vergiss-mein-nicht von Futuhiro (Magister Magicae 11) ================================================================================ Kapitel 5: Illusion ------------------- „Aiko!“, rief der Russe ihr nach, um sie dazu zu bringen, stehen zu bleiben und sich umzudrehen. Sie wandte sich mit einem schiefen Grinsen zu ihm um. „Wird auch Zeit, Mann. Ich dachte schon, du versuchst es heute gar nicht mehr“, meinte sie, freundlicherweise auf Russisch, denn sie wusste, daß er ein Russe war. Und in der Motus hatten damals alle Russisch gesprochen. „Sind dir in Russland und Zentraleuropa die Opfer ausgegangen, daß du dich extra bis hier rauf bemühst?“ „Wieso bist du nicht stehen geblieben, wenn du mich schon bemerkt hast?“, gab Victor nicht minder selbstgefällig zurück. Er ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen, daß seine Tarnung längst aufgeflogen war. „Verlangst du, daß ich es dir unnötig leicht mache? Ich dachte, du bist Profi.“ „Du weißt ja noch nichtmal, was ich von dir will.“ „Was sollst du schon von mir wollen, Akomowarov? Du jagst deine ehemaligen Leute. Du wirst mich höchstwahrscheinlich umbringen wollen. Wölltest du was anderes, wärt ihr beide mir nicht eine halbe Stunde lang heimlich nachgelaufen.“ Victor lächelte sympathisch. „Naja, da Weihnachten ist, wäre ich durchaus auch damit zufrieden, wenn ich dich lebend fangen und einfach der Polizei übergeben könnte. Ich habe gerade keine Lust auf Blutvergießen. Aber wenn dir das natürlich lieber ist ...“ „Übrigens, wer ist denn dein goldiger Begleiter überhaupt?“, wollte sie wissen und deutete dabei über die Schulter nach hinten auf Urnue. „Den kenn ich ja noch gar nicht.“ „Er ist der, der mich überzeugt hat, daß du nicht unbedingt sterben musst. Bedank dich bei ihm“, meinte der Gestaltwandler und warf dabei nochmal einen unauffälligen Blick in die Runde, ob sie wirklich alleine waren oder ob hier Passanten herumstrolchten. Eigentlich musste er keine Bedenken haben. Er wusste, daß Urnue das vorher abgeprüft hatte, sonst hätte er den Angriff nicht eröffnet. Victor beschloss, seiner Gegnerin nicht allzu viel Zeit zu lassen, um irgendwelche Aktionen vorzubereiten. Wenn sie ihn wirklich schon die ganze Zeit bemerkt hatte, hatte sie ohnehin schon viel zu viel Zeit gehabt, sich irgendwas zu überlegen. Er zog eine Falkenfeder – so mächtige Bann-Zauber gingen leider nie ohne Hilfsmittel, und organische Dinge eigneten sich dafür am besten – und legte die Hände an den Fingerspitzen zu einem Keil zusammen, die Feder irgendwo zwischen seinen Fingern eingeklemmt, was seinen Neutralisierungs-Bann auslösen sollte. Damit gedachte er ihre Fähigkeit zu unterbinden, Illusionen zu erzeugen. Doch Urnue trat ihm in den Weg und zog vor Aiko Brown einen magischen Schutzschild hoch, um sie zu schützen. Irritiert brach Victor seinen Zauber wieder ab bevor er vollendet war, weil er keine Ahnung hatte, was er davon halten sollte. Urnue half dieser Frau? Das hatte er ja noch nie getan, sich zwischen Victor und seine Zielpersonen zu stellen. „Was soll´n das werden?“, wollte er wissen. Urnue sagte nichts, sondern ließ nur seinen Schutzschild wieder sinken und funkelte Victor mit bösem Blick an. Der Gestaltwandler gab einen verstehenden Laut von sich und schleuderte Urnue einen Angriffszauber entgegen, der ihn von den Füßen riss und sich auf dem Boden noch ein paar Mal überschlagen ließ, bevor er liegenblieb. Dieser Angriff hatte die Wirkung einer Lokomotive, die einen mit Volldampf überfuhr. Aiko Brown zog ein entsetztes Gesicht. „Du greifst deinen eigenen Partner an?“ „Er ist nicht mein Partner“, legte Victor fest. „Nur eine deiner Illusionen.“ „Wenn du dir da mal sicher bist ...!?“ Beide schauten zu, wie Urnue sich langsam und ächzend wieder auf die Beine kämpfte. Er sah reichlich rampuniert aus. Mindestens ein gebrochenes Bein musste er haben, denn er konnte kaum noch stehen. Er spuckte Blut. Und seine gekrümmte Haltung zeugte auch von gebrochenen Rippen oder inneren Verletzungen. „Ganz sicher“, entschied Victor. Dieser Angriff hätte ihn definitiv umgebracht. Nur eine Illusionen konnte sowas überleben. Es bewies lediglich, daß Aiko Brown diesen Zauber nicht gut genug kannte, um seine Wirkung realistisch in eine Illusion umzuwandeln. Dann schickte er Urnue mit dem gleichen Angriff abermals zu Boden. Ungerührt. Diesmal blieb der auch endlich liegen. „Woran glaubst du das zu erkennen?