Seelenkrank von MarryDeLioncourt ================================================================================ Kapitel 35: Neuanfang? ---------------------- Die nächste Woche stürzte ich mich in die Arbeit und versuchte mein Leben ernsthaft wieder auf die Reihe zu bekommen. Am Abend traf ich mich oft noch mit meiner Band und wir jammten ein bisschen oder quatschten gemütlich in einer unserer Lieblingskneipe. Irgendwann fing ich dann an meinen Gelüsten wieder nachzukommen und traf mich mit süßen, unschuldigen Mädchen, um sie auszunutzen, Sex mit ihnen zu haben und sie dann wieder gehen zu lassen. Auch am Wochenende im Underground hielt ich mich mit flirten nicht zurück und es zahlte sich aus. Ich stellte fest, dass ich es noch immer drauf hatte. Ich war der Casanova und wenn ich es wollte lagen mir die Damen zu Füßen.  Ein charmantes Lächeln und ein Drink reichte, um eine Frau fast glücklich zu machen, der Rest passierte dann meist von ganz alleine. Außerdem kam ich endlich mal einem meiner sehnlichsten Wünschen nach und ließ mich weiter tätowieren. Meine Entwürfe zeichnete ich immer selbst, weil ich wollte, dass nur meine eigene Kunst auf meinem Körper platz fand. Jule störte das nicht und so verwandelte sich mein Körper mehr und mehr in eine kleine Bildergalerie. Auf meinem Oberkörper hatte ich schon ein paar Tattoos, die sich oft an Horrorfiguren orientierten und deshalb behielt ich diesen Stil bei. Auch meine Arme sowie meine rechte Wade ließ ich endlich komplett tätowieren. Außerdem verband sie die Bilder vom Rücken mit denen auf der vorderen Seite meines Körpers. Die meisten meiner Tatoos waren schwarz-weiß, nur hier und da ein kleiner Farbakzent. Natürlich stand ich für Jule auch Model, weil sie so begeistert von unserer Arbeit war und mich unbedingt im Studio verewigen wollte. Ich gewann irgendwie wieder mehr Selbstbewusstsein und stürzte mich in das Leben und kam meinen tiefsten Wünschen nach, doch das alles ohne Gefühle. Ich konnte und wollte keine Gefühle zulassen. Und mit Männern konnte ich erst Recht nichts anfangen, denn es gab nur diesen einen für mich.   Eines Abends war ich wiedermal mit meinen Jungs im Underground, auch Malen stieß später noch zu uns und eigentlich versprach es ein lustiger Abend zu werden, bis mich Nici völlig betrunken zu laberte, dass sie ja gehört hatte, ich sei wieder zu haben. Sie wollte unbedingt mit mir an der Bar etwas trinken und dummerweise kam ich ihrem Wunsch nach. Sie fragte mich, warum ich nicht mehr mit Juka zusammen war, bis es mir zu viel und sie das Fass mal wieder fast zum Überlaufen brachte. Ich trank mehr, um ihr Geschwafel irgendwie zu ertragen. Doch irgendwann funktionierte es eben nicht mehr und ich verschwand, ohne mich von meinen Freunden zu verabschieden. Die verdrängten Gefühle brachen wieder heraus und ich flüchtete in die Dunkelheit. Klar, dass als es mir eigentlich wieder gut ging, Juka diese ominöse Schein- Glückswelt wieder zerstörte. Denn warum ich mich hatte weiter tätowieren lassen, beruhte noch auf einem anderen Grund- der Schmerz, wenn die Nadel die Bilder auf meine Haut malte. Doch das verschwieg ich Jule, denn wer weiß, ob sie mich dann überhaupt tätowiert hätte. Seit Jukas und meiner Trennung hatten wir nie wieder richtig miteinander reden können, weil ich es einfach nicht gekonnt hatte, doch heute schien der perfekte Tag dafür zu sein. Ich schrieb ihm, ob er Zeit zum skypen hätte. Ein bisschen nervös wurde ich dann doch. Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich ihn auf einmal auf dem Bildschirm sah. „Hey, was gibt’s denn?