Seelenkrank von MarryDeLioncourt ================================================================================ Kapitel 5: Großstadtträume -------------------------- Im selben Jahr, kurz vor Beginn des neuen Schuljahres. Nach einer letzten Party im Sommer wollten Nici und ihre Familie in die Stadt ziehen, doch was sie dort alles erwartete, hätte sie sich sicher nicht mal in ihren kühnsten Träumen ausgemalt.   Diesen Sommer wollten Nici und ihre Eltern umziehen, da ihr Vater seine eigene Praxis als Psychologe eröffnete. Deshalb waren die letzten Wochen sehr stressig, denn viele Vorbereitungen mussten getroffen werden. Doch jetzt war die neue Praxis eingerichtet. Nici sah diesem Ereignis mit gemischten Gefühlen entgegen, denn einerseits musste sie alle ihre Freunde zurücklassen und andererseits hoffte sie in der Stadt vielleicht ein bisschen mehr von der Gothicszene kennenzulernen. Hier auf dem Dorf gab es zwar auch den einen oder anderen, der Metallica, The Cure oder Nightwish hörte, aber das waren Bands, die auch fast jeder kannte, ohne zu wissen, dass zwei davon bekannte Gothicbands sind. Nici wusste sehr viel über die Szene, aber sie kannte eben kaum jemanden, der auch ein richtiger Goth war, außer ihrer Freundin Nadine und deshalb hoffte sie in Berlin mehr von dieser Szene kennenzulernen. Als sich die Sommerferien dem Ende neigten, gab Nici noch eine kleine Abschlussparty für ihre Freunde. Die Stimmung war etwas gedrückt, weil ihnen der Abschied voneinander sehr schwer fiel. Der Höhepunkt an diesem Abend jedoch war, als ihr Freund Mark, mit dem sie an diesem Tag genau ein halbes Jahr zusammen gewesen wäre, mit ihr Schluss machte. Das traf das junge Mädchen ganz schön hart und somit war die Party gelaufen. „Bist du nicht auch der Meinung, dass eine Fernbeziehung nichts bringt?“ Nici war total in Rage. „Jetzt habe ich wenigstens einen Grund mehr, mich zu freuen, dass ich wegziehe! Berlin liegt ja auch so weit von Hennigsdorf entfernt, aber egal!“, bemerkte sie ironisch. Sie konnte nicht mal heulen. Ihre Freundin versuchte sie noch zu trösten, doch Nici blockte total ab. Wütend und enttäuscht verließ den Sportplatz und ging nach Hause. Am Morgen wollten sie ohnehin in die neue Wohnung fahren. Als Nicis Mutter fragte, was los sei, machte sie ihr deutlich, dass sie nicht darüber reden wolle. Das verstand sie. Nici konnte mit ihr immer und über alles reden. Manchmal war ihre Mum auch so eine Art Freundin. Sie fand es toll wie ihre Tochter sich kleidete und ab und zu saßen sie in Nicis Zimmer, hörten meine Musik und redeten. Die Koffer waren alle gepackt. Der Transporter, der einige von den Möbeln mitnehmen sollte, war für morgen neun Uhr bestellt. In der Stadt zog Nicis Familie in das Haus ihrer Oma. Es war das Geburtshaus ihres Vaters und befand sich ein bisschen außerhalb von der Innenstadt. In der Nähe des Hauses lag ein größerer Park. Immer noch traurig setzte sich das Mädchen auf‘s Sofa ihres leeren Zimmer, denn die Möbel nahm sie fast alle mit, außer der Couch, auf der sie auch diese Nacht schlafen würde. Wenn sie denn schlafen konnte. Plötzlich klingelte es an der Tür und dann kamen noch zwei von Nicis besten Freundinnen ins Zimmer gestürmt. „Hey, was war denn vorhin mit dir los? Alle haben sich gefragt, warum du so schnell verschwunden bist!“ „Ach, es war wegen Mark. Er hat mich abgeschossen, weil er keine Fernbeziehung will!“ In ihrer Stimme lag immer noch ein bitterer Unterton. „Aber bis in die Stadt sind es doch nur 30 Minuten“, sagte meine Nadine leicht erzürnt. Ich zuckte mit den Schultern. „Das habe ich ihm ja auch gesagt, aber wahrscheinlich hatte er das schon länger geplant. Ich denke, dass er nicht damit klargekommen ist, dass ich Goth bin und nicht wie er. Aber ist ja jetzt auch egal, morgen bin ich sowieso weg. Um euch tut es mir zwar leid, aber ich bin auch froh, dass ich Mark jetzt nicht mehr sehen muss.“ Die Freundinnen zeigten Verständnis. Sie beschlossen noch ein Glas Sekt zu trinken und dann verabschiedeten sich die beiden von Nici. Auf einmal fühlte sie sich einsam und bekam irgendwie Angst. Was war, wenn sie überhaupt keinen Anschluss in der Stadt finden würde? Nici bekam auch Bauchschmerzen, wenn sie an ihre neue Schule dachte. Zu Beginn der Ferien hatte sie die neue Schule zwar zusammen mit ihrer Mutter besucht, um sich für das kommende Schuljahr anzumelden und die Direktorin erweckte auch einen guten Eindruck, aber was war, wenn sie keiner aus der Klasse leiden konnte? Das war fast ihr letzter Gedanke, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel. „Nici! Aufwachen, wir wollen doch los!“ Ihre Mutter rüttelte Nici sanft wach. „Ja, ja, ich stehe ja schon auf!“, gab sie ihr etwas genervt zur Antwort. Es war halb acht, viel zu früh für jemanden, der erst um zwei zum Schlafen gekommen ist. Mit zerknautschten Gesicht und verwuschelten Haaren schlurfte sie ins Bad, duschte und kämmte ihr langes rotes Haare. Anschließend tuschte sie noch ihre Wimpern. Ihre Mutter hatte ein schnelles Frühstück zubereitet, nur Tost, Marmelade und Kaffee. „Willst du mir jetzt vielleicht erzählen, was gestern vorgefallen ist?“ Das Mädchen schüttelte betrübt mit dem Kopf. Außerdem war sie noch viel zu müde, um mit jemandem ernsthafte Gespräche zu führen. „Später vielleicht.“ Im Auto sah Nici die idyllische Kleinstadt mit den sorgfältig angelegten Vorgärten an sich vorbeiziehen. Bloß weg von diesem Ort hier. Weg von Mark, diesem Arsch.  Der erste Schultag begann mit dem nervtötenden Klingeln von Nicis Weckers sechs Uhr morgens. Sie war es gar nicht gewohnt in die Schule zu laufen, denn in ihrem alten Wohnort fuhren wir immer mit dem Bus. Als sie die Küche betrat, stand das Frühstück noch auf dem Tisch und ein Zettel von ihrer Mutter lag dabei. „Liebe Nici, ich hoffe, dein erster Tag in der neuen Schule wird ein voller Erfolg. Papa und ich kommen heute später nach Hause. Essen ist noch im Kühlschrank, falls du nach der Schule Hunger bekommst! Bis bald, Mama!“ „Typisch meine Mum“, dachte Nici bei sich und lächelte. So, nun musste sie aber wirklich los, sonst würde sie noch zu spät kommen und dass ist am ersten Schultag ziemlich schlecht. Was würden da die Lehrer von ihr denken! Da ihre neue Schule nicht sehr weit von zu Hause entfernt war, musste sie nicht hetzen. Doch als Nici dann vor dem großen Schulgebäude stand, bekam sie schon ein bisschen Bauchkribbeln. Wie waren ihre neuen Mitschüler wohl so drauf? Sie drängelte sich durch die Schülerscharen, nicht ohne ein paar Mal angerempelt zu werden. An der Eingangstür erwartete sie wahrscheinlich schon ihr Klassenlehrer, denn er fuchtelte hektisch mit den Händen, als er den Rotschopf erblickte. Er begrüßte das zurückhaltende Mädchen mit einem freundlichen Händeschütteln. Anschließend begleitete er sie in den Unterrichtsraum. Als Nici eintrat, nahm sie erst keiner der anderen Schüler wahr. Doch dann kam ein Mädchen auf sie zu und bot ihr den freien Platz neben sich an, worüber Nici sehr froh war, denn sie hatte echt keine Lust sich neben irgend so einen Spinner zu platzieren. Das Mädchen war ein Stück größer als sie selbst und hatte schwarze kürzere Haare. Sie trug modische Klamotten. Das hellblaue Oberteil betonte ihre Oberweite und den flachen Bauch. Ihre Jeans war leicht ausgewaschen, jedoch nicht irgendwie schlumprig. Sie war geschminkt, aber nicht übertrieben. Im Großen und Ganzen war sie recht hübsch. Der erste Tag verging schnell. Die Lehrer als auch die Mitschüler gingen sehr freundlich mit Nici um. Es war alles gar nicht so schlimm, wie sie es erwartet hatte. Das Mädchen hieß im übrigen Nadja und die Mädchen verstanden sich richtig prima. Nadja fragte Nici alles Mögliche, wo sie herkommt, wie es war in einem Dorf zu leben und ob sie Schiss vor dem heutigen Tag hatte. Als die Schule vorbei war, lud Nadja Nici noch zu sich nach Hause ein. Sie hatte eine unheimlich tolle Wohnung, die aus zwei Etagen bestand. Alles war sehr modern und eher in einem hellen Farbstil eingerichtet. „Mein Vater ist Anwalt und meine Mutter Zahnärztin. Sie versuchen mir auch fast jeden Wunsch zu erfüllen und sind oft sehr fürsorglich, aber manchmal können die auch ganz schön nervig sein. Sie halten mich echt noch für das kleine Mädchen und das ist irgendwie blöd. Es ist zwar oft nicht schlecht, wenn du bekommst, was du willst, aber auch voll ätzend, wenn du dir jeden Tag denselben Schwachsinn anhören musst. Was du alles nicht machen sollst! Kennst du ja sicher auch. Aber ansonsten sind meine Eltern ziemlich okay. Wie ist es bei dir so?“ Nici hörte Nadja unheimlich gern zu, wenn sie so erzählte. Sie hatte dabei immer so eine positive Ausstrahlung und gestikulierte viel mit ihren Händen. „Meine Mum kümmert sich auch so gut, wie möglich um mich. Manchmal ist das schon nervig, aber sie meint es ja auch nur gut. Ansonsten komme ich gut mit meinen Eltern klar.“ „Deinen Klamottenstil finde ich richtig cool. Bist du irgendwie Gothic oder so was in der Richtung?“, plauderte Nadja dann weiter und führte Nici in ihr großes, geräumiges Zimmer. Nadja hatte einfach alles, vom Fernsehen bis zum Computer, eine riesengroße Stereoanlage mit vier Boxen und ein Wasserbett in der rechten hinteren Ecke. „Ja bin ich. Aber aus dem Kaff, aus dem ich komme, hat sich niemand so wirklich dafür interessiert. Vielleicht lerne ich ja hier ein paar Gothics kennen.“ „Ein guter Kumpel von mir, das heißt der beste Kumpel von meinem Freund, ist auch ein Gothic. Ich kenne mich da zwar nicht so aus, aber Basti hat mir das mal erzählt.“ Nicis Herz machte einen Sprung und sie wollte diesen Jungen unbedingt kennenlernen. „Ist er hübsch?“ Nadja zögerte einen Augenblick. „Ja, schon. Er läuft halt manchmal ziemlich krass rum, also auch geschminkt und so. Aber hübsch ist er auf jeden Fall. Vor kurzem hatte er auch eine Freundin, aber Basti hat irgendwie erwähnt, dass nichts mehr zwischen den beiden läuft.“ „Na das klingt doch gut.“ „Ja eben! Willst du heute Abend mit zu meinen Freunden kommen?“ Nici überlegte einen Augenblick, dann willigte sie ein. „Ich hole dich so um acht ab. Am besten du wartest vor deinem Haus!“ Es war um vier Uhr Nachmittags. Die Mädchen hatten noch lange bei Nadja zu Hause gesessen und gequatscht. Sie brachte Nici noch nach Hause. Da erledigte sie ihre Hausaufgaben und wartete ungeduldig auf den Abend. Sie rief ihre Mutter an der Arbeit an und sagte ihr Bescheid, dass sie heute noch mit einer Klassenkameradin ausgehen würde. Nicis Mutter freute sich wahnsinnig für ihre Tochter, dass diese so schnell eine Freundin gefunden hatte. Nici fragte sich was Nadja wohl unter hübsch verstand? Es wäre ja zu schön, wenn der erste Goth, den sie kennenlernte, ihr auch noch gefallen würde. Sie zog ihren schwarzen Tüllrock an und darauf eine kurzärmlige Bluse und die Rangers. Dann schminkte sie sich noch.  Es war nun schon zehn vor acht und Nici beschloss loszugehen. Nadja kam ihr schon entgegen. Sie meinte, sie müssen noch einen Kumpel von ihr abholen, der in Nicis Nähe wohnt. Nachdem sie etwa 500 Meter gelaufen waren, blieb sie vor einem großen gelben Haus stehen. „So wir sind da. Warte einen Moment, ich bin gleich zurück! Das ist übrigens der Kumpel, von dem ich dir heut Nachmittag erzählt habe“, lächelte Nadja und zwinkerte ihrer neuen Freundin zu. Dann verschwand sie hinter der Glastür. Nici bekam irgendwie richtig Bauchkribbeln. Was würde sie an diesem Abend erwarten? Sie ließ ihre Erinnerung an die unzähligen Abende im Jugendclub ihres Dorfes zurückschweifen. Alle besuchten dieselbe Schule und man konnte dem anderen schon vom Gesicht ablesen, was er dachte. Trotzdem vermisste sie ihre Freundinnen irgendwie, vor allem Nadine. Sie verbrachten schöne Stunden miteinander und schon dachte Nici wieder an Mark und spürte einen kleinen Stich in der Seite. Dann wurde sie urplötzlich aus ihren Gedanken gerissen.  „Hi Nici. Ich bin Lukas!“, begrüßte er sie mit seiner tiefen, weichen Stimme. Nici schluckte und fühlte, wie ihre Knie immer weicher wurden. Das Mädchen gab ein schüchternes Hallo zurück. Sie hatte alles erwartet, nur nicht das. Auf einmal war jeder schmerzhafte Gedanke, den sie vor wenigen Sekunden noch an Mark verschwendet hatte, wie weggeblasen. Jetzt bloß nicht ausflippen. Konnte das wirklich wahr sein, dass sie schon am ersten Tag einen so hübschen Jungen kennenlernte? Sie konnte es kaum glauben. Lukas hatte schwarze längere Haare, trug eine schwarze Cordhose, eine schwarze Cordjacke mit Kapuze, darunter Chucks. Sein blasses Gesicht war so ganz ohne Makel und doch schienen sich darin tausend von Geheimnissen zu verbergen. Wer war dieser wunderschöne Junge und hatte sie überhaupt jemals eine Chance bei ihm zu landen? Auf seinen Fingernägeln konnte man noch die Überreste von schwarzem Nagellack erkennen. Seine dunklen Augen waren mit Kajal geschminkt und seine Nase zierte ein silberner Ring. Er wirkte wie der mysteriöse dunkle Prinz aus irgendeiner Animeserie.  Zur Begrüßung umarmte er Nici, was sie noch mehr aus der Fassung brachte, da er sie ja gar nicht kannte. Er roch nach Opiumräucherstäbchen. Nici liebte diesen Geruch. Schon öfter hatte sie ähnliche Jungs wie Lukas bei Reportagen vom WGT gesehen, doch das hier übertraf alles. Sicher kam er aus einer tollen Familie und kannte noch mehr Gruftis. „So wollen wir los? Wo treffen wir uns eigentlich, hast du eine Ahnung Lukas?“ „Basti hat irgendwas vom Park gelabert, bin aber nich so sicher!“ „Naja gehen wir erst mal gucken!“ Lukas sah einfach unheimlich gut aus. Und er schien wirklich ein Gothic zu sein. Konnte das wirklich wahr sein? Nicis Bild wurde ganz ganz leicht getrübt, als Lukas sich eine Zigarette anzündete, weil sie Rauchen eigentlich nicht mochte. Aber Ausnahmen gab es ja immer. Nadja unterhielt sich mit ihm. „Sonst alles okay bei dir?“ „Klar, alles beim Alten.“ Er lächelte Nici die ganze Zeit so süß an und sie konnte ihren Blick einfach nicht mehr von ihm abwenden. „Da drüben sind doch die ganzen Pfeifen“, sagte Lukas. Die Leute begrüßten das neue Mädchen so, wie es Lukas bereits getan hatte. Die Clique bestand noch aus zwei anderen Mädchen und vier Jungen. Der Junge mit den knallroten Haaren schien Nadjas Freund zu sein, denn mit ihm war sie die ganze Zeit zusammen. Nici fühlte sich richtig wohl, auch wenn Lukas der einzige Gothic zu sein schien. Sie hatte sich irgendwie vorgestellt, dass sie hier keiner akzeptieren würde, aber es war glücklicher Weise alles ganz anders gekommen. Anfangs unterhielt sie sich wenig und Lukas stand bei einem der Mädchen und Nici hoffte, dass er irgendwann noch mal zu ihr kommen würde. Dann ging er zu Basti und Nadja. Sie beschloss ihm zu folgen. Dort stand ein kleines Radio, in dem gerade ein Tape lief. Die Band war ihr allerdings unbekannt. Die Musik klang sehr nach Batcave. Nadja sah voll glücklich aus und machte eine Andeutung, dass Nici sich doch Lukas nähern sollte. Doch diese schüttelte nur mit dem Kopf, doch musste sie ihn dauernd ansehen und hoffte er bekam das nicht mit. Sie setzten sich auf die Wiese in einen Kreis. Lukas zog seine Jacke aus dabei fielen Nici sogleich die vielen Tattoo an seinem Oberarm auf. Irgendwas mit einem gehörnten Totenkopf und Fledermäusen. Doch nicht nur das Tattoo erweckte ihre Aufmerksamkeit, ebenso die feinen gleichmäßigen Narben auf seinem linken Unterarm. Schnell wand sie ihren Blick ab und ignorierte den aufkeimenden Unmut. „Warte, du kannst dich mit hier drauf setzten, wenn du willst.“ Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, denn jetzt saßen sie sehr nahe beieinander. Nadja zwinkerte ihr zu. „Was machst du heut noch Lukas?“, fragte Nadjas Freund. „Mal sehen, bisher is nichts geplant.