vergiss-mein-nicht von Futuhiro (Magister Magicae 11) ================================================================================ Kapitel 1: was bisher geschah ----------------------------- Der gewaltige, rabenschwarze Greif landete auf dem Bergplateau vor dem Höhleneingang, wartete bis Urnue von seinem Rücken gerutscht war, und nahm dann wieder seine menschliche Gestalt an: Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov. Seine großen Schwingen schlossen sich eng um den Körper und wurden bei der Rückverwandlung zu dem Ledermantel, den er stets zu tragen pflegte. Eine steife Windböe trieb ihm die schulterlangen, ebenfalls schwarzen Haare ins Gesicht. Urnue fröstelte sichtlich. „Willkommen in Sibirien. Man merkt, daß es Winter wird.“ „Sei doch nicht so ein Weich-Ei“, schmunzelte Victor amüsiert und löste die magische Barriere, die den Höhleneingang versiegelte. Auch wenn dieser Berg und das von ihm und Urnue bewohnte Höhlensystem ein Mythos war und keiner seine Existenz, geschweige denn seine genaue Lage belegen konnte, hatte Victor es sich in letzter Zeit angewöhnt, den Eingang verschlossen zu halten. Man wusste ja nie. Noch vor seinem Getreuen Urnue trat er ein und verschwand unter Tage. Auf dem Weg durch die Gänge brannte er mit einem Fingerschnippsen jede Fackel an, an der er vorbei kam. Die einzige Licht- und Wärmequelle, die es hier unten gab. Urnue seufzte leise, als er bemerkte, in welche Richtung Victor verschwand. Auf direktem Wege in sein Bücher- und Studierzimmer. „Willst du gleich schon wieder arbeiten?“ „Warum nicht?“, wollte der Russe wissen, ohne sich aufhalten zu lassen. Urnue folgte ihm also. „Du bist gerade fünf Stunden geflogen!“ „Und?“ „Und!? Bist du nicht müde?“ „Nein.“ „Wollen wir nicht wenigstens erstmal was essen?“, diskutierte Urnue weiter. Einerseits weil er wirklich Hunger hatte, andererseits weil er sich manchmal echte Sorgen machte, daß Victor sich irgendwie übernahm. „Meine Vorratskammer steht dir offen. Bedien dich.“ Das war die Standard-Floskel, die Urnue in solchen Momenten immer zu hören bekam. Inzwischen waren sie im Studierzimmer angekommen und Victor stellte sich sofort voller Elan hinter seinen Schreibtisch, um ihn frei zu räumen und Platz für das zu schaffen, was er als nächstes auf dem Herzen hatte. Seinen Kollegen beachtete er gar nicht. Kopfschüttelnd machte Urnue Kehrt und suchte sich etwas zu beißen. Als der Wiesel-Genius sich etwas später wieder hinzu gesellte, war Victor bereits in ein Buch vertieft. Urnue krachte ihm demonstrativ einen Teller mit heißem Fleisch und frischem Brot hin, um ihn dazu zu bewegen, auch etwas zu sich zu nehmen. Mit seinem eigenen Teller noch in der Hand stellte er sich schräg hinter Victor und warf über dessen Schulter hinweg einen Blick in sein Buch. Da es aber in Alt-Russisch verfasst war, verlor er schnell die Lust daran, den Inhalt zu ergründen. „Was bereitet dir denn schon wieder so viel Kopfzerbrechen, daß es keinen Aufschub duldet?“, hakte er stattdessen nach, schlenderte zu Victors Bett hinüber und setzte sich. In Ruhe begann er zu essen. „Dieser Fall auf den Orkney-Inseln, von dem wir gerade zurückgekommen sind.“ „Ich dachte, der wäre geklärt“, entgegnete Urnue überrascht. „Es war ein Nachzehrer, der Sewill auf dem Kieker hatte. Wir haben ihn doch erledigt.“ „Schon. Der Nachzehrer ist auch nicht meine Sorge. Sondern Cord und Third Eye.“ Victor griff nach der Gabel auf seinem eigenen Teller und schob sich ebenfalls etwas zu essen zwischen die Zähne. „Lass uns den Fall nochmal rekonstruieren.