vergiss-mein-nicht von Futuhiro (Magister Magicae 11) ================================================================================ Kapitel 1: was bisher geschah ----------------------------- Der gewaltige, rabenschwarze Greif landete auf dem Bergplateau vor dem Höhleneingang, wartete bis Urnue von seinem Rücken gerutscht war, und nahm dann wieder seine menschliche Gestalt an: Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov. Seine großen Schwingen schlossen sich eng um den Körper und wurden bei der Rückverwandlung zu dem Ledermantel, den er stets zu tragen pflegte. Eine steife Windböe trieb ihm die schulterlangen, ebenfalls schwarzen Haare ins Gesicht. Urnue fröstelte sichtlich. „Willkommen in Sibirien. Man merkt, daß es Winter wird.“ „Sei doch nicht so ein Weich-Ei“, schmunzelte Victor amüsiert und löste die magische Barriere, die den Höhleneingang versiegelte. Auch wenn dieser Berg und das von ihm und Urnue bewohnte Höhlensystem ein Mythos war und keiner seine Existenz, geschweige denn seine genaue Lage belegen konnte, hatte Victor es sich in letzter Zeit angewöhnt, den Eingang verschlossen zu halten. Man wusste ja nie. Noch vor seinem Getreuen Urnue trat er ein und verschwand unter Tage. Auf dem Weg durch die Gänge brannte er mit einem Fingerschnippsen jede Fackel an, an der er vorbei kam. Die einzige Licht- und Wärmequelle, die es hier unten gab. Urnue seufzte leise, als er bemerkte, in welche Richtung Victor verschwand. Auf direktem Wege in sein Bücher- und Studierzimmer. „Willst du gleich schon wieder arbeiten?“ „Warum nicht?“, wollte der Russe wissen, ohne sich aufhalten zu lassen. Urnue folgte ihm also. „Du bist gerade fünf Stunden geflogen!“ „Und?“ „Und!? Bist du nicht müde?“ „Nein.“ „Wollen wir nicht wenigstens erstmal was essen?“, diskutierte Urnue weiter. Einerseits weil er wirklich Hunger hatte, andererseits weil er sich manchmal echte Sorgen machte, daß Victor sich irgendwie übernahm. „Meine Vorratskammer steht dir offen. Bedien dich.“ Das war die Standard-Floskel, die Urnue in solchen Momenten immer zu hören bekam. Inzwischen waren sie im Studierzimmer angekommen und Victor stellte sich sofort voller Elan hinter seinen Schreibtisch, um ihn frei zu räumen und Platz für das zu schaffen, was er als nächstes auf dem Herzen hatte. Seinen Kollegen beachtete er gar nicht. Kopfschüttelnd machte Urnue Kehrt und suchte sich etwas zu beißen. Als der Wiesel-Genius sich etwas später wieder hinzu gesellte, war Victor bereits in ein Buch vertieft. Urnue krachte ihm demonstrativ einen Teller mit heißem Fleisch und frischem Brot hin, um ihn dazu zu bewegen, auch etwas zu sich zu nehmen. Mit seinem eigenen Teller noch in der Hand stellte er sich schräg hinter Victor und warf über dessen Schulter hinweg einen Blick in sein Buch. Da es aber in Alt-Russisch verfasst war, verlor er schnell die Lust daran, den Inhalt zu ergründen. „Was bereitet dir denn schon wieder so viel Kopfzerbrechen, daß es keinen Aufschub duldet?“, hakte er stattdessen nach, schlenderte zu Victors Bett hinüber und setzte sich. In Ruhe begann er zu essen. „Dieser Fall auf den Orkney-Inseln, von dem wir gerade zurückgekommen sind.“ „Ich dachte, der wäre geklärt“, entgegnete Urnue überrascht. „Es war ein Nachzehrer, der Sewill auf dem Kieker hatte. Wir haben ihn doch erledigt.“ „Schon. Der Nachzehrer ist auch nicht meine Sorge. Sondern Cord und Third Eye.“ Victor griff nach der Gabel auf seinem eigenen Teller und schob sich ebenfalls etwas zu essen zwischen die Zähne. „Lass uns den Fall nochmal rekonstruieren.“ „Hm ... Sewill und Safall Gaya waren Selkie-Zwillinge von den Orkney-Inseln. Sie sind auf die magische Fakultät der Zutoro Universität in Düsseldorf gegangen, um auf einen Magister Magicae zu studieren. Auf dem Mädchen Sewill lag augenscheinlich ein Fluch, der sie immer schwächer und kraftloser hat werden lassen. Ihr Bruder Safall schien davon verschont zu bleiben. Weil ihre Versuche, das ganze Ding selber zu lösen, ins Leere gelaufen sind, und sie sich keinen Rat mehr wussten, haben sie dich als Professor für Fluch- und Verwunsch-Wissenschaften gebeten, dich ihres Problems anzunehmen. Du hast rausgefunden, daß es sich dabei um keinen Fluch handelt, sondern Sewill auf eine Leiche gestoßen war, die sie im Glauben an einen Unfall am Strand vergraben hat. Der Tote war aber kein Verunfallter, sondern ein Opfer des Genii-Jägers Cord. Das Opfer war – wohl aufgrund des gewaltsamen Todes – zum Nachzehrer geworden und hatte begonnen, Sewill die Lebenskraft auszusaugen“, fasst Urnue zusammen. „Richtig. Cord und sein Genius Intimus haben versucht zu verhindern, daß wir den Toten am Strand finden.