Teamgeist von Alaiya ================================================================================ Kapitel 4: Wut und Trauer ------------------------- Kyra war gerade auf dem Weg zu ihrem Wagen hinüber, als sie eine Stimme hinter sich rufen hörte: „Warten Sie, Ms. Hare!“ Sie drehte sich um und stellte fest, dass Aitken ihr folgte. Die junge Frau hatte sie mit ihren langen Schritten schnell erreicht und stand nun vor ihr, sie kurz von oben bis unten musternd. „Was ist?“, fragte Kyra vorsichtig. „Ich wollte nur wissen, was gerade passiert ist“, erwiderte Aitken, die – natürlich – kein Bisschen von ihrem kurzen Sprint außer Atem war. Sie wirkte jedoch besorgt. Kyra zuckte einmal wieder nur mit den Schultern. „Ich habe nur ein wenig provoziert.“ Die junge Frau schwieg kurz, ehe ihr offenbar etwas klar wurde. „Sie verdächtigen Marcel?“ Unsicher biss sich Kyra auf die Unterlippe. „Vielleicht“, erwiderte sie. „Ich weiß es nicht.“ Aitken holte tief Luft und sah so aus, als würde sie ernsthaft in Betracht ziehen, sich umzudrehen, und selbst in das Center zurückzulaufen, um den Manager zu konfrontieren. „Wie gesagt, ich weiß es nicht“, sagte Kyra noch einmal mit Nachdruck. „Aber ich habe das Gefühl, dass Madleine MacKey etwas wissen könnte.“ Sie seufzte. „Und sei es nur, wer sie gewürgt hat.“ „Soll ich sie fragen?“, bot Aitken an und sah noch einmal zum Gebäude. Kyra seufzte. „Warten Sie lieber. Nicht während des Trainings. Zumal ich selbst gerne noch einmal mit ihr reden würde – aber wie Sie vielleicht mitbekommen haben, wurde ich gerade des Geländes verwiesen.“ Daraufhin nickte Aitken, wenngleich sie unzufrieden wirkte. „Also was? Wann?“ Für einen Moment dachte Kyra nach. Sie sollte das Mädchen eigentlich nicht mit hineinbeziehen. Eigentlich sollte sie sich selbst nicht einmal mit einbeziehen, doch der Zug war schon lange abgefahren. Fakt war, dass MacKey Aitken kannte und ihr vielleicht – anders als der fremden Detektivin – zumindest etwas Vertrauen entgegen bringen sollte. Sie seufzte. „Bis wann habt ihr Training?“ „Alles in allem? Nachmittag. Gegen drei.“ Kyra nickte. „Weißt du, wo MacKey lebt?“ „Madleine?“, erwiderte Aitken. „Ja, sicher. Ich mein', wir sind nicht befreundet, aber ich war schon mal da. An ihrem Geburtstag letztes Jahr. Treffen wir uns da?“ „Ja. Aber erst um sechs.“ In der Hoffnung, dass MacKey dann da wäre. Aitken lächelte matt. „Super. Dann kriegen wir das Arsch vielleicht dran.“ Und einigen Ärger, dachte sich Kyra. „Ich bitte dich nur, das ganze erst einmal für dich zu behalten.“ „Geht klar, Detective.“ Aitken nickte ihr zu. „Wir bringen uns wieder in Schwierigkeiten, Watson“, seufzte Kyra zwanzig Minuten später, als sie vor dem Gebäude, in dem laut ihren Unterlagen Irene Duncans Eltern lebten, stand. Watson bellte nur, stand auf dem Rücksitz auf und wedelte mit dem Schwanz, so dass dieser die ohnehin schon extrem haarige Decke der Kabine entlangwischte. „Du nimmst das ganze viel zu sehr auf die leichte Schulter“, murmelte Kyra, zog den Schlüssel aus der Zündung und öffnete die Tür. Sie ließ Watson wie immer nach sich aussteigen und ging dann zu dem Haus, froh, hier einen relativ nahen Parkplatz gefunden zu haben. Bei dem Haus handelte es sich um eins jener beinahe schon klischeehaften Vorstadthäuser. Ein relativer Neubau – vielleicht aus den späten 90ern oder frühen 2000ern – dessen Front mit weißen Steinen verklinkt war. Die Dachziegel glänzten silbrigschwarz und auch die Tür war aus dunklem Holz. Ein für Mittelstandsverhältnisse edles Haus, befand Kyra, oder zumindest eins, das möglichst Edel wirken wollte. Auch der Vorgarten, der durch eine niedrige Mauer von der Straße getrennt war, wirkte ordentlich und gepflegt. „Ach je“, murmelte Kyra, als sie über den gepflasterten Weg zur Haustür ging, Watson an ihrer Seite. Es war halt immer eine andere Sache, wenn Eltern mit im Haus waren. Jetzt würde sie wohl erst mit Duncans Eltern sprechen müssen und dann mit dem Mädchen, das von allem, was sie gehört hatte, noch weit verstörter war, als ihre Kolleginnen. Kurz sah Kyra zu Watson hinab, der gut gelaunt hechelte. Ja, er musste ja auch mit niemanden reden und Kyra zweifelte irgendwie auch, dass er ganz verstand, was es mit der ganzen Sache hier so auf sich hatte. Ein Hund würde kaum eine konkrete Vorstellung von Tod, Verlust und Mord haben, oder? Seufzend klingelte sie an der Tür und wartete. Tatsächlich hörte sie relativ bald stramme Schritte und durch die milchigen Fenster, die in der Mitte der Tür in einer senkrechten Reihe eingelassen waren, konnte sie eine Gestalt sehen. Die Tür wurde geöffnet. „Ja, bitte?“, fragte eine ältere Frau um die fünfzig mit gelockten Haaren, die in recht gemütlicher Kleidung – einem ausgeleiherten Wollpulli und einem recht weiten Rock, der ihr bis knapp über die Knöchel reichte – nun vor ihr stand. „Guten Tag“, sagte Kyra vorsichtig und bemüht höflich. „Mein Name ist Kyra Hare. Ich bin Privatdetektivin und um Auftrag der Scottland Police hier.