vergiss-mein-nicht von Futuhiro (Magister Magicae 11) ================================================================================ Kapitel 7: vergiss-mein-nicht ----------------------------- „Na schön“, meinte Urnue und ließ den Blick schweifen. Dieses Dorf hier sah aus wie ein amerikanisches, verlassenes Westerndorf, nur begraben unter viel Schnee. Ein paar Autos standen herum, zu sehen war niemand. Es gab allem Anschein nach zwei Lebensmittelgeschäfte, eine Wachstation des Grenzschutzes, eine Grundschule, einen Alkohol-Laden und eine Tankstelle mit Reparaturwerkstatt. Das war also Nuorgam. Willkommen in der Eiswüste. Im Prinzip wie Sibirien, nur mit Nordlichtern. Urnue zog sich fröstelnd die dicke Jacke enger zu. „Hast du schon eine Idee, wie du dein ominöses Orakel finden willst, so ganz ohne Adresse? „Fragen!“, schlug Victor vor. „So groß ist das Dorf ja nicht.“ Er überquerte die Straße und hielt auf die Tankstelle zu, die offensichtlich auch als Cafe, Post und provisorische Apotheke diente. Wenn irgendjemand alle Leute im Dorf kannte, dann war es der Betreiber von diesem Schuppen. „Hoffen wir, daß da drin jemand Englisch spricht“, seufzte Urnue, schloss seinen Mietwagen ab und folgte ihm. Drinnen saß ein dicker, gemütlicher Herr mit Schnurrbart hinter seinem Tresen und las die Tageszeitung, da er offensichtlich nichts zu tun hatte. Als die Tür aufging, schaute er aber fröhlich hoch und legte sein Klatschblatt weg. „tervetuloa“, grüßte er. Auf Finnisch natürlich, da er es unmöglich besser wissen konnte. „Hallo. Sprechen Sie Russisch?“, versuchte Victor sein Glück. Der Tankstellenbesitzer glotzte nur fragend zurück. Also nein. „Do you speak English?“ Der Dicke verengte die Augen, als müsse er erst nachdenken. Aber dann fiel ihm doch ein, daß er das verstand. „Ah ... äh ... little bit!“, meinte er und machte das Handzeichen mit ein bisschen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger. Victor lächelte erleichtert. „You English?“, wollte der Mann wissen, in dem kläglichen Versuch, seine Englisch-Künste unter Beweis zu stellen. Victor schüttelte den Kopf. „Russian.“ „Ah. ... You why here?“ Urnue wandte sich ab und ging sich nach einer Toilette umsehen, hauptsächlich um sein Schmunzeln zu verbergen, auch wenn er wirklich mal austreten musste. Der Kerl war echt goldig. Er hatte immer gedacht, Victors Englisch wäre mal schlecht gewesen. Aber dieser Tankstellenbesitzer toppte echt alles. „We are searching for Niilo Mäkinen. Do you know him?“, kämpfte sich Victor weiter durch seinen mühsamen Dialog. Der Dicke zog nur ein fragendes Gesicht. „Niilo Mäkinen?“, versuchte Victor es nochmal. Ob er es vielleicht falsch ausgesprochen hatte und deshalb nicht verstanden wurde? Er überlegte noch ein bisschen weiter. Als Victor es schon aufgeben und sich dankend verabschieden wollte, hatte er aber doch noch einen Geistesblitz. „Niilo, yes!“, fiel ihm ein. Sehr euphorisch. „You ... East, seven meter, ... and left“, stammelte er zusammen und zeigte aus dem Fenster in die bezeichnete Richtung und beschrieb dann mit der Hand einen Bogen. Victor musste sich nun ebenfalls das Lachen verkneifen. Aber immerhin, er wusste jetzt, was er wissen musste. Er ging mal davon aus, daß der Mann nicht wirklich '7 Meter' gemeint hatte, sondern Kilometer, denn sonst wären sie mitten in seinem Schaufenster gelandet. Victor bedankte sich freundlich und bedeutete dann seinem Begleiter, der gerade wieder auftauchte, daß sie wieder verschwinden würden. „Und? Was sagt er?“ „7 Kilometer nach Osten, dann links abbiegen.“ „Das ist aber weit. Ist das Dorf überhaupt so groß?“ „Dieser Niilo Mäkinen ist Wildhüter. Der wird wohl etwas außerhalb leben. Wir sollten tanken, bevor wir weiterfahren.“ Urnue nickte verstehend. „Fährst du? Ich hab keine Lust mehr“, erklärte er. Immerhin hatte er schon den ganzen Weg von Kittilä hier rauf am Steuer gesessen. 