“ „Bei dem Versuch sind die beiden bedauerlicherweise selber von den Klippen der Steilküste gestürzt und umgekommen“, grinste Urnue. Victor zog ein tadelndes Gesicht. „Das ist aber eine nette Umschreibung dafür, daß du sie runtergestoßen hast, mein Lieber.“ „Na hör mal, die beiden haben vor zwei Jahren meinen Schützling Ruppert umgebracht und mich bewusstlos in einem Bannkreis zurückgelassen! Hättest du mich nicht gefunden und aus dem Bannkreis raus geholt, wäre ich dort drin auch draufgegangen.“ Victor wischte die Bemerkung ungesehen zur Seite. Das gehörte jetzt nicht hier her. Das hatte nichts mit dem Toten auf den Orkney-Inseln zu tun. „Cord und Third Eye haben mich in Düsseldorf angezinkt, weil ihnen die Polizei im Nacken saß. Sie haben geglaubt, daß ich sie an die Bullen verraten hätte.“ „Hast du aber nicht.“ „Hab ich aber nicht. Richtig erkannt.“ „Und?“, wollte Urnue wissen. Er verstand noch nicht so richtig, worauf Victor hinaus wollte. Störte es ihn, daß die Polizei sich da mit einmischte? Victor bewegte sich selber außerhalb des Gesetzes. Er war der ehemalige Vize-Chef dieses Verbecher-Kartells 'Motus' gewesen. Und er war der, der dieses ganze Pack dann hatte auffliegen lassen und an die Staatlichen verraten hatte. Nichts desto trotz jagte er inzwischen selber ehemalige Motus-Funktionäre, die er nicht der Polizei überlassen wollte, weil er meinte, ihre Vergehen seien zu gravierend für die lasche Justiz der zivilisierten Welt. Er machte oft und gern Gebrauch von seiner Knarre und ballerte einfach jeden Schwerverbrecher über den Haufen, den er jetzt nach dem Niedergang der Motus noch aufspüren konnte. Sehr zum Leidwesen der Polizei, die das natürlich nicht gern sah, und die fraglichen Subjekte lieber lebend gefangen hätte. Victor schob sich wieder mit der Gabel etwas zu essen in den Mund. „Ich hab die beiden nicht an die Polizei verraten. Das war der Deal, den ich damals mit den beiden hatte, damit sie dich am Leben lassen und nur Ruppert beiseite schaffen. Ich hätte diesen Handel auch niemals gebrochen, weil ich viel zu viel Angst gehabt hätte, daß sie dich dann doch noch holen kommen. - no kto eto bil?“, legte er auf Russisch nach. „Aber wer war´s dann?“ „Ist das nicht Schnuppe?“, wollte Urnue etwas ernüchtert wissen. Das war Victors ganze Sorge? Das die beiden Säcke Ärger mit der Polizei hatten? Das waren schwer gesuchte Mörder gewesen. Die mussten doch zwangsläufig im Visir der Bullen stehen, auch ganz ohne Victors Zutun. „Nein, das ist nicht Schnuppe. Der einzige, der noch von dieser Leiche am Strand wusste, war der Boss. Er mag im Gefängnis sitzen, aber er hat immer noch Leute, die weiter für ihn arbeiten. Wieso sollte er die paar Männer, die er noch hat, verraten?“ „War er wirklich der einzige? Was ist mit den Aufspürern der Motus? Wer hat Cord und Third Eye den Auftrag denn zugespielt? Wer hat das Opfer für sie gefunden?“ „Von den Aufspürern lebt keiner mehr.“ „Dann werden Cord und Third Eye wohl schlicht und ergreifend einem Hellseher ins Netz gegangen sein“, vermutete Urnue. Victor schüttelte mit geistesabwesendem Blick den Kopf. „Nein. Dafür war die Tat zu gut mit Bann-Magie vertuscht. Das hätte keiner so ohne weiteres sehen können.“ „Wie lautet also deine Theorie?“ „Ich hab mehrere. Eine unwahrscheinlicher als die andere. Aber solange Vadim noch lebt, kann man nie paranoid genug sein.“ Urnue stutzte. „Va- wer?“ „Vladislav.“ „Heißt der Vadim?“ „Vadim ist die Koseform von Vladislav“, grinste Victor. „Nagut, ich verstehe, daß du als Engländer wohl nicht so das Gehör für russische Spitznamen hast. Vadim und Vladislav klingen sich ja tatsächlich nicht sehr ähnlich.“ „Du betitelst deinen ehemaligen Boss mit einem Kosenamen?“, wollte Urnue grinsend wissen. „Oh, das ist in Russland gang und gäbe. Wir gebrauchen Koseformen sehr inflationär. Sogar hohe Politiker sprechen sich gegenseitig mit Kosenamen an. Hellhörig werden musst du erst, wenn ein Russe dich wieder mit deinem korrekten Namen anspricht. Dann ist was im Busch.“ „Und wie ist die Verniedlichungsform von deinem Namen?“ „Von Victor? Vitja.“ „Vitja?