“ „Aha“, erwiderte die Frau und musterte sie einmal von oben bis unten. Kyra war sich recht sicher, dass ihr Blick kurz an ihrem Piercing hängen blieb. „Ist es wegen diesem Mord?“ Kyra nickte mit einem Lächeln. „Ja, genau. Ich wurde beauftragt die Spielerinnen der Mannschaft zum Opfer zu befragen. Ich nehme an, Sie sind die Mutter von Irene Duncan?“ „Ja, die bin ich.“ Zurückhaltend bot die Frau ihr die Hand an. „Josephine Duncan.“ Kyra ergriff die Hand. „Erfreut Sie kennen zu lernen“, meinte sie dann, unsicher, was sie ansonsten sagen sollte. „Dürfte ich mit Ihrer Tochter sprechen?“ Offenbar zögerte die Frau. „Nun, ja. Ja. Natürlich.“ Sie trat mit mehreren kleinen Schritten zur Seite und warf Watson dann einen Blick zu. Fast rechnete Kyra damit, dass sie etwas sagen würde, und war umso überraschter, als sie es nicht tat. „Seien Sie nur vorsichtig“, meinte Mrs. Duncan dann. „Irene ist … Sehr aufgelöst, wegen der Sache.“ „Das kann ich verstehen“, erwiderte Kyra nur und log damit nicht einmal. Sie war tatsächlich noch immer überrascht, dass heute überhaupt Training stattgefunden hatte, selbst wenn sie rein rational verstand, dass auch ein Betrieb nicht freigeben würde, nur weil ein Mitarbeiter ermordet worden war. „Ja …“ Unsicher sah Mrs. Duncan zwischen ihr und Watson hin und her, schloss dann aber die Tür hinter ihnen. „Sie können ins Wohnzimmer gehen“, meinte sie dann. „Folgen Sie mir bitte.“ Kyra nickte und fand sich wenig später in einem alten, mit karriertem Stoff bezogenen Ohrensessel wieder. Das hatte schon etwas Stil, dachte sie sich, und sah sich in dem im Kontrast zu dem eigentlich edel-modern gehaltenem Äußeren des Hauses eher klassisch dekoriertem Wohnzimmer um. Das Sofa war ebenfalls mit Stoff bezogen und wirkte älter – abgesessen. Die Möbel waren durchweg aus Massivholz. „Wollen Sie vielleicht einen Tee?“, fragte Mrs. Duncan unsicher. „Ähm.“ Kyra zögerte. „Ja, gerne.“ Eigentlich wollte sie nur mit Irene sprechen. Aber gut, gegen einen guten Earl Grey hatte sie selten etwas einzuwenden. Watson warf ihr einen beinahe vorwurfsvollen Blick zu, als sie fünf Minuten später einen Tee, inklusive Gebäck serviert bekam, während die Mutter unschlüssig am Rand des Zimmers stehen blieb. „Nun“, sagte sie langsam. „Ich … Ich hole dann Irene.“ Kyra nickte. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie vom Verhalten der Mutter halten sollte. Lag sie vielleicht doch falsch? Lagen die anderen Spielerinnen wie Kerr richtig? Immerhin wirkte es beinahe so, als wolle die Mutter etwas verheimlichen? Während sie wartete, dass Mrs. Duncan mit ihrer Tochter zurückkehrte, spann ihr Gehirn von ganz alleine diesen Gedanken weiter. Es konnte auch sein, dass Kerr, MacKey und Reilly nichts damit zu tun hatten, dass sie nur ihr eigenes Ding gehabt hatten, das vielleicht auch nicht ganz – wie sagte man so schön – „koscher“ gewesen war, aber eben kein Mord. Wenn die Sache mit dem Streit zwischen Irene Duncan und Talia Russel stimmte, dann konnte es auch sein, dass Duncan eventuell Russel besucht hatte, vielleicht, weil sie wirklich besorgt gewesen war. Dann war die Situation irgendwie eskaliert und es hatte eine Affekthandlung gegeben? Von allem, was sie gehört hatte, klang Duncan nicht nach einer gewalttätigen Person, aber sie hatte auch schon mit anderen eigentlich harmlos wirkenden Damen und Herren zu tun gehabt, die mit dem richtigen Trigger zur Furie werden konnten. Vorsichtig nippte sie an dem heißen Tee, während Watson noch immer auf das Gebäck sah. Kyra seufzte. „Hier.“ Damit gab sie ihm einen der Kekse, vorsichtig, dass er danach nicht wieder ihre Hand abschlabberte. Sie wollte immerhin Irene Duncan keine speicheltriefende Hand reichen. Watson tat mit einem kurzen, gedämpften Bellen und einem Schwanzwedeln seine Anerkennung der Geste kund, ehe er sich hinlegte und zusammen mit ihr zu warten schien. Schließlich, etwa acht Minuten später, hörte Kyra Schritte auf den Flur und eine junge Frau, die Kyra von den Fotos als Irene Duncan erkannte, trat in Begleitung ihrer Mutter in das Zimmer. Sie wirkte verweint und unausgeschlafen und kam nun mit unsicheren Schritten zu Kyra hinüber. „Sie sind die Detektivin“, stellte sie heiser fest. Kyra nickte und stand auf, um ihr die Hand zu geben. „Genau. Kyra Hare ist mein Name.“ Sie zögerte für einen Moment. „Es tut mir leid“, fügte sie dann hinzu. Das Mädchen nahm ihre Hand, ohne wirklich zuzudrücken, sah sie an und ließ sich dann mit einer fahrigen Bewegung auf das Sofa fallen. Noch immer stand ihre Mutter in der Tür des Wohnzimmers und zwang so Kyra dazu, sich ihr zuzuwenden. „Könnten Sie uns bitte für fünf Minuten allein lassen?