“, begann er das Gespräch. Ich atmete tief durch. „Hey, ich wollte nur mal mit dir reden mehr nicht. Ich meine, jetzt kann ich mit dir reden.“ Juka schwieg einen Moment und fuhr dann fort. „Es ist komisch dich zu sehen und lieber wäre es mir, wenn wir von Angesicht zu Angesicht sprechen könnten...aber du siehst wieder besser aus. Luki, ich hoffe du weißt, dass es mir leid tut.“ „Ja, das weiß ich und trotzdem isses wie es is. Kannst du mir wenigstens jetzt sagen warum? Ich meine, ich verstehe, wenn du sagen würdest, dass du nichts mehr für mich empfindest....ich möchte die Wahrheit wissen Juka.“ „Es trifft schon ein Stück weit zu, dass ich keine Gefühle mehr für dich habe, aber da ist noch etwas anderes....ich hatte immer gedacht dich in deinem exzessiven Lebensstil ein bisschen bremsen zu können, doch das hat nicht funktioniert. Du warst immer wie ein junges Raubtier und eine Weile hast du dich mir angepasst, aber dann nicht mehr. Du hast deinen eigenen Kopf durchgesetzt,.....immer und damit kam ich nicht klar. Du hast irgendwann mal gesagt, dass du zwar mir gehörst, doch ich soll nicht versuchen dich zu besitzen und das war der Fehler....vielleicht hast du das ja auch ein bisschen gemerkt.“ Wenn ich mit allem gerechnet hätte, nur nicht damit. Und doch konnte ich Jukas Worte nachvollziehen. Trotzdem tat es weh, das von ihm zu hören, da ich immer gedacht hatte, er könnte mein sicherer Hafen sein, in dem ich immer wieder einkehren konnte, wenn ich mal gerade nicht den bösen Wolf spielte. „Und du glaubst auch nich, dass es je wieder funktionieren wird?“, fragte ich traurig. Juka schüttelte den Kopf. „Vielleicht können wir irgendwann wieder Freunde sein, aber anders geht es nicht mehr… für mich zumindest. Du bist ein toller Mensch Luki. Doch wenn du so weiter machst, zerstörst du dich selbst. Nutze doch lieber deinen genialen Verstand um etwas mit deinem Leben anzufangen, anstatt dich immer zu verkriechen.“ „Ich würde mein Leben niemals ändern wollen....ich könnte diverse Kompromisse eingehen, aber ändern? Niemals. Wenn du Anspielungen auf meine Band machst, kann ich dir sagen, dass wir immerhin ehrliche Musik machen....aber ich will da jetzt nicht näher drauf eingehen.“ „Wenn du dich mehr auf deine Musik konzentrieren würdest, könntest du es schaffen...aber das geht nicht mit dem ständigen Sauforgien. Das solltest du echt lassen.“ Ich merkte mehr und mehr, wie mir Jukas Worte zusetzten und ich dachte an Nici. Auch sie hatte damals immer versucht mich auf die richtige Bahn zu lenken. Alle wollten mir so gern helfen, doch ich wollte mich nicht verändern lassen. Lieber zerstörte oder brach ich mit den Menschen, die mir etwas bedeuteten. „Das lass mal meine Sache sein und wenn du einen Blick auf die Musikgeschichte wirfst, alle guten Musiker sterben mit Ende zwanzig, da hab ich ja noch‘n paar Jahre vor mir.“ „Siehst du, das meine ich! Sowas regt mich echt auf. Kannst du nicht mal ein bisschen weniger sarkastisch sein?“ Jetzt musste ich grinsen. „Nein Juka. Ich glaube ich weiß jetzt alles, was ich wissen wollte. Wir sollten hier an der Stelle Schluss machen.“ „Ja, ist vielleicht besser. Ich wünsch dir alles Gute und pass auf dich auf Luki.“ Ich nickte. „Ja du dir auch....Tschau!“ Und nenn mich nie wieder Luki, hätte ich fast noch hinzugefügt, brachte es aber dann doch nicht übers Herz. Ich biss mir auf die Unterlippe und ging in mein kleines Heimstudio. Es war vorbei. Aus und vorbei und er würde nie mehr zurück kommen. Kurz brachen die Gefühle noch einmal über mich ein, doch ich riss mich schnell wieder zusammen. Ich drehte mir einen Joint und öffnete ein Bier, genau das tun, was ihn so an mir genervt hat. Es fühlte sich sogar ganz gut an. Ich hörte die Tür auf und wieder zu gehen. „Lukas?