“, widerholte Urnue ungläubig. Das klang irgendwie seltsam. Victor schmunzelte erneut. „Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich weiter 'Dragomir' nennen würdest, wie es alle meine Freunde tun.“ „Ja, keine Sorge. Vitja hätte ich dich auch nicht genannt. ... Obwohl es schon was Cooles gehabt hätte, wenn ich als einziger einen Namen für dich gehabt hätte, den kein anderer nutzt. Als dein Getreuer bin ich doch was Besonderes.“ „Du bist eine Ego-Kanone“, hielt Victor ihm amüsiert vor. „Bin ich für dich etwa nichts Besonderes?“, alberte Urnue weiter und schlug dabei einen gewollt zweideutigen Ton an. Der Russe lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Du bist der einzige, der meinen Berg jemals betreten hat. Und du bist der einzige, der ihn lebend wieder verlassen darf. Ich hab eine Menge Lösegeld für dich gezahlt, als dein Schützling Ruppert kalt gemacht wurde. Du kennst alle meine Pläne, alle meine Fähigkeiten, zu jeder Zeit meinen Aufenthaltsort, und viele meiner Geheimnisse. Und du begleitest mich, wenn ich arbeite. Noch Fragen?“ „njet“, grinste Urnue spitzbübisch und steckte sich etwas zu essen in den Mund. Daraufhin beugte sich Victor wieder vor und las weiter sein Buch. „Aber hör mal ...“, meinte der Wiesel-Genius etwas ernster und kam damit spürbar zum Thema zurück. „Du denkst also, Vladislav steckt hinter dem Ganzen. Gehen wir mal vom worst case aus: Vladislav fängt an, seine eigenen Leute zu jagen, so wie du. A: Was hätte er davon? Und B: Wieso lebst du dann noch? Hättest du nicht der Erste auf seiner Liste sein müssen?“ „Möglich. Vielleicht hat Vladislav mich einfach noch nicht gefunden. Und Hafterleichterung wäre ein guter Anreiz für ihn. Je mehr er mit der Polizei kooperiert, desto schneller ist er vielleicht wieder draußen.“ „Unsinn. So einer wie der sieht nie wieder Tageslicht ohne Gitter davor, egal wie er es dreht und wendet. Das scheidet also aus“, entschied Urnue. „Gut, gehen wir davon aus, es gab noch einen Mitwisser, von dem du bisher noch nichts wusstest. Na und? Schön für ihn! Dann gibt es eben einen! Wieso machst du dir Sorgen?“ „Weil ich dann gern wüsste, was der noch so alles weiß.“ „Nichts, was die Polizei nicht sowieso schon über dich wüsste. Die sind eh bestens im Bilde über dich. Der einzige Grund, warum du noch ein freier Mann bist, ist deine Zusammenarbeit mit den FABELS. Sonst würdest du Vladislav schon längst Gesellschaft leisten, glaub mir.“ „Darum geht es nicht ...“ „Was dann? Wer immer das ist, er scheint nicht selber zu jagen. Er spielt nur der Polizei Informationen zu. Also kein Grund, Angst vor diesem jemand zu haben.“ „Ich suche denjenigen nicht, weil ich Angst vor ihm hätte.“ Urnue schaute den Russen eine Weile durchdringend an, bekam aber für´s Erste keine Antwort mehr zum Thema. Er wollte es nicht sagen. Auch okay. „Und was erhofftst du dir da nun aus dem Buch rauslesen zu können?“ „Ob es Genii gibt, die die Fähigkeit haben, mit Toten zu sprechen.“ „Wozu willst du´n das wissen?“, hakte Urnue verständnislos nach. Und erinnerte sich dabei, noch etwas von seinem Teller zu essen, bevor alles kalt wurde. „Ich würde zu gern nochmal mit ein paar Leuten reden, die nicht mehr da sind. Zum Beispiel würde ich gern mit Cord und Third Eye reden, ohne daß die beiden dabei versuchen, mich umzubringen. Die haben leider einige Geheimnisse mit ins Grab genommen.“ „Also ich weiß von keinen. Die stünden ja bei der Gerichtsmedizin sicher hoch im Kurs, wenn es Genii mit solchen Fähigkeiten gäbe.“ „Bestimmt. Ich muss die FABELS fragen, ob die mir sagen können, wer Cord und Third Eye nun tatsächlich an die Polizei verpfiffen hat. Ich hoffe, die haben mehr als nur einen anonymen Hinweis bekommen.“ „Du glaubst, wer immer Cord und Third Eye an die Polizei verpfiffen hat, hat vorher mit dem toten Opfer gesprochen!“, ging dem Wiesel-Genius endlich ein Licht auf. „Glaubst du etwa, derjenige hat seine Infos direkt von dem Toten bekommen und ist damit dann zur Polizei gegangen?“ „Es wäre ein Lichtblick für mich, wenn es so wäre ...“, murmelte Victor plötzlich furchtbar trübsinnig. „Dann müsste ich diesen jemand unbedingt finden.“ Urnue verzog verständnislos das Gesicht. „Also, beim besten Willen, da fallen mir plausiblere Theorien ein, wer Cord und Third Eye an die Bullen verraten hat, und woher er davon gewusst haben könnte.“ „Würdest du nicht nochmal mit Ruppert sprechen wollen, wenn die Chance dazu bestünde? Nur drei Minuten?