“ Lukas bot Nici einen Schluck Bier an, den sie selbstverständlich annahm. Ihr gefiel jedoch ganz und gar nicht, dass er eine nach der anderen rauchte. Er trank sein Bier leer und plötzlich klingelte sein Handy. Er sprang auf und verschwand. Ein weiterer Junge gesellte sich zu der Runde und stellte sich als Chris vor. Trotz Lukas Abwesenheit war Nici voll happy. Alle waren furchtbar nett zu ihr und sie hatte viel Spaß. Doch eher unbewusst schaute sie immer wieder in die Richtung, in die Lukas verschwunden war, dies entging Nadja nicht. „Nici, er wird schon wiederkommen, keine Sorge." Chris warf den Mädels einen fragenden Blick zu. „Ach Lukas war vorhin da", klärte ihn Nadja auf. Da entschwand Chris Lächeln. „Wundert mich ja, dass sich der Herr mal wieder hat hier blicken lassen", bemerkte er zynisch. „Magst du ihn nicht?", fragte Nici neugierig. „Wir sind zusammen in einer Klasse und ich kenne Lukas schon ne ganze Weile. Früher mochte ich ihn, doch jetzt haben sich unsere Wege getrennt, seid er seine tollen Gruftipunks hat." „Ey Chris, nur weil du nichts mit den Leuten anfangen kannst, heißt es nicht, dass sie schlecht sind. Und wenn dir Lukas so sehr fehlt, dann unternimm halt so was mit ihm nur nerv uns nich dauernd mit deinem Gelaber", mischte sich Basti ein. Nici merkte, dass das wohl irgendwie ein Streitpunkt zu sein schien. Nach einer Weile tauchte Lukas wieder auf und hatte eine grünhaarigen Punk an seiner Seite. Die beiden schienen sich über irgendetwas zu amüsieren. Der Punk wuschelte Basti durch die Haare und umarmte ihn. Er stellte sich dem jungen Landei dann als Flo vor und Nici erfuhr, dass Flo, Basti und Lukas sehr gute Freunde waren. Doch welche Rolle spielte Chris dabei? Den ignorierten die drei komplett, wie auch Nici. Das war schade. Dann kam Lukas doch elegant zu ihr geschlendert und sie fragte sich, ob er wohl viele Verehrerinnen hatte. „Alles klar?“ „Irgendwie schon.“ „Magst du noch was trinken?“ „Nein danke.“ „Kennst du Nadja eigentlich schon länger?“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Auch erst seit heute. Das war echt lustig, weil wir uns gleich so gut verstanden haben und sie hat mich halt mit hierher gebracht.“ „Ich bin nur wegen Basti hier. Er muss halt auch ab und zu mal mit zu Nadjas Freunden kommen, sonst macht sie Ärger.“ Dabei grinste Lukas. „Wo seit ihr sonst immer?“ „Schon oft im Park oder in unserer Laube. Da will Nadja aber nie mitkommen. Find ich voll blöd.“ „Kennst du den Chris, der mit bei Nadja sitzt?“ „Mhh. Er geht in meine Klasse. Wir mögen uns nich sonderlich. Er versucht bei den Leuten immer gut dazustehen und erzählt deshalb auch gern mal Mist über andere. Besonders über mich.“ „Warum das denn?“ „Was weiß nich. Is mir auch egal. Magst noch mal mit zu unserer Laube kommen?“ Das war ein schönes Angebot und Nici hatte auf einmal Angst, dass sie es verschissen hätte, wenn sie nicht zusagen würde. Also sagte sie ja. Der Punk mit den grünen Haaren kam auch mit, nur Basti blieb bei Nadja. Das tat ihr irgendwie leid. Da diese besagte Laube ziemlich am Stadtrand lag, mussten die drei mit der Straßenbahn fahren, allerdings ohne zu bezahlen. Nici stellte fest, dass Flo echt witzig war. Die Laube lag in einem kleinen verwilderten Gartengrundstück. Hier lernte Nici auch Tim kennen, einen weiterer Freund von Lukas. Auch er sah sehr gruftig aus mit den langen schwarzen Haaren, dem Ledermantel und den Totenkopfringen an seiner Hand. Er hieß das neue Mädchen gleich willkommen. Lukas hing die ganze Zeit bei einem Punkmädel mit türkisenen Haaren. Das nervte Nici irgendwie. Die beiden waren sehr vertraut miteinander. War das vielleicht seine Freundin? „Flo, ist Lukas mit dem Mädel da drüben zusammen?“, erkundigte sie sich vorsichtig. „Nee. Das is seine beste Kumpeline. Du stehst wohl auf ihn?“ Sie zuckte mit den Schultern und lächelte etwas verlegen. „Schon. Meinst du ich hab ne Chance?“ „Wenn du lange genug mit ihm flirtest. Lukas hatte schon länger keine Freundin mehr und ich weiß auch nich, ob er das momentan will. Aber versuchen kannst du es ja.“ Auf einmal wurde sie von Flo mitgezogen und sie setzten sich zu Lukas und dem Mädel. Das Feuer wärmte Nici am Rücken. Flo zündete sich einen Joint an und reichte ihn an Lukas weiter. Nici hockte nur dumm daneben und guckte zu. Das Mädel lehnte sich an Lukas Schulter. Er wirkte auf einmal ernst. „Ey Flo, kannst du mir mal sagen, wie ich das noch aushalten soll?“ „Zieh doch in die Laube“, sagte Flo grinsend. „Hab ich auch schon überlegt. Heut hat sie wieder Mal versucht freundlich zu sein, doch dieses auf und ab hab ich langsam satt. Vor allem tut sie immer so, als wäre alles in bester Ordnung, dabei vögelt mein Vater seine Sekretärin. Ich weiß nich, ob sie es nich wissen will oder wirklich keine Ahnung hat. Am besten ich bleib die ganze Nacht hier am Feuer sitzen.“ Lukas nahm einen tiefen Zug und es tat echt weh. Sie konnte echt nicht sagen, was für ein Typ er war. Redete er gerade über seine Familie?  „Ich mach mich jetzt vom Acker“, sagte das Mädel. „Pass auf dich auf Süße.“ „Klar, mach ich.“ Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund und verschwand. Lukas und Flo teilten sich den Joint nun alleine. Was war, wenn Nici hier in eine Drogenclique geraten war? Aber irgendwie mochte sie die Leute auch. Sie hatte vorher nicht gewusst, dass Punks auch so lieb sein konnten. Als sie einen Blick auf ihre Uhr warf, erschrak sie. Es war schon fast zwölf. Sie sprang auf und verabschiedete sich. Dann fiel ihr auf dem Weg zur Gartentür ein, dass sie den Weg zurück eigentlich gar nicht kannte. Doch bevor das verzweifelte Mädchen den Gedanken zu Ende gedacht hatte, kam Lukas auch schon angerannt. „Ich glaube, ich bring dich mal lieber nach Hause, bevor du dich noch verläufst.“ „Du warst jetzt echt meine Rettung.“ „Naja, als ich zum ersten Mal allein hier her gekommen bin, hab ich dann hier übernachtet. Am anderen Morgen bin ich dann voll verpeilt nach Hause gekommen.“ Sie schwiegen einen Augenblick. „Sag mal, kifft ihr eigentlich oft?“, fragte Nici dann. Lukas zuckte mit den Schultern und zog an seiner Zigarette. „Ab und zu schon. Wir trinken mehr.“ Er lachte. „Also, es ist jetzt nicht so, dass wir die übelsten Junkies wären. Nur manchmal ist es ganz gut keinen klaren Kopf zu haben.“ „Chris hat vorhin nur erwähnt, dass du mit voll den seltsamen Leuten rumhängst. Aber ich hab die Leute ja jetzt auch gesehen und finde sie in Ordnung.“ „Sind sie auch. Auf jeden Fall ehrlicher als dieser dämliche Chris.“ Die Fahrt mit der S-Bahn kam Nici ewig vor und sie beschäftigte noch eine andere Sache. Lukas seine wirklichen Probleme, die er vorhin kurz am Feuer erwähnt hat. Allerdings traute sie sich nicht, ihn darauf anzusprechen. „Wer war das Mädchen eigentlich? Also die, die bei uns am Feuer saß.“ „Kim. Mein kleines Goldstück. Sie sagt immer, dass ich ihr großer Bruder bin.“ Goldstück? War da doch mehr als nur Freundschaft? „Ist sie deine Freundin?“, fragte Nici dann ein bisschen dreist. Lukas sah sie leicht verwundert an. „Nein. Alle sagen zwar immer, dass wir ein tolles Paar wären, aber wir sind keins.“ Mehr sagte er dazu nicht und Nici hatte das Gefühl, dass ihn das ein bisschen verärgert hatte. Als sie endlich bei ihr zu Hause angekommen waren, verabschiedete er sich kurz und knapp und verschwand. Nici fühlte sich mies, weil sie gern länger bei Lukas geblieben wäre. Und was, wenn er sie jetzt nicht mehr mochte?      Ich hatte es mir schon denken können, Nici war auch eine von diesen dummen Tussen. Eine dieser blöden, naiven Mädchen, die alles oberflächlich beurteilten. Aber ich fand sie trotzdem irgendwie hübsch. Oder dachte ich falsch von ihr? Glücklicherweise hatten mich meine Eltern nicht gehört. Ich schlief schnell ein und wurde wenige Stunden später wieder von meinem Wecker aus den Träumen gerissen. Ich blieb so lange liegen, bis meine Eltern das Haus verlassen hatten und erst dann schwang ich mich aus dem Bett. Mein Freund Flo klingelte schon Sturm und ich öffnete ihm die Tür. Er wollte ja nur einen Kaffee, jeden Morgen dasselbe Ritual. Flo und Basti kannte ich schon seit der Grundschule und seitdem waren wir drei unzertrennlich. Ich konnte auch nicht sagen, wann wir uns mal richtig gestritten hatten. Flo hatte bei sich zu Hause mit ähnlichen Problemen wie ich zu kämpfen und deshalb war er derjenige, der mich in dieser Hinsicht am besten verstand. „Hast du mal Haarspray für mich?“ „In meinem Zimmer im Regal neben dem Spiegel.“ Ich kochte uns Kaffee, da wir noch eine halbe Stunde Zeit hatten und nahm ihn mit rauf in mein Zimmer. Flo stellte seinen Iro auf und nebelte mein Zimmer mit Haarspray ein. „Du weißt schon, dass du nur zur Schule gehst?“, fragte ich scherzhaft. „Na und! Ich lege halt viel Wert auf mein Aussehen.“ „Tussi.“ Er nahm mir meine Zigarette aus der Hand und zog daran. Seine goldbraunen Augen stachen sich extrem mit seinem grünen Haaren. Sein ausgefallener Stil gefiel mir, doch manche Sachen, die er trug würde ich nie anziehen, wie seine schwarz grün gestreifte Hose. Aber zu ihm passte es. Auch Flo mochte Ketten und Nietengürtel, wie ich. Ab und zu, wenn wir beide einen guten Tag hatten, machten wir uns über unsere Probleme lustig. „Und gibt’s was Neues?“, fragte Flo ironisch. Ich grinste nur. „Nee leider nich. Hab nur nen Anschiss wegen schlechtem Benehmen bekommen. Und bei dir so?“ Er verdrehte die Augen. „Ich penn bald auf der Straße…weißt Kevin hört diesen Gangster Hip Hop, trägt Hosen, die aussehen, als hätte er eingeschissen und über mich regen die sich auf, weil ich bunte Haare hab.“ „Mein Beileid. Lass uns gehen.“ Doch dann hielt er Inne und schien hinter meine Fassade zu blicken. Auch, wenn ich ein Meister der Verdrängung war, gelang es mir nicht immer bei Flo das perfekte Pokerface aufzusetzen und deshalb zog er mich in seine Arme. In meinen Augen sammelten sich die Tränen und ich vergrub meinen Kopf in seiner Halsbeuge. Flo tätschelte meinen Kopf. „Ich bin da Süßer…immer…sag mal hast du eigentlich mitbekommen, wie dich die Kleine gestern angehimmelt hat?“ Ich fing mich wieder und boxte ihn leicht in die Rippen. „Is dir nicht entgangen was?“ Flos Grinsen wurde nur noch breiter. Einen Grund, weshalb ich Flo auch noch mochte war, dass er mir im Verhalten sehr ähnelte. Basti versuchte das oft auszugleichen, weil er der Ruhepol von uns dreien war. Doch Flo und ich ließen sich nicht auf der Nase rumtanzen und übertrieben es auch gern mal. Bis zur Schule war es von mir aus nur fünf Minuten. Basti wartete schon vor dem Eingang auf uns.   Nachmittags traf ich Nici zufällig und sie kam auch gleich angerannt. „Sag mal, hab ich gestern was Falsches gesagt?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Nee, wieso?“ „Naja, du warst dann auf einmal so komisch.“ „Ich bin nur nicht sicher, was ich von Menschen halten soll, die so vorschnell wie du urteilen.“ Nici zog die Stirn in Falten. „Wie meinst du das?“ „Menschen, die sich eher selbst ein Bild von jemanden machen. Ich habe mich gestern einfach ein bisschen ausgefragt gefühlt. Weißt du Nici, ich glaube Nadja denkt nicht sonderlich positiv von mir, auch wenn sie manchmal so tut als könne sie mich leiden.“ Sie schwieg und schaute zu Boden. „Aber sie hat von dir als ihr Kumpel gesprochen und naja, dass du kiffst hat mich schon ein bisschen überrascht.“ „Ach ja? Wahrscheinlich weil du wie alle Vorurteile hast.“ Ihr stieg eine leichte Röte ins Gesicht. „Naja, ich glaub nur ich mag dich und mach mir ein bisschen Sorgen.“ „Aha. So läuft der Hase.“ Ich grinste sie an. „Du kennst mich doch gar nicht.“ „Ich würde dich ja gern näher kennenlernen.“ Wollte sie das wirklich? Und wie sehr mochte sie mich? Sollte ich ihr wirklich einen tieferen Einblick in mein chaotisches Leben geben? „Wenn du willst. Versprich dir aber nicht zu viel. Und Nici, jetzt chill mal…kiffen is nix schlimmes und nen bisschen high sein hat noch keinem geschadet. Hast du Lust noch was zu machen?“ Sie zögerte einen Moment. „Ja okay. Naja, ich muss erst noch mal nach Hause. Meine Mutter hat gestern noch voll den Terror gemacht, weil ich so spät gekommen bin.“ „Sorry, dass du meinetwegen Ärger bekommen hast.“ „Schon okay. Hast du in einer Stunde auch noch Zeit?“ Wieder musste ich lächeln. „Klar. Ich warte dann vor dem Haus auf dich.“ Ich fühlte mich gut. Das war ja schon fast ein Date. Ich glaube, ich hatte Nici doch falsch eingeschätzt. Wann hatte ich überhaupt mein letzes Date gehabt? Das war auch schon länger her. Ausnahmsweise erledigte ich mal meine Hausaufgaben und freute mich auf das Treffen mit Nici. Da es jetzt schon ganz schön warm war, zog ich meine Knielange schwarze Hose an. Mein Nine inch Nails T-Shirt behielt ich an, auch wenn es an der einen oder anderen Stelle schon etwas löchrig war. Den Nietengürtel entferne ich auch aus der langen Hose. Gerade, als ich aus meinem Zimmer trat, kam meine Mutter zur Haustür herein. Auch das noch. Ich begrüßte sie nur flüchtig, doch sie hielt mich auf und tat mal wieder so, als würde sie mein Leben interessieren. „Wo willst du denn schon wieder hin?“ „Mich mit ner Freundin treffen.“ Mit abwertendem Blick musterte sie mich von oben bis unten. „Ich versteh es wirklich nicht Lukas…du ziehst dieses Leben deiner Familie vor. Bist du dir überhaupt im Klaren, was du damit anrichtest? Ich habe die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben, aber es trifft mich jedes Mal aufs Neue, wenn du das Haus verlässt und ich weiß, dass du dich mit diesem Abschaum triffst.“ Ich schüttelte mit dem Kopf und löste mich aus ihrem Griff. „Dieser Abschaum sind meine Freunde…rede nicht so über sie.“ „Ich hab dich doch lieb…warum nur bist du so?“ „Klar…du liebst etwas, das ich nicht mehr bin und auch nie mehr sein werde…“ „Dann mach doch, was du willst…verunstalte dich weiter und treib ein Keil zwischen uns…vergifte unsere Familie nur…ja das kannst du gut!“ Wie immer, wenn sie sowas sagte fühlte ich mich richtig mies. Was wollte sie von mir hören? Ich drückte mich an ihr vorbei nach draußen und erst als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, fühlte ich mich ein bisschen besser. Ich war noch damit beschäftigt meine Turnschuhe anzuziehen, als Nici auch schon kam. Freundschaftlich begrüßte sie mich. Plötzlich öffnete sich die Haustür und meine Mutter stand vor mir. „Lukas…“ Da war es wieder, dieses unangenehme Ziehen in der Brust. „Was?“, fuhr ich sie gereizt an. „Wann hört das endlich auf? Du machst so alles nur noch schlimmer.“ „Ach wirklich? Nenn mir einen Grund, weshalb ich öfter zu Hause sein sollte, wenn du solche Dinge sagst. Ich habe mich entschieden, ob es dir passt oder nich!“ Darauf erwiderte sie nichts und verschwand wieder im Haus. Als sie weg war, zündete ich mir eine Zigarette an und Nici und ich liefen Richtung Park. „Ihr versteht euch nicht besonders gut oder?“ Ich zuckte mit den Schultern und hockte mich auf die Wiese. „Das kommt wohl dabei raus, wenn man gegen den Willen seiner Eltern rebelliert und nicht das macht, was sie wollen. Früher hab ich mich mal total super mit ihnen verstanden, aber das war einmal. Meine Eltern gehören zu diesen Menschen, die angesehen sein wollen und ich bin ihnen ein Dorn im Auge, weil ich nicht den braven Sohn spiele.“ „Das tut mir leid.“ Ich nahm einen tiefen Zug. „Das brauch dir nicht leid zu tun. So ist das Leben nun mal. Du kennst es sicher anders, aber mir ist es sowieso egal. Meine Freunde sind meine Familie und nicht meine Eltern. Und deshalb wird man von anderen gleich dumm angemacht, weil man eben anders is.“ Nici schwieg einen Moment und ich wusste nicht, ob sie mich überhaupt verstand. „Aber ich laufe ja auch nicht normal rum und meine Eltern finden das nicht schlimm.