6 Stunden mit Pausen. Victor hielt ihm einverstanden die Hand hin, um sich den Zündschlüssel geben zu lassen. Der Russe schaute skeptisch auf das Kilometerzählwerk unter dem Tacho. Eben gerade hatten sie die 10 Kilometer voll gemacht. Er bekam langsam Bedenken, ob er die Abfahrt vielleicht verpasst hatte. Aber da war wirklich absolut nichts gewesen. Nur eine halb verschneite Straße quer durch die Landschaft. Keine Gehöfte in der Ferne, geschweige denn Wege dort hin. Vielleicht hatte der Typ in der Tankstelle aber auch 7 Meilen gemeint. Das wären in der Tat sowas um die 11 Kilometer, wenn Victor den Umrechnungsfaktor gerade richtig im Kopf hatte. Urnue deutete in die Ferne. „Schau mal, Rentiere.“ „Ja, eingezäunt. Die gehören jemandem.“ „Da steht auch ne Hütte.“ „Dann sind wir hier wohl richtig. Der Mann soll ja Wildhüter sein. Mal sehen, ob wir hier irgendwo eine Zufahrt finden“, gab Victor zurück und hielt nach irgendwelchen Anzeichen Ausschau. Als ihm Schlittenspuren auffielen, die von der Straße abzweigten, folgte er einfach denen. Den dazugehörigen Schlitten fanden sie schnell. Der stand nämlich vor dem Haus, war sehr weihnachtlich geschmückt und es waren 9 Rentiere davorgespannt, die gemütlich herumstanden und Heu kauten. Der Besitzer des Schlittens lud gerade säckeweise irgendwelches Zeug auf das große Gefährt. Als Victor sein Auto neben dem Schlitten parkte, lächelte er nur grüßend und machte ungestört weiter. Victor und Urnue stiegen aus dem Auto aus. „Hallo, ihr beiden“, grüßte der Rentier-Hüter gut gelaunt. Victor zog ein sehr dummes Gesicht. In Gedanken ging er reflexartig ein paar Angriffszauber und Schutzschilde durch, um gewappnet zu sein, falls der Kerl ihn – woher auch immer – kannte und ihm nicht wohlgesonnen war. „Sie sprechen Russisch?“ „Bitte, du kannst 'du' zu mir sagen“, meinte er lächelnd und völlig akzentfrei. „Du sprichst Russisch?“, fragte der Gestaltwandler also nochmal. „Ich spreche alle Sprachen. Das ist meine Natur.“ „Was bist du? Gott?“ „Nein“, schmunzelte der blonde Mann. Da er lange Haare und einen Rauschebart hatte, war er altersmäßig unmöglich zu schätzen. „Nur ein kleiner Joulukalanteri.“ Er krallte den nächsten Sack und wuchtete ihn in seinen Schlitten hinein. „Wie ist dein Name?“ „Victor Akomowarov.“ „Hm. Kenn ich nicht. Also warst du wohl kein artiger Junge.“ Nun war es Victor, der grinste. „Nein, wahrlich nicht.“ „Und du?“, wollte der Mann von Urnue wissen. Urnue nannte ihm etwas befremdet, aber ehrlich seinen Namen. In erster Linie nur, weil Victor seinen auch verraten hatte. „Kenn ich auch nicht. Du warst auch kein artiger Junge.“ „Was tun sie hier?“, wollte Urnue daraufhin restlos verwirrt wissen. „Na, Geschenke verladen. Morgen ist doch Weihnachten, nicht? Besser, man fängt früh mit den Vorbereitungen an.“ „Für wen sind die?“, klinkte sich Victor selbst wieder ins Gespräch ein. „Für die Kinder auf dieser Welt“, grinste der Mann schelmisch, so daß man kaum sagen konnte, ob er scherzte oder das ernst meinte. Victor schüttelte unwillig den Kopf und beschloss das Thema abzuhaken. Er hatte keine Lust mehr, dieses Vorgehen hier verstehen zu wollen. Der Kerl sprach nur in kryptischen Rätseln. Gut, sollte er. „Wir suchen Niilo Mäkinen“, wechselte Victor das Thema. „Aber mit dem sprecht ihr doch gerade.“ Urnue, der weiter über dem Rentier-Schlitten voller Geschenke für Kinder brütete, schlief das Gesicht ein, als er endlich verstand. Wer sprach denn alle Sprachen der Welt? „Mein Gott! Du bist der Weihnachtsmann!? Also ... der echte!?“ Niilo Mäkinen lachte auf. „Das ist zuviel der Ehre. Ich bin nicht DER Weihnachtsmann. Es gibt übrigens sehr viele Weihnachtsmänner. Einer alleine würde das ja gar nicht alles schaffen. Nein, ich bin nur ein Joulukalanteri. Eine 'Weihnachtselfe', würdet ihr es bei euch nennen. Wir helfen den Weihnachtsmännern, das alles zu bewältigen.