“, bat sie betont freundlich. Auch die Mutter wirkte fahrig, als sie nickte. „Ja“, sagte sie nur wieder. „Ja. Natürlich.“ Noch einmal warf sie ihrer Tochter einen besorgten Blick zu und verließ dann, hörbar seufzend, den Raum. Nachdem die Tür geschlossen war, wandte sich Kyra Irene Duncan zu. „Es tut mir leid, dass ich Sie belästigen muss, Ms. Duncan“, sagte sie vorsichtig. „Ich bin beauftragt, mit allen Kolleginnen Ms. Russels zu sprechen. Verstehen Sie das bitte.“ Ein stummes Nicken war die Antwort. Irene Duncan trug einen labbrigen, grauen Jogginganzug, an dessen Ärmelenden Kyra feuchte Spuren erkennen konnte. Abgewischte Tränen, schloss sie. „Was wollen Sie wissen?“, fragte Irene schließlich heiser. Kyra holte ihren Notizblock hervor. „Eigentlich will ich nur wissen, wie Ihr verhältnis zu Ms. Russel war und ob Sie jemanden kennen, der vielleicht Probleme mit ihr gehabt hatte.“ Noch einmal nickte Irene, blieb aber wieder für einige Sekunden still. „Talia und ich waren nie Freunde“, sagte sie dann. „Wir waren auch keine Feinde oder so. Aber nie Freunde.“ Tränen quollen in ihren Augen hervor. „Sie war … Wählerisch was Freunde anging.“ Sie wischte sich die Tränen mit ihrem linken Ärmel fort. „Entschuldigen Sie.“ „Kein Problem“, meinte Kyra und wartete geduldig. „Ich meine“, begann Irene Duncan dann, doch ihre Stimme versagte ihr auf halben Weg, so dass sie schluckte und dann noch einmal begann: „Ich meine, Talia konnte fies sein, aber ich hatte nie etwas gegen sie. Verstehen Sie? Im Gegenteil … Ich fand es teilweise unfair, wie die anderen mit ihr umgegangen sind. Und jetzt …“ Sie schüttelte den Kopf, wischte sich erneut Tränen weg und sah dann für einige Sekunden aus dem Fenster. „Hätten Sie irgendeine Ahnung, wer ein Problem mit Ms. Russel gehabt haben könnte?“, fragte Kyra und spürte so etwas wie Mitleid in ihrer Brust. „Ja, natürlich“, flüsterte das Mädchen. Nun, Mädchen. Eigentlich war auch sie 23 Jahre alt, doch so verweint und das braune Haar unordentlich auf ihrem Kopf liegend, hatte sie wirklich etwas kindliches an sich. „Ich meine … Sie hatte mit so vielen Streit. So viele mochten Sie nicht … Aber deswegen würden sie sie doch nicht töten, oder?“ Ihre Stimme wurde bei den letzten Worten lauter. Watson gab ein leises Jaulen von sich und stand auf. Er sah zu Kyra und dann zu Irene Duncan. Wenn sie nur wüsste, was er ihr sagen wollte. Kyra seufzte. Es gab da noch eine Frage, die sie wohl oder übel stellen musste: „Ich habe gehört, dass Sie sich vor zwei Wochen ziemlich mit Ms. Russel gestritten haben.“ Ms. Duncan nickte. „Ja“, flüsterte sie dann. „Habe ich. Ich weiß gar nicht, wie es dazu gekommen ist.“ Ihre Stimme klang verzweifelt. „Talia war schon seit einer Weile so … Komisch. Sie hat immer so abwesend gewirkt und gar nicht konzentriert und ich habe mir Sorgen gemacht, dass irgendetwas nicht stimmt.“ Sie schüttelte den Kopf und holte nun ein bereits gebrauchtes Taschentuch aus ihrer Tasche hervor, um sich die Nase zu putzen. „Ich wollte mich gar nicht streiten, aber als sie mich abgewiesen hat, habe ich sie irgendwie noch mehr bedrängt. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht“, versicherte sie. „Und dann ist sie auf einmal wütend geworden und hat mich angeschrien. Und ich … Ich habe zurückgeschrien, weil es so unfair war und dann … Dann haben wir uns halt gestritten.“ Wie immer schrieb Kyra das mit. „Aber Sie müssen mir glauben“, sagte Ms. Duncan dann auf einmal, „ich war nicht wütend auf Talia. Nur auf mich selbst, dass ich sie so bedrängt habe. Das war nicht richtig. Aber ich habe mir doch Sorgen gemacht!“ Daraufhin nickte Kyra. Zu gerne hätte sie „Ich glaube Ihnen“ gesagt, doch sie wusste, dass sie das in dieser Situation vermeiden msuste. „Schon gut“, sagte sie stattdessen nur und tätschelte zurückhaltend die Hand des Mädchens. „Ich mache mir solche Vorwürfe“, brach es dann aus Irene Duncan hervor. „Was auch immer sie bedrückt hat, es hatte sicher damit zu tun! Vielleicht hatte sie einen Stalker oder jemand hat sie bedroht und sie jetzt umgebracht!“ Sie schüttelte den Kopf. „Hätte ich das ganze anders angegangen, hätte sie vielleicht geredet. Vielleicht mit einer ihrer Freundinnen. Und dann hätte man etwas tun können.“ Sie seufzte leise und sah Kyra verzweifelt an. „Ich meine, ich hätte es wissen müssen. Ich meine, ich kenne sie doch. Sie ist immer so stolz und dann wollte sie sicher nicht mehr …„ Nun begann Kyra sich zunehemnd unwohl zu fühlen. Sie biss sich auf die Unterlippe und wartete für einen Augenblick. „Seit wann war Ms. Russel denn so 'anders'?“, fragte sie. Ms. Duncan zögerte. „Ich weiß es nicht genau“, sagte sie dann kleinlaut. „Ich weiß es nicht. Seit … Etwa fünf Wochen? Aber vor etwas mehr als zwei Wochen ist es schlimmer geworden. Sie wirkte immer so als würde sie über etwas nachdenken. Und … Sie müssen wissen, Talia hat manchmal dumme Sachen gemacht. Wenn sie einmal etwas beschlossen hatte … Und ich dachte, vielleicht würde sie darüber denken, die Mannschaft zu wechseln oder so. Verstehen Sie?