“ „Hm ... Sewill und Safall Gaya waren Selkie-Zwillinge von den Orkney-Inseln. Sie sind auf die magische Fakultät der Zutoro Universität in Düsseldorf gegangen, um auf einen Magister Magicae zu studieren. Auf dem Mädchen Sewill lag augenscheinlich ein Fluch, der sie immer schwächer und kraftloser hat werden lassen. Ihr Bruder Safall schien davon verschont zu bleiben. Weil ihre Versuche, das ganze Ding selber zu lösen, ins Leere gelaufen sind, und sie sich keinen Rat mehr wussten, haben sie dich als Professor für Fluch- und Verwunsch-Wissenschaften gebeten, dich ihres Problems anzunehmen. Du hast rausgefunden, daß es sich dabei um keinen Fluch handelt, sondern Sewill auf eine Leiche gestoßen war, die sie im Glauben an einen Unfall am Strand vergraben hat. Der Tote war aber kein Verunfallter, sondern ein Opfer des Genii-Jägers Cord. Das Opfer war – wohl aufgrund des gewaltsamen Todes – zum Nachzehrer geworden und hatte begonnen, Sewill die Lebenskraft auszusaugen“, fasst Urnue zusammen. „Richtig. Cord und sein Genius Intimus haben versucht zu verhindern, daß wir den Toten am Strand finden.“ „Bei dem Versuch sind die beiden bedauerlicherweise selber von den Klippen der Steilküste gestürzt und umgekommen“, grinste Urnue. Victor zog ein tadelndes Gesicht. „Das ist aber eine nette Umschreibung dafür, daß du sie runtergestoßen hast, mein Lieber.“ „Na hör mal, die beiden haben vor zwei Jahren meinen Schützling Ruppert umgebracht und mich bewusstlos in einem Bannkreis zurückgelassen! Hättest du mich nicht gefunden und aus dem Bannkreis raus geholt, wäre ich dort drin auch draufgegangen.“ Victor wischte die Bemerkung ungesehen zur Seite. Das gehörte jetzt nicht hier her. Das hatte nichts mit dem Toten auf den Orkney-Inseln zu tun. „Cord und Third Eye haben mich in Düsseldorf angezinkt, weil ihnen die Polizei im Nacken saß. Sie haben geglaubt, daß ich sie an die Bullen verraten hätte.“ „Hast du aber nicht.“ „Hab ich aber nicht. Richtig erkannt.“ „Und?“, wollte Urnue wissen. Er verstand noch nicht so richtig, worauf Victor hinaus wollte. Störte es ihn, daß die Polizei sich da mit einmischte? Victor bewegte sich selber außerhalb des Gesetzes. Er war der ehemalige Vize-Chef dieses Verbecher-Kartells 'Motus' gewesen. Und er war der, der dieses ganze Pack dann hatte auffliegen lassen und an die Staatlichen verraten hatte. Nichts desto trotz jagte er inzwischen selber ehemalige Motus-Funktionäre, die er nicht der Polizei überlassen wollte, weil er meinte, ihre Vergehen seien zu gravierend für die lasche Justiz der zivilisierten Welt. Er machte oft und gern Gebrauch von seiner Knarre und ballerte einfach jeden Schwerverbrecher über den Haufen, den er jetzt nach dem Niedergang der Motus noch aufspüren konnte. Sehr zum Leidwesen der Polizei, die das natürlich nicht gern sah, und die fraglichen Subjekte lieber lebend gefangen hätte. Victor schob sich wieder mit der Gabel etwas zu essen in den Mund. „Ich hab die beiden nicht an die Polizei verraten. Das war der Deal, den ich damals mit den beiden hatte, damit sie dich am Leben lassen und nur Ruppert beiseite schaffen. Ich hätte diesen Handel auch niemals gebrochen, weil ich viel zu viel Angst gehabt hätte, daß sie dich dann doch noch holen kommen. - no kto eto bil?“, legte er auf Russisch nach. „Aber wer war´s dann?“ „Ist das nicht Schnuppe?