“, rief meine Schwester. „Ich bin hier unten.“ Sie verzog das Gesicht ein bisschen, als sie mich so auf dem Sofa vorfand. „Geht es dir gut?“ Ich zuckte mit den Schultern und hielt ihr den Joint hin. Jetzt schaute sie mich erst recht verwundert an. „Mir geht es prima.“ „Früher hättest du mich grün und blau geprügelt, wenn ich auch nur einen Joint angerührt hätte und jetzt bietest du mir einen an?“ Ich lächelte. „Zeiten ändern sich Kleines. So lange man es nicht übertreibt, is kiffen okay und ich erlaube es dir, solange du mit mir unter einem Dach wohnst.“ „Du bist schon ein bisschen verrückt.“ Jetzt musste ich lachen, weil ich Jukas Worte zuvor denken musste. Tja, es gab auch Menschen, die mich so mochten, wie ich war. „Verrückt is nich immer schlecht.“ „Mh, stimmt. Achso, zeig mal Jules Werk, hab die Tattoos noch gar nicht fertig gesehen.“ Ich zog mein Shirt über den Kopf und Jojo bewunderte mich. „Mega cool…die sind echt schön geworden.“ Ich nickte nur zufrieden und nahm einen tiefen Zug.   Ich wusste nicht, ob ich mir das einbildete, aber irgendwie ging es mir seit dem Gespräch mit Juka wirklich besser. Ich machte mich sogar daran ein neues Konzert zu planen, weil es mir voll in den Fingern kribbelte und ich wieder auf der Bühne sein musste. Meine Band hielt diesen Vorschlag auch für nicht ganz verkehrt und so machten wir uns an die Setlist und suchten Songs heraus, die wir spielen wollten und verbrachten so wieder viel Zeit im Proberaum. Ich genoss das sehr, denn das hatte mir schon gefehlt. Mit unserem Lieblingsbarkeeper vereinbarten wir dann endlich einen Gig für das kommende Wochenende. Am Freitag wollte ich dennoch allein sein. Ich fühlte mich einsam, obwohl alles wieder ganz gut anlief. Das erste Mal wagte ich es einen Blick zurück zu werfen. Ich hatte mich wieder im Griff, dennoch war es mir wieder einmal erfolgreich gelungen einen lieben Menschen aus meinem Leben zu streichen. Und jeh mehr ich darüber nachdachte, was ich wollte, desto mehr stellte ich fest, dass ich das schon gehabt habe. Ich hatte mein Glück weggeworfen und die Chance, dass ich einen besseren Kerl als Juka treffe, war wohl eher gering. Dann plagte mich weiterhin diese Unzufriedenheit, ständig übermannte mich das Gefühl, ich könnte etwas verpassen oder mir fehlt etwas. Was lief in meinem Leben eigentlich falsch? An meinen Freunden konnte es wohl kaum liegen oder? Doch was war es dann? War ich eigentlich jemals richtig glücklich gewesen und wenn ja, wann? Und wie definierte man diesen Glücksbegriff eigentlich? War ich mit Nici jemals glücklich gewesen? Manchmal schon. Und mit Juka? Oh ja, sehr sogar. Juka. Warum nur wollte er mich so anders haben? Und plötzlich fehlte er mir doch wieder. Es ist absoluter Bullshit mir vorzugaukeln, ich hätte keine Gefühle mehr für ihn. Ich lag auf dem Sofa und scrollte mich durch die Neuigkeiten von Facebook. Da stieß ich auf einmal auf einen Artikel, der mein Interesse weckte. Eine Neurowissenschaftlerin beschäftigte sich mit Menschen, die an Liebeskummer leiden und erforscht deren Ursache und Wirkung. Ich überflog die Seite und es schockierte mich, dass sie die Trennung mit einem Drogenentzug verglich, doch irgendwie musste ich ihr auch Recht geben, denn genau so fühlte ich mich. Da ich ja nun beides kannte, wusste ich nicht, was schlimmer war. Sie schrieb auch weiter, dass sich schon einige Menschen, die diesen Kummer nicht mehr ertragen haben, umbrachten. Juka und ich waren auf Facebook noch immer befreundet und ich sah, wenn er etwas Neues postete. Ich brachte es nicht fertig ihn zu blockieren oder gar zu löschen. War er meine große Liebe gewesen? Doch warum hat es dann nicht funktioniert? Ich war kurz davor völlig auszuflippen und beschloss deshalb noch ein bisschen raus zu gehen. Basti hatte mich ohnehin gefragt, ob ich noch Mal zu ihm komme.   