“ Kyra nickte nur höflich. „Deswegen … Aber vielleicht war es ja eben doch was anderes“, murmelte Ms. Duncan. „Vielleicht hatte sie darüber nachgedacht zur Polizei zu gehen oder so.“ Sie sah zu Kyra. „Was glauben Sie?“ Na, großartig. „Ich weiß es nicht“, erwiderte Kyra und fühlte sich schlecht. „Es tut mir leid.“ Noch einmal zögerte sie kurz. „Gab es irgendein besonderes Ereignis, nachdem das Verhalten von Ms. Russel sich verändert hat?“ Ms. Duncan schwieg und schien nachzudenken. „Ich weiß es nicht … Ich glaube … Es müsste nach der Geburtstagsfeier von Maia gewesen sein. Sie hatte die ganze Mannschaft eingeladen. Sie und Talia hatten sich dort auch ein wenig gestritten …“ Sie schien auf ihrer Zunge zu kauen, als sie nachdachte. „Ich weiß aber nicht wieso.“ Kyra nickte und tätschelte noch einmal die Hand. „Das soll die Polizei heraus …“ Herausfinden, hatte Kyra sagen wollten, doch genau in diesem Moment schellte die melodische Türklingel durch das Haus und ließ sie innehalten. Sie sah zur Tür und wartete. Wieder erklangen die Schritte von Mrs. Duncan und dann hörte Kyra Stimmen aus der Diele, jedoch zu gedämpft, um Worte auszumachen. Der Blick von Irene Duncan wirkte verschreckt, doch sie stand langsam auf. „Entschuldigen Sie mich“, murmelte sie leise und ging zur Tür hinüber. Kyra folgte ihr. Sie hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Als sie zur des Wohnzimmers kam, die Irene gerade geöffnet hatte, konnte sie zwei Polizisten in der Tür sehen. Einer von ihnen war – und das überraschte Kyra schon beinahe etwas – Sutherland. Sie ahnte, was es hieß, doch selbst dann war es unüblich, dass Sutherland selbst hier war. Nun sah Sutherland zu Irene hinüber. „Sie sind Irene Duncan?“, fragte er und musterte sie. Dann bemerkte er Kyra. „Ah, sie sind auch hier, Ms. Hare.“ Kyra nickte nur. „Ja“, beantwortete Irene Duncan derweil seine Frage zurückhaltend und sah eingeschüchtert zu ihm hinüber. „Ich muss Sie bitten, mit mir mitzukommen“, sagte der Inspektor. „Sie stehen unter Verdacht, Talia Russel ermordet zu haben.“ Kyra wusste, dass sie neutral bleiben sollte. Doch in diesem Moment sah sie ihn genau so schockiert an, wie es auch Mrs. Duncen tat. Positiv war zu bemerkte, dass Reilly sein „Versprechen“ offenbar doch nicht eingehalten hatte, Kyras Fehlverhalten bei der Polizei zu melden. Negativ jedoch war, dass Kyra ein furchtbares Gefühl in der Magengegend hatte. Sie hatte mit Sutherland gesprochen und von ihm erfahren, dass am Tatort Führerschein von Irene gefunden worden war. Außerdem hatte man daraufhin festgestellt, dass das Messer, das irgendwo in der Küche Russels gefunden worden war, zu einem Set gehörte, dass auch Duncan besaß. Ein Messerblock. Offenbar hatte es bereits eine Durchsuchung von Duncans Wohnung am Morgen gegeben, schloss Kyra, nach allem was sie hörte, denn Sutherland deutete an, dass ausgerechnet das Messer, was man gefunden hatte, aus Duncans Block gefehlt hatte. Natürlich konnte Kyra nicht mit aufs Revier kommen. Um genau zu sein, war alles, was sie tun konnte, anzumerken, dass sie kein gutes Motiv auf der Seite Duncans für einen Mord sah. Schon gar nicht für einen berechneten Mord und ein Messer von ihrer Küche mit zu Russel zu nehmen, sprach für Berechnung. Sicher, sie konnte nicht ausschließen, dass das Mädchen im Affekt etwas dummes getan hatte, doch war sie sich sicher, dass sie in diesem Fall ein Messer aus Russels Küche genommen hätte. Ganz so, sagte sie es jedoch nicht. Sutherland wirkte unsicher, sagte ihr am Ende jedoch nur, sie solle einfach ihren Bericht abgeben. Also fuhr Kyra am Ende missmutig nach Hause und verbrachte die Zeit, bis zu ihrem Treffen mit Aitken damit, ihren Tagesbericht zusammen zu tippen. Beweise hin oder her. Das ganze wirkte ein wenig zu passend. Wer würde bitte seinen Führerschein am Tatort verlieren. Zur Hölle, wenn Duncan wirklich dort gewesen war: Was für einen Grund hätte sie haben sollen, ihren Führerschein hervor zu holen?! Das schrie doch nach gefälschten und absichtlich dort gelassenen Beweisen. Wahrscheinlich wusste das Sutherland auch, aber es gab Protokolle, denen er folgen musste. Kyra war nicht an Kontrolle gebunden. Sehr wohl aber an das Gesetz. Ja, sie wusste, wenn sie jetzt einen Fehler machte, konnte das dem eigentlichen Täter zu gute kommen, aber verdammt noch mal, sie wollte das ganze nicht so stehen lassen. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Irene Duncan unschuldig war. Ihr Bauchgefühl sagte ihr auch, dass MacKey, Kerr und Reilly viel eher etwas damit zu tun hatten. Jedoch war es eben nur ihr Bauchgefühl, was kaum als Beweis reichen musste. Also brauchte sie etwas konkretes. Einen Beweis. Irgendetwas, dass die drei damit in Verbindung brachte. Eine Aussage von einem der drei würde natürlich auch reichen. Zumindest für den Anfang. Danach sollte sich dann die Staatsanwaltschaft oder wer auch immer drum kümmern. Ha ha. Wenn sie wirklich das ganze so gut vorbereitet hatten, wie es schien, hatten sie sich auch perfekte Alibis besorgt. Natürlich hatten sie das. Aber das einzige, was sie soweit dagegen tun konnte, war, zu sehen, ob einer der drei gegen die anderen beiden aussagte. Und genau deswegen fuhr sie am Abend – wie mit Aitken verabredet – zu der Wohnung in der Madleine MacKey und ihr Mitbewohner lebten. Immerhin hatte MacKey so gewirkt, als wäre sie nicht ganz freiwillig bei was auch immer dabei. Nun, mal sehen, was sie sagte. Sie zählte die Hausnummern, ehe sie endlich das Apartmentgebäude fand, in dem MacKey lebte. Etwa zwei Minuten später hatte sie auch einen Parkplatz gefunden und war zusammen mit Watson auf dem Weg zurück zu dem Haus. Da es später Oktober war, war die Sonne mittlerweile untergegangen und Kyra suchte im Licht der Eingangsleuchte nach der richtigen Klingel. Watson hob ein Ohr und auch Kyra kam es für einen Moment so vor, als hätte sie etwas gehört. Sie lauschte. Irgendetwas war da. Stimmen, die zu streiten schienen, meinte sie, aber genaueres konnte sie nicht hören. Nun, sie würde sehen. Sie zögerte. War Aitken schon da? Es wäre besser auf sie zu warten, wenn nicht. Immerhin kannte MacKey sie, Kyra, ja nicht. Sie sah auf ihr Handy. Es war etwa fünf vor Sechs. Also vielleicht sollte sie noch warten. Oder … Ach, sie konnte einfach versuchten Aitken anzurufen. Wenn sie im Wagen war, würde diese wahrscheinlich nicht dran gehen, wenn sie aber schon da war … Sie wählte die Nummer und war überrascht, das Aitken bereits nach dem ersten Klingeln dran ging. „Ms. Hare?“ Dabei klang sie leicht außer Atem. „Ja“, erwiderte Kyra. „Ich bin jetzt bei MacKeys Haus. Wo …“ Weiter kam sie nicht, da Aitken sie unterbrach. „Moment. Ich buzz dich rein.“ Und tatsächlich erklang etwa drei Sekunden später der Buzzer und Kyra betrat das Treppenhaus. „Zweite Etage“, sagte Aitken und Kyra hörte ihre Stimme durchs Treppenhaus echoen, ehe sie auflegte. Nun gut. Hier waren sie. Vorsichtig sah sie zu Watson, der Aufmerksam, aber nicht über die Maßen angespannt wirkte. Dann sollte sie wohl sehen, was da oben los war. Denn ein Gefühl sagte ihr, dass bereits etwas los war. Vier Treppen später kam sie auf einen Absatz, von dem zwei Türen abgingen. Aitken stand in der einen, der schmale Flur hinter ihr von Licht geflutet. „Hey“, meinte sie mit angespannten Gesicht und nicht ohne leichte Wut in der Stimme. Kyra hob eine Augenbraue. „Hey“, erwiderte sie dann vorsichtig. „Hast du schon mit MacKey gesprochen?“ „Nein.“ Aitken trat zur Seite, um sie reinzulassen und schlug dann – mit weit mehr Kraft als notwendig – die Tür zu. „Sie will einfach nicht mit mir reden!“ Damit ging sie zu einer der vier Türen, die vom Flur abführten, und begann an diese zu hämmern. „Komm jetzt endlich daraus, Madleine! Die Detektivin ist da! Die kann dir helfen!“ Großartig, kommentierte Kyra in Gedanken. Einfach nur großartig. Ihr Gehirn rekonstruierte, was sich hier seit Aitkens Auftauchen abgespielt haben musste. Ganz offenbar war MacKey alleine hier gewesen und Aitken hatte sie offen konfrontiert. Und wahrscheinlich hatte MacKey sich daraufhin in ihrem Zimmer eingeschlossen – etwas, das Kyra durchaus verstehen konnte, wenn sie die kalte Wut in Aitkens Gesicht sah. Doch auf der anderen Seite: Ihre beste Freundin war erstochen worden, also vielleicht hatte sie ohnehin schon seit einer Weile für ein Ventil für diese Wut gesucht. „Madleine! Mach endlich auf!“, brüllte sie nun. Eine brüchige Stimme antwortete aus dem Zimmer: „Geht weg.“ Ein halb ersticktes Schluchzen. „Das geht euch nichts an!“ „Du bist eine Kollegin also geht uns das was an!“, erwiderte Aitken laut und erneut gegen die Tür hämmernd. „Wenn es etwas mit Talias Tod zu tun hat umso mehr!“ „Geht weg!“, war nur wieder die Antwort. Aitken schnaubte. „Verflucht noch mal, Madleine! Mach diese verdammte Tür auf oder ich mache sie auf!“ Sie trat einen Schritt zurück, ganz so als wolle sie Anlauf nehmen. „Lass mich einfach in Ruhe!“, schluchzte es hinter der weißen Zimmertür hervor. „Erst wenn du mir verflixt noch mal sagst, wer Talia umgebracht hat!“, schrie Aitken. „Ich zähle jetzt bis drei und …“ Kyra legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ruhig“, sagte sie, auch wenn sie wenig Hoffnung hatte, dass es etwas brachte. „Ms. Aitken, bitte. Mit Gewalt können sie hier nichts erreichen.“ „Ich kann's versuchen“, grummelte Aitken und wollte an ihr vorbei zur Tür. „Bitte“, erwiderte Kyra, halb verzweifelt, und hielt ihr entgegen. Sie überlegte kurz, ehe sie sich entschloss, auf eine persönlichere Ebene zu wechseln. „Lass mich mit ihr reden, Charleigh. Lass es mich versuchen, ja?