“, wollte Aiko Brown wissen. „Wäre das der echte gewesen, hätte er mir eine Antwort gegeben.“ „Und wo ist dann der echte hin?“ Victor war es leid, weiter mit ihr zu diskutieren. Sie würde ihn nicht verunsichern. Stattdessen wollte er sie endlich ausschalten. Er formte wieder seine Hände zum Keil, mit der Falkenfeder zwischen seinen Fingern und unterband endlich ihre Illusions-Künste. Sie machte eine seltsame Handbewegung, wohl Handzeichen-Magie, die Victor allerdings nicht kannte und daher nicht deuten konnte. Victor spürte, daß sich irgendwas an ihm tat. Er hatte jedoch keine Zeit, sich darum zu kümmern. Und da er es auch nicht als Einschränkung empfand, störte er sich zunächst nicht daran. Er konnte später nachsehen, wenn dieser Kampf zu Ende war. Entschlossen wollte er den nächsten Bann nach seiner Gegnerin schleudern. Aber er musste feststellen, daß sich nichts rührte. Auch ein zweiter Versuch brachte nichts mehr. „Was!?“, machte Victor verwirrt und sah fragend auf seine Handflächen. Okay, was auch immer die Kollegin getan hatte, es blockierte offenbar Victors Fähigkeiten, wurde ihm klar. Das, was er eigentlich mit ihr vorgehabt hatte. Jetzt war er mächtig am Allerwertesten. Sie verwandelte sich in ihre wahre Gestalt zurück, ein Sichel-Wiesel. Sie war groß wie ein Schäferhund, hatte hellbraunes Fell, lange Eckzähne und vorn dreifingrige Pfoten, von denen die mittleren Finger jeweils überdimensional lange, sichelförmige Hornfortsätze waren. Die konnten bei aufrechtem Gang wie Macheten eingesetzt werden und gaben ihrer Spezies den Namen. Sie riss bedrohlich das Maul auf und sprang auf Victor zu, um in den Angriff über zu gehen. „trakhat tebja!“ [Fick dich!], fluchte er sauer, zerrte die Pistole aus seinem Hosenbund und begann das Magazin leerzuballern. Dabei kippte er die Pistole auf die Seite. Wenn Magie hier nichts mehr brachte, dann musste es eben die Munition tun. Nachdem er sie niedergeschossen hatte, löste sich der falsche Urnue in Luft auf. Ein Glück, dann war Aiko Brown selbst keine Illusion gewesen, sondern er hatte die echte erwischt. Nun, wo sie weg war, verflogen ihre Illusionen. Dennoch ging Victor hin und besprühte die Tote mit Viscum-Lösung. Wäre Aiko so unverschämt gut, ihren eigenen Tod nur vorzutäuschen, und wäre die durchsiebte Leiche nur eine Illusion, dann hätte er es damit erfahren. Gute Gründe dafür hätte es einige gegeben. Die Tatsache, daß Victor nicht weiter nach ihr suchen würde, wenn er sie für tot hielt, war noch der harmloseste davon. Verschiedene Leute hatten hohe Gelder auf Victors Kopf ausgesetzt. Er wollte nicht, daß sie auf die Idee kam, ihm unvorgewarnt in den Rücken zu fallen und seinen Kopf einem dieser Leute zu bringen. Aber die Sorge war unbegründet. Die Leiche war in der Tat echt. Urnue – der echte Urnue – kam ohne Eile herbei spaziert. „So´n Shit. Sie hat mich komplett außer Gefecht gesetzt“, beschwerte Victor sich. Nicht mal mehr seine Gestalt wandeln konnte er noch. „Das ist ein 'Fauler Zauber'. Sie hat deinen Bann auf dich zurückgeworfen. Das hast du neulich an der Uni unterrichtet, weißt du noch? Als du Vertretung geben musstest.“ Er schaute seinen Getreuen fragend an. „Da hast du doch die ganze Zeit geschlafen.“ „Nicht die ganze, nur den Großteil. Warte, ich löse dir den Bann wieder. Du kannst ja gerade nicht mehr“, meinte Urnue und griff nach der Falkenfeder. „Danke. Ein Glück, daß du auch Bann-Magier bist.“ „Du hattest mir versprochen, sie der Polizei lebend zu überstellen“, murrte Urnue unzufrieden, während er arbeitete. „Wie dir sicher aufgefallen ist, war das aus erdenklichen Gründen leider nicht möglich. Sie hat all meine magischen Fähigkeiten unterbunden. Mir blieb nur noch die Knarre.“ „MEINE magischen Fähigkeiten hat sie nicht unterbunden. Ich hätte durchaus noch agieren können.“ „Zu gefährlich für dich. Das wollte ich nicht riskieren. Du weißt, das Sichel-Wiesel giftig sind, wenn sie dich ablecken. Bisher ist noch kein wirksames Gegengift für Kama-Itachi-Speichel gefunden worden.“ „Du gebrauchst dein Schießeisen viel zu schnell und viel zu bedenkenlos! Warum musst du deinen Weg grundsätzlich mit Leichen pflastern? Du kannst nicht ...