“ Ich lachte bitter. „Naja, aber ich hab auch ne Menge Piercings, Tunnels in den Ohren und Tattoos. Schminke mich, lackiere mir die Nägel…glaub das macht noch mal nen Unterschied. Außerdem hängt es ja auch davon ab, mit was für Leuten du zusammen bist. Was für Künstler du verehrst und welche Musik du hörst. Und meine Eltern wissen, mit wem ich mich abgebe. Das stört sie, weil sie meine Freunde in die gleiche Schublade stecken, wie alle anderen auch. Die Punks werden von den meisten Leuten verachtet, aber die kennen die Hintergründe nich. Die meisten von denen sind echt arme Schlucker und haben schon mehr vom Leben erfahren, als manch andere. Einige von ihnen haben echt krasse Probleme zu Hause, aber das wollen die meisten Leute nich sehen.“ Nici sah mich nur an und ich konnte ihren Blick nicht so recht deuten. „Das ist echt komisch. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, hab ich dich ganz anders eingeschätzt.“ Ich musste grinsen. „Ach ja? Wie denn?“ Sie zögerte einen Moment. Vielleicht war ihr das peinlich oder so. „Naja, ich dachte, dass du aus einer tollen Familie kommst, die dich mag und dich unterstützt.“ Jetzt musste ich lachen und hoffte, dass sie das nicht falsch auffasste, aber auch Nici stimmte mit ins Gelächter ein. „Sorry, aber das ist echt voll komisch. Warum denkst du sowas? Nur weil ich mich nach außen so gebe?“  „Naja vielleicht.“ „Du bist komisch.“ „Mag sein. Aber Nici…“, begann ich und sah sie ernst an. „Da Chris und Nadja ja ziemlich gut befreundet sind, wird sie dir vielleicht als deine Freundin abraten mit mir zusammen zu sein. Du musst aber nicht alles glauben, was sie dir über mich erzählen, da die meisten Dinge sowieso von Chris kommen. Wenn du etwas wissen willst, rede lieber offen mit mir darüber, okay?“ Nici warf mir ein zuckersüßes Lächeln zu. „Auf Chris hätte ich eh nicht gehört. Den mag ich auch nicht besonders.“ „Das ist gut so. Wollen wir noch nen Kaffee trinken gehen?“ Sie nickte und wir schlenderten an diesem schönen, sonnigen Tag zu meinem Lieblingscafé. Der Inhaber dieses Cafés war Bastis großer Bruder Mike und er machte den besten Kaffee der Welt. Wir suchten uns ein Plätzchen auf der Terrasse. Basti half heute mit beim Bedienen, da viel los war. Er kam auch gleich zu uns und nahm die Bestellung auf. Nici entschied sich für einen Cappuccino und ich nahm das Übliche. Als sich der Trubel etwas beruhigt hatte, setzte er sich kurz zu uns an den Tisch und wir rauchten eine Zigarette. „Hat dir Kim eigentlich erzählt, dass sie jetzt wahrscheinlich einen Freund hat?“ Ich nickte und trank einen Schluck Kaffee. „Hoffentlich ist das nicht so ein Arsch. Sonst bekommt er es mit mir zu tun.“ „Ich hab die beiden vorhin gesehen. Er scheint ganz nett zu sein. Ich denk, es tut ihr mal ganz gut. Am Wochenende wollen wir an die Ostsee fahren. Kommst du oder ihr da mit?“ „Ist Nadja da auch dabei?“, fragte Nici. „Wahrscheinlich schon.“ „Also ich bin auf jeden Fall am Start.“ Plötzlich erschallte eine Stimme ganz in unserer Nähe. „SEBASTIAN!“ Basti zuckte zusammen und folgte dem Ruf augenblicklich. „Ich bin mir nicht sicher, ob meine Eltern das erlauben. Ich hoffe es.“ Ich rauchte noch eine. „Ach klar, wenn Nadja auch mitkommt.“ „Ich frag auf jeden Fall mal.“ „Das freut mich. Wäre echt schön. Hast du Lust noch mit zu kommen?“, fragte ich sie dann, weil mich dieses Mädchen irgendwie faszinierte und es lange her war, dass mich jemand so wie sie angesehen hatte.   Nici schwebte auf Wolke 7 und so schnell hatte sie sich nicht erträumen lassen von Lukas eingeladen zu werden. Er führte sie in sein Zimmer. Man war das riesig! Scheinbar hatten seine Eltern echt eine Menge Kohle. Überall hingen Poster von solchen dunklen Bands oder mystischen Figuren und es standen viele Drachen oder Totenköpfe in den Regalen. Auf dem Tisch war ein Kerzenleuchter mit zwei Drachen am Fußende. Der Tisch war von einer kleinen Sitzecke umgeben. Das Bett stand in der Ecke neben dem Fenster. Nici entging auch nicht, dass Lukas Schwester ihren großen Bruder sichtlich vergötterte. Nun wandte er sich dem schüchternen Mädchen zu und führte sie zum Sofa. „Wow, cooles Zimmer. Wie alt ist deine Schwester?“, begann Nici das Gespräch. „Sie is zehn. Wie war dein Tag so?“ Irgendwie war Lukas geheimnisvoll, man konnte nie sagen, was er als nächstes tat. „Ja war ganz cool. Bei dir?“ Er zündete sich eine Zigarette an und lächelte Nici an. Sie betrachtete ihn und stellte wieder mal fest wie wunderschön er war und sie fragte sich auch, wie er ohne sein T-Shirt aussah. Wie gerne würde sie ihn jetzt küssen. Sie störte sich schon gar nicht mehr daran, dass er rauchte. „Naja, eigentlich ganz okay. Allerdings hat mich meine Geschichtslehrerin irgendwie auf dem Kicker.“ In seiner Stimme lag ein belustigender Ton. Sicher hatte Lukas seinen Spaß daran die Lehrer mit seinem Verhalten zu provozieren. Nici merkte, dass er ihre langen roten Haare musterte und musste grinsen. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wunderschön bist?“ Das überraschte und rührte sie zu gleich. Meinte er das wirklich ernst? „Naja…ist ne Weile her.“ „Wann das letzte mal?“ „Vor etwa zwei Monaten. Du bist es aber auch.“ Das rutschte ihr einfach so raus und augenblicklich stieg ihr eine leichte röte ins Gesicht. Das Mädchen senkte den Kopf, um es vor Lukas zu verbergen. Doch schaute sie schon bald wieder auf, da sie sich an diesem wunderschönen düsteren Mann nicht satt sehen konnte. In seinen smaragdgrünen Augen konnte man sich fast verlieren und manchmal stellte sich Nici die Frage, ob er nicht Kontaktlinsen trug. Denn dieses leuchtende Grün wirkte schon beinahe unecht. „Du scheinst ja auch ein kleiner Goth zu sein! Was hörst du so für Musik?“ „Naja, ich mag vor allem the Cure, Nightwish, Him und so weiter. Ich habe mich auf keine bestimmte Musikrichtung festgelegt“, sagte Nici etwas unsicher, denn irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Lukas ein echter Insider war, was die Szene betraf. „So, die Stinobands halt. Naja, ist schon okay. Aber ich finde es gut, dass du dich nicht auf nur eine Richtung spezialisierst, das mache ich auch nich. Ehrlich gesagt finde ich das sogar doof, weil es so viele tolle Bands in der Szene gibt. The Cure mag ich auch sehr, aber im Moment habe ich gerade so meine Elektro Phase. Oder Manson, der ist auch toll.“ „Was heißt hier Stinoband? Ich mag auch the Fields of Nephilim oder Feindflug!“ Er lächelte amüsiert und drückte die Zigarette aus. „Das habe ich ja auch nich bös gemeint, tut mir leid, falls du das so aufgefasst hast.“ „Ist schon okay. Ich mag die Bands trotzdem.“ „Ich ja auch. Bis auf Nightwish vielleicht.“ Erst jetzt bemerkte Nici Lukas Zungenpiercing und sie fragte sich, wie sich das wohl beim Küssen anfühlte? „Kennst du eigentlich noch ein paar andere Leute aus der Szene?“, fragte sie neugierig. „Ja, aber so viele auch nich. Ich würde ja gerne mal zur Gothicparty. Um ehrlich zu sein, ich kenne nur noch drei, Basti, Flo und Tim. Den einen oder anderen vom Sehen, mehr aber auch nicht.“ Das war immerhin schon ein Anfang. Lukas führte Nici zu seinem CD Regal und sie überflog die Namen der Bands auf den CD Rücken. Diese standen feim säuberlich nach Bandnamen geordnet. Wow, sowas würde Nici nie einfallen. Sie standen sehr nahe beieinander und ihr Herz schlug wieder bis zum Hals. Ihre Wahl fiel schließlich auf The Cure. Er gab sich damit zufrieden. Als Nici ihm die CD reichte, trafen sich ihre Blicke zum ersten Mal richtig. Das Mädchen hielt seinem Blick stand und er dem ihren. Allerdings fühlte Nici diese Anspannung und wenn er sie schon so begehrlich ansah, warum konnte er sie dann nicht endlich küssen? Seine Lippen formten sich zu einem süffisantem Grinsen. Er legte die CD ein. „Ich habe noch kein Mädchen kennengelernt, das meinem Blick so lange standhalten konnte.“ Nici schluckte und versuchte so cool wie möglich zu klingen. „Tja, jetzt kennst du eins.“ Und dann küsste er Nici sehr innig. Er ergriff ihre Hände und führte sie an seinem Körper entlang. Das war echt verdammt toll. Durch Nici strömte ein unwahrscheinlich schönes Glücksgefühl und sie war der Realität im Moment sehr, sehr fern. Dann sahen sich die beiden wieder an. Lukas hatte seine Arme vorsichtig um Nici gelegt. „Gestern dachte ich noch, dass du eine Freundin haben musst, so hübsch, wie du bist.“ „Na die habe ich doch auch und sie ist mindestens genauso hübsch.“ Was für ein schönes Kompliment. Konnte das jetzt wirklich wahr sein? Der Abend mit Lukas zusammen war echt wundervoll, es war der schönste ihres Lebens. Er war so zaghaft und von seinen Berührungen bekam Nici eine Gänsehaut. Man merkt, wenn ein Junge Ahnung davon hat ein Mädchen zu verführen und Lukas war sich seiner Sache sehr sicher. Vielleicht war es zu früh, schon am zweiten Tag so vertraut miteinander umzugehen, aber sie konnten nicht anders.   Das Wochenende war endlich gekommen und ich packte meine Sachen zusammen. Tim und Mike wollten fahren. Ich freute mich auch, dass Nici mitkam und ich setzte mich dafür ein, dass sie bei Tim mitfuhr, wie auch Flo und natürlich Kim. Ihr Freund wohnte in der Nähe vom Strand und wollte dann später nachkommen. Ich kannte ihn nicht weiter, doch Kim schien glücklich mit ihm zu sein und das war die Hauptsache. Der Campingplatz war nicht sehr groß, aber schön und lag genau am Wasser. Wir hatten großen Spaß beim Aufbauen der Zelte und begannen da schon mit Trinken. Als das erledigt war ließen wir uns am Strand nieder und tranken weiter. Tim hatte ein Radio mitgebracht und wir hörten Blitzkid. Wir kamen auf die einfallsreiche Idee Wahrheit oder Pflicht zu spielen. Eigentlich ein blödes Spiel, aber wir hatten unsere Freude dabei. Dummerweise hatten wir nur zwei Mädels unter uns. Die meisten entschieden sich für Wahrheit, weil sie zu schissrig waren. Als ich dann mal so mutig war und Pflicht wählte, meinte Tim mir etwas Schlimmes anzutun, als er sagte, ich solle einen der Jungs küssen. Halt ein richtiger Kuss mit Zunge, den ich mit Humor nahm. Ich schaute so in der Runde umher und irgendwie blieb mein Blick bei Flo hängen. Bei Basti wusste ich nicht, wie Nadja reagieren würde und Tim, der auf diese Idee gekommen war, kam nicht in Frage. Flo grinste mich an und ließ sich auf den Kuss ein. Es fühlte sich sogar ziemlich gut an. Die anderen zollten uns Beifall. „Wow, das sah gar nicht mal schlecht aus.“ „Tja, Flo ist wohl genauso hemmungslos wie ich.“ Kim war noch nicht da, weil sie zu ihrem Freund gegangen war und später mit ihm zu uns kommen wollte. Chris war leider auch dabei und er setzte sich gerade zu Nici. Das war doch meine Chance ihn zu vergraulen. Als sie sich eine Weile unterhalten hatten stieß ich zu ihnen und redete nur mit Nici. „Es ist echt voll schön hier. Magst du heut was trinken?“ Ich hielt ihr meine Flasche hin, die sie lächelnd entgegen nahm. Chris warf mir einen zornigen Blick zu und ich erwiderte diesen mit einem fiesen Grinsen. Nici ging kurz zu Nadja, versprach aber gleich wiederzukommen. „Da ist wohl jemand eifersüchtig?“, stichelte ich ihn. „Einen wie dich will sie doch sowieso nicht. Nici brauch einen Mann mit Intellekt.“ Ich musste augenblicklich losprusten und verteilte mein Bier im Sand. „Ach ja? Da bist du sicher der Richtige. Lass sie                                                                        doch einfach selbst entscheiden.“ Obwohl sie das ja längst getan hatte, nur davon wusste Chris ja noch nichts. Und da ich von ihr erfahren hatte, dass sie Chris nicht sonderlich mochte, fand ich es umso amüsanter. Sie kam zurück und setzte sich neben mich. Chris stand dann auf und machte sich vom Acker. Unschuldig zuckte ich mit den Schultern. „Was hast du denn wieder böses zu ihm gesagt?“ „Ich? Nichts. Er nimmt einfach alles viel zu ernst.“ Nici griff nach meiner Zigarette und zog daran. „Du rauchst?“ „Eigentlich nicht. Es gibt immer ein erstes Mal oder?“ Ich nickte. „Sind wir jetzt eigentlich echt zusammen?“ „Mhh, wenn du willst.“ „Gerne. Ich würde ja sagen, lass es uns langsam angehen, aber nach gestern Abend bei dir…“ Ich musste wieder lachen. „Naja, Sex is nichts schlechtes…also. Und ich kann mich nich beschweren.“ „Das will ich hoffen. Ich hatte vor dir noch nicht so viele Typen.“ Plötzlich herrschte hier ganz schön Aufruhr und ich schaute mich um, was der Grund dafür war. „Warte mal kurz“, sagte ich zu Nici und ließ sie alleine sitzen. Ein Stück weit von unserer Feuerstelle hörte ich einen Streit und näherte mich der Stelle. Kim stand da und heulte. Ihr Kerl schrie sie an und knallte ihr eine. Sie fiel in den Sand. Der Typ sah mich und pöbelte mich blöd von der Seite an. Das war echt zu viel. „Hast du jetzt ne Frau geschlagen? Das ist das letzte!“ „Sie hat es verdient.“ Ich holte aus und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Er schlug zurück und ich schmeckte Blut auf der Unterlippe. Ich zwang ihn zu Boden und trat ihn in den Bauch. Das sollte reichen. Kim weinte immer noch und ich half ihr auf. Sie schmiegte sich an mich und wir gingen zurück zur Feuerstelle. „Alles okay?“ Sie nickte. Ich tupfte mit einem Taschentuch das Blut an meiner Unterlippe ab. Mein Auge hatte auch etwas abbekommen, denn ich merkte, wie es anschwoll. Kim hatte aufgehört zu weinen. „Was ist eigentlich passiert?“ Ihre Stimme zitterte, als sie redete. „Naja, ich hab ihn so von zu Hause abgeholt und da war da auf einmal noch ein anderes Mädchen. Da hab ich ihn gefragt, was das soll und bin in Richtung Strand gerannt. Er kam hinterher und hat angefangen mich zu beschimpfen. Warum weiß ich nich.“ Ich nahm sie in die Arme. „Tut mir leid.“ Nici schaute die ganze Zeit in meine Richtung und mir war auch egal, was sie im Moment dachte. Kim drehte sich eine Zigarette. Ihr ganzer Körper zitterte noch immer wie Espenlaub. „Wo soll ich jetzt nur hin? Nach Hause kann ich nich wieder. Ich glaube, ich kann nie wieder eine richtige Beziehung führen.“ „Ist es so schlimm?“ „Ja. Mein Vater ist echt krank und meine Mutter will das nich wahrhaben. Ich habe echt voll Angst vor ihm. Jetzt hat er den Schlüssel zu meinem Zimmer geklaut, damit er immer zu mir kommen kann, wenn er gerade Lust hat. Selbst mein Bitten und Flehen hilft nichts. Er ist immer so grob zu mir.“ Ich schloss sie noch fester in meine Arme und wollte ihr Sicherheit geben. Kim war so ein hübsches Mädel und doch schon so gezeichnet. „Ich bin ja bei dir und du weißt auch, dass du immer zu mir kommen kannst.“ „Ich will dich aber nich ständig mit meinen Problemen belasten. Immerhin hast du selbst genug Stress.“ „Hey, jetzt hör aber auf. Bitte denk sowas nich. Ich helfe dir doch gerne und das weißt du auch.“ Jetzt lächelte sie mich kurz an. „Ja, stimmt. Und ich danke dir dafür.“ Kim holte sich noch ein Bier und brachte mir eins mit. Wir lagen im Sand und schauten hinauf zu den Sternen. „Ihr seid alle so tolle Menschen…kann ich nich auch mal nen süßen Typen finden, der kein Arsch is?“ Ich grinste. „Du hast mich nie gefragt.“ Kim sah mich von der Seite an und zog die Augenbrauen hoch. „Lukas…ich bin da vielleicht ein bisschen seltsam, aber du bist mein liebster Freund…das geht nich…“ „Schon okay, das war auch eher nen Joke…ich hab dich sehr gern und glaub, wenn wir was miteinander hätten, würde das mehr kaputt machen.“ „Du brauchst aber auch mal wieder nen nettes Mädel…übrigens hab ich gehört du hast mit Flo rumgeknutscht.“ Ich musste lachen. „Ja wir haben rumgealbert und dumme Spiele gespielt. Mhh und das mit dem netten Mädel läuft schon.