“ Aitken schien die Zähne zu fletschen, doch am Ende verschränkte sie nur die Arme und zeigte ein kurzes, missmutiges Nicken, ehe sie sich an die gegenüberliegende Wand in dem nicht allzu breiten Flur lehnte. Erleichtert seufzte Kyra, ehe sie sich an die Tür stellte und ihrerseits leicht klopfte. „Ms. MacKey, sind Sie da drin?“ Natürlich war es eine dumme Frage, da sie es bereits wusste. Jedoch erschien es ihr als halbwegs höflich. Keine Antwort. Nur ein leises Schluchzen war zu hören. Watson wimmerte leicht, so als würde ihm diese Situation ebenfalls so gar nicht gefallen. Also holte Kyra tief Luft und klopfte noch einmal. „Ms. MacKey? Machen Sie bitte auf. Wir wollen Ihnen nur helfen.“ Weiteres Schluchzen, ehe eine leise Stimme erwiderte: „Das könnt Ihr nicht.“ Nur schwerlich unterdrückte Kyra ein genervtes Seufzen und biss sie kurz auf ihre Unterlippe, um sich zu beruhigen. „So kommst du nicht weiter“, meinte Aitken harsch und wollte wieder auf die Tür zugehen, doch Kyra bat sie mit einer knappen Geste noch zu warten. „Ich bitte Sie, Ms. MacKey“, sagte sie erneut. „Lassen Sie uns reden. Wenn Sie etwas wissen, dann können Sie nur helfen – uns, der Polizei und auch sich selbst. Wenn es sie beruhigt: Ich glaube nicht, dass sie direkt in den Mord von Ms. Russel verwickelt waren, aber ich glaube, dass Sie dennoch mehr darüber wissen, was vorgefallen ist und das jemand sie erpresst.“ Okay, der Teil war nur geraten, aber sie wollte – auch wenn es vielleicht so nicht unbedingt professionell war – nicht den Anschein erregen, MacKey zu beschuldigen. „Also reden Sie bitte mit uns.“ Wieder waren Schweigen und ein unterdrücktes Schluchzen ihre einzige Antwort. Nun drehte sie sich zu Aitken, Charleigh, um. „Versuch du es noch einmal. Aber vielleicht … Ein bisschen weniger zornig und gewaltsam.“ „Aber sie …“, begann Aitken. „Sie ist vielleicht auch nur ein Opfer und verängstigt“, meinte Kyra. „Und wenn es so ist, wollen wir ihr nicht noch mehr Angst einjagen, oder?“ Für einige Sekunden musterte Charleigh sie, dann holte sie tief Luft und ließ die Schultern etwas hängen. „In Ordnung“, stimmte sie dann – sehr langsam – zu. Sie trat erneut vor die Tür und atmete noch einmal, zwei Mal tief ein und aus, ehe sie die Stimme wieder erhob. „Madleine?“ Natürlich gab es wieder keine Antwort. „Madleine?“, fragte Charleigh noch einmal. Es schien sie einige Anstrengung zu kosten, ruhig zu bleiben und Kyra konnte sehen, wie ihre Hände leicht zitterten. „Hör' mal. Wir wollen dir wirklich helfen, ja? Also bitte rede mit uns.“ „Ihr könnt mir nicht helfen“, erwiderte MacKey kleinlaut von der anderen Seite der Tür. „Woher willst du das wissen?“ Trotz ihrer augenscheinlichen Mühen schwang noch immer etwas Wut, aber auch Verzweiflung in Charleighs Stimme mit. Keine Antwort. Ratlos sah Charleigh zu Kyra mit einer unausgesprochenen Aufforderung, noch etwas zu sagen. Kyra brauchte einen Moment um ihre Gedanken zu ordnen. Sie konnte relativ deutlich sagen, dass jemand MacKey bedroht hatte, auch wenn sie sich nicht sicher war, womit. Sie seufzte. „Ms. MacKey“, begann sie und stellte eine Vermutung an. „Wenn Sie etwas darüber wissen und vom eigentlichen Täter bedroht werden, gibt es Dinge, die die Polizei tun kann, um Sie zu beschützen. Sie müssen uns da vertrauen. Hören Sie?“ Als erneut nur Schweigen herrschte, fuhr sie fort. „Wenn Sie uns nicht helfen, könnten noch andere Leute zu schaden kommen und das wissen Sie.“ Kurz zögerte sie, ehe sie noch eine wesentlich größere Vermutung anstellte. „Vielleicht sogar andere Mitglieder ihrer Mannschaft. Freunde von Ihnen sogar!“ Fragend sah Charleigh sie an, doch Kyra zuckte nur mit den Schultern. Das ganze war kaum mehr als ein Bluff. Sie versuchte zu erraten, was hier vor sich ging und es konnte sehr gut sein, dass sie meilenweit daneben lag. Dies schien auch Charleigh zu verstehen, spielte nun aber mit. „Genau. Komm, Madleine. Bitte. Ich will nicht, dass sowas noch jemanden anderen passiert! Ich will wissen, was mit Talia passiert ist, und ich will dir auch wirklich, wirklich helfen!“ Sie klopfte noch einmal gegen die Tür und nun klang doch wieder Verzweiflung in ihrer Stimme mit. „Bitte, Madleine.“ Und wieder herrschte Stille, doch am Ende hörten sie ein Scharren, offenbar von einem Stuhl oder dergleichen, der zur Seite geschoben wurde. Dann wurde der Schlüssel in der Tür umgedrehte und wenige Sekunden später stand eine vollkommen verweinte Madleine, in T-Shirt und Leggins gekleidet, vor ihnen. Für einige Sekunden stand sie da, während Kyra und offenbar auch Charleigh absolut unschlüssig waren, was sie tun sollten. Dann machte Watson einen Schritt nach vorn und quetschte sich an Charleigh vorbei zu MacKey, um ihre Hand zu lecken. Als sie nicht zurückschreckte, stellte er sich auf seine Hinterbeine und schleckte ihr zwei Mal über das Gesicht, was ihr zumindest kurzzeitig so etwas wie ein mattes Lächeln entlockte. Sie hockte sich vor ihn und vergrub am Ende ihr Gesicht im Fell des Hundes – eine Geste die Kyra nur zu gut nachvollziehen konnte. Watson hatte einfach die besten Schultern zum Ausheulen. Für einen Moment hielt sie Inne, ehe sie meinte: „Wenn Sie nichts dagegen haben, mache ich Ihnen einen Tee.