“ Er brach mitten im Satz ab und merkte auf. „Äh ... Dragomir, siehst du auch was ich sehe?“ Die beiden schauten sich mit großen Augen um, als sich die gesamte Umgebung zu verändern begann. Die Häuser verschwanden und andere kamen zu Tage. Fassungslos stellte Victor fest, wie groß Aiko Browns Illusion wirklich gewesen war. Sie hatte ihnen sogar ein anderes Setting vorgegaukelt, um sie in die Irre zu führen. Jetzt, wo sie tot war, brachen diese Illusionen in sich zusammen. Und das Schlimmste war: fünf oder sechs Leute standen in der Gegend verteilt und schauten sie schockiert an. Fünf oder sechs Leute, die für Victor und Urnue dank der Illusion vorher unsichtbar gewesen waren, die aber sehr wohl die Schießerei hier gesehen hatten und nun Zeugen waren. So viele Zeugen für den Mord an Aiko Brown. Alle hatten es gesehen. „Urnue ... lass mich mal eine Vermutung äußern“, meinte Victor trocken. „Ich bin ganz Ohr.“ „Das hier ist jetzt keine Illusion mehr.“ „Scheiße. Wir sind sowas von geliefert“, hauchte Urnue überrumpelt, dem ebenfalls langsam aufging, wie talentiert und fähig diese Asiatin wirklich gewesen war. „Sieh zu, daß keiner von denen abhaut!“, trug Victor ihm gedankenschnell auf und deutete raumgreifend in die Runde. Urnue zog einen Packen Notizzettel aus seiner Tasche, die er immer umhängen hatte, weil er sonst bei einer Verwandlung in seine wahre Gestalt alles verloren hätte, was er am Körper trug. Er blätterte sie schnell durch. Es waren vorgefertigte Bann-Zettel. „Du wirst die Zeugen doch nicht alle erschießen wollen, oder?“, rückversicherte er sich nebenbei. Als er die Vorlage für einen Bann-Kreis gefunden hatte, zückte er einen Kugelschreiber, ergänzte das Zeichen, das die Größe des Bann-Kreises definierte, und pappte das Stück Papier dann auf den Boden. Sofort wuchsen im Umkreis einiger Meter magische Bann-Mauern aus der Erde. So konnte keiner der Zeugen mehr weg. Panik und Protest wurde unter den eingesperrten Leuten laut, die von der Erkenntnis, im Käfig zu sitzen, plötzlich allesamt wieder aus ihrer Schreckstarre aufwachten. „Nicht schlecht. Du bist echt gut“, lobte Victor erstaunt. „Danke, ich geb mir Mühe. Und was jetzt?“ „Ich verwende meinen Gedächtnis-Löschzauber. Die Leute werden sich nicht daran erinnern uns jemals begegnet zu sein.“ „Und was ist mit der Leiche?“ „Wir haben leider keine Zeit, uns drum zu kümmern. Wir müssen sie liegen lassen.“ „Find ich nicht gut.“ „Ich auch nicht, aber es geht nicht anders. Guck mal kurz weg. Du darfst nicht in das Licht schauen, sonst wirst du von dem Zauber mit erfasst.“ Der Gestaltwandler malte mit dem linken Zeigefinger ein unsichtbares Zeichen auf seine rechte Handfläche, woraufhin diese zu leuchten begann wie eine Taschenlampe. Diese Hand streckte er nach dem ersten Zeugen aus und ließ ihn direkt in das Licht schauen. „Du hast mich und Urnue nicht gesehen. Du hast nicht gesehen, wie Aiko Brown erschossen wurde. Die Leiche lag schon da, als du herkamst.“ Er richtete das Licht auf den zweiten Zeugen. „Du hast mich und Urnue nicht gesehen. Du hast nicht gesehen, wie Aiko Brown erschossen wurde. Die Leiche lag schon da, als du herkamst.“ Urnue schaute ihm skeptisch zu. Wort-Magie war das offenbar nicht, denn die meisten Zeugen standen beileibe zu weit weg, um ihn zu hören. Und die Worte musste man hören, wenn sie auf einen wirken sollten. Der Spruch war wohl nur für Victor selber von Bedeutung, um zu definieren, was genau die Leute vergessen sollten. Kopfschüttelnd machte sich Urnue daran, Aiko Browns Körper wenigstens mit einem allersimpelsten Bann zu belegen, um die Aufmerksamkeit von Hellsehern fern zu halten. Victor arbeitete alle sechs Personen ab, die Urnue hier im Bann-Kreis festgenagelt hatte, wobei er bei jedem sorgsam darauf achtete, daß der auch wirklich ins Licht hinein geschaut hatte. „Weg hier!“, trug er Urnue dann auf, als er fertig war. „Wir haben nur ein paar Sekunden bevor bei den Leuten die bewusste Erinnerung wieder einsetzt und sie uns wieder wahrnehmen. Das ist kontraproduktiv, wenn sie uns vergessen sollen.“ Urnue, selbst gerade erst mit seiner Arbeit fertig geworden, löste seinen riesigen Bann-Kreis auf und rannte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)