“ Kim schüttelte den Kopf und grinste. Ich bewunderte sie, weil sie so unglaublich stark zu sein schien. Den Eindruck erweckte sie zumindest oft und ich wünschte mir, ich könnte das auch. Es begann schon zu dämmern und Kim hatte sich zu mir ins Zelt gelegt, weil sie müde war. Ich entfernte mich ein Stück von meinen Freunden und hockte mich alleine ans Wasser. Warum waren Menschen nur so grausam? Warum mussten Väter ihre Töchter misshandeln und vergewaltigen? War das schon immer so gewesen? Ich war mir manchmal nicht sicher, ob ich Kim den Schutz und die Geborgenheit geben konnte, die sie wirklich brauchte. Und Nici? Was würde aus uns werden und würde sie damit klarkommen, dass ich mich so gut mit Kim verstand? Tausend Fragen schwirrten mir durch den Kopf und ich wusste auf keine Antwort darauf. Da ließ sich Flo auf einmal neben mir nieder und legte seinen Arm um mich. „Na Schatz, was hockst du hier so allein rum?“ Ich lehnte mich an seine Schulter. „Kein Plan, nachdenken und so. Außerdem nimmt mich die Sache mit Kim voll mit.“ „Geht mir auch so. Was läuft nur falsch bei uns Lukas? Ich meine irgendwie isses cool wie es ist, aber wenn ich euch nich hätte, würde ich wahrscheinlich schon irgendwo in der Gosse liegen.“ Ich nahm Flo kurz in die Arme. „Red keinen Schwachsinn Süßer. Wir haben uns und das ist das Wichtigste. Übrigens kein schlechter Kuss vorhin.“ Flo grinste und drehte uns einen Joint. „Naja, warum auch nich. Ich bin doch genauso verdorben wie du.“ Ich gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Er reichte mir den Joint und ich nahm einen tiefen Zug, das tat wirklich gut nach einem solchen Abend. Ich hörte Schritte hinter uns und da stand Nici auf einmal. Wir rauchten noch zu Ende, dann meinte Flo, er wolle sich auch noch ein bisschen hinlegen. Doch er zwinkerte mir unauffällig zu und ich wusste, dass er nur ging, damit ich mit Nici allein war. Sie stellte sich vor mich und betrachtete mich. Ich war ziemlich stoned. „Du siehst nicht gut aus.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Und? Wen interessiert das schon.“ Sie setzte sich mir gegenüber. „Mich vielleicht?“ „Mhh, glaub daran muss ich mich gewöhnen…“ Sie schwieg und guckte abwechselnd zu mir und in den Sand. „Warum, macht sich sonst keiner Sorgen um dich?“  „Naja meine Freunde schon…aber weiß nich, ob ich so der Beziehungstyp bin.“ „Werden wir ja sehen“, erwiderte sie schüchtern. Ich wusste es auch nicht. Ich hatte immer noch das Gefühl, dass ich nicht der Mensch für eine Beziehung war, nach dem Nici suchte und ich wusste nicht, ob ich der war, für den sie mich hielt. Was wollte sie jetzt von mir hören? Wir schauten uns lange an. „Ist mein Auge schlimm geschwollen?“ „Könnte glaub ich schlimmer sein. Tut es weh?“ „Geht so. Könnte schlimmer sein.“ Wir lächelten uns an. Die Sonne lugte ein bisschen hinter dem Horizont hervor und Nici sah wunderschön aus. „Ich geb mir Mühe.“ „Ich hatte noch nie nen Goth zum Freund und ehrlich gesagt hab ich auch nicht so viel Ahnung von der Szene. Nur das was im Orkus steht. Ich wollte schon immer mal zum WGT und hab mir vorgenommen auf mehr Konzerte zu gehen. Naja und dann treff ich dich und du hast mir echt den Kopf verdreht.“ Ich seufzte. „Nici…versprich dir nich zu viel…In Zeitschriften steht auch nur das, was die Leute hören wollen. Ich wandle so‘n bisschen zwischen Gothic und Punk…und du solltest wissen, dass mir meine Freunde halt verdammt wichtig sind. Weiß ja nich, ob du damit umgehen kannst. Ich bin auf jeden Fall nich der Typ, der jede Minute bei seiner Freundin hängen muss.“ Wir hatten uns hingestellt und beobachteten die aufgehende Sonne. Vorsichtig legte ich meine Arme um Nici. „Flo hat gesagt, wenn ich lang genug mit dir flirte, wird es vielleicht was.“ „Der Idiot. Vielleicht hat er ja Recht gehabt.“ Ich küsste Nici und fühlte mich dabei glücklich. Sie schaute mich total verliebt an und schmiegte sich an mich. Vielleicht war es doch gut wieder eine Freundin zu haben, jemanden, der auch mal für mich da sein konnte. „Sind eigentlich demnächst irgendwelche coolen Konzerte?“ „Weiß nich, aber wenn du Bock hast können wir ja zum WGT gehen.“ „Klingt cool, gern. Hattest du mal einen Iro?“ Ich musste lachen. „Ja und das war das erste Mal, dass meine Eltern zu mir gesagt haben, dass ich raus fliege, wenn ich das Ding nicht weg mache.“ „Ach und du hast ihren Rat befolgt? Ich denk du hörst nicht auf deine Eltern.“ „Tue ich ja auch nicht, aber das war mir zu krass. Die haben das echt ernst gemeint. Am Ende wäre es mir wahrscheinlich sowieso egal. Ich kann‘s ja noch mal ausprobieren.“ Nici schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Aber meinetwegen musst du das nicht machen.“ „Ach nee, ich wollt das schon länger mal wieder ausprobieren.“ Wir hatten ununterbrochen geredet und nun kamen auch die anderen aus ihren Zelten gekrochen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich Schlafen gelegt hatten. Na egal. Auf dem Heimweg machten wir Frühstück bei McDonalds. Zu Hause musste ich erst Mal ins Bett und schlafen.   Auch Nici verkroch sich gleich in ihrem kuscheligen Bettchen und träumte von den letzten drei oder vier Stunden. Mit dem Gedanken an Lukas fiel sie in einen traumlosen Schlaf. Gegen Mittag um eins erwachte Nici wieder und Regen prasselte an ihr Fenster. Außerdem knurrte ihr echt der Magen und sie schwang die Beine aus dem Bett. Nicis Mutter schaute im Wohnzimmer Fern und bügelte dabei. Das Mädchen setzte sich mit einem geschmierten Brötchen auf das Sofa. „Na, ihr scheint ja nicht viel geschlafen zu haben.“ „Schlimm?“, fragte Nici mit vollem Mund. Ihre Mum schüttelte mit dem Kopf und lächelte. „So lange du dann noch an deinen Schulkram denkst.“ „Ja klar.“ Das Telefon klingelte. Nici nahm den Hörer ab und am anderen Ende vernahm sie Nadjas Stimme. Sie wollte unbedingt vorbeikommen, weil ihre Freundin brennend daran interessiert war, was gestern oder wohl eher heute früh noch zwischen Lukas und Nici gelaufen war. Die Mädchen kochten sich heiße Schokolade und machten es uns in Nicis Zimmer gemütlich. Sie wackelte aufgeregt mit den Beinen. „Also, wir haben irgendwie voll lang geredet, uns geküsst und wieder geredet. Lukas meinte, dass wir es probieren könnten.“ Nadja strahlte ihre Freundin an. „Jetzt bist du glücklich, was?“ „Oh ja. Ich kann dir gar nicht sagen wie glücklich. Er ist einfach so toll. Warum kommst heut nicht mal mit, da würde sich Basti bestimmt auch freuen“, schlug Nici vor, doch Nadja zögerte einen Augenblick und warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Ich weiß nicht so recht.“ „Komm schon. Die Leute sind echt in Ordnung.“ „Mhh, vielleicht. Ich gehe wenn dann aber nur mit dir zusammen da hin.“ „Klar. Das dachte ich ja auch. Würde mich echt voll freuen.“ Nici ahnte, was Nadja dachte, da sie ja nur die Variante von Chris kannte, wie die Leute nicht waren. Aber konnte sie ihrem Basti nicht auch mal einen Gefallen tun? Immerhin verbrachte er auch viel Zeit mit ihren Freunden und das sagte Nici auch so zu ihrer Freundin. Schließlich ließ sie sich breitschlagen und Nici duschte sich noch, da sie die ganze Zeit noch im Schlafanzug da saß. Nadja wartete im Zimmer. Lukas würde sicherlich schon dort sein, es sei denn er lag noch im Tiefschlaf. Nici freute sich ihn zu sehen und war gespannt, ob er seine Gefühle offen vor den anderen zeigte, aber so schätzte sie ihn schon ein.   Mein Auge war ganz schön angeschwollen und ich kühlte es die ganze Zeit mit Eiswürfeln. Eigentlich wollte ich ja so schnell wie möglich wieder verschwinden. Meine Mutter hatte mich nur dumm angeschaut, als sie meine Veilchen gesehen hatte, aber nichts dazu gesagt. Wäre ja auch Quatsch mit mir zu reden. Mein Vater befand sich wiedermal auf Dienstreise und während dieser Zeit war meine Mum immer komisch drauf. Das lag wohl an seiner netten Sekretärin. Dann redete sie doch mit mir. „Hast du dich wieder geprügelt, ja?“ „Hab nur ner Freundin geholfen.“ „Ach ja. Und davon sieht man bestimmt so aus…mich nervt es, wenn du ständig unterwegs bist und dann so zugerichtet nach Hause kommst. Hast du vielleicht auch eine Anzeige bekommen?“ „Nein, hab ich nich!“, fuhr ich sie an. „Schau dich doch nur an Lukas…was ist aus dir geworden. Jeder Jugendliche in deinem Alter fängt an seine Identität zu entwickeln, aber du musst dich eben immer von allen abheben. Dein Aussehen jagt mir manchmal echt Angst ein…so böse und schwarz.“ „Na und mir gefällt‘s halt. Musst mich ja nich anschauen.“ „Du bist so ein hübscher Junge, aber was rede ich da“, sagte sie mit dieser übertrieben hohen Stimme, mit der sie immer zum Ausdruck brachte, wie frustriert sie doch war. Manchmal tat sie mir dann auch ein bisschen leid. Doch ihr Ziel, mir damit ein schlechtes Gewissen zu machen, zog schon lange nicht mehr. Ich stellte meine Haare zum Iro auf, weil Nici das ja unbedingt sehen wollte und ich bekam ihn sogar richtig gut hin. Wie erwartete zeigte meine Mutter wenig Begeisterung für diese Frisur, weil so ja die asozialen Punks rumliefen. Und meine arschenge Röhrenjeans trug wahrscheinlich auch noch dazu bei, dass sie so dachte. „Ich ertrage das nicht mehr. Dauernd diese Ungewissheit, wo du bist oder wann du kommst. Wenn du überhaupt kommst.“ „Wie gesagt, dann gib mir einen Grund öfter hier zu sein. Denn ich ertrage es nich, dauernd hören zu müssen, was dich alles an mir nervt.“ Ich wollte unbedingt los, weil ich eine rauchen musste. „Damals, als ich dich aus dem Krankenhaus abholte…ich hatte so gehofft, dass du dich änderst…einsiehst, dass du dir die falschen Freunde gesucht hast. Woher kommt das Lukas? Keiner in unserer Familie ist so.“ „Vielleicht bin ich ja gerade deshalb so. Ich will nicht so wie der Rest meiner Familie sein und ich sehe es auch nicht ein mich anzupassen, nur damit ich dem so tollen angesehenen Familienbild gerecht werde.“ Ich hasste solche Gespräche. Sie verpasste mir eine Ohrfeige. „Aber, wenn du weiter so machst, brauchst du nicht zu glauben, dass dein Vater und ich dich noch in irgendeiner Art und Weise unterstützen. Weißt du, wir arbeiten und bringen das Geld ins Haus und du bringst nicht mal eine Gegenleistung. Eher im Gegenteil, du bist aufmüpfig, respektlos und provokant.“ Das traf mich härter als gedacht. Nicht so, dass ich je an die Unterstützung meiner Eltern geglaubt hatte, aber, dass sie mir das auch noch so knallhart ins Gesicht sagte, hätte ich nicht erwartet. Sicherlich war ich nicht einfach, dass wusste ich, doch die Ursachen lagen nicht nur alleine bei mir. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Und sie setzte noch eins drauf. „Du kannst ja zu deinen tollen Freunden ziehen. Such dir einen Platz auf der Straße. Da hältst du dich ja sowieso mehr auf als zu Hause. Immerhin möchte ich vermeiden, dass deine Schwester noch so wird wie du. Wenn du wieder normal geworden bist, kannst du ja wieder nach Hause kommen.“ Wie konnte sie nur so kaltherzig sein? Immerhin hatte ich gedacht, dass ihr wenigstens ein bisschen was an mir liegt. Ich war mir zwar nicht sicher, ob sie das wirklich ernst gemeint  hatte, doch packte ich tatsächlich einen Rucksack mit ein paar Sachen und verließ die Wohnung ohne mich von ihr zu verabschieden. Meine Schritte beschleunigten sich immer mehr und meine Hände zitterten, als ich mir eine Zigarette anzündete. Was würde jetzt aus mir werden? Ich hasste meine Mutter, ja meine ganze Familie. Ich war verletzt und auf einmal so hilflos. Als ich dann bei meinen Freunden saß, ließ ich mir vorerst nichts anmerken und öffnete mir ein Bier. Den Schmerz im Alkohol ertränken. Dann klingelte mein Telefon. „Lukas, es tut mir leid, bitte vergiss meine letzten Worte“, heulte sie in den Hörer. „Ach, ich weiß schon, wie du das gemeint hast. Lass mich in Ruhe, ich will dich nicht mehr sehen.“ „Bitte verzeih mir! Bitte!“ Doch der Schmerz saß zu tief. Ihre Worte waren bewusst gewählt und die hatte sie nicht ohne Grund gesagt. „Lass es einfach! Ich brauch dich nicht! Ich komm schon klar.“ Ich schrie sie jetzt an, weil ich ihre Stimme nicht ertragen konnte und sie legte auf. Meine Freunde sahen mich etwas betreten an und in mir brach eine Welt zusammen. Ich erblickte Nici und Nadja, doch ich wollte alleine sein, schnappte meinen Rucksack und rannte weg. Ich lief so schnell, bis meine Lunge brannte. Tränen rannen mir über die Wangen und ich sackte zusammen. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass meine Mutter irgendwann so schlimme Dinge zu mir sagen würde. Es hatte begonnen zu regnen und ich verkroch mich in einer Bahnhaltestelle, in der ich leider auch nicht alleine war. Deshalb verließ ich diesen Ort auch schnell wieder. In meinem Rucksack befand sich noch eine halbvolle Flasche Korn, von der ich mehrere große Schlucke nahm. Doch davon wurde mir so schlecht, dass ich mich an der nächsten Ecke übergeben musste. Das lag wohl daran, dass ich heute kaum etwas gegessen hatte. Enttäuscht und wütend schmiss ich die Flasche zu Boden, die dann in tausend kleine Scherben zersprang. Als ich so vor dem Scherbenhaufen hockte, griff ich automatisch nach einer größeren scharfkantigen Scherbe und wiegte sie leicht beklommen in den Händen. Dann piekte ich mir eher zaghaft in den Unterarm. Schließlich wagte ich mich weiter in die Zone des Schmerzes und ritzte mir den Arm auf, um den Schmerz im Kopf loszuwerden. Das Blut lief meine Hand hinunter bis zum Unterarm. Die Wunde pochte. Dann tropfte es in die Pfütze, vor der ich kauerte. Die Bluttropfen erzeugten kleine Wellen. Wieder musste ich heulen. Das war nicht das erste Mal, dass ich mir eine Wunde dieser Art zufügte. Der Schnitt brannte höllisch, dennoch erzielte er genau das, was ich wollte. Das war das erste Mal, dass es meine Mutter wirklich geschafft hatte mich an meine Grenzen zu treiben. Jetzt war sie mit meinem Dad gleichauf. An einen Abgrund der Einsamkeit das Gefühl zu haben, der ewige Versager zu sein. Eine Schande für die Familie, mehr war ich ja nicht. Als es schon dunkel wurde, machte ich mich gleich auf den Weg zur Laube, da die Leute sicher weitergezogen waren. Kälte umfing mich, weil der Regen bis zu meiner Haut vordrang und ich war heilfroh, als ich mich ans warme Feuer hocken konnte. Alle drehten sich um, als die Gartentür hinter mir quietschend ins Schloss fiel. Flo eilte gleich auf mich zu und nahm mich in die Arme. Das tat so gut und auf einmal fühlte ich mich nicht mehr so einsam. Ich drückte mich fest an ihn, weil ich Angst hatte, wieder in dieses tiefe Loch zu fallen. Langsam schritten wir zum warmen Feuer. Ich holte mir noch eine Decke. „Alles klar bei dir?“ Ich zuckte mit den Schultern und zog an dem Joint, der gerade die Runde machte. „Sie hat mich heute offiziell aus der Wohnung geschmissen. Das war echt zu hart für mich.“ „Und was wollte sie dann am Telefon?“ „Sich entschuldigen. Aber da war es für mich schon zu spät.“ Flo nahm mich wieder in die Arme und bemerkt erst jetzt meine blutige Hand. „Was‘n da passiert?“, fragte er leicht schockiert. „Ich wollte den Schmerz im Kopf loswerden…es is so ätzend…ich komm echt nich mehr klar.“ Flo brachte mir Taschentücher und Wasser. „Nici ist kurz bevor du gekommen bist gegangen. Sie hatte voll Angst, dass du dir was antust.“ Sie hatte also auf mich warten wollen? Das war irgendwie schön. Auch Tim hatte sich Sorgen um mich gemacht. Er nahm mich und ein paar andere Leute dann noch mit in seine Wohnung, wo ich sicherlich erst mal bleiben würde. Dort zog ich mir erst mal trockene Klamotten an und betrank mich. Nicis Anrufe ignorierte ich, denn das konnte und wollte ich ihr nicht erklären.   