“ Dabei konnte sie nur hoffen, dass es in diesem Haushalt Tee gab. Immerhin sollte es sogar Briten geben, die keinen Tee im Haus hatten. Blasphemie. Sie meinte, ein Nicken von MacKey zu sehen, was sie als „Okay“ interpretierte und die Tür am Ende des Flurs probierte, in der Hoffnung dahinter die Küche zu finden. Es war das Klo, doch mit der Tür zu ihrer rechten lag sie schließlich korrekt. Sie fand einen Wasserkocher und – dankbarer Weise – auch Tee. Die Küche war ausgesprochen klein, mit der gesamten Arbeitsfläche auf der einen Seite und nur einem kleinen Tisch auf der anderen, direkt unter einem Fenster. Es gab auch nur zwei Stühle. Sie brühte den Tee auf und gab nach einer kurzen Überlegung eine ordentliche Portion Honig dazu. Sie war kein großer Fan von Honig – schon gar nicht in ihrem Tee – doch hatte sie einmal gehört, dass Honig eine beruhigende Wirkung haben konnte. Also war es einen Versuch wert, oder? Als sie fertig war, kam schließlich auch MacKey in Begleitung von Charleigh und Watson in die Küche. Charleigh manövrierte das andere Mädchen auf den Stuhl und hockte sich dann neben sie, während Watson einmal wieder den Kopf in den Schoß des Mädchens legte und sich bereitwillig streicheln ließ. Kyra stellte MacKey einen Pott Tee hin, ehe sie sich nach kurzem Zögern ihr gegenüber auf den anderen Stuhl setzte. Sie wartete eine Weile, dass das Mädchen etwas trank, ehe sie schließlich fragte: „Ms. MacKey?“ Langsam nickte MacKey und stellte den Pott ab. Sie sah weder Kyra, noch Charleigh direkt an, sondern versuchte sich erst auf die Augen des Hundes zu konzentrieren, ehe sie aus dem Fenster sah. „Es war Marcel“, flüsterte sie schließlich leise. „Was?“, fragte Charleigh und machte Anstalten aufzustehen, hielt aber inne, als Kyra den Kopf schüttelte. Eine ganze Weile herrschte Schweigen, ehe MacKey sagte. „Zumindest … Glaube ich das.“ Erneutes Schweigen, das Kyra schließlich mit einer vorsichtigen Nachfrage beendete: „Warum glauben Sie das?“ Mit glasigen Augen und noch immer weinend, sah MacKey aus dem Fenster. Wahrscheinlich unbewusst schlang sie ihre Arme um sich. „Er … Er und Maia wollten, dass sie bei uns mitmacht. Also Talia.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Er und Maia … Haben irgendwas am laufen. Schon eine Weile. Ich glaube … Ich glaube für Maia ist es mehr, aber für Marcel … Er hat angefangen mich zu erpressen.“ Sie hob ein Bein, um es an sich heran zu ziehen und wischte sich abwesend die Augen. Kyra wie sich Charleighs Blick bei diesen Worten immer weiter verdunkelte. „Hat das Arsch dich etwa vergewaltigt?“ Wieder biss Kyra sich auf die Unterlippe. Das war nicht die beste Frage gewesen und es überraschte sie nicht, dass MacKey nicht antwortete. Einige Sekunden vergingen, ehe Kyra eine andere Frage stellte: „Womit hat er sie erpresst?“ MacKey sah weiter aus dem Fenster. Ein leichtes Schluchzen durchlief ihren Körper. „Er hat gedroht, mich aus der Mannschaft zu werfen.“ „Aber das kann er nicht so einfach!“, protestierte Charleigh und wollte sie an der Schulter greifen, um sie zu zwingen, sie anzusehen, doch MacKey zuckte zusammen. „Das kann er“, flüsterte sie. „Er weiß Dinge … Damit könnte er das.“ „Aber was …“, begann Charleigh, hielt dann aber inne. Als MacKey nicht wieder sprach, setzte Kyra mit einer Vermutung an: „Er hatte auch irgendetwas über Talia Russel herausgefunden und hatte sie erpressen wollen, ebenfalls“ – sie zögerte kurz – „Sex mit ihm zu haben?“ „Mit ihm und Maia“, kam die sehr leise Antwort. „Aber Ms. Russel hat das nicht mit sich machen lassen“, schloss Kyra. „Natürlich nicht!“, unterbrach Charleigh sie wütend. „So etwas würde sie nicht tun.“ Auch MacKey nickte leicht. „Ja. Sie … Ich habe nicht alles mitbekommen. Aber sie hat gewusst, was er macht und hat wiederum ihn damit erpresst, dass er, Maia und ich … Dass wir …“ Sie führte den Satz nicht zu Ende. Fuck. Das war auf gewisse Weise weit düsterer, als erwartet. Vielleicht war Kyra gegenüber Morden auch nur dank zu vielen Krimis abgestumpft worden. Sie wusste nicht, was sie dazu groß sagen sollte. Das Mädchen brauchte mehr als nur eine Schulter zum Ausheulen, aber das war etwas, womit sie nicht würde helfen können. Da war allerdings noch etwas anderes, dass ihr durch den Kopf ging: Wenn Talia Russel wirklich gewusst hatte, was vor sich ging, und nichts getan hatte, dann war sie doch eine ziemlich Bitch gewesen – jedenfalls wenn man Kyra fragte. Sie behielt den Gedanken allerdings für sich. „Und deswegen hat Marcel Talia umgebracht?