“, wollte Urnue etwas ernüchtert wissen. Das war Victors ganze Sorge? Das die beiden Säcke Ärger mit der Polizei hatten? Das waren schwer gesuchte Mörder gewesen. Die mussten doch zwangsläufig im Visir der Bullen stehen, auch ganz ohne Victors Zutun. „Nein, das ist nicht Schnuppe. Der einzige, der noch von dieser Leiche am Strand wusste, war der Boss. Er mag im Gefängnis sitzen, aber er hat immer noch Leute, die weiter für ihn arbeiten. Wieso sollte er die paar Männer, die er noch hat, verraten?“ „War er wirklich der einzige? Was ist mit den Aufspürern der Motus? Wer hat Cord und Third Eye den Auftrag denn zugespielt? Wer hat das Opfer für sie gefunden?“ „Von den Aufspürern lebt keiner mehr.“ „Dann werden Cord und Third Eye wohl schlicht und ergreifend einem Hellseher ins Netz gegangen sein“, vermutete Urnue. Victor schüttelte mit geistesabwesendem Blick den Kopf. „Nein. Dafür war die Tat zu gut mit Bann-Magie vertuscht. Das hätte keiner so ohne weiteres sehen können.“ „Wie lautet also deine Theorie?“ „Ich hab mehrere. Eine unwahrscheinlicher als die andere. Aber solange Vadim noch lebt, kann man nie paranoid genug sein.“ Urnue stutzte. „Va- wer?“ „Vladislav.“ „Heißt der Vadim?“ „Vadim ist die Koseform von Vladislav“, grinste Victor. „Nagut, ich verstehe, daß du als Engländer wohl nicht so das Gehör für russische Spitznamen hast. Vadim und Vladislav klingen sich ja tatsächlich nicht sehr ähnlich.“ „Du betitelst deinen ehemaligen Boss mit einem Kosenamen?“, wollte Urnue grinsend wissen. „Oh, das ist in Russland gang und gäbe. Wir gebrauchen Koseformen sehr inflationär. Sogar hohe Politiker sprechen sich gegenseitig mit Kosenamen an. Hellhörig werden musst du erst, wenn ein Russe dich wieder mit deinem korrekten Namen anspricht. Dann ist was im Busch.“ „Und wie ist die Verniedlichungsform von deinem Namen?“ „Von Victor? Vitja.“ „Vitja?“, widerholte Urnue ungläubig. Das klang irgendwie seltsam. Victor schmunzelte erneut. „Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich weiter 'Dragomir' nennen würdest, wie es alle meine Freunde tun.“ „Ja, keine Sorge. Vitja hätte ich dich auch nicht genannt. ... Obwohl es schon was Cooles gehabt hätte, wenn ich als einziger einen Namen für dich gehabt hätte, den kein anderer nutzt. Als dein Getreuer bin ich doch was Besonderes.“ „Du bist eine Ego-Kanone“, hielt Victor ihm amüsiert vor. „Bin ich für dich etwa nichts Besonderes?“, alberte Urnue weiter und schlug dabei einen gewollt zweideutigen Ton an. Der Russe lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Du bist der einzige, der meinen Berg jemals betreten hat. Und du bist der einzige, der ihn lebend wieder verlassen darf. Ich hab eine Menge Lösegeld für dich gezahlt, als dein Schützling Ruppert kalt gemacht wurde. Du kennst alle meine Pläne, alle meine Fähigkeiten, zu jeder Zeit meinen Aufenthaltsort, und viele meiner Geheimnisse. Und du begleitest mich, wenn ich arbeite. Noch Fragen?“ „njet“, grinste Urnue spitzbübisch und steckte sich etwas zu essen in den Mund. Daraufhin beugte sich Victor wieder vor und las weiter sein Buch. „Aber hör mal ...“, meinte der Wiesel-Genius etwas ernster und kam damit spürbar zum Thema zurück. „Du denkst also, Vladislav steckt hinter dem Ganzen. Gehen wir mal vom worst case aus: Vladislav fängt an, seine eigenen Leute zu jagen, so wie du. A: Was hätte er davon? Und B: Wieso lebst du dann noch? Hättest du nicht der Erste auf seiner Liste sein müssen?