Ich hätte zwar noch eine Stunde gehabt, aber die ließ ich ausfallen. War sowieso nur Sport. Hoffentlich störte es Nici nicht, dass ich momentan ein bisschen fertig aussah. Chris hatte schon wieder dumme Andeutungen gemacht, über die ich ganz gekonnt hinweghörte. Ich würde zu gern wissen, wie dieser Schnösel in meiner Situation gehandelt hätte. Abgesehen davon, dass ihm sowas mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent oder weniger nicht passieren würde. Aber wenn doch, wäre er sicher voll das Weichei und wüsste keinen Ausweg mehr. Doch war ich besser? Ja. Immerhin ging das Leben weiter und meine Freunde bauten mich auf. Ich rauchte noch eine Zigarette. Sollte ich trotzdem irgendwann wieder nach Hause gehen? Vielleicht, wenn ich wieder normal war. So ein Bullshit und doch tat der Gedanke weh. Konnte sie mich denn nicht so akzeptieren, wie ich war? Ach nein, das ist ja leider unmöglich, weil ich nicht ins Bild passte. Schließlich verabredete ich mich dann doch noch mit Nici, weil ich kein scheiß Freund sein wollte und sie kam in meine Arme gerannt. Ich schloss für einen Moment die Augen, weil es so schön war. Dann küsste ich sie zärtlich auf ihren rosigen Mund. „Tut mir leid, dass du dir solche Sorgen gemacht hast.“ „Jetzt bist du ja hier. Willst du mir jetzt vielleicht sagen, was vorgefallen ist?“ Ich atmete tief durch, denn je mehr ich darüber sprach, desto schwerer fiel es mir. Als ich mit meinen Ausführungen am Ende war, sah mich meine Freundin schockiert an. „Das ist ja echt heftig. Und du meinst nicht, dass du noch mal mit ihr reden kannst?“ Ich lachte bitter. „Was soll ich denn mit ihr reden? Weißt du, das Schlimme daran is, dass ich bis gestern wenigstens noch ein bisschen das Gefühl hatte ein zu Hause zu haben. Aber jetzt nach der Aktion? Am Ende hat es ihr ja auch leid getan. Aber wie sagt man so schön, jedes Wort ist wie ein abgeschossener Pfeil. Und dessen hätte sie sich vorher im Klaren sein sollen.“ Nadja stand die ganze Zeit daneben und hatte unserem Gespräch gelauscht, aber das störte mich eher weniger. Da Nici jetzt erst Mal nach Hause gehen musste, verabredeten wir uns um fünf an der Laube.   Später bei Nadja. „Nici, ich hab mich bisher aus deiner Beziehung rausgehalten und hätte auch nicht erwartet, dass Lukas so krass drauf ist. Chris hat mir erzählt, dass er übel fertig aussah und einen Verband am Arm hatte. Weißt du was das bedeutet?“ „Hör auf! Ich will das nicht hören. Ich glaube da steckt mehr dahinter, als du denkst. Ich werde ihn definitiv nicht im Stich lassen.“ Darauf sagte sie nichts und die Mädchen gingen beide in verschiedene Richtungen. Nici hatte schon genug mitbekommen, um einschätzen zu können, was Lukas für ein Mensch war. Als sie zur Wohnungstür herein kam, spürte sie sofort, dass ihre Mutter irgendwie komisch drauf war. Hoffentlich war es nicht auch wegen Lukas. Doch Nici wurde das Gefühl nicht los, dass ihr neuer Freund ihren Freunden und auch ihrer Familie nichts als Sorgen bereitete. Ihre Mutter erzählte ihr, dass sie Lukas Mutter beim Einkaufen getroffen hatte und die Frau ziemlich mitgenommen aussah. Und sie hatte wohl auch durchblicken lassen, was passiert war. Natürlich aus ihrer Sicht. „Mir ist diese Familie irgendwie suspekt. Ich will, dass du dich nicht mehr mit diesem Jungen triffst Nici.“ „Was?“ Nici verstand die Welt nicht mehr. Sonst war ihre Mutter doch immer so tolerant gewesen. Was sollte das jetzt also? „Das kannst du nicht machen Mama. Bitte. Du kennst ihn ja nicht mal.“ Heute blieb sie hart. „Ich will nur das Beste für dich.“ Für das junge Mädchen brach eine Welt zusammen. Was sollte sie denn jetzt machen? Sollte sie sich dem Willen ihrer Eltern zum ersten Mal wiedersetzen? Lukas hätte das getan, aber Nici war nicht so mutig. „Darf ich mich wenigstens noch mit Nadja treffen? Oder ist das auch tabu?“ „Du brauchst jetzt nicht zickig zu werden junge Dame. Ich bin sonst nicht so, das weißt du selber. Aber das ist eine der wenigen Dinge, die ich von dir verlange und dieser Lukas wird sicher nicht der einzige Junge in deinem Leben sein.“ Wie konnte sie das jetzt nur sagen? „Ja, gegen Nadja habe ich nichts. Aber bitte versprich mir, dass du ihn nicht mehr triffst, ja?“ Nicis Herz schlug ihr bis zum Hals und in ihrem Inneren rumorte es heftig. „Ich…ich……….kann nicht. Bitte, lass ihn mich noch ein einziges Mal sehen.“ Diesen Wunsch gewährte sie ihrer Tochter noch. Doch insgeheim wusste Nici, dass es nicht das letzte Mal sein würde. Um fünf war sie bei der Laube und beschloss Lukas vorerst nichts von dem Streit mit ihrer Mutter zu sagen. Das würde ihm nur noch mehr zusetzen. Er lag auf der Wiese und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Nici versuchte seinen linken Arm zu ignorieren, an dem man noch die frischen Spuren seiner Selbstverletzung sehen konnte. Sie waren alleine und Nici fühlte sich auf einmal ganz weit weg von der Realität. Sie waren eingeschlossen in ihrer kleinen Welt. Er sah so hübsch aus, wie er da so lag und sie anlächelte. An seinem Auge war nur noch ein kleines grünes Fleckchen zu erkennen und die Wunde an seiner Lippe war auch fast verheilt. Die Haare fielen ein bisschen in sein Gesicht und verdeckten die Wange und sein Auge ein wenig. Ja diese smaragdgrünen Augen strahlten in der Sonne. Nein, Nici konnte und wollte Lukas heut nicht zum letzten Mal sehen. Sie ließ sich zu ihm hinuntergleiten. „Na meine kleine Prinzessin.“  Sie mochte es, wenn er ihr süße Namen gab. Lukas war einfach mit keinem anderen Junge zu vergleichen. „Geht’s dir gut?“ „Klar.“ Er setzte sich jetzt auch hin und küsste sein Mädchen. Es fühlte sich so toll an. „Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich froh bin dich zu haben?“ Nici schüttelte mit dem Kopf. „Als mir Flo erzählt hat, dass du noch voll lang auf mich gewartet hast, hat mich das echt gefreut.“ „Ja, ich hab mir echt Sorgen um dich gemacht…wegen deiner Mum und so. Wie war eigentlich deine Beziehung vor mir?“ „Anders. Da drehte sich meist alles um Sex, aber das ist auf die Dauer auch nicht so spannend.“ „Naja, ich habe mir damals auch was anderes vorgestellt. Das Mädel, mit dem ich zusammen war fand ich echt heiß, aber sie hat mir wenig Freiraum gelassen. Da half selbst der beste Sex nichts. Darf ich dir dann mal was zeigen?“ „Was denn?“ „Man stellt keine Gegenfrage auf eine Frage. Lass dich überraschen.“ „Oho ich mag Überraschungen.“ „Na dann auf.“ Sie fuhren zurück in die Innenstadt und Lukas führte seine Nici zu einem kleineren Flachbau. Dort warteten auch schon Basti, Flo und Tim. Was sie wohl vorhatten? Drinnen stand eine kleine Bühne mit Instrumenten. „Das ist unser Proberaum. Unsere Band ist noch nicht wirklich bekannt, selbst Nadja weiß nichts davon, aber das kommende Wochenende wollen wir unser erstes Konzert geben. Du bekommst schon mal einen Vorgeschmack.“ Nici fühlte sich geehrt und Lukas war der hübscheste Sänger, den sie kannte. Nach ein paar Elecktrochecks füllte sich der Raum mit wundervoller Musik, die sehr melodisch und irgendwie auch traurig klang. Lukas Stimme hörte sich  beim Singen so anders und hatte etwas Verzauberndes. Er sang so, als könnte ihn nur das am Leben halten. Die Wunde an seinem Arm verlieh im etwas Verletzliches. Dennoch wirkte er irgendwie auch schön und unnahbar. Nici umarmte und küsste ihn danach. Dann dachte sie wieder an die Worte ihrer Mutter und spürte einen Stich in der Seite. Als es halb acht war, trat sie den Heimweg an. Je näher sie ihrem Haus kam, desto betrübter wurde sie. Wann würde sie ihren Liebsten das nächste Mal sehen? Ihre Eltern saßen gerade am Esstisch und speisten zu Abend. Und ihre Mutter schaute sie schon wieder mit diesem vorwurfsvollem Blick an, wie so oft in den letzten Tagen. Nici setzte sich zu ihnen, obwohl sie keinen Hunger hatte. „Komm, iss was!“, forderte sie ihre Mutter auf. Das Mädchen nahm sich eine Tomate, schnitt sie auf und streute Salz und Pfeffer darauf. „Nici, jetzt sei nicht albern.“ Ihr Vater beobachtete das Theater etwas misstrauisch. „Bei euch herrscht wohl gerade Streit?“ Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. „Das kann dir Mama besser erklären.“ Es ging nicht mehr, die Tränen kamen und Nici rannte hinauf in ihr Zimmer. Kurze Zeit später kam ihr Vater herein und setzte sich zu ihr an den Bettrand. „Hey meine Kleine. Davon geht die Welt doch nicht unter.“ „Stimmst du ihr etwa auch zu? Ihr kennt ihn ja nicht mal.“ „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll und wir wollen wirklich nur das Beste für dich, aber ich denke trotzdem, dass deine Mutter etwas zu streng war. Warum bringst du deinen Lukas nicht mal mit hier her? So können wir uns selbst ein Bild von ihm machen.“ Endlich sah Nici wieder Licht am Ende des Tunnels. „Meinst du das wirklich ernst?“  „Ich regele das mit deiner Mutter schon.“ Doch plötzlich kamen erneut Zweifel in dem Mädchen hoch. „Was ist, wenn er das gar nicht will? Er hat gesagt, dass er die Gegend hier meiden will. Im Moment zumindest, aber ich werde ihn auf jeden Fall fragen.“ „Schon gut. Lass uns da mal nichts überstürzen. Aber eine Bitte habe ich. Vergiss zwischen deinen neuen Freunden und dem Rest deine Schulpflicht nicht.“ Nici lächelte und umarmte ihren Papa. Er war doch der Beste. Die Woche war echt alles andere als Zuckerschlecken. In der Schule hatte ich für jede Stunde nur einen leeren Block und Bücher hatte ich gar keine, außer der meiner Freunde, weil sie mich mit hineingucken ließen. Hausaufgaben erledigte ich entweder mit Basti oder überhaupt nicht. Ich vermisste meine kleine Schwester sehr und war oft kurz davor einfach zurück nach Hause zu gehen. Ich nahm in dieser einen Woche auch viel Mist zu mir und hoffte, dass Nici nichts davon mitbekam. Ich sah wahrscheinlich aus, wie der letzte Penner, doch auch das schien sie nicht zu stören. Als wir wiedermal im Park hockten und Bier tranken, hörte ich auf einmal, wie jemand meinen Namen rief. Zu erst konnte ich niemanden sehen und ignorierte es einfach. Doch dann vernahm ich dieses zarte Stimmchen ein weiteres Mal, diesmal noch näher und dann sah ich ein kleines Mädchen mit Schulranzen und langen, schwarzen Haaren. Sie stand einfach nur da und winkte mir. Ich sprang auf und rannte auf sie zu. Meine kleine Schwester fiel mir um den Hals und ich nahm sie auf den Arm, so leicht war sie. „Lukas, du musst wieder nach Hause kommen. Es ist so furchtbar ohne dich. Mama und Papa streiten sich nur noch und ich will auch nicht mehr zu Hause wohnen, wenn du nicht da bist.“ Ich drückte Jojo ganz fest an mich und musste mit den Tränen kämpfen. Sie war wirklich der einzige Grund, wieder zurückzugehen. „Das ist gar nicht so leicht mein Engel.“ „Aber du musst! Sonst reiß ich auch aus. Ich habe schon die letzten Nächte immer in deinem Bett geschlafen und gehofft, dass du irgendwann kommst.“ Ihr trotziger Blick ließ mein Herz erweichen und ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Also schnappte ich meinen Rucksack, verabredete mich mit meinen Freunden später und ging nach einer Woche auf den Wunsch meiner kleinen Schwester wieder mit nach Hause. Meine Mutter staunte nicht schlecht, als ich zur Tür hereinspazierte. Jedoch gab ich ihr gleich zu verstehen, dass ich das nicht ihretwegen gemacht hatte. „Kannst du mir nicht verzeihen?“ „Hast du mal überlegt, was du zu mir gesagt hast? Würdest du dir denn verzeihen? Vielleicht irgendwann, aber nicht jetzt sofort.“ Als erstes nahm ich eine heiße Dusche und zog mir frische Klamotten an. Nici hatte mich vor zwei Tagen gefragt, dass mich ihre Eltern kennenlernen wollten und deshalb beschloss ich sie anzurufen und fragte, was sie von heute hielt. Ihr kam der Gedanke gerade recht. Mein Outfit fiel deshalb sehr neutral aus. Cordhose und schwarzes Langarmshirt. Meine Arme musste ich ja nicht überall öffentlich zur Schau stellen. Das dunkle Make-up ließ ich auch ganz bleiben, wie auch schon in den letzten Tagen. Ich zog meine Turnschuhe an, weil die nicht geschnürt werden mussten. Jojo versprach ich auf jeden Fall wiederzukommen. „Ich geh noch mal weg“, sagte ich zu meiner Mum. „Bist du zum Abendessen zurück?“ „Kann sein, weiß ich aber noch nicht. Bis später.“ Nici empfing mich total erfreut. „Kommst du gerade von zu Hause?“, fragte sie, als würde sie gleich vor Freude platzen. Ich nickte. „Meine Schwester hat mich heut im Park besucht und mich angefleht, dass ich zurückkomme. Was hatte ich da schon für eine Wahl?“ „Und wie hat deine Mum reagiert?“ „Überrascht. Reden wir nicht drüber und du stellst mich jetzt deinen Eltern vor.“ Wir traten ins Wohnzimmer, in dem sich Nicis Eltern aufhielten. Ich versuchte freundlich und gelassen zu gleich zu wirken. Der erste Eindruck ist ja bekanntlich immer ausschlaggebend und ich machte das Beste daraus. Ihre Mum kochte uns Kaffee, das war schon mal toll. Wir setzten uns raus auf den kleinen Balkon und plauderten miteinander, das Übliche eben. Was ich nach dem Abi vorhatte, über meine Interessen und so weiter. Nicis Vater war mir sehr sympathisch. Bei ihrer Mutter wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich nicht mochte. Wahrscheinlich wusste sie zu viel über meine Familienverhältnisse. Da ich ja ausnahmsweise zum Abendessen zu Hause sein wollte, verabschiedete ich mich kurz vor halb sieben von Nici und ihren Eltern. Meine Mum hatte sich wirklich große Mühe gegeben. Es gab irgendeine italienische Neuheit und Tomate Mozzarella. Auch mein Vater war wieder da. „Ach das man dich mal wieder sieht.“ Für diesen Kommentar hätte ich ihm am liebsten den Hals umgedreht. „Ja, unglücklicherweise gehöre ich auch zu dieser Familie.“ Und schon wieder überkam mich das Gefühl des Unwohlseins und das trug dazu bei, dass ich unbedingt weg wollte. Deshalb beeilte ich mich auch mit dem Essen, ohne noch ein Wort mit meinen Eltern zu wechseln. „Willst du nicht wenigstens warten, bis alle fertig sind?“, fragte meine Mum, als ich mich erhob und meine Teller in die Küche bringen wollte. „Hab ich doch sonst auch nich. Ihr müsst jetzt nich versuchen mich zwanghaft in euer harmonisches Familienleben zu integrieren.“ „Was ist denn mit dir los?“ Ich warf meinem Vater einen verständnislosen Blick zu. „War das jetzt eine ernsthafte Frage? Tut doch nich so, als ob es euch jetzt auf einmal interessiert.“ „Kannst du dir mal einen anderen Ton angewöhnen?“ „Diesen Ton lernt man nun mal, wenn man mit asozialen Leuten rumhängt. Tut mir ja leid, aber wer hätte mir denn ein besseres Benehmen beibringen sollen? Du etwa?“ Und da war der Streit schon wieder perfekt. Mein Vater holte aus und seine flache Hand sauste auf meine Wange. Das tat verdammt weh. „Wir sollten wohl mal strengere Maßnahmen einführen, mein Lieber.“ „Und? Was erhoffst du dir dadurch? Ich hau jetzt ab.“ „Halt, halt. Du gehst nirgendwo hin!“ Er plusterte sich vor mir auf und versperrte mir den Weg. Seine starken Hände griffen um meine Handgelenke und er hielt mich fest. Mit seinem ganzen Körpergewicht drückte er mich gegen die Wand, nur um mich dann mit voller Wucht gegen die Tür zum Flur zu schleudern. Ich unterdrückte einen Schmerzensschrei, als ich gegen das massive Holz knallte. Mit hasserfüllten Blicken musterte ich meinen Vater und rieb mir über die schmerzenden Rippen. „Weißt du was? Ich gebe zu, dass ich nich ganz einfach bin und auch für viele Dinge, die sich hier wohl eher negativ entwickeln, verantwortlich bin. Aber ich sehe es nich ein, die Schuld allein auf mich zu nehmen! Wer war es denn, der mich als Kind oft allein ließ, obwohl ich Angst hatte. Wer hat mich denn ständig nur reich mit Geld beschenkt, damit ich endlich die Klappe halte. Meinst du, das ist so ohne weiteres an mir vorbeigezogen? Ich hätte mir oft eure Hilfe gewünscht, doch die habe ich nie bekommen und warum sollte ich das jetzt wollen?“ Meine Mutter brach augenblicklich in Tränen aus und mein Vater starrte mich mit offenem Mund an. Zeigte mir das etwa, dass ich Recht hatte? Ich kleiner, dummer, unerfahrener Teenager hatte doch nicht Recht. Schlimm genug, wenn ich meine Eltern darauf hinweisen musste, was sie für Fehler machten. Mein Vater machte einen Schritt zur Seite. Ich zögerte nicht lange und verließ dieses Irrenhaus. Jojo hatte ich noch versprochen, dass sie heute bei mir schlafen könne. Weg, bloß weg hier. In mir baute sich wieder dieser Frust auf. Da es regnete, trafen wir uns bei Tim. Kim holte mich auf dem Weg ein und sah nicht weniger deprimiert aus als ich selbst. „Hast du Zigaretten?