sie sie umgebracht.“ Reilly sah sie mit verengten Augen an, doch als sie seinen Blick erwiderte, wich er dem ihren aus. Einige Male holte er tief Luft, dann zeigte er auf die Tür. „Das reicht, Ms. Hare“, sagte er langsam, leise, aber mit leicht zitternder Stimme. „Gehen Sie. Ich werde keine Fragen mehr beantworten und verweise Sie hiermit vom Gelände.“ Kyra musterte ihn nur, nicht ganz schlüssig, ob es Wut oder Angst war, die sie in seinen Augen sah. Als sie sich nicht rührte, hob er die Stimme. „Raus!“ Schließlich zuckte sie mit den Schultern, stand auf und verließ den Raum, hielt aber noch einmal Inne. „Verschwinden Sie!“, rief Reilly daraufhin. „Ich werde Ihr ungebührliches Verhalten melden.“ „Tun Sie das“, erwiderte Kyra nur, bemüht ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ Dann ging sie und wurde sich erst jetzt dessen bewusst, dass fünf der Spielerinnen im Flur standen – sie waren offenbar eigentlich wieder auf dem Weg nach draußen gewesen – und sie verblüfft anstarrten, während Kyra einfach nur an ihnen vorbei ging, um Selbstsicherheit in ihren Schritten bemüht. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie unsicher war. Denn eigentlich war sie sich einer Sache bewusst: Sie hatte sich gerade massiv viel Ärger eingehandelt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)