“ „Möglich. Vielleicht hat Vladislav mich einfach noch nicht gefunden. Und Hafterleichterung wäre ein guter Anreiz für ihn. Je mehr er mit der Polizei kooperiert, desto schneller ist er vielleicht wieder draußen.“ „Unsinn. So einer wie der sieht nie wieder Tageslicht ohne Gitter davor, egal wie er es dreht und wendet. Das scheidet also aus“, entschied Urnue. „Gut, gehen wir davon aus, es gab noch einen Mitwisser, von dem du bisher noch nichts wusstest. Na und? Schön für ihn! Dann gibt es eben einen! Wieso machst du dir Sorgen?“ „Weil ich dann gern wüsste, was der noch so alles weiß.“ „Nichts, was die Polizei nicht sowieso schon über dich wüsste. Die sind eh bestens im Bilde über dich. Der einzige Grund, warum du noch ein freier Mann bist, ist deine Zusammenarbeit mit den FABELS. Sonst würdest du Vladislav schon längst Gesellschaft leisten, glaub mir.“ „Darum geht es nicht ...“ „Was dann? Wer immer das ist, er scheint nicht selber zu jagen. Er spielt nur der Polizei Informationen zu. Also kein Grund, Angst vor diesem jemand zu haben.“ „Ich suche denjenigen nicht, weil ich Angst vor ihm hätte.“ Urnue schaute den Russen eine Weile durchdringend an, bekam aber für´s Erste keine Antwort mehr zum Thema. Er wollte es nicht sagen. Auch okay. „Und was erhofftst du dir da nun aus dem Buch rauslesen zu können?“ „Ob es Genii gibt, die die Fähigkeit haben, mit Toten zu sprechen.“ „Wozu willst du´n das wissen?“, hakte Urnue verständnislos nach. Und erinnerte sich dabei, noch etwas von seinem Teller zu essen, bevor alles kalt wurde. „Ich würde zu gern nochmal mit ein paar Leuten reden, die nicht mehr da sind. Zum Beispiel würde ich gern mit Cord und Third Eye reden, ohne daß die beiden dabei versuchen, mich umzubringen. Die haben leider einige Geheimnisse mit ins Grab genommen.“ „Also ich weiß von keinen. Die stünden ja bei der Gerichtsmedizin sicher hoch im Kurs, wenn es Genii mit solchen Fähigkeiten gäbe.“ „Bestimmt. Ich muss die FABELS fragen, ob die mir sagen können, wer Cord und Third Eye nun tatsächlich an die Polizei verpfiffen hat. Ich hoffe, die haben mehr als nur einen anonymen Hinweis bekommen.“ „Du glaubst, wer immer Cord und Third Eye an die Polizei verpfiffen hat, hat vorher mit dem toten Opfer gesprochen!“, ging dem Wiesel-Genius endlich ein Licht auf. „Glaubst du etwa, derjenige hat seine Infos direkt von dem Toten bekommen und ist damit dann zur Polizei gegangen?“ „Es wäre ein Lichtblick für mich, wenn es so wäre ...“, murmelte Victor plötzlich furchtbar trübsinnig. „Dann müsste ich diesen jemand unbedingt finden.“ Urnue verzog verständnislos das Gesicht. „Also, beim besten Willen, da fallen mir plausiblere Theorien ein, wer Cord und Third Eye an die Bullen verraten hat, und woher er davon gewusst haben könnte.“ „Würdest du nicht nochmal mit Ruppert sprechen wollen, wenn die Chance dazu bestünde? Nur drei Minuten?“ „Gott bewahre, nein! Er würde mich bloß ungespitzt in den Boden rammen, weil ich es nicht geschafft habe, ihn zu retten. ... Du etwa?“ „Ja. Ich würde mich bei ihm entschuldigen wollen. Mich von ihm verabschieden wollen. Fragen, ob es ihm gut geht, da wo er jetzt ist. Sagen, daß es mir leid tut. ... Es gibt so viele Leute, denen ich das sagen wöllte, wie leid es mir tut. ... Habe ich dir jemals von Anatolij erzählt?“ Urnue seufzte leise. Er hatte Victor noch nie so sentimental erlebt. Sonst war er immer der selbstbewusste, starke, stoische Killer. „Ich weiß nichts von einem Anatolij. Aber ich weiß jemanden, der eine Antwort für dich haben dürfte.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)