“ „Ja klar. Alles okay bei dir?“ „Ja geht schon. Ich bin wieder Mal abgehauen, weil mein Vater seine dreckigen Finger nicht von mir lassen konnte.“ Ich seufzte und zündete mir eine Zigarette an. „Hast du mal drüber nachgedacht ihn anzuzeigen? Beweise genug hast du doch.“ „Eben nich. Ich weiß nich, ob die blauen Flecken alleine reichen. Die könnte ich ja auch sonst woher haben und solange sich meine Mutter quer stellt, hab ich doch keine Chance.“ Ich legte meinen Arm um Kims Schulter. „So kann das aber nicht weitergehen. Soll ich vielleicht mit dir zum Jugendamt kommen? Irgendwas müssen die doch machen. Versuche es wenigstens.“ Kim lächelte schwach. „Würdest du mir da echt helfen?“ Ich nickte. „Na klar.“ Gemeinsam gingen wir hinauf in Tims Wohnung. Es wurde gerade Mau Mau gespielt und die nächste Runde stiegen Kim und ich auch mit ein. Es war ein großer Spaß und ich lachte wie schon seit Tagen nicht mehr.   Nici hatte wirklich erwartet, dass Lukas sich noch Mal melden würde, doch nichts tat er. War das Absicht? Wollte er den Abend nicht mit ihr zusammen verbringen? Total deprimiert hockte Sie mit Nadja und Chris in einer Cocktailbar und machte sich so ihre Gedanken. Natürlich war das wieder ein gefundenes Fressen für die beiden. Das zog sie nur noch mehr runter. Hauptsache sie hatten ihren Spaß. Ununterbrochen starrte Nici auf das Display ihres Handys, doch nichts. Keine SMS und kein Anruf. Bedeutete sie Lukas wirklich so wenig? Oder war er vielleicht wieder von zu Hause abgehauen, weil es Stress gab? Ihre Eltern dachten jetzt glücklicherweise nicht mehr so negativ über ihn. Das machte die Sache aber auch nicht besser. „Nici, sieh es doch ein. Du bist ihm egal. Lukas zieht seine Freunde nun Mal vor. Schau der Wahrheit ins Gesicht. Du hast etwas Besseres verdient, als diesen Loser.“ Chris beeindruckte sie nicht im Geringsten mit seinen Sprüchen. Deshalb richtete sie ihre nächsten Worte nur an Nadja und hoffte, dass sie ihr wenigstens ein bisschen beistand. „Meinst du ich soll ihn einfach anrufen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht recht. Vielleicht hat Chris aber auch recht Süße. Was ist, wenn Lukas echt die Nase voll von Beziehungen hat?“ Am liebsten würde Nici schreien. Waren denn jetzt alle gegen sie? „Toll, ich denk, du magst ihn? Und Basti? Liegt er dir denn nicht am Herzen?“ „Doch schon, aber Basti kannst du nicht mit Lukas vergleichen. Immerhin hat er mir gesagt, dass er heute was mit seinen Freunden machen will. Lukas hält es ja nicht für nötig sich bei dir zu melden. Schon komisch.“ Nici überkam auf einmal die Angst, dass er es wirklich nicht ernst meinte. Deshalb griff sie voller Ungewissheit ihr Handy und rief ihn an. Es klingelte ungefähr drei Mal, dann erklang seine wundervolle Stimme am anderen Ende. Lukas hatte voll das schlechte Gewissen und entschuldigte sich sogar bei Nici. Dann sagte er, sie solle zum Park kommen. Dort würde er sie dann abholen und mit zu Tim nehmen. Nici war wieder das glücklichste Mädchen auf der Welt und die irritierten Blicke ihrer Freunde brachten sie zum Schmunzeln. „Gehst du da jetzt auch hin?“ „Warum nicht?“ „Zu den ganzen Chaoten? Da sind doch kaum Mädels dabei.“ „Na und? Hauptsache ich bin bei Lukas. Basti würde sich bestimmt auch freuen, dich öfters mal mit bei seinen Freunden zu sehen.“ Nici bezahlte ihr Getränk, schnappte ihre Jacke und verabschiedete sich von den beiden. Ihr Herz schlug immer schneller und obwohl sie Lukas erst vor wenigen Stunden gesehen hatte, war sie total aus dem Häuschen. Er wartete schon und hielt die Arme auf, als er sie erblickte. Nici rannte zu ihm und dann ließ er sie durch die Luft fliegen. Seine Augen waren ein bisschen glasig und die Pupillen größer als sonst. Trotzdem war sie froh ihn zu sehen und er grinste sie die ganze Zeit total süß an. „Es tut mir echt voll leid. Es gab halt Stress bei mir und da bin ich einfach gegangen. Um ehrlich zu sein hab ich mir keine Gedanken um dich gemacht. Sei mir deshalb bitte nicht böse okay?“ Das war immerhin eine klare Ansage in seinem Rausch. Nici konnte ihm auch nicht böse sein. „Okay, bin ich nicht. Gehen wir jetzt zu Tim?“ Er nickte und fasste sie bei der Hand. Dann blieb er abrupt stehen und sah sie an. „Nici. Ich will nicht, dass du denkst, ich würde dich vergessen. Ich finde es unheimlich toll mit dir zusammen zu sein…“ „Du musst dich nicht entschuldigen…“ „Nein, lass mich zu Ende reden. Nur die Situation ist neu für mich. Naja, neu ist wohl eher das falsche Wort. Ich hatte das nur schon länger nich mehr, dass sich auch andere Personen außer meinen Freunden für mich interessieren. Weißt du? Und ich versuche da echt an mir zu arbeiten und ich nehme dich auch gern mit zu meinen Freunden.“ Das war das Süßeste was ein Junge je zu ihr gesagt hatte und das bewies doch nur, dass es Lukas echt ernst war. Sie lächelte und küsste ihn. Die Jungs waren sehr lustig drauf. Auch Kim begrüßte Nici diesmal voll lieb. Sie fühlte sich hier tausend Mal wohler als in der Cocktailbar mit Chris und Nadja. Basti tat ihr ein bisschen leid. Tim brachte gleich ein Bier. Lukas nahm seine Nici auf seinen Schoß und im Hintergrund lief Marilyn Manson. Das passte irgendwie gerade richtig zu der Stimmung hier. Basti fragte, ob Nadja etwas gesagt hätte. „Nicht viel. Sie tat nur sehr überrascht, dass ich mit zu euch gehe.“ Plötzlich lernte Nici Basti von einer ganz anderen Seite kennen. „Sieht ihr ähnlich. Hauptsache sie bekommt  ihren Willen. Ich hab da langsam keinen Bock mehr drauf. Kannst du da nicht etwas nachhelfen?“ Nici zuckte unbeholfen mit den Schultern. „Versuchen kann ich es. Ich habe ihr vorhin schon gesagt, dass sie doch mal mitkommen soll, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie das wirklich will.“ Basti schaute sie mit betretener Miene an. „Da ist wohl nichts zu machen. Vielleicht sollte ich mit ihr darüber reden.“ „Das ist bestimmt das Beste.“ Nici fiel auf, dass Lukas heute irgendwie noch toller als sonst aussah. Auch, wenn das kaum möglich war. Seine Hose saß auf Hüfthöhe und das enge Shirt betonte seinen muskulösen Oberkörper. Er stand gerade bei Tim und unterhielt sich mit ihm über irgendetwas. Kim beobachtete die Jungs lächelnd von der Seite. „Du magst ihn sehr, was?“ „Oh ja. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass wir zusammenkommen.“ „Ja, der Lukas. Er ist echt was Besonderes. Aber ihm liegt auch viel an dir, das kannst du glauben.“ „Echt?“ „Er hat in meiner Gegenwart schon viel von dir geredet und das mag bei ihm was heißen. Weißt du, ich finde dich echt voll lieb.“ Nici fühlte mich sehr geschmeichelt. „Hey, danke. Ich dich auch. Am Anfang war ich ein bisschen eifersüchtig auf dich, weil du so an Lukas gehangen hast.“ Kim wurde ein wenig ernster. „Bitte sieh das nicht so kritisch. Er ist halt der tollste Mensch, den ich kenne.“ Kim und Nici teilten sich eine Zigarette. Nici mochte sie wirklich und war glücklich, dass auch sie akzeptiert wurde. Sie erzählte ihr, dass sie ihren Realschulabschluss nachholen wolle, aber noch keine Schule gefunden hatte. Nici bot ihr an, bei ihr an der Schule mal nachzufragen, wie sowas ablief oder überhaupt möglich war. Das freute sie. „An meiner alten Schule wurde ich immer gemobbt und so. Aber ich will das jetzt echt und denke auch, dass ich das schaffen werde.“ Gleich in der kommenden Woche fragte Nici ihren Klassenlehrer danach. Er meinte, dass dies schon möglich sei. Man müsse lediglich eine Bewerbung schreiben oder einen Antrag stellen. Am besten wäre es natürlich, wenn man seine Unterlagen persönlich abgeben würde, um einen guten Eindruck zu erwecken. Nach der Schule trafen sich Kim und Nici im Park. Kim war überglücklich und wollte sich gleich um alles kümmern. Lukas wollte auch noch kommen und Nici beschloss zu warten. Doch, als er nach anderthalb Stunden immer noch nicht aufgetaucht war, ging sie enttäuscht nach Hause und machte sich wieder Gedanken.   Nici wurde unsanft von ihrer Mutter geweckt, die leicht panisch ins Zimmer stürmte, weil ihre Tochter den Wecker scheinbar nicht gehört hatte. Sie schlug beim Frühstück vor nach der Schule shoppen zu gehen. Dieser Idee war Nici nicht abgeneigt, da sie eh ein paar neue Oberteile haben wollte. Nach dem Stadtbummel hatten gönnten sich Mutter und Tochter ein leckeres Eis. Also bestellten sie sich zwei extravagante Eisbecher und genossen diese in der warmen Nachmittagssonne. Danach wollte Nici ihrer Freundin Nadja noch einen Besuch abstatten. Sie erzählte ihr, dass sie seit gestern mit Lukas zusammen war. Nadja freute sich zwar, aber nicht so wie sonst. „Hey, was'n los mit dir?“, fragte Nici ganz vorsichtig und besorgt zu gleich. Nach einer kleinen Pause antwortete sie. „Sebastian hat gestern Abend mit mir Schluss gemacht. Er hat gesagt, er hätte da ein anderes Mädchen kennen gelernt und nun hat er sich wahrscheinlich in die kleine Schlampe verliebt, wie sich das anhörte!“ Nadja fiel Nici in die Arme und fing an zu weinen. Der Freundin tat das alles echt furchtbar leid. „Ey, lass den Kopf nicht hängen. Ich weiß ja, wie schlimm das ist, aber so einen, wie den hast du echt nicht verdient!“ Sie lächelte nur schwach. „Vielleicht hast du Recht, aber er war so lieb. Ich hoffe Lukas behandelt dich nicht irgendwann auch so.“ Ihre Stimme klang zittrig. „Nein, ich hoffe es auch nicht, wobei er in letzter Zeit echt über viel mit mir redet.“ Nadja wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch weg. „Du Nici, ist eigentlich an dieser Drogengeschichte was dran? Ich meine ich mach mir auch Sorgen um dich.“ Nici wurde flau im Magen und sie wusste nicht, ob sie mit Nadja darüber reden sollte, auch wenn sie ihre Freundin sehr mochte. „Ich habe bisher noch nichts mitbekommen, weiß auch nicht, woher Chris das hat.“ „Nein? Vielleicht machen sie es ja auch nur nicht, weil du dabei bist. Lukas ist schon ab und zu echt am Ende, zwar überspielt er alles, aber ich glaub ihm das nich. Sei bitte vorsichtig.“ Nici seufzte. „Ich habe manchmal nur Angst, dass er zu viel trinkt, aber sonst ist wirklich nichts.“ Nadja lachte nun wieder. „Das glaube ich dir, aber du wirst schon wissen, was du machst.“ Die Worte ihrer Freundin beunruhigten Nici ein bisschen. Sie hatte die Jungs ja ein paar Mal beim Kiffen gesehen, aber nahmen sie ernsthaft auch härtere Sachen? Eigentlich wollte sie das nicht wahrhaben, aber wenn sie Lukas manchmal näher betrachtete, konnte sie nicht leugnen, dass er sehr mitgenommen und ein bisschen zu blass aussah. Doch sie redete sich immer ein, dass das einen anderen Grund hatte. „Ist es okay, wenn ich dich jetzt alleine lasse? Ich würde gerne noch mal zu Lukas.“ Nadja lächelte. „Kein Problem. Geh nur. Wenn du willst, können wir ja am Wochenende was Schönes zusammen machen.“ „Na klar. Meld dich bei mir!“ Nici gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange.   Wie erwartet traf Nici Lukas im Park an. Er spielte mit Basti gerade Haggiesack. Seine Laune schien wieder etwas besser zu sein. Und trotzdem ging er ihr irgendwie aus dem Weg, wie auch Basti. Die beiden schienen wichtige Dinge bereden zu müssen und deshalb setzte sie sich zu den anderen Leuten. Warum war Lukas nur manchmal so unfair? Plötzlich kam Kim angerannt und erzählte total aufgeregt, dass sie heute mit dem Direktor von Nicis Schule gesprochen hatte und er ihr zugesagt hatte. „Ich komme sogar in deine Klasse. Das ist doch schön oder?“ Nici nickte und lächelte. „Das sind echt erfreuliche Nachrichten. Kannst du da morgen gleich mitkommen?“ „Theoretisch schon. Wir können uns früh ja vor der Schule treffen, da weiß ich wenigstens, wo ich hin muss. Ich freu mich so.“ Sie freute sich auch für Kim, doch als diese zu Lukas ging und er sie total freundlich begrüßte, wuchs in Nici die Eifersucht. Warum tat er das? Sie hasste ihn dafür und gerade als sie sich bereit zum Gehen machte, kam er auf einmal. „Willst du etwa gehen ohne mir hallo zu sagen?“ „Seit wann kommt denn der Kuchen zum Krümel!“ Nici war genervt und ließ ihn das auch spüren. Doch er lachte. Trotz der dunklen Ränder unter seinen Augen sah er wunderschön aus. Sein glattes Gesicht und diese wundervollen Lippen. „Jetzt sei mal nicht so zickig. Es tut mir leid wegen gestern, okay? Ich war echt am Arsch.“ Er schaute Nici mit seinen tiefgrünen Augen durchdringlich an und sie konnte ihm kaum noch wiederstehen. „Schön, du hast gewonnen. Ich finde es trotzdem blöd, wenn du so bist. Schließlich kann ich nichts dazu und außerdem wollte ich dir wirklich nur helfen. Und auch, wenn du der Meinung bist, ich würde dich nicht verstehen, tue ich es doch. Meinst du ich hatte noch nie Streit mit meinen Eltern?“ Nici hatte auf einmal den Drang ihm alles zu erzählen, denn vielleicht glaubte er ihr dann. „Doch schon, aber nich so Nici. Es ist ein Unterschied, ob man sich streitet, um den anderen vor etwas beschützen zu wollen oder weil man ihn nich mag. Mich macht das total kaputt.“ „Und deshalb trinkst und kiffst du dauernd…verstehe.“ Er zog die Stirn in Falten und schüttelte mit dem Kopf. „Ich hab jetzt keinen Bock mit dir zu diskutieren.“ Sie verfluchte Lukas für seine Gleichgültigkeit. „Ja schon klar, weil es der einfachste Weg ist!“ „Nein, weil ich keine Lust hab mich auch noch vor meiner Freundin rechtfertigen zu müssen.“ „Du musst dich für gar nichts rechtfertigen, ich wünsche mir nur, dass du ehrlich bist.“ Er verdrehte die Augen. „Ich war immer ehrlich zu dir und wenn du noch mehr erwartest, muss ich dich leider enttäuschen. Was willst du denn noch Nici?“ „Ich weiß es nicht…keine Ahnung, vielleicht, dass du mal irgendwann bessere Laune hast und nicht immer depri drauf bist…vielleicht fände ich es auch mal schön dich glücklich zu sehen…glücklich, weil du mich liebst und dir was an uns liegt.“ Die Worte platzten aus ihr heraus, weil sie wirklich sauer war und wollte, dass Lukas das merkte. Ihr war egal, was er gerade für Probleme hatte. Mit ihr konnte er doch reden oder etwa nicht? „Echt jetzt? Gut, dann tue ich jetzt so, als ginge mir diese ganze Scheiße hier am Arsch vorbei und ich bin jetzt glücklich. Weil du es dir wünscht, warum nich.“   Nicis Reaktion traf mich viel mehr, als sie sich vorstellen konnte, aber wie sie wollte. Ich besorgte mir eine Flasche billigen Wodka, denn darauf musste angestoßen werden. Nici schien nicht zu bemerken, dass sie gerade zu weit gegangen war, nur Basti und Flo warfen mir verstohlene Blicke zu, die ich jedoch ignorierte. Wir zogen weiter und ich spielte noch immer den gut gelaunten Liebhaber. Mit Flos Hilfe hatte ich bei der Laube fast die halbe Flasche geleert. Nici ergriff meine Hand und küsste mich. Sie beschwerte sich auch nicht darüber, dass ich betrunken war, denn scheinbar fiel ihr nicht auf, dass es mir mieser als mies ging. Irgendwann stahl ich mich weg und kletterte aufs Dach der Laube. Alles war zu viel. Nici wurde mir zu viel, weil sie Unmögliches verlangte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und wollte schreien. Plötzlich rief sie meinen Namen und ich antwortete ihr. Sie kletterte zu mir hoch. Die Flasche war leer und ich schlug sie an der Dachkante kaputt. Nici lehnte sich an meine Schulter, doch ich rutschte weg und setzte mich im Schneidersitz ihr zugewandt hin. „Lass den scheiß okay.“ Erschrocken schauten mich ihre unschuldigen Augen an. Gedankenverloren wiegte ich die zerbrochene Flasche in meinen Händen hin und her. „Was ist los?