“, fragte Charleigh. MacKey schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Vielleicht … Vielleicht auch Maia. Ich glaub', sie hat Gefühle für ihn. Für Marcel. Er erpresst sie auch, glaube ich. Aber sie würde auch so …“ Sie schluchzte. „Sie war sauer auf mich, wenn ich …“, flüsterte sie. „Wenn ich … Nicht wollte. Sie hat mich bedroht. Und ich glaub', sie war eifersüchtig auf Talia.“ Wieder vergingen zwei, drei Sekunden, in denen niemand etwas sagte. Dann richtete Charleigh sich auf. „Okay, es reicht“, verkündigte sie. „Ich fahre jetzt zu Marcel!“ Kyra sah sie mindestens genau so überrascht und schockiert an, wie es MacKey tat. Doch während sie noch die junge Frau anstarrte, die sich nun auf dem Absatz umdrehte und in Richtung der Wohnungstür losmarschierte, sprang MacKey auf und hielt sie am Arm fest. „Bitte, warte!“, rief sie verzweifelt aus. „Das darfst du nicht! Wenn du das tust, dann … Dann …“ „Dann schlag' ich ihm die Fresse ein“, erwiderte Charleigh nur wütend und – wie Kyra feststellte – ebenfalls mit einigen Tränen in den Augen. „Das Arsch hat Talia umgebracht und wenn ich mit ihm fertig bin, fahre ich zu Maia!“ „Die bringen mich um!“, erwiderte MacKey. Okay, die Situation war am eskalieren. Und Kyra war nicht gut darin, so etwas zu deeskalieren. Auch sie stand auf. „Können wir nicht erst in Ruhe darüber reden?“ „Ich habe keine Lust mehr auf reden“, schrie Charleigh und fuhr zu ihr herum. „Wenn das stimmt, dann hat der Bastard Talia auf dem Gewissen, hat sie vergewaltigen wollen und hat Madleine wirklich vergewaltigt!“ „Weshalb ich Inspector Sutherland anrufen sollte“, erwiderte Kyra. „Wir überlassen das der Polizei.“ „Nicht die Polizei!“, warf MacKey verzweifelt ein. „Ich kann nicht zur Polizei gehen!“ Kyra bemühte sich ihrer Stimme Ruhe zu verleihen – und scheiterte. „Warum nicht?“ MacKey wurde wieder klein und zog sich unbewusst ein Stück zur nächsten Wand zurück. „Warum nicht?“, wiederholte Kyra voller Anspannung. Wieder wich MacKey ihrem und auch Charleighs Blick aus. Sie stand mit dem Rücken zur Wand und noch immer liefen Tränen über ihre Wange. Schließlich flüsterte sie: „Als ich noch in der U20 war … Ich hatte ein paar Probleme und hab … Na ja … Marcel hat herausgefunden, dass ich … Dass ich gepusht habe.“ Sie verstummte für einige Sekunden. „Wenn das herauskommt, fliege ich nicht nur aus der Mannschaft, sondern kriege auch noch Probleme mit der Polizei.“ Verzweifelt sah sie die beiden an. „Deswegen können wir deswegen nicht zur Polizei gehen!“ Einige Sekunden vergingen, ehe Kyra verstand, was sie genau sagen wollte, doch während sich noch in ihr Unverständnis ausbreitete, machte Charleigh ihrer Wut bereits Luft: „Und deswegen soll das Arschloch weiter frei herum laufen? Ernsthaft, Madleine!“ Sie machte einen Schritt auf sie zu und packte Madleine an der Schulter. „Der Typ hat Talia umgebracht!“, fuhr sie das verstörte Mädchen an. „Und du willst ihn davonkommen lassen, um deine Karriere zu retten?“ „Ich …“ MacKey wich ihrem Blick weiter aus. Sie hatte mittlerweile ihren Körper gänzlich an die weiß tapezierte Wand gedrückt und wirkte, als wäre sie am liebsten mit dieser verschmolzen. „Du?“, fragte Charleigh gereizt. „Was?!“ Die Kiefer fest zusammengedrückt, sah Kyra zu den beiden hinüber. So würden sie nicht weiter kommen. Also, was sollte sie tun? An sich konnte sie Charleighs Reaktion irgendwo verstehen – aber hey, wieso sollte sie über all das urteilen? Sie hatte ihre Meinung und würde diese für sich behalten. Wenn irgendetwas, dann würde sie dafür Sorgen, dass dieser Mord auch von Seiten der Polizei aufgeklärt wurde und Marcel und wer auch immer sonst noch daran beteiligt war, vor Gericht kommen würde. „Ich …“, setzte MacKey erneut an und sprach doch wieder nicht weiter. Kyra trat vor und legte eine Hand auf Charleighs Schulter. „Beruhige dich. Wir sollten jetzt andere Prioritäten haben.“ Zumindest drehte sich Charleigh zu ihr um, noch immer mit Tränen der Wut und Verzweiflung in den Augen. „Die da wären?“, zischte sie. Ja, eine ausgezeichnete Frage. „Ähm.“ Ohne Beweise konnte sie nicht zur Polizei. Gut, sie und Charleigh hatten die Aussage MacKeys gehört, doch sie vermochte nicht zu sagen, ob man ihnen glauben würde, wenn MacKey die Aussage verweigerte. „Wir könnten Mr. Reilly, also Marcel, konfrontieren?“, schlug sie schließlich unsicher vor. Sie wusste, dass es am Ende zu demselben Problem führen würde, denn auch wenn Reilly ihnen gegenüber etwas zugab, brachte es ihnen nichts, solange sie es nicht aufnahm – und das war technisch gesehen ohne entsprechenden richterlichen Beschluss illegal. „Gern“, meinte Charleigh mit Verachtung in der Stimme. Kyra seufzte. „Wenn möglich ohne Gewalt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)