“ „Gott bewahre, nein! Er würde mich bloß ungespitzt in den Boden rammen, weil ich es nicht geschafft habe, ihn zu retten. ... Du etwa?“ „Ja. Ich würde mich bei ihm entschuldigen wollen. Mich von ihm verabschieden wollen. Fragen, ob es ihm gut geht, da wo er jetzt ist. Sagen, daß es mir leid tut. ... Es gibt so viele Leute, denen ich das sagen wöllte, wie leid es mir tut. ... Habe ich dir jemals von Anatolij erzählt?“ Urnue seufzte leise. Er hatte Victor noch nie so sentimental erlebt. Sonst war er immer der selbstbewusste, starke, stoische Killer. „Ich weiß nichts von einem Anatolij. Aber ich weiß jemanden, der eine Antwort für dich haben dürfte.“ Kapitel 2: Krakauer Spelunke ---------------------------- Es war schon dunkel, als sie in Krakau vor einer Taverne standen und das Schild über der Tür lasen. Was auch immer das heißen mochte, was da stand. Vielleicht hatte der Wirt seine Spelunke 'zur Backpflaume' genannt, oder etwas ähnliches. Viel hochtrabender oder fantasievoller waren Kneipennamen ohnehin nie. „Und du bist dir sicher, daß er hier in Polen ist?“, wollte Victor zweifelnd wissen. „Absolut. Genau jetzt, genau da drin“, versicherte Urnue mit Fingerzeig auf die Tür. „Woher weißt du, daß er da drin ist?“ „Er ist immer hier drin. Du wirst erschrocken sein, wenn du seinen Zustand siehst. Er ist gerade dabei, sich das Gehirn weg zu saufen. Abend für Abend.“ „Ist er nicht an sein Revier in Moskau gebunden? Er hat doch zu Hause eine Aufgabe.“ „In seiner Verfassung hat der keine Aufgabe mehr, glaub mir. Auch solche Typen können arbeitslos werden.“ Victor warf wieder einen unsicheren Blick auf die Namenstafel über der Tür. „Nun geh schon rein, Mann!“, verlangte Urnue ungeduldig. „Wenn er nicht da ist, dann trinken wir eben einen Vodka. So oder so lohnt sich der Abend.“ „Sprichst du Polnisch?“ „Nein, wieso?“ „Wie willst du dann Vodka bestellen?“, gab Victor zu bedenken. „Ich nehme einfach an, daß das Zeug hierzulande genauso heißt.“ „Ich bin doch nicht wegen eines Vodkas den ganzen Weg nach Polen gekommen!“ „Gehst du jetzt rein, oder wollen wir hier Wurzeln schlagen?“ Der junge Mann mit den wild zerwuschelten, schwarzen Haaren schob sich genervt an ihm vorbei und drückte die Tür auf, um vor zu gehen. Es schneite und war arschkalt hier draußen und er hatte jetzt keine Lust mehr, sich den Hintern abzufrieren. Wenn Victor sibirische Temperaturen gewöhnt war, schön. Er, Urnue, war es nicht. Urnue blieb im Eingangsbereich der Spelunke stehen und schaute sich suchend um. Hier stach alles von Zigarettenrauch und schwachem Kerzenlicht, so daß man nur schwer etwas erkannte. Wie erwartet tauchte Victor einen Augenblick später ebenfalls neben ihm auf. Urnue zeigte vielsagend auf einen kleinen Tisch in der hintersten Ecke, wo ein einsamer Mann für sich alleine saß, und ging los. Er hatte Recht gehabt. Der gesuchte Kollege war hier. Mit einem fast gehässigen „priwjet, Sascha!“ zog Victor einen Stuhl heraus und setzte sich dazu. Urnue tat es ihm gleich. Der Angesprochene schaute mit trüben, tränenden Augen hoch, brauchte einen Moment, bis er Victor erkannte, dann schnellte er mit einem schockierten „Scheiße!“ von seinem Sitzplatz hoch, als wolle er flüchten. „Setz dich wieder hin, Sascha“, befahl Victor kühl. Wie immer, wenn er im Profi-Modus war. Bei der Arbeit gab er sich immer überlegen. Logisch, er war ein selbstjuristischer Mörder und knippste Leute ab, auch wenn diese Leute Schwerverbrecher waren. Langsam sank Sascha auf seinen Stuhl zurück. „A-Akomowarov ... du hier in Krakau?“ „Ja, erstaunlich, nicht? Und was machst du hier? Bist ganz schön runtergekommen, towarisch. So unrasiert und mit dem löchrigen, schmierigen Pulli habe ich dich fast gar nicht erkannt.“ „B-Bist du hier ... um ... um mich abzuknallen?“, ignorierte der Reaper die Frage einfach. Er schlotterte vor Angst am ganzen Körper. Selbst bei dieser furchtbaren Beleuchtung sah man es. Victor musste kurz belustigt grinsen. „Mal sehen.“ „Ich weiß, daß du ehemalige Motus-Leute jagst! Das hat sich rumgesprochen! Deshalb bist du doch hier, oder? Du willst mich umlegen!“ „Sei so gut und rede etwas leiser“, meinte Victor gelassen. „Eigentlich will ich nur ein paar Antworten von dir, für´s Erste. Ich sag mal so: viele Leute sind hinter dir her. Wenn du mir hilfst, werde ich keiner mehr davon sein.