“ „Ihr liefert wirklich Geschenke aus?“, wollte Urnue fassungslos wissen. „Nur an die Kinder, die sich etwas von uns wünschen, aber der Glauben an die Weihnachtsmänner stirbt mehr und mehr aus. Uns schreiben jedes Jahr weniger Kinder einen Wunschzettel. Den Rest des Jahres bin ich übrigens Rentier-Hüter und biete für Touristen Schlittenfahrten an, weil ich ja auch außerhalb der Weihnachtssaison von irgendwas leben muss. Wenn ihr übermorgen nochmal wiederkommt, lade ich euch auf eine Schlittenfahrt ein.“ Urnue und Victor glotzten ihn nur sprachlos an wie einen Geist und wussten beim besten Willen nichts mehr zu sagen. Das war jetzt echt zuviel. Eine leibhaftige Weihnachtselfe! Echte Weihnachtsmänner! Sie hatten ja gewusst, daß Finnland das Land der Weihnachtsmänner war. Der finnische Weihnachtsmann war eine Berühmtheit. Theoretisch. Keiner von ihnen beiden hatte ernsthaft an diese Legende geglaubt. Niilo lachte, als er diese überrumpelten Gesichter sah. „Ich weiß, warum du da bist, Victor Akomowarov“, ergriff er selber wieder das Wort. „Wegen eines toten Mhorag auf den Orkney-Inseln, umgebracht von einer Banshee und ihrem blutrünstigen, kriminellen Schützling. Und wegen der Polizei, die den beiden auf den Fersen war.“ Victor zwang sich zu einem langsamen Nicken. „Du weißt etwas darüber?“ „Ja. Sehr bedauerliche Sache. Wir haben einen Brief von einem siebenjährigen Mhorag-Mädchen bekommen. Sie vermisst ihren Vater schon seit Jahren. Und sie hat sich zu Weihnachten flehentlich gewünscht, ihn zurück zu bekommen. Egal wie. Und mit 'egal wie' war 'tot oder lebendig' gemeint. Sie wollte Gewissheit.“ „Ihr Vater war das Opfer von den Orkney-Inseln“, vermutete Victor trocken. „Ja. Die Weihnachtsmänner sind leider an die Wünsche gebunden, die man ihnen vorträgt, sofern es irgendwie in ihrer Macht steht. Manchmal wünschte ich, sie wären es nicht. Es kommt nicht immer was Gutes dabei raus. Aber der Polizei einen Hinweis zu geben, was passiert ist, steht durchaus in der Macht eines Weihnachtsmannes, also hat er´s getan. Das Mädchen wird ihren Vater zurück bekommen. Oder wenigstens Gewissheit über sein Schicksal. Armes Ding, die Kleine. Sie hat ihren Vater geliebt und nie vergessen.“ „Und der Weihnachtsmann ... die Weihnachtsmänner wissen was passiert ist?“ „Das liegt in ihrer Natur. Und in unserer. Weihnachtsmänner und Weihnachtselfen wissen von jedem, ob er artig oder unartig war. Nur die artigen Kinder bekommen Geschenke. Aber natürlich können wir auch von Erwachsenen sagen, ob die anständig oder kriminell waren. Nur kriegen die keine Geschenke oder Rutenschläge mehr.“ „Meine Güte“, seufzte Urnue unwohl. „Auf der Welt gibt es so viel Böses. So viele schlimme Gräueltaten. Wie hält man all dieses Wissen aus, ohne wahnsinnig zu werden? Da schnappt man doch über.“ „Naja, wir haben dieses Wissen natürlich nicht permanent im Kopf. Wir sehen nicht alles, was auf der Welt vor sich geht“, lenkte Niilo ein. „Nur wenn wir einen Namen erfahren, dann können wir rauskriegen, was es mit demjenigen auf sich hat. Es ist also sowas ähnliches wie Hellseherei, unterliegt nur anderen Gesetzmäßigkeiten. Man kann es zum Beispiel nicht mit Bann-Magie abhalten. Aber: kein Name, keine Hellsicht. Wer dem Weihnachtsmann keinen Brief mit seinem Namen drin schreibt, über den macht sich der Weihnachtsmann auch nicht schlau.“ Victor fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. „Na schön. Unsere Namen kennt ihr jetzt also auch.“ „Ja, ihr zwei seid ...“ Niilo überlegte kurz, wie er es ausdrücken sollte. „Sonderfälle. Ihr wollt viel Gutes, aber mit Methoden, die nicht schön anzusehen sind. Wünscht euch bloß nie was. Wir würden wirklich nicht wissen, was wir mit euch machen sollten. Ihr hättet beides verdient, Geschenke und den Arsch voll Rutenschläge, und zwar beides nicht zu knapp.