Draußen dämmerte es schon und ich entschloss mich, zu laufen. Auch, wenn ich so eine halbe Stunde unterwegs sein würde.  Ich genoss die kühle Abendluft und auf einmal sah ich sie. Mit angewinkelten Beinen hockte sie auf einer Bank und vergrub den Kopf in den verschränkten Armen. Normalerweise war ich nicht der Typ, der fremde Mädels ansprach, doch das hier schien etwas anderes zu sein. Ihre violetten Haare leuchteten in der Dämmerung und der Rest ihres Kopfes wurde von einer Kapuze verdeckt. Ich wusste nicht warum, aber irgendwie kam es mir so vor, als wäre sie verloren. Ich regte mich kaum und alles verging wie in Zeitlupe. Ihr Kopf bewegte sich und die Kapuze ihrer Jacke rutschte ein kleines Stück zurück. Nun kam ihr Gesicht mehr und mehr zum Vorschein. Zuerst schweifte ihr Blich in die unendliche Ferne, bis sie mich bemerkte. Langsam wanderten ihre Augen in meine Richtung. „Was guckst du denn so?“, fragte sie mit einer Stimme, die ich mir irgendwie anders vorgestellt hatte. Und ich? Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Hab mich wohl gefragt, warum du hier so allein sitzt.“ „Wüsste nicht, was dich das angeht. Lass mich besser in Ruhe, bevor ich dir eine reindrücke“, entgegnete sie schroff. Jetzt musste ich lachen. „Hahaha, is das dein ernst? Meinst du ich bin ein böser Vergewaltiger und falle gleich über dich her?“ „Was weiß ich. Hier treibt sich viel asoziales Zeug herum, da kann man nie wissen.“ Ich grinste noch immer. „Sehe ich etwa auch so aus?“ Sie musterte mich eine Weile, dann war plötzlich auch ein Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht zu sehen. „Naja, nicht unbedingt. Eher ein bisschen gruftig.“ „Ja, kann man wohl sagen. Du aber auch.“ Ihre grünen Augen schienen mich zu durchbohren, doch dann schauten sie wieder traurig in die Ferne. „Verrätst du mir deinen Namen?“, fragte ich dann und sie zuckte unschuldig mit ihren Schultern. „Was hätte ich denn davon?“ „Weiß nich. Vielleicht sag ich dir meinen auch.“ Wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Du hast nicht zufällig Zigaretten dabei?“ Ich erwiderte ihr Lächeln, kramte in meiner Tasche und trat jetzt endlich näher zu ihr. Sie nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel und gab mir diese zurück. „Wenn du magst, kannst du dich ja neben mich setzen.“ Sie nahm einen tiefen Zug und blies den blauen Rauch in kleinen Wölkchen aus. Wieder wurden ihre Augen von Traurigkeit durchzogen und ich meinte auch glitzernde Tränen zu sehen, doch diese hielt sie gekonnt zurück. Dann schaute sie mich wieder an. „Hast du schon mal das Gefühl gehabt, dich versteht keiner?“ Jetzt wurde es komisch. Genau diese Dinge schwirrten mir auch durch den Kopf, deshalb hatte ich meine Wohnung verlassen, weil ich mir einbildete, dass mich kein Mensch verstand. Nicht mal Juka. Ich verstand mich nicht mal selbst und jetzt stellte mir dieses bezaubernde Mädel mit den violetten Haaren diese Frage. „Ich glaube mich hat noch nie jemand verstanden. Es ist seltsam, dass du mich das jetzt fragst.“ „Ich habe dieses Gefühl auch oft. Gerade heute.“ Ich schwieg einen Moment. „Bist du deshalb hier und willst allein sein?“ „Ich weiß nicht mal, ob ich allein sein will...vielleicht wünsche ich mir auch endlich mal jemanden, der mich versteht. So isses auf Dauer echt nicht auszuhalten.