“ Sascha nickte abgehackt und mit offenem Mund. Die Panik stand ihm immer noch deutlich ins Gesicht geschrieben. „Wie ... habt ihr mich gefunden?“ „Ich habe noch ein paar alte Kontakte von früher“, meinte Urnue. „Ich versuche, Dragomir ein nützlicher Getreuer zu sein.“ „Verstehe“, erwiderte der Betrunkene nur. Er wusste, daß Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov von seinen Freunden und Unterstützern 'Dragomir' genannt wurde. Auch das hatte sich herumgesprochen. Da musste er nicht dumm nachfragen. Victor strich sich die langen Haare hinter das Ohr. „Du bist doch ein Reaper. Du sammelst verstorbene Seelen ein und begleitest die Toten ins Jenseits.“ „Nicht mehr. Ich war mal einer. Ich hab´s aufgegeben“, gestand er. „Kann man das einfach aufgeben? Ich dachte, das läge in eurer Natur.“ „Oh, wenn man immer rotzbesoffen ist, findet man keine Seelen mehr, die man eskortieren könnte. Das Gespür leidet sehr darunter. Also wenn mir nicht zufällig eine direkt vor die Füße fällt ...“ „Und wer kümmert sich dann um deine Toten?“ „Wer halt gerade da ist. Gibt genug andere Reaper.“ Victor nickte verstehend. „Kannst du mit den Toten reden?“ „Natürlich. Oft hab ich mir gewünscht, ich könnte es nicht. Die haben nämlich immer ziemlichen Terz gemacht, wenn ich sie ...“ „Ich meine auf der anderen Seite. Wenn sie dann ins Jenseits eingegangen sind. Nicht nur auf dem Weg da hin.“ Sascha schüttelte den Kopf. „Ich hab im Jenseits nichts zu suchen. Ein Reaper liefert die Seelen nur an der Pforte ab.“ „Kennst du jemanden, der es kann?“, wollte Victor ganz unverblümt wissen. Der Reaper kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Das ist nicht so einfach wie du dir das vorstellst, weißt du? Die Toten bleiben ja nicht im Jenseits. Wie soll man noch Kontakt mit denen aufnehmen, wenn sie gar nicht mehr da sind? Das Jenseits ist ja nur eine Zwischenstation, von da geht´s weiter.“ „Wohin?“, hakte Victor nach. „Du fragst zuviel. Ihr Normalsterblichen solltet sowas nicht wissen. Beschäftigt euch lieber nicht zu sehr mit dem Jenseits, das müsst ihr noch früh genug.“ Der Gestaltwandler schnaubte verächtlich. „Gut, wie ich sehe, bist du mir doch keine Hilfe. Und auch sonst niemandem mehr. Dann kann ich dich ja auch umlegen“, entschied er und rückte mit dem Stuhl nach hinten, als wolle er aufstehen. „Nein! Nein! Warte!“, hielt Sascha ihn panisch zurück. „Ich erzähl´s dir ja!“ Victor lehnte sich wieder nach vorn und verschränkte demonstrativ wartend die Unterarme auf der Tischplatte. „Es gibt einen Kreislauf, verstehst du? Man kommt wieder.“ „Du meinst ... Wiedergeburt?“, warf Urnue ungläubig von der Seite ein. Der Reaper nickte. „Ja, Wiedergeburt. Darum ist es nicht möglich, mit den Toten zu sprechen. Sie sind einfach ziemlich schnell keine Toten mehr. Du wirst auch niemanden finden, der das kann. Mit dem Jenseits kommunizieren, meine ich.“ Victor spielte mit der Zungenspitze nachdenklich in seinen Schneidezähnen herum und sagte zunächst nichts dazu. Weil er nicht wusste, was. Er konnte es sich also abschminken, an Ruppert oder Anatolij jemals eine Entschuldigung verlieren zu dürfen. Selbst wenn er ihre Reinkarnationen irgendwo auf der Erde finden sollte, würden sie von nichts mehr wissen. Wirklich schade. Und seine ganze Arbeit kam ihm plötzlich nutzlos vor. Wozu sollte er die ganzen Motus-Funktionäre abschießen, wenn diese Wichser alle wiederkamen? Naja, vielleicht waren sie in ihrem nächsten Leben etwas rechtschaffener. Aber er brauchte dennoch eine neue Theorie hinsichtlich des Unbekannten, der Cord und Third Eye an die Polizei verpfiffen hatte. „Wie entsteht denn dann die Verbindung zwischen einem magisch begabten Menschen und seinem Genius Intimus?“, fragte Urnue neugierig weiter. „Bitte, ihr solltet das wirklich nicht ...“ „Beantworte seine Frage!“, befahl Victor streng. Wenn es ums Durchsetzen seines Willens ging, war er immer noch ganz der Vize-Boss. Sascha seufzte unglücklich. „Na schön. Soweit ich das richtig verstanden habe, gehen die Seelen der beiden einen Vertrag miteinander ein, bevor sie in die irdische Welt kommen. Damit sie sich nach der Geburt hier gegenseitig wiederfinden.“ „Soweit du richtig verstanden hast?“ „Wie gesagt, auch wir Reaper haben im Jenseits nichts zu suchen. Ich war noch nicht dort, um es nachzuprüfen. Jedenfalls noch nicht in diesem Leben. Es ist nur das, was wir Reaper glauben und uns von Generation zu Generation überliefern.