“ Ich antwortete nicht sofort, sondern zerschlug die Flasche in noch kleinere Teile und pickte eine größere Glasscherbe aus dem Haufen. „Nichts, mir geht’s blendend…hast du dir das so vorgestellt ja? Nici, ganz ehrlich das war wirklich nich cool. Ich wollte heut nichts trinken, aber das was du vorhin gesagt hast…naja, da ging‘s nich anders…da is nochwas…ich kann gerade nich glücklich sein.“ Sie sah ängstlich auf die Glasscherbe in meiner Hand. „Lukas bitte,…ich wollte nicht, dass du traurig bist und jetzt leg das weg. Lass uns wieder zu den anderen gehen.“ Sie zeigte auf die Glasscherbe. Ich lächelte schwach. „Warum denn, hast du etwa angst, dass ich das hier tue…“ sagte ich voller Bitterkeit und rammte das Stück Glas in meinen Arm. Eine weitere Wunde blieb zurück. Nici entfuhr ein erstickter Schrei. „Um Himmels Willen…jetzt reiß dich zusammen…oder lass mich dir helfen!“ Flo schien mitzubekommen, dass das hier alles gerade etwas eskalierte und als er das Blut sah, beeilte er sich und kam zu uns aufs Dach geklettert. Ich ließ es mir nicht nehmen, mir eine letzte Wunde zu verpassen, dann lachte ich traurig und kickte die Scherbe vom Dach. Mein Herz raste und bevor ich völlig durchdrehte, war Flo bei mir und zog mich in seine Arme. Nur er allein wusste ja, weshalb ich so war. Warum ich das tat und ich würde es auch keinem neben Flo erzählen können. „Süßer…hör auf…bitte…“ „Ic-h…ich kann nicht Flo…“, schluchzte ich und er zog mich noch enger an sich. „Flo, wir müssen etwas tun! Soll ich einen Krankenwagen rufen?“, rief sie verzweifelt. Ich war beinahe unfähig, um ihr zu antworten. „Lass gut sein Nici“, sagte mein bester Freund leicht theatralisch und sprang hinunter. Nici und ich folgten ihm. Hatte sie jetzt, was sie wollte? Ihre Bestätigung, warum ich so war? „Ich hatte vor einer Woche den ersten größeren Streit mit meiner Mutter“, setzte sie wieder an und mein malträtiertes Hirn hatte Mühe ihren Worten zu folgen. „Warum das denn?“ Ich hielt einen Moment inne. „Naja, es war deinetwegen. Sie wollte nicht, dass ich mich weiter mit dir treffe und so. Deshalb wollte ich, dass meine Eltern dich kennenlernen.“ Mir entfuhr ein gekünsteltes Lachen. Mein Vater stritt nicht mal mehr mit mir, stattdessen verprügelt er mich lieber, dachte ich bei mir. „Wenigstens sind das nur Kleinigkeiten, weshalb du mit deinen Eltern aneinander gerätst.“ Sie warf mir einen schockierten Blick zu. „Kleinigkeiten nennst du das? Ich habe mich zum ersten Mal dem Willen meiner Eltern wiedersetzt und das sind für dich Kleinigkeiten? Das habe ich für dich getan.“ „Und? Erwartest du jetzt meine Anerkennung? Nici, meine Familie verachtet mich für das, was ich bin und das tut deine wahrscheinlich auch. Oh ja, das hast du toll gemacht Nici“, schrie ich sie jetzt an. Sie boxte mit den Fäusten gegen meine Arm und ich zuckte leicht zusammen, weil ich noch immer Schmerzen von dem Türunfall hatte. „Ich habe das getan, weil ich dich liebe. Aber du verstehst ja gar nicht, worum es mir dabei geht.“ „Ach ich verstehe nich worum es geht? Du solltest besser auf deine Eltern hören und dich von Abschaum wie mir fern halten…geh zu deiner Nadja, da bist du besser aufgehoben.“ „Lukas bitte rede nicht so…ich bin gern mit dir zusammen…aber…“ „Aber was? Soll ich dir dein aber erläutern? Du erträgst es nich mich so zu sehen, es macht dich krank und am liebsten würdest du mir das sagen, tust es jedoch nich, weil du dich vor meiner Reaktion fürchtest. Nici, du kannst mich nich retten…das kann niemand.“ „Du kannst wirklich so verdammt unattraktiv sein…warum redest du dauernd so mit mir, als sei ich das dumme kleine Mädchen? Das bin ich verdammt noch mal nicht!“ „Dumm wahrhaftig nich, aber naiv, wenn du denkst du kannst mich verstehen…ich frag mich echt, was dich bei mir hält. Isses meine charmante Art oder etwa meine exzessive Lebensweise? Denn ja Nici, alle haben Recht. Chris, deine Mum und Nadja. Ich bin der Mensch, vor dem sie dich immer warnen wollten, aber du hörst nich auf sie.“ Plötzlich kam Flo wieder zurück und zog mich mit zum Feuer. Mein Kopf sank in Kims Schoß und sie strich mir über den Kopf. Ich blendete Nici aus und wusste auch nicht, wo Flo auf einmal hingegangen war. Doch es war mir auch egal.   Nici stand da wie vom Blitz getroffen und es tat weh Lukas dabei zu beobachten, wie er Trost bei Kim suchte und seinen Kopf in ihrem Schoß barg. Vor ein paar Tagen war er doch noch so lieb gewesen. Auf einmal legte Flo seinen Arm um ihre Schulter und sie entfernten sich ein bisschen vom Feuer. „Puh, jetzt is das Fass wohl übergelaufen.“ Nici nickte und war sich nicht sicher, ob sie mit Flo reden wollte. Andererseits war er Lukas bester Freund und vielleicht konnte er sie ein bisschen aufklären. „Flo, kannst du mir mal verraten, warum er gerade so ausgeflippt ist?“ „Weil du ihn glaub tatsächlich niemals verstehen kannst Nici…das is die bittere Wahrheit…ich weiß, du willst für ihn da sein und so. Aber Lukas kann das gerade nich für dich…meine Probleme zu Hause sind ähnlich und niemand, der sowas noch nich erlebt hat, weiß wie es is von seiner Familie verachtet zu werden. Mir isses mittlerweile egal, aber Lukas is anders…er hofft halt, dass irgendwann alles wieder schön is…setzt sich dadurch selbst unter Druck…am besten du lässt ihn ein paar Tage für sich…es tut mir leid, ich mag dich wirklich und würde mir wünschen, dass es mit euch läuft, aber ich kenne Lukas zu gut…gib ihm einfach Zeit. Können uns ja noch zu ihm ans Feuer setzen und am besten du versuchst normal zu sein.“ „Normal? Wie soll ich denn jetzt bitte normal sein Flo…außerdem scheint ihn Kim sowieso besser trösten zu können.“ Flo seufzte. „Nici…ich kann ja versteh‘n, dass es schwer is, aber Kim und Lukas kennen sich nun Mal schon länger. Sie ist eine gute Freundin, das solltest du akzeptieren.“ „Ich muss irgendwie alles akzeptieren und was tut er? Sich betrinken und mit andern Mädels reden! Nur nicht mit mir!“ Flo schaute Nici lange an und irgendwie beschlich sie das Gefühl, dass er ihr nicht mehr so wohlgesonnen war wie zuvor. „Dann solltest du dir nen anderen suchen.“ Nici ließ sich am Feuer nieder und vergrub den Kopf zwischen ihren verschränkten Armen. Flo setzte sich neben Nici. Er drehte sich eine Zigarette und öffnete sich ein Bier. Dann, wie durch ein Wunder drängte sich Lukas zwischen die beiden. Sie schaute ihn lange an. „Geht’s dir besser?“ „Keine Ahnung, irgendwie is alles gerade kompliziert…ich will kein Arsch sein Süße, nur manchmal macht mich deine Art echt fertig…ich hab dich lieb Nici, das musst du mir glauben. Ich wollte heut nich so ausrasten, aber es is passiert…vielleicht, weil es mich trifft, wenn du mir solche Dinge sagst…der Zoff mit deinen Eltern und so. Das führt mir nur immer vor Augen, was ich manchmal auch gern hätte…“ „Es tut mir leid…ich wollte dich nicht verletzen. Nur ich muss wohl auch einige Dinge noch lernen…ich hab dich auch lieb Lukas…du bist mir nun mal wichtig und es macht mich traurig dich so zu sehn. Ich wünschte ich könnte das ändern…mehr nicht.“ Er lächelte Nici an und küsste sie. „Das tust du doch, nur ich sag dir das viel zu selten.“   Am selben Abend. Meine Eltern unterhielten sich im Wohnzimmer etwas lauter als normal. „Da lass ihn doch mal gehen, vielleicht wird es dann besser.“ „Das ich nicht lache! Du hast doch gesehen, was passiert, wenn wir den Jungen machen lassen! Nein Sabine, jetzt führe ich andere Regeln ein.“ Meine Mum wirkte irgendwie total verzweifelt und es hatte fast den Anschein, als ob sie sich für mich eingsetzte. „Ach ja? Sehen diese Regeln etwa so aus? Hast du einmal über das, was Lukas zu dir gesagt hat, nachgedacht?“ „Von dem Bengel lass ich mir doch nichts sagen! Hältst du jetzt etwa deine Hände über ihn?“ „Er ist unser Sohn! Ich will ihn nicht länger so behandeln, als wäre er ein Nichts!“ Das waren ja ganz neue Worte aus dem Mund meiner Mutter. Ich verkroch mich in meinem Zimmer und hörte Musik. Was sollte ich jetzt schon wieder davon halten? Ich hockte mich auf den Fußboden und drehte mir eine Zigarette. Mein Vater war ein Arschloch, aber meine Mum? Vielleicht mochte sie mich ja doch mehr, als ich dachte. Dann öffnete sich meine Zimmertür und sie stand vor mir. „Ich habe dich gar nicht kommen gehört.“ Uninteressiert zuckte ich mit den Schultern. „Muss das Rauchen denn sein? Ich finde das nicht besonders gut.“ „Mir doch egal. Ich finde auch so viele Dinge nicht gut.“ „Kann ich nicht mal normal mit dir reden? Ohne, dass du so pampig reagierst? Lukas, mir liegt sehr viel an dir, auch wenn ich dir das in den letzten Monaten nicht gezeigt habe und ich mache mir Sorgen um dich. Ich weiß nicht mehr, was du in deiner Freizeit machst und das macht mich wahnsinnig.“ Sie versuchte mich zu locken, doch ich wusste nicht, ob ich das jetzt wollte. Ich war abgehärtet und es würde lange dauern, bis sie mich soweit hatte, dass ich auf ihre Äußerungen einging. „Ich bin nicht sicher, ob ich die Drogengeschichte ernst nehmen soll, aber nachdem ich dich jetzt so sehe…du hast auch schon mal besser ausgesehen. Ich weiß auch, dass ich selten zu Hause bin, aber ich möchte dich durch solche dummen Sachen nicht verlieren.“ Das beeindruckte mich schon fast. Plötzlich flog die Tür auf und mein Vater polterte ins Zimmer. „Und was hab ich dir gesagt?“, fuhr er meine Mum an. „Unser Lukas, wie er mal war, existiert nicht mehr. Lass ihn doch nur machen, er wird sein Leben schon verpfuschen. Wir haben doch noch unsere Johanna.“ Wie viel Schmerz konnte ein Mensch überhaupt ertragen? Mein Vater war gefühlskalt und normalerweise müsste sein Umgang mit Menschen besser sein, doch bei mir machte er da wahrscheinlich eine Ausnahme. Er redete wieder so, als sei ich nicht anwesend. „Und wollt ihr wirklich all eure Hoffnung in Jojo legen? Dafür müsstet ihr euch mal um sie kümmern. Ich weiß mit Sicherheit mehr über meine Schwester als ihr.“ Mein Vater rannte auf mich zu und drückte mich gegen die Wand. „Und lass deine Schwester gefälligst in Ruhe, sonst verdirbst du sie auch noch.“ Mir entfuhr ein lachen, was mich selbst verwunderte. „Als ob das in meiner Hand liegt. Jojo hat einen eigenen Willen…“ Er ließ von mir ab, doch seine Augen verfolgten jede meiner Bewegungen. „Vielleicht sollte ich dir mal den Geldhahn zudrehen, mal sehen ob du dann immer noch so amüsiert bist“, drohte er mir. Ich ließ meine Eltern alleine und zog mich im Park zurück. Ich dachte an Nicis Worte zurück, als sie mir von dem Streit mit ihren Eltern erzählt hatte und lächelte schwach. Ja, das waren die Sorgen, mit denen sie sich herumschlagen musste. Komischerweise hatte ich gar keine Lust zur Laube zu gehen, denn da wurde es auch immer öder und die Stimmung dort zog mich ohnehin nur runter. Irgendwie musste ich gerade jetzt an Julietta denken und an die Zeit mit ihr, in der ich auch viel von der Gothicszene gesehen hatte. Nici war zwar auch eine Gruftine, aber anders. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass sie nur mir zuliebe so war. Ich konnte nicht genau sagen, ob sie dieses Gefühl wirklich so lebte wie ich. Ich war dieser Szene verfallen und liebte alles daran, vor allem diese düsteren Facetten und ich mochte es, wenn mich alle Leute auf der Straße anschauten, weil ich schwarz angezogen war und mehr Tattoos und Piercings hatte, als andere in meinem Alter. Meine Eltern waren damals schon nicht sehr begeistert davon gewesen, aber das störte mich ja sowieso nicht. Lustigerweise kam gerade jetzt ein dunkel angezogener Typ vorbei und drückte mir einen Flyer in die Hand. Im Transsylvania fand heut Abend eine schwarze Nacht statt, mit Liveband und so. Zuerst spielte ich mit dem Gedanken Nici auszuführen, doch meine Finger rannten über die Tastatur und wählten die Nummer, die ich neben meiner eigenen Inn und auswendig kannte. Flo ließ sich das nicht zwei Mal sagen und war innerhalb von zehn Minuten bei mir. Die Band, die spielte, kannten wir beide nicht, doch sie war nicht schlecht. Wir bestellten uns Bier und hockten uns in eine Ecke, wo wir reden konnten. „Wir haben schon lange nichts mehr zusammen gemacht. Die Absturzabende bei Tim mal ausgenommen.“ Ich schmunzelte und trank einen Schluck. „Das stimmt. Ich musste mich zwar zwischen Nici und dir entscheiden, aber du hast gewonnen.“ Flo warf mir einen Handkuss zu. „Gut für mich, schlecht für sie…is es dir ernst mit Nici?“ „Irgendwie schon, aber sie is halt so lieb…zu lieb und dann meint sie wieder die Welt retten zu müssen…doch die is zu abgefuckt…und ich auch. Das versteht Nici nich. Ich glaub sie hätte mich gern anders…wenn sie ehrlich zu sich selbst wäre, würde sie sich klar darüber werden, dass ich ihr nich das geben kann, was sie will.“ Flo prustete los. „Das hätte ich dir auch sagen können, nach deiner Beziehung mit Julietta. Aber mach, was du denkst. Lukas…meinst du unser Konzert wird gut?“ „Ich hoffe es…weißt du Flo, ich weiß das klingt albern, aber ich will echt was erreichen. Wenn ich Musik mache, kann ich das nich nur, um Spaß zu haben…ich will die Menschen provozieren…sie reizen und faszinieren.“ „Du ließt zu viel Manson…aber ich mach mit. Hab eh keine andere Perspektive und Gitarre spielen is das einzige was ich vermutlich richtig gut kann.“ „Dann lass uns ein Konzept entwickeln…ich hab echt keinen Bock Teeniemucke zu machen…ich will die coolen Kids bei uns haben.“ In unserem Alkoholrausch quatschten wir den Barkeeper an und fragten, ob wir nicht mal im Trannsylvania spielen dürften. Er wollte eine Demo von uns haben, dann würde er es sich überlegen. Also schrieben wir den Jungs noch und verabredeten uns am nächsten Tag im Proberaum. Auf dem Esstisch im Flur standen noch das dreckige Geschirr und eine halbvolle Weinflasche. Wahrscheinlich hatte wieder irgendein Firmendinner stattgefunden, bei dem meine Mutter den ganze Abend lang in der Küche gestanden hatte und kochte. Mein Vater dagegen amüsierte sich prächtig mit seinen tollen Kollegen und jeder heuchelte jedem vor, wie toll alles sei. Na da war es ja Glück, dass ich diese trügerische Idylle nicht mit meinem Auftreten zerstört hatte. In meinem Zimmer öffnete ich das Fenster und rauchte noch eine. Wenn ich doch nur schon mein Abitur gemacht hätte, könnte ich ausziehen und endlich mein eigenes Leben führen. Da ich noch keinen Schlaf fand, schrieb ich noch ein paar Liedtexte. Wie sehr wünschte ich mir, meinen Traum als Musiker verwirklichen zu können. Und da kam mir plötzlich eine Idee. Vielleicht könnte ich mit den Jungs ein paar Flyer entwerfen und in unserem kleinen Proberaum würde dann unser Konzert stattfinden. Ich war so voller Tatendrang, dass ich selbst noch ein Cover entwarf, was auf den Flyer gedruckt werden könnte. Ich liebte es Musik zu machen, denn so verarbeitete ich auch all meine Probleme und ließ meine Musik somit lebendig werden. Gequält und übermüdet stieg ich aus meinem Bett. Durch eine kalte Dusche wurde ich halbwegs wach. Zu meinem Unglück musste mein Vater heute später zur Arbeit und so ließ es sich nicht vermeiden ihm schon am Morgen über den Weg zu laufen. Jojo saß in der Küche, schlürfte ihren Kakao und aß Marmeladentoast. Ich schenkte mir nur Kaffee ein und setzte mich wieder Willen an den Tisch. Mein Vater erwiderte mein Guten Morgen nur sehr leise und schaute nicht mal von der Zeitung auf. Mein Schwesterchen dagegen lächelte mich liebevoll an. Dann kam meine Mum. Sie wirkte sehr aufgewühlt und räumte das Geschirr in die Spülmaschine. „Los Johanna, wir müssen uns beeilen, du musst zur Schule.“ Meine Schwester besuchte die vierte Klasse und fuhr jeden Morgen mit unserer Mum mit. Sie schaute mich skeptisch an. Das lag wohl an meinen schwarzen Klamotten, also der Nadelstreifenhose, dem ärmellosen Misfitsshirt und dem Nietengürtel. „Lukas, es macht mich krank dich so zu sehen.“ Ich sah sie gelangweilt an. „Kannst du mir auch noch was anderes erzählen?“ „Ja an wem liegt das denn? Bin ich ständig unterwegs oder du?