“ „Manchmal kann es schon hilfreich sein, wenn du nur jemanden hast, der dir zuhört. Jemand, der dir im Anschluss keine dummen Ratschläge erteilt.“ „Ja schon, aber das eine ersetzt das andere nicht.“ Ich schüttelte den Kopf. „Das stimmt. Sagst du mir jetzt eigentlich wie du heißt?“ „Selene und du? Ich schmunzelte. „Wie die Vampirin aus Underworld“, stellte ich mehr fest, als das ich fragte. „Ja, wir werden sogar gleich geschrieben.“ „Ich bin Lukas.“ Eine Weile sagte keiner von uns beiden etwas. Ich würde Selene gern näher kennenlernen, aber ich war nicht sicher, was ich als nächstes sagen sollte. Immerhin war mein eigenes Leben gerade der reinste Trümmerhaufen. „Voll der schöne Name. Wohnst du in der Nähe?“ Ich nickte und zündete mir eine Zigarette an. „Naja, es gibt weitaus bessere Namen. Hast du noch Lust irgendwohin zu gehen? Hier wird es langsam kalt und so viele Zigaretten habe ich auch nicht mehr.“ Selene zuckte mit den Schultern. „Mh, ist hier was Schönes in der Nähe? Ich weiß nicht ob ich gerade Lust auf Menschen habe.“ „Das klingt jetzt zwar wie ne plumpe Anmache, aber wir könnten auch zu mir gehen.“ „Ach was. Gibt es da was zum Trinken und Zigaretten?“ „Klar.“ Jetzt erhob sie sich und ergriff bewusst oder unbewusst, das wusste ich nicht, meine Hand und zog auch mich auf die Beine. Was tat ich da? Ich schleppte ein wildfremdes Mädchen mit zu mir. Und das nur, weil sie mir irgendwie symphytisch war. Sie zog ihre Chucks und die Kapuzenjacke aus. Ich holte uns beiden ein Bier und wir setzten uns auf mein Bett. Ich ließ Musik über meinen Computer laufen. „Cooles Haus. Lebst du alleine hier?“ „Nee, mit meiner Schwester und meinem Bruder zusammen, wäre auch ein bisschen groß für mich allein. Kommst du eigentlich auch von hier?“ „Mehr oder weniger schon. Meine zwei Brüder...also es sind nicht meine richtigen Brüder, es fühlt sich nur so an, als wären sie meine Brüder und einige Freunde von ihnen haben einen eigenen kleinen Zirkus. Mit dem ziehen wir gerade ein bisschen umher.“ Als Selene von ihren Brüdern sprach beschlich mich eine Vorahnung, dass etwas mit ihrer Familie auch nicht so ganz zu stimmen schien, jedoch fragte ich nicht weiter nach. „Klingt interessant. Hast du eigentlich Musikwünsche?“ „Kennst du Nocturna? Ich mag die voll, hab sie aber leider noch nie live gesehen.“ War das jetzt ein schlechter Scherz? Ein fremdes Mädchen wollte meine Band hören und erkannte mich dennoch nicht? Ich beschloss nichts zu sagen und legte die Platte auf. „Die mag ich auch gern, sollen coole Jungs sein.“ Ich holte uns noch ein Bier und dann stellte sie mir eine Frage, die mich letztendlich völlig aus der Bahn brachte. „Du Lukas...ich hoffe das kommt jetzt nicht blöd rüber, aber kiffst du eigentlich?“ „Ähm, ja schon. Soll ich uns nen Joint bauen?“ Selene lächelte zuckersüß und nickte mit dem Kopf. Also holte ich Papes, Tabak und mein Grasdöschen und baute uns einen Joint. Sie schaute mir dabei zu. Zum Rauchen gingen wir auf die Terrasse. Wie war das möglich, ein so attraktives Mädel fragte mich, ob wir zusammen kiffen? Wahnsinn, ich hatte mich immer so sehr an Jukas Meckerei gewöhnt, dass ich ganz außer Acht gelassen hatte, dass es auch noch andere Menschen gab. Das grüne Wunderkraut flashte mich ganz schön und Selene scheinbar auch. Wir ließen uns aufs Bett fallen. „Geht‘s dir gut?“, fragte ich dann. „Klar und dir?“ „Mir auch.“ Wir schauten uns lange an. „Möchtest du immer noch wissen, warum ich ganz allein auf der Bank saß?“ „Klar.