“ „Dann sind das alles nur Mutmaßungen? Die ganze Wiedergeburts-Theorie?“ „Wie gesagt, es ist noch keiner dort gewesen, um es nachzuprüfen. Aber es ist plausibel, oder nicht? ... Und jetzt droh mir nicht wieder mit Erschießung!“, fügte er schnell an, als Victors Augenbraue bedrohlich nach oben rutschte. „Ich sag dir ja schon alles, was ich selber weiß!“ Victor starrte ihn noch einen Moment durchdringend an, dann seufzte er nachgiebig. „Gut. Lass uns einen trinken.“ „Bin dabei“, nuschelte der Reaper, der schon gehörig vorgeglüht war, erleichtert und gönnte sich schnell einen Schnaps, während Victor sich fragend nach dem Tresen umschaute und nach einem Kellner Ausschau hielt. Sascha hatte eine ganze Flasche ... naja, inzwischen nur noch eine halbe ... auf dem Tisch stehen, um sich selber nachgießen zu können. Und die würde er nicht mit Victor teilen. Victor musterte wieder die Erscheinung, die der Reaper inzwischen bot. Wie hatte er sich in den paar Jahren verändert! Sein Gesicht war vom Alkohol aufgedunsen und voller Bartstoppel. Seine Haare waren herausgewachsen und fettig. Seine Sachen waren abgetragen und schmierig. Aus ihm war schlicht und ergreifend ein Assi geworden. Ein asozialer Säufer. Victor kam nicht umhin, leicht den Kopf zu schütteln. „Seit du meinen Kumpel Anatolij geholt hast, habe ich dich nicht mehr gesehen. Was ist mit dir seitdem nur passiert?“ „Anatolij?“, überlegte Sascha. Er hatte in seinem Leben so viele Seelen eingesammelt und auf die andere Seite begleitet, er konnte sich bei weitem nicht mehr an alle erinnern. Wozu auch? „Wir haben in Moskau eine Rotkappe gejagt, weißt du noch? Furchtbar. Es war so ein wahnwitziger Plan, eine Rotkappe lebend fangen zu wollen. Aber Auftrag war Auftrag, was hätte ich tun sollen?“ „Ah, achso! Stimmt“, überkam es den Reaper da. „Sie hat im Park noch einen Passanten erschlagen, bevor du sie gefangen hast. Ich erinnere mich. Der Boss war damals mächtig gefickt, weil du das Opfer einfach hast liegen lassen.“ „Ich habe es nicht einfach liegen lassen! Ich habe den Notruf verständigt, damit jemand Anatolij holen kommt und er ordentlich bestattet wird.“ „Na, jedenfalls sind dadurch polizeiliche Ermittlungen wegen Mordes ins Rollen gekommen. Und das hat Vladislav gar nicht gefallen.“ Sascha kippte sich noch einen Schnaps in die Rübe. „Du hast diesen Anatolij gemocht, was?“ „Er war ein langjähriger Freund von mir.“ „Warum bist du hier, Victor? Du tauchst hier auf und fragst mich all dieses Zeug über das Jenseits. Suchst du etwa nach deinem Freund? Hattest du gehofft, ich könnte dir helfen, nochmal mit ihm zu sprechen?“ „Nicht nur mit ihm“, gestand der Gestaltwandler gedrückt. In diesem Moment tauchte eine Kellnerin auf. „Czego chcesz?“, fragte sie. Victor schaute sie kurz verwirrt an, weil er kein Polnisch verstand. Aber was sollte sie als Kellnerin schon von ihm wollen? Mehr als nach seiner Bestellung fragen konnte sie ja wohl schwerlich. „Äh ... Vodka?“, versuchte er sein Glück. Er hoffte, das Zeug würde hier in Polen wirklich genauso heißen, wie Urnue es behauptet hatte. „vódka!“, bestätigte sie und nickte. Victor griff nach Saschas Schnapsflasche und zeigte sie der Kellnerin. „Eine ganze Flasche bitte.“ „Und ein zweites Glas“, warf Urnue von der Seite ein und hielt das von Sascha hoch. Victor sah ihn verdutzt an. „Du trinkst Vodka?“ „Willst du etwa die ganze Flasche alleine saufen?“ Die Kellnerin schaute etwas hilflos vom einen zum anderen. „Glaubst du, sie hat uns verstanden?“, meinte Victor verunsichert. „butelka i dwie szklanki“ [eine Flasche und zwei Gläser], übersetzte Sascha also für die beiden. Da nickte die Frau lächelnd und verschwand wieder. „Du sprichst Polnisch?“, wollte Victor wissen. „Ach, wenn man Tag ein, Tag aus, in einer polnischen Kneipe sitzt, bekommt man die nötigen Vokabeln schon mit, um nicht zu verdursten. ... Wie dem auch sei, an deinen Kumpel – wie hieß er? Anatolij? – kommt du jetzt nicht mehr ran. Aber wenn es dich beruhigt, er war nicht böse auf dich, als ich ihn hinüber gebracht habe. Er war ein bisschen schockiert, als er gehört hat, was aus dir geworden war. Das du für eine Truppe wie die Motus arbeitest und so. Aber er hat dir keine Vorwürfe gemacht, daß er von einer Rotkappe erschlagen wurde. Dafür konntest du ja nichts.“ „Ich hätte ihm gern gesagt, warum ich für die Motus gearbeitet habe“, gab Victor in gedrückter Stimmung zu. „Ich hab mir das ja nicht ausgesucht.