“ „Weil es hier beschissen ist. Ständig muss ich mir eure dummen Sprüche anhören. Das lädt nicht gerade dazu ein, oft nach Hause zu kommen.“ Sie hielt einen Moment inne, als ob sie sich etwas verkneifen wollte, platzte dann aber heraus: „Dann zieh doch endlich aus!“ Das war wieder so ein Satz, der aus lauter Verzweiflung rausgerutscht war. Ich konnte nichts darauf erwidern und sie drehte sich um, ohne sich zu verabschieden und verließ mit Jojo die Wohnung. Ich blieb allein. Ungewollt und allein in der Dunkelheit. Schon fast monoton stellte ich meine leere Tasse in die Spüle, zog die Cordjacke mit Kapuze an und schnappte meine Schulsachen. Vor dem Haus rauchte ich noch eine Zigarette. Flo holte mich meist ab und wir liefen zusammen in die Schule. Da er keine Kippen hatte, gab ich ihm eine. Flo war einer der Hardcorejungs, die schon fast auf der Straße lebten. Aber ihn ließ der ganze Streit zwischen ihm und seiner Familie kalt. Ihn kümmerte nicht, was seine Eltern sagten und ich wünschte, das könnte ich auch. So tat er zumindest immer. Bei Tim war sein zweites zu Hause und, wenn es in unserer Laube zu kalt wurde, nistete er sich bei Tim ein oder pennte einmal im Monat zu Hause. Allerdings kiffte er auch öfter als ich. Ab und zu, wenn Tim mal Speed besorgt hatte, war Flo einer der ersten, die sich das Zeug reinziehen mussten. Basti hielt Abstand von den ganzen Drogensachen, er kiffte nicht einmal. Basti, unseren Dritten im Bunde, trafen wir vor Schule. Der Tag verging relativ schnell und danach trafen wir uns alle im Park. Kim kam auch angestürmt und berichtet mir von ihrem ersten Schultag in Nicis Klasse. Ich war froh, sie so glücklich zu sehen. „Sonst alles klar bei dir?“ Sie nickte. „Tim hat mir vorgeschlagen für ne Weile zu ihm zu ziehen.“ „Weiß er auch davon?“, fragte ich skeptisch. „Ja, seit gestern. War mal wieder voll fertig und die ganzen Leute waren bei ihm. Haben halt gequatscht und da isses mir so rausgerutscht. Aber ich will nicht, dass es noch mehr Leute erfahren.“ „Schon klar, von mir sowieso nicht.“ Kim zog ein Bier aus ihrem Rucksack und öffnete es mit den Zähnen. Ich hatte auch große Lust mich zu betrinken, auch wenn es erst nachmittags war. Kim hielt mir ihr Bier hin und ich nahm einen großen Schluck. Eigentlich hätte ich Schlaf gebraucht, doch nach Hause gehen, auf keinen Fall. Ich beschloss mein letztes Geld noch in Bier und Zigaretten zu investieren, dann zogen meine Jungs und ich los, um zu proben. Ich weihte auch Basti und Tim in meine Pläne ein und wir feilten an unseren Songs, bis sie düster, melodisch und perfekt klangen. Ich probierte gesangstechnisch verschiedene Tonlagen aus und war selbst überrascht, was sich aus meiner Stimme alles herausholen ließ. Auch meine Jungs lobten mich. Nach einer erfolgreichen Probe zogen wir weiter zu unserer Laube. Unterwegs rief ich Nici kurz an, ob sie auch kommen würde. Doch bedauernswerter Weise sagte sie ab, weil sie noch so viel für die Schule erledigen musste. Ich hatte keine Lust mit jemandem zu reden, deshalb ertrank ich meine Trauer im Alkohol.  Kim lag mit ihrem Kopf auf meinem Schoß und hielt mir den Joint hin. Und dann war es schon wieder nach zwölf. Gegen ein Uhr torkelte ich nach Hause. In der Arbeitsecke des Wohnzimmers brannte noch Licht und mein Vater blickte mich wütend an, als er mich hörte. Mit großen Schritten kam er in meine Richtung. Ich versuchte mich zusammenzureißen. „Was bildest du dir eigentlich ein? Reicht es denn nicht aus am Wochenende mit deinen dämlichen Freunden abzuhängen? Stattdessen wird jetzt auch noch in der Woche bis in die Puppen gefeiert!“ Und Klatsch, da saß die Ohrfeige auch schon. „Weißt du, was ich nicht verstehe? Warum interessiert euch beide jetzt auf einmal, was ich mache? Es ist zu spät, kapierst du das?“ „Ich wünschte ich könnte behaupten, du wärst mein Adoptivsohn, dann hätte ich wenigstens eine Erklärung für dein Verhalten!“ Wow. Das war schmerzhafter als die Ohrfeige zuvor. „Und ich würde mir wünschen in einer Familie aufzuwachsen, in der das verschissene Geld und Ansehen kein Rolle spielt!“, zischte ich. Er packte mich an den Schultern und drückte mich unsanft gegen die Wand. Grob riss er meinen Arm hoch und ich ächzte, als ein stechender Schmerz durch meine Schulter fuhr. Er inspizierte meine Narben. „Und was soll das Junge? Erst Drogen und dann sowas? Als fällst du durch dein Aussehen nicht schon genug auf. Musst du jetzt auch noch jedem zeigen, was für ein armer armer Junge du bist? Du bist so eine Enttäuschung Lukas. Geh mir einfach aus den Augen, ein Anblick widert mich an!“ Gibt es etwas Schlimmeres, als von seinen Eltern unerwünscht zu sein? Ich konnte nicht anders, packte ein paar Klamotten und Sachen zusammen. Zwar hatte ich kaum Geld, doch war ich fest entschlossen abzuhauen. Doch wohin konnte ein Junge von siebzehn Jahren ohne Geld gehen? Es half alles nichts und es hieß wohl für mich Augen zu und durch. Dieses eine verdammte Jahr musste ich noch irgendwie ertragen. Wenn es doch nur jemanden in meinem Leben geben würde, der alles erträglicher machte. Jemanden, den ich liebte, der mich liebte und der mich aus diesem Irrenhaus holte. Klar trugen meine Freunde dazu bei, dass ich nicht so einfach den Kopf in de Sand steckte, aber ich sehnte mich nach mehr. Nici sollte eigentlich ein solcher Mensch sein, doch sie schaffte es nicht zu mir durchzudringen. Sie kam nicht gegen mich an, so sehr sie sich auch bemühte. Sie liebte mich, doch ich liebte sie nicht. Meine Musik bot mir auch manchmal Abstand und gab mir Kraft weiterzumachen. Nur noch ein Jahr. Ich sank wieder auf den Teppichboden und vergrub den Kopf in den Händen. Ja, ich wünschte auch, dass ich ein Adoptivkind wäre. Ich kickte meine Klamotten weg und legte mich in Boxershorts ins Bett, doch ans Einschlafen war nicht zu denken. Nicht nach diesen schlimmen Worten meines Vaters. Ich merkte, wie ich fiel. In dieses viel zu tiefe Loch, aus dem ich es kaum allein wieder hinaus schaffte. Mit letzter Kraft krallte ich meine Fingernägel in die Oberschenkel und kratzte sie blutig. An dieser Stelle war das Ausmaß meiner Selbstzerstörung immerhin nicht sofort für alle sichtbar. Tränen flossen meinen Wangen hinab und mit zittrigen Händen griff ich nach meinem Handy. Es klingelte ein paar Mal. „Lukas? Ist alles okay?“, fragte mein Freund und seine Stimme klang nicht so verschlafen, wie sie es um diese Uhrzeit eigentlich sein sollte. Ich schluchzte in den Hörer. „Nein…Flo…ich geh kaputt…kann nich mehr…“ „Oh Süßer, das klingt verdammt mies…soll ich noch vorbeikommen?“ Ich bekam noch zittriges „ja“ zustande und legte auf. Leise schlich ich zur Tür, um Flo zu öffnen und genauso leise bewegten wir uns wieder hoch in mein Zimmer. Die Tür schloss ich ab und ließ mich wieder von dieser Gefühlswelle einfangen, doch mein liebster Freund war da, hielt mich in seinen Armen und ließ jene Situation unkommentiert. „Ich halt diese ganze Scheiße nich mehr aus…das geht echt langsam an die Psyche…“ „Hast du schon Mal überlegt mit deinem Hausarzt zu reden? Vielleicht kann er dich zu nem guten Psychologen weiterleiten…“, schlug mein Freund vor, doch ich schüttelte heftig den Kopf. „Nee…ich will das nich…kein Psychodoc.“ „Kann ich verstehen…wir sollten noch ein bisschen schlafen…“ Ich nickte nur und kuschelte mich an meinen Flo. Immerhin half das ein kleines bisschen.   Am nächsten Tag hatten wir Volleyball im Sportunterricht. Früher war das mal mein Lieblingsfach gewesen, doch seit ich mit dem Rauchen angefangen hatte, verringerte sich mein sportliches Engagement. Wir machten schon noch ein bisschen mit, weil unser Lehrer es nicht gern sah, wenn wir faul auf der Bank hockten. Doch Spaß sah anders aus. Nach der Schule verkroch ich mich in unserem Proberaum, spielte meine Lieder auf der Gitarre und rauchte fast ununterbrochen. Irgendwann ging die Tür auf und Nici erschien. Sie setzte sich zu mir an den Bühnenrand und lauschte. Dann holte ich mir ein Bier aus dem Keller und hockte mich wieder zu ihr. „Du siehst ja nicht gerade glücklich aus.“ „Ich bin jetzt an dem Punkt, wo ich aus voller Überzeugung behaupten kann, dass ich meine Eltern hasse. Wie lange wollen die Penner eigentlich noch auf meinen Gefühlen herum trampeln? Ich kann nicht mehr Nici.“ Ich ließ mich auf den Rücken sinken und nahm einen tiefen Zug. „Heute Nacht war ich echt kurz davor abzuhauen. Irgendwohin, wo ich mir den Mist nicht mehr anhören muss.“ Sie beugte sich zu mir herab und küsste mich. Ich hatte ganz vergessen, wie es sich anfühlt glücklich zu sein. „Und warum bist du dann doch geblieben?“ Ich lächelte schwach. „Es gibt eben doch noch Menschen, die mir sehr am Herzen liegen und die ich nicht so einfach verlassen konnte.“ Ich ging zur Tür und schloss den Proberaum von innen ab. Nici grinste mich ein wenig schüchtern an. Meine Lippen berührten wieder die ihren. Der Kuss wurde intensiver und leidenschaftlicher. Gegenseitig zogen wir uns aus und ich küsste sie am ganzen Körper. Mein Herz schlug immer schneller. Sie zog mich an sich und ihr zarter Körper pulsierte. Wir verschmolzen miteinander, als ich in sie eindrang. Ihre Fingernägel krallten sich in meinen Rücken und sie stöhnte leicht. Ich konnte mich leider nicht so lange zurückhalten und sank neben ihr auf die harte Bühne. Wir lagen nebeneinander und ich strich ihr ein Haar aus der Stirn. Dann zündete ich mir noch eine Zigarette an. „Wow, das war mal spontan.“ „Tut mir leid, dass ich dich jetzt so überrumpelt habe.“ Sie lächelte und zog an meiner Zigarette. „Ich hätte mich ja auch wehren können.“ „Hast du aber nicht“, entgegnete ich mit einem verschmitzten Lächeln. „Das sollten wir öfters tun.“ „Geht’s dir jetzt besser?“ Ich zuckte wieder mit den Schultern. „Irgendwie schon. Ich sollte mir langsam eine Methode überlegen, wie ich das alles verdrängen kann.“ Nici strich mir zaghaft über die Wange. „Lukas…“ Ich schaute sie an und Nici fuhr fort. „Ich weiß, dass du denkst ich würde dich nicht verstehen…trotzdem will ich, dass wir ehrlich zueinander sind und du immer, jederzeit zu mir kommen kannst. Ich kann dir auch einfach nur zuhören oder?“ Ich lächelte sie liebevoll an. „Danke, das ist echt süß von dir. Was hältst du von nem DVD Abend?“ „Heute?“ „Klar. Hab ne ziemlich große Sammlung, da findet sich bestimmt was.“ Wir zogen unsere Klamotten wieder an, da es doch allmählich etwas kühl wurde. Ich saß im Schneidersitz da und Nici lehnte sich mit dem Rücken bei mir an. Zärtlich küsste ich sie auf die Stirn. „Das klingt gut. Gucken wir da bei dir?“ Unsicherheit schwang in ihrer Stimme mit, wahrscheinlich dachte sie, dass mir das unangenehm ist, wegen dem Zoff mit meinen Eltern. „Jepp. Vielleicht freuen sie sich ja mal, wenn ich einen Abend mal zu Hause bin.“ Den Sarkasmus in meiner Stimme konnte ich nicht verbergen. Nici seufzte nur und schüttelte mit dem Kopf. Dann schlenderten wie händchenhaltend zu meinem Wohnhaus. Mich nervte der Mercedes meines Vaters in unserer Einfahrt schon wieder. Hoffentlich war meine Mum nicht auch da. Als wir im dritten Stock angekommen waren, zogen wir Schuhe aus und ließen sie vor der Haustür stehen. Meine kleine Schwester saß am Esstisch und erledigte ihre Hausaufgaben. Sie schaute auf und als sie mich sah, strahlte mich ihr hübsches Kindergesicht an und ihre Augen leuchteten. Blitzschnell sprang sie von ihrem Stuhl auf und rannte in meine Arme. „Ich hab mir so sehr gewünscht, dass du heute eher kommst.“ Ich musste lachen. Jojo beäugte Nici und fragte mich im Flüsterton, ob das jetzt meine Freundin sei, da Nici ja schon Mal hier war. Ich flüsterte ihr ein ja zurück. Mein Magen krampfte sich zusammen, als meine Mutter mit ernstem Blick aus dem Wohnzimmer geschlurft kam. Sie wich meinem Blick aus und begrüßte nur Nici. Ich griff nach ihrer Hand und wollte sie in mein Zimmer führen, als sie mich zurückrief. „Lukas…es tut mir leid, was ich gestern zu dir gesagt habe“ Ich schaute sie an und verzog dabei keine Miene. Sie versuchte meinem Blick standzuhalten. „Das ändert trotzdem nichts. Außerdem geht es mir nicht nur um gestern und das, was ich gesagt habe, tut mir nicht leid.“ Sie schwieg einen Moment und erst jetzt fiel mir auf, dass auch meine Mutter ganz schön geschafft aussah. Ihr Gesicht war eingefallen und blass. Dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab. Nici war schon in meinem Zimmer verschwunden, doch die Tür blieb einen Spalt breit offen. „Ich habe zurzeit viel Stress in der Firma und weiß auch nicht, wo mir der Kopf steht. Da war ich eben auch mal etwas angespannt und habe überreagiert.“ Ich kniff die Augen zusammen. „Wenn es ja wenigstens bei dem Mal bleiben würde“, sagte ich mehr zu mir, als zu meiner Mutter. Sie sprach weiter, als ob sie mich nicht gehört hätte. „Sicher hast du es auch nicht gerade leicht in der Schule, aber trotzdem finde ich, dass du uns ein bisschen mehr Respekt erweisen könntest. Schließlich sorgen wir für dich und anderen geht es sicher schlechter als dir.“ Ihre Stimme blieb sehr ruhig. Ich konnte nicht anders und lachte kurz auf. „Als ob du wüsstest, wie es anderen geht. Dich interessiert ja nicht mal deine Familie. Außerdem weiß ich, dass andere ein schwereres Los als ich gezogen haben, da brauche ich nur einen Blick in meinen Freundeskreis zu werfen. Aber für dich sind das ja nur asoziale Junkies, also hör gefälligst auf von Dingen zu reden, von denen du keine Ahnung hast.“ „Wo wir wieder beim Thema wären. Mein Leben lang haben dein Vater und ich versucht, dir eine gute Grundlage für deine Zukunft zu schaffen. Doch dir ist das egal.“ „Ist es mir nicht, aber habt ihr mich bei eurer tollen Planung jemals mit einbezogen? Habt ihr mich einmal gefragt, was ich will? Vielleicht hätte ich lieber erst meinen Realschulabschluss gemacht, statt Abitur, aber das konntet ihr ja nicht wissen, weil ihr alles einfach beschlossen habt! Und mit der Grundlage meinst du doch nur dein Geld, auf das du so stolz bist. Als Kind konnte ich mich dagegen nicht wehren, doch jetzt bin ich alt genug und ich habe keinen Bock so ein Leben zu führen wie ihr!“ Jojo hielt sich die Ohren zu, während ich mit meiner Mutter stritt und huschte in mein Zimmer. Auch ich drehte mich um und knallte meine Zimmertür. Meine Schwester schaute mich mit glasigen Augen an. Ich hockte mich auf mein Sofa neben Nici und nahm Jojo auf den Schoß. „Weißt du jetzt was ich meine? Und das geht nur so, da muss man ja irgendwann durchdrehen. Aber jetzt kommen wir zum gemütlichen Teil des Abends. Willst du mit DVD gucken Kleines?“, fragte ich meine Schwester, der eine Träne der Wange runter kullerte. Sie nickte. Ich drückte sie fest an mich und sie fing an zu weinen. Ich mochte es nicht, sie weinen zu sehen, weil sie sonst immer ein so fröhliches Mädchen war. Mir tat es auch leid, dass ich vor ihren Augen mit unserer Mum gestritten hatte. Ich reichte ihr ein Taschentuch. „Ich hab nur solche Angst, dass du irgendwann weggehst und nicht wiederkommst.“ „Keine Angst Jojo, das werd ich schon nicht und wenn ich abhaue, nehme ich dich mit.“ Jetzt wurde ihre Miene wieder fröhlicher und sie lächelte sogar. Nici und ich machten es uns auf meinem Bett bequem und nahmen Jojo in unsere Mitte. Wir schauten auf Nicis Wunsch The Crow Teil eins und zwei an. Meine Schwester schlief zwischendrin ein und auch Nici wurde müde. „Echt süß die Kleine.“ Ich nickte und strich Jojo zärtlich über die Wange. „Ich bring dich noch nach Hause, okay?“ Nici nickte. Mein Schwesterchen ließ ich in meinem Bett schlafen. Ich gab Nici noch einen langen Abschiedskuss und ließ  sie nur ungern gehen. Jojo war aufgewacht und hatte sich ihren Schlafanzug angezogen. Sie kuschelte sich mit ihren Teddy an mich und schlief wieder ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)