“ Sie atmete tief ein und wieder aus. „Ich war bei meinen Eltern und wollte sie besuchen, doch ich verstehe mich nich besonders gut mit ihnen. Wenn es nach ihnen ginge wäre ich jetzt Anwältin oder so. Und das hat mich ziemlich mitgenommen, weil sie nicht mal zu mir halten können und versteh‘n tun sie mich eh nie.“ In ihren Augen glitzerten wieder Tränchen, so minimal wie Tautropfen auf einem Grashalm. „Davon kann ich ein Lied singen. Ich habe schon lange mit meiner Familie abgeschlossen, so traurig das auch sein mag.“ Selene sagte lange nichts dazu. „Warum sind manche Menschen so egoistisch und blöd? Ich meine es ist doch nicht zu viel verlangt so akzeptiert werden zu wollen, wie man ist.“ „Leider isses für manche ein echtes Problem. Ich wünschte mir auch oft, es wäre anders.“ Und jetzt brach es doch aus ihr heraus. Vereinzelte Tränen rannen ihren Wangen herab. „Sie haben mich innerhalb des Jahres nicht mal vermisst“, schluchzte sie. Ich drehte uns noch einen Joint. „Ich weiß, das is nich schön. Aber hast du nicht Lust nach vorne zu schauen? Versuch dein Leben doch trotzdem irgendwie zu genießen. Lass uns rauchen gehen.“ Jetzt nahm ich ihre Hand und sie folgte mir. „Ich kenne dich kaum Lukas und trotzdem fühl ich mich irgendwie voll wohl.“ Wenn sie wüsste wer ich bin. Aber da fragte ich mich, warum sie Nocturna kannte und mich dennoch nicht erkannte. „Sag mal, hast du Nocturna schon mal in real gesehen, also weißt du wie sie aussehen?“ „Nee, leider nicht, da sie irgendwie nicht so oft spielen. Ich habe mir auch vorgenommen eine Band vorher nicht im Internet zu googeln, denn dann ist der Überraschungseffekt weg. Ich hab keine Ahnung, wie der Sänger aussieht, aber seine Stimme ist der Hammer.“ Das erklärt dann wohl einiges. „Ich weiß zufällig, dass sie morgen im Underground spielen, wenn du magst gehen wir zusammen hin.“ Selene ihre Augen glänzten vor Freude. „Oh mein Gott, das wäre sooo toll.“ Es war seltsam mit einem Mädel zu reden, das meine Musik vergötterte, mich aber nicht kannte. Ich beschloss mitzuspielen und mich wieder auf normalere Gesprächsthemen zu konzentrieren. „Wie lang bist du da mit deinem Zirkus immer unterwegs?“ „Meist das ganze Jahr, wie gesagt, wir sind wirklich wie eine kleine Familie. Doch jetzt bleiben wir eine Weile in der Stadt, weil hier unser Probesaal ist und wir uns auf die neue Show vorbereiten müssen.“ „Klingt nach viel Arbeit.“ „Ja schon, aber es macht auch Spaß. Sag mal, kennst du Nocturna näher?“ Jetzt konnte ich mich erst recht nicht mehr beherrschen und biss mir heftig auf die Unterlippe, um ein breites Grinsen zu unterdrücken. „Ja, kann man so sagen, sind Freunde von mir.“ Das war ja nicht mal weit daher geholt. Selene strahlte übers ganze Gesicht. „Ahhh, das ist der Hammer. Weißt du, ich mag ihre düstere Musik einfach so sehr, sie sprechen mir mit ihren Texten aus der Seele. Ich könnte in ihrer Musik versinken, total wegträumen. Ohh, mein Gott, hörst du wie schön er singt? So voller Gefühl und Leidenschaft. Sorry, ich nerve dich bestimmt.“ „Ich bin gleich wieder da, nich weglaufen“, sagte ich scherzhaft und beschloss meine Gitarre aus dem Proberaum zu holen. Ich musste mich ihr offenbaren, es ging nicht anders und sie würde es mir sicher nicht verübeln. Als ich zurück in mein Zimmer kam, saß Selene mit geschlossenen Augen da und lauschte dem Lukas, dessen Stimme aus dem Lautsprecher ertönte. Ich atmete tief durch, weil ich ein bisschen aufgeregt war. Immerhin war mir sowas auch noch nicht passiert. „Da bist du ja wieder. Bekomm ich jetzt eine Privatvorstellung?“ Ich nickte und setzte mich zu ihr. „Darf ich kurz Pause machen? Dauert auch nich lange, ich würde dir nur gern etwas zeigen.