“ Er winkte verächtlich ab und schmunzelte traurig. „Jetzt kann ich´s dir ja erzählen. Jetzt ist die Motus sowieso Geschichte und Vladislav ist auf meinen Kopf aus. Jetzt ist es kein Geheimnis mehr. Ich bin damals vom Geheimdienst bei euch eingeschleust worden, um euch auffliegen zu lassen. Das hätte ich Anatolij gern gesagt, daß ich nicht aus Überzeugung zum Mörder und Sklavenhändler geworden bin, sondern als V-Mann da reingeschlittert bin. Innerlich bin ich ein rechtschaffener, gerechtigkeitsliebender Mann geblieben. Ich bin sicher, Anatolij hätte das verstanden.“ Sascha lachte trocken. „Du läufst mit einer Knarre rum und schießt so viele ehemalige Motus-Fritzen über den Haufen, wie du nur finden kannst. Das verstehst du also unter rechtschaffen und gerechtigkeitsliebend?“ „Nun ... seit damals ist viel passiert“, lenkte Victor lächelnd ein. „Damals war ich´s noch. Mein Gerechtigkeits-Begriff hat sich vielleicht nur etwas gewandelt.“ Dann wurde er kurz abgelenkt als die Kellnerin mit seiner Flasche Vodka kam. Sie stellte die zwei Gläser auf den Tisch und goss ihm und Urnue auch gleich noch die erste Runde ein, bevor sie wieder verschwand. „Aber jetzt erzähl doch mal, was aus dir geworden ist, Sascha. Wann bist du so abgestürzt?“ „Gesundheitliche Probleme. Ich hab mir eine Schießerei geliefert und mir wurde dabei das Bein weggeschossen.“ „Ganz weg?“, wollte der Gestaltwandler erschrocken wissen und widerstand gerade noch dem Drang, unter die Tischplatte zu schauen, um nachzusehen. „Nein, nicht ganz weg. Aber mein Bein ist seither steif. Mit Alkohol erträgt man die Schmerzen besser. Und da ich mit einem steifen Bein als Söldner eh nicht mehr viel machen kann ...“ Er ließ den Satz unvollendet und spülte ihn nur mit einem weiteren Schnaps herunter, was im Prinzip auch ein angemessenes Statement zu seiner aktuellen Lage war. Kapitel 3: Informant -------------------- Sie hatten noch eine ganze Weile mit dem Reaper geplaudert und ihm einiges an Informationen aus der Nase gezogen. Auch er hatte noch ein paar alte Kontakte aus Motus-Zeiten in der Rückhand gehabt, die Victor sehr nützten. Victor hatte ihm im Gegenzug versprechen müssen, ihn nicht mehr zu jagen, so wie er andere Motus-Häscher jagte. Zum Dank hatte Sascha ihm die Flasche Vodka gesponsort, denn Victor war erst viel zu spät aufgegangen, daß er gar kein polnisches Geld bei sich hatte, um sie selber zu bezahlen. Rubel hätten die hier wohl kaum genommen. „Und? Hast du jetzt wieder deinen Seelenfrieden?“, wollte Urnue wissen, als sie spät in der Nacht die Kneipe endlich verließen. „Nicht wirklich“, gestand Victor. „Du weißt jetzt immerhin, daß es keinen gibt, der mit den Toten sprechen kann. Und du weißt, daß dein Anatolij nicht böse auf dich ist. Das ist doch schonmal was.“ „Ja, immerhin. Aber ich weiß immer noch nicht, wer Cord und Third Eye nun an die Polizei verpfiffen hat.“ Urnue rollte mit den Augen. Immer noch dieses leidige Thema. „Naja, gehen wir doch mal nach dem Ausschluss-Prinzip vor. Die Idee mit dem Totenflüsterer kannst du von der Liste streichen. Welche Theorien hast du noch?“ „Ich werde Seiji von den FABELS fragen, ob er für mich rauskriegen kann, woher der Hinweis an die Polizei kam.“ „Klingt nach einem Plan“, stimmte Urnue zufrieden zu und ging weiter. „Was machen wir jetzt? Bleiben wir über Nacht in Krakau oder willst du jetzt noch zurück?“ „Da wir kein polnisches Geld für ein Hotel haben und jetzt auch keine Bank mehr zum Geldwechseln finden werden, erübrigt sich die Frage.“ „Ich könnte mit EC-Karte bezahlen.“ „Das wirst du bleiben lassen“, bat Victor ruhig. „Kartenzahlungen können zurückverfolgt werden. Es muss keiner wissen, daß wir hier sind.“ „Ist ja nicht so, als ob wir hier recht lange bleiben und auf 'die' warten würden.“ „Trotzdem. Es muss auch keiner wissen, wo wir gewesen sind.“ „Du bist echt paranoid“, seufzte der Wiesel-Genius. „Das ist der Grund, warum ich noch lebe.“ „Wie schaffst du es an der Universität nur, als Professor vor den Studenten zu stehen und zu unterrichten? Noch dazu unter deinem richtigen Namen?“ „Noch ein Grund, warum wir über Nacht nicht in Krakau bleiben können: Ich muss morgen früh wieder in Düsseldorf im Lesungssaal stehen und Seminare halten“, griff Victor das Thema direkt auf, um es gegen Urnue zu verwenden, ohne die Frage zu beantworten. Die Uni war was anderes. Der Dekan der Zutoro wusste, wer er war, und deckte ihn. Auf dem Kampus der Uni war er sicherer als irgendwo sonst, weil dort etliche Vorkehrungen zu seinem Schutz und zum Schutz der Studenten getroffen worden waren. Daß dort irgendjemand auftauchen und Rabbatz machen konnte, der hinter Victor her war, war denkbar ausgeschlossen. Urnue sah unmotiviert auf die Armbanduhr. „Das heißt, wir fliegen jetzt direkterweise nach Düsseldorf?“ „Guten Morgen, liebe Studenten.“ „Guten Morgen, Professor“, kam es aus dem Lesungssaal etwas verunsichert aber fast einstimmig zurück. Von allen außer einem. Urnue lag in der ersten Reihe vornüber gebeugt auf dem Tisch und schlief. Der hockte sonst selten mit in den Vorlesungen herum. Meist nutzte er die Zeit, die Victor an der Uni verbrachte, um ins Trainingscenter zu gehen. Aber dazu hatte es heute offensichtlich nicht mehr gereicht. Naja, Victor konnte es ihm nicht verdenken. Sie beide hatten immerhin die Nacht durchgemacht, noch dazu war viel Vodka im Spiel gewesen. Mit einem amüsierten Lächeln entschied Victor, seinen schlafenden Getreuen zu ignorieren und wandte sich wieder den Studenten zu. „Ich bin Professor Akomowarov. Ich unterrichte eigentlich die Flüche und Verwünschungen. Eure Dozentin, Professor Zimmermann, ist leider krank geworden und ich wurde gebeten, heute ihr Seminar zu übernehmen. Das hat man nun davon, wenn man eher auf Arbeit kommt“, scherzte er und brachte die Studenten damit zum Lachen. „Wenn ich das richtig sehe, geht es bei uns heute um sogenannte 'Faule Zauber', oder?“ Ein paar der Studenten nickten, die meisten warteten einfach nur apathisch darauf, weiter berieselt zu werden. „Wer von euch hat schon eine Vorstellung davon, was das ist?“, fragte Victor weiter, in der Hoffnung, seine Zuhörer ein bisschen wach zu kriegen. Er hasste es, die als Alleinunterhalter bespaßen zu müssen, auch wenn es noch so früh am Morgen war. In seinen Fluch- und Verwünschungs-Seminaren ließ er das auch nie durchgehen. Es dauerte eine Weile, dann meldete sich zögerlich ein Mädchen. „Faule Zauber sind Abwehr-Zauber aus dem Bereich der Hexerei. Wenn jemand einen anderen behext und ihm mutwillig einen bösen Zauber auf den Hals hetzen will, kann der andere mit einem 'faulen Zauber' bewirken, daß die böse Magie auf den Anwender zurückfällt. Der Angriff wird quasi retour geschickt.“ „Gut“, lobte Victor sie. „Beginnen wir bei den Basics, beim Begriff der 'Schwarzen Magie'. Was unterscheidet Schwarze Magie von Weißer Magie?“ Stille im Saal. Victor seufzte leise. Er hatte gerade den Eindruck, daß nicht er derjenige war, der die Nacht durchgezecht hatte, sondern die, alle miteinander. „Kommt schon, Jungs und Mädels. Wisst ihr es nicht oder schlaft ihr noch?“ Wieder keine Antwort. Nur ein paar Blicke richteten sich vielsagend auf Urnue, der immer noch ungerührt mit dem Kopf auf der Bank lag. „Es gibt keinen Unterschied“, begann Victor also selber zu erklären. „Es gibt keine Schwarze und Weiße Magie. Es gibt nur Magie. Wofür wir sie einsetzen, ob wir damit irgendwem nützen oder schaden, bleibt uns überlassen. Alles, was wir tun, hat Einflüsse von beidem. Auch eine gute Tat kann Schaden verursachen, und eine schlechte Tat kann auch Positives in sich bergen. Es ist alles eins, ein großes Ganzes.“ Er ließ abermals den Blick über die ausdruckslosen Gesichter der Jugendlichen schweifen. Die wussten das wirklich nicht, wurde ihm mit Erschrecken klar. Was hatte Professor Zimmermann denen bisher nur beigebracht? Diese Studenten waren bereits im 3. Semester und wussten sowas nicht? In den Fluch- und Verwunschwissenschaften wären die schon längst untergegangen, mit so grottenschlechtem Basiswissen. Victor unterdrückte den Impuls, sich mit der Hand verzweifelt durch das Gesich zu fahren, und nahm sich vor, nie wieder in der Bann-Magie zu unterrichten. Weder vertretungsweise noch sonst irgendwie. Als die letzten Studenten den Lesesaal verließen, legte Victor Urnue friedlich und sachte eine Hand auf die Schulter, um ihn nicht zu derb zu wecken. Urnue regte sich müde schnaufend auf seiner Tischplatte, hob langsam den Kopf und sah ihn mit kleinen Augen an. „poydem“, schlug der Russe mild vor. „Lass uns gehen.“ Urnue rieb sich die Augen und streckte den Rücken durch. „Oh Mann, hab ich ernsthaft deinen ganzen Unterricht verpennt? Tut mir leid.“ „Schon okay. Du hast ja die ganze Nacht nicht geschlafen.“ „Ihr braucht mal bequemere Tische. Auf denen hier