“ Victor kicherte belustigt auf. Er hätte nicht erwartet, daß er Geschenke verdient hätte, nach allem, was er getan hatte. „Bitte beachtet uns einfach gar nicht und seht davon ab, uns direkt der Polizei zu übergeben, das ist schon Geschenk genug für uns“, meinte er. Jetzt konnte er den Fall endlich guten Gewissens abschließen. Er wusste, wer Cord und Third Eye an die Staatlichen verraten hatte, und warum. Er wusste, daß derjenige keine generelle Gefahr für ihn und seine Arbeit war. Er musste keine Angst haben, jeden Moment weggesperrt zu werden, weil er genauso an die Bullen verpfiffen wurde wie Cord und seine Banshee. Und er wusste, daß die Toten ihre Ruhe hatten. Alles war gut. Am nächsten Tag spazierten Urnue und Victor in die Kapelle von Nuorgam hinein. Das kleine Gebäude war zwar mit Kerzen festlich erleuchtet, aber es war keiner hier drin. Sie hatten die ganze Kapelle für sich alleine. Dieses verschlafene, unter Schnee begrabene Dörfchen wachte wohl auch am Weihnachtsabend nicht auf. „Wouw. Schön ist es hier drin“, meinte Victor andächtig. „Ja. Aber es ist irgendwie trotzdem nicht das gleiche“, gab Urnue etwas traurig zurück. Normalerweise ging er am Heiligabend traditionell auf den Friedhof und besuchte Rupperts Grab, um ihm schöne Weihnachten zu wünschen. Nur dieses Jahr klappte es halt nicht, weil sie in Finnland festsaßen. Bisher hatte sich Victor da eigentlich auch immer fein rausgehalten. Er war noch nie mitgekommen, wenn Urnue seiner 'Weihnachts-Tradition' nachging. „Wir hätten ja gestern noch zurück gekonnt“, gab Victor zu bedenken. „Nein. Ich will morgen mit dem echten Weihnachtsmann-Schlitten fahren, wie Niilo es uns versprochen hat. Diese Chance bekommen wir nie wieder. So eine Chance hatte überhaupt noch nie irgendjemand“, hielt Urnue dagegen. Natürlich fuhren das ganze Jahr viele Touristen mit diesem Schlitten. Aber normalerweise sagte Niilo Mäkinen ihnen nicht, daß das der Schlitten vom Weihnachtsmann war, und flog mit den Touristen auch nicht über den Himmel. Mit denen blieb er am Boden. Dieses Jahr war eben alles anders. Darum war es dieses Jahr eben eine Kapelle und Victor kam mit. Victor trug einen Strauß Schnittblumen, den er vor den Andachts-Kerzen auf dem Boden niederlegte, und zündete dann selbst eine Kerze an. Urnue stellte seinen Teller Kekse, den er mitgebracht hatte, daneben wie eine Opfergabe. Auch er entzündete eine Kerze. „Ruppert, wie geht es dir?“, wollte er dabei mit Blick in die flackernden Kerzen wissen. Er sprach in normaler Plauderlautstärke, als würde er sich tatsächlich mit jemandem unterhalten. „Heute sind wir mal in Finnland, weißt du? Darum kann ich dich nicht an deinem Grab besuchen kommen. Aber wir denken trotzdem an dich. Ich hoffe, dir geht es gut, wo auch immer du jetzt inzwischen bist. Ich wünsch dir schöne Weihnachten. ... und ich denke, Victor tut das auch. Wir vermissen dich.“ Er warf Victor einen Blick zu und nickte auffordernd. Der Gestaltwandler atmete kurz durch, um das komische Gefühl abzuschütteln. Es war irgendwie sonderbar, Selbstgespräche zu führen und so zu tun als wären die Toten anwesend und würden einem zuhören. „Anatolij ... ähm ... ich hoffe, dir geht´s auch gut“, begann er etwas zögerlich, spürte aber, wie er mit jedem Wort sicherer wurde. Jetzt, wo der seltsame Moment einmal überwunden war, konnte er offener sprechen. „Ich weiß, wir sind damals auf eine merkwürdige Weise auseinander gegangen. Ich habe inzwischen einen Haufen Sachen angestellt, die du nicht toll finden würdest. Aber ich bin sicher, daß du es aus heutiger Sicht verstehen kannst. Es tut mir leid, was dir damals passiert ist. Und es tut mir leid, daß ich dir das nie sagen konnte. Ich hoffe, du verzeihst mir. Wo auch immer du jetzt bist, Anatolij ... ich vergesse dich nicht.“ ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)