“ „Klar“, erwiderte sie etwas überrascht. Wahrscheinlich dachte Selene, jetzt würde ein schnulziges Liebeslied kommen und ich wollte ihr mit meiner Klampfe imponieren, doch dahinter steckte mehr. Also begann ich zu spielen und dann dazu zu singen. Der Text floss wie immer ganz von selbst über meine Lippen, als meine Finger die Seiten zupften und die Melodie durch den Raum erklang. Ich wurde eins mit meiner Musik und auch Selene schien das zu merken. Zwischen uns herrschte ein Zauber, den nur allein die Musik heraufbeschwören konnte. Selene sah mich nur an und sagte nichts. Vielleicht, weil ihr die Worte fehlten oder, weil sie vielleicht auch enttäuscht war? Konnte ja alles möglich sein, jedoch hoffte ich letzteres nicht. Ich stimmte noch ein zweites Lied an, weil ich gerade echt Lust zum Jammen bekam und das war immerhin noch eine kleine Übung für morgen, auch wenn wir da nicht unplugged spielen würden. Selene sagte noch immer kein Wort, doch dann lächelte sie mich an. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll...das war wundervoll Lukas. Nun drängt sich mir aber eine weitere Frage auf und möglicherweise kenne ich die Antwort schon, aber es wäre schön, sie von dir zu hören.“ Ich lächelte jetzt auch. „Kommt ganz auf die Frage an.“ „Kennst du Nocturna nur oder bist ein Bandmitglied?“ „Ich habe diese Band mit sechzehn ins Leben gerufen. Wir haben ein paar Wechsel zwischendurch gehabt, aber meine zwei besten Freunde waren schon immer mit an Bord. Irgendwie haben wir uns immer wacker gehalten, trotz der viele Höhen und Tiefen.“ Selene atmete tief ein und wieder aus. „Wow, das ist mal echt krass. Ich meine, wie groß ist schon die Wahrscheinlichkeit, dass man seine Lieblingsband mal persönlich kennengelernt? Und wir sitzen gerade hier, reden, trinken und es scheint ganz normal zu sein.“ Ich musste lachen, weil das echt nach einem süßen Groupiemädel klang. „Sowas is ja auch normal…aber vielleicht isses auch Schicksal“, scherzte ich. „Meinst du? Oh Mann, jetzt will ich dich morgen echt live auf der Bühne sehen. Ich kann es kaum erwarten.“ „Versprich dir nur nicht zu viel. Vielleicht ist meine Bühnenperformance ja auch miserabel.“ „Nachdem, was du gerade hier abgeliefert hast, sicher nicht. Ich bin immer noch ganz durch den Wind. Und was machen wir jetzt? Ich glaube, ich sollte langsam nach Hause gehen.“ „Ja, aber nicht allein...ich meine, jetzt um die Uhrzeit ist die Stadt echt nicht mehr sicher. Entweder du nächtigst auf meiner Couch oder ich bringe dich wohin auch immer.“ „Boah, das ist ja fast schon gemein. Meinst du es ist okay, wenn ich hier bleibe?“ „Warum sollte es das nich sein? Oder denkst du ich falle über dich her, wenn du schläfst.“ „Das ist es nicht, ich meine du bist die heimliche Reinkarnation meiner Träume und nun soll ich bei dir die Nacht verbringen? Das ist so, als würdest du Lucy ins Schloss von Graf Dracula schicken, weil er sie zum Essen eingeladen hat...“ Jetzt brach ich in Gelächter aus. Noch nie hatte ich einen ähnlichen Vergleich gehört. „Vielleicht bin ja ein lieber Vampir a la Twilight, der sich nur von Tieren ernährt?“ „Sag bloß du hast diesen Kitsch angeschaut?“, fragte sie leicht amüsiert. „Hab mal reingeschaut, meine Schwester wollte es unbedingt sehn.“ Mir gefiel Selenes Art und ich beschloss sie noch ein bisschen zu reizen. „Aber um ehrlich zu sein, so schätze ich dich nicht ein. Bevor ich dir erzählt habe, dass ich deine Band toll finde, warst du eher zurückhaltend und hast mir gezeigt, dass du nicht zu den Aufreißern gehörst. Ob Dracula hin oder her, immerhin war er auch ein Gentleman.“ Ich nickte und ging noch eine Zigarette rauchen. Selene folgte mir. „Doch hatte ich Lucy immer ein bisschen ängstlich und naiv in Erinnerung, das scheinst du auch nich zu sein.“ „Aha, jetzt bin ich also naiv? Na toll…sicher hab ich jetzt auch den Stempel Groupiegirl.“ Ich musste wieder lachen und konnte mich nicht zurückerinnern, wann ich mal eine derart witzige Unterhaltung mit einem Mädchen hatte. „Ach was, ich hatte schon schlimmere und bis eben wusstest du nich mal, wie ich aussehe.“ „Das stimmt auch wieder. Aber mal ehrlich, vielleicht sollten wir jetzt echt schlafen gehen, is schon spät.“ Okay, jetzt gab es zwei Möglichkeiten, wie diese Nacht endete, doch wollte ich das auch? Ich wollte nicht der typische Musikermacho sein, der alle Mädels in sein Bett lockt, aber irgendwie fand ich Selene auch echt heiß und was hielt mich schon davon ab? Die Frage war nur, ob das nicht alles ein bisschen zu überstürzt ging? Vielleicht sollte ich Selene einfach darauf ansprechen. Ich legte ihr ein Handtuch hin und wartete mit dem Ausziehen, bis sie im Bad verschwunden war. Dann zog ich das Sofa aus und machte ihr ein gemütliches Nachtlager darauf. Nur noch meine Nachtischlampe brannte. Trotzdem erkannte ich Selene in Top und Slip. „Wenn du willst können wir auch tauschen, du schläfst in meinem Bett und ich auf dem Sofa. Will ja nich unhöflich sein.“ „Das ist schon okay so“, erwiderte sie. Ich versuchte die Augen zu schließen, doch mit dem Wissen, dass ein fremdes Mädchen auf meinem Sofa schlief, gelang mir das nicht ganz. Allerdings lag das nicht an ihrem tollen Aussehen, nein. Es war nur schon so lange her, dass überhaupt jemand bei mir übernachtet hatte und plötzlich war dieses unerträgliche Gefühl wieder da. Die Sehnsucht nach Juka schnürte mir die Kehle zu. „Lukas, schläfst du schon?“, fragte mich Selene. „Nein, warum?“, fragte ich, auch wenn die Antwort auf der Hand lag. Ich vernahm das Rascheln der Decke und auf einmal stand Selene vor mir. Sie kuschelte sich zu mir und strich mir sanft über die Wange, doch mein Lächeln blieb aus. „Alles okay?“ „Glaub nich.“ „Liegt es an mir?“ Ich schüttelte mit dem Kopf und versuchte mich normal zu verhalten, auch wenn in mir gerade wieder dieser Krieg tobte. „Nein…nur…egal, was du dir von mir versprichst, ich kann es dir nich geben…erstens bin ich schwul und zweitens nicht an ner Affäre interessiert.“ „Wow…das ist tatsächlich unerwartet, aber okay. Wir können auch einfach nur kuscheln wenn du magst.“ „Selene…versteh mich jetzt nich falsch, aber ich kann gerade gar keine Nähe zulassen…tut mir leid, wenn ich dir heute ein anderes Gefühl vermittelt hab, aber ich dachte bis eben es wäre okay…“ Selene wich dennoch nicht von meiner Seite, jedoch ließ sie ihre Hände brav bei sich. Ich drehte mich gen Wand und versuchte Schlaf zu finden.   Am nächsten Morgen frühstückten wir noch zusammen und dann fuhr ich Selene nach Hause. Die Stimmung zwischen uns war ein bisschen angespannt und ich versuchte mein Verhalten gestern wieder gerade zu biegen. „Sehen wir uns später beim Konzert?“ Sie schien überrascht zu sein. „Wenn du das noch möchtest gern.“ Ich lächelte schwach und nickte mit dem Kopf. „Es wäre mir eine Ehre.“ „Okay, dann werde ich da sein. Geht’s dir wieder besser?“ Ich nickte abermals, war mir allerdings nicht so sicher. „Dann bis später.“ Selene gab mir einen Abschiedskuss auf die Wange. „Bis später du wunderschöner Mensch. Ich hoffe wirklich, dass alles gut ist.“ Ihre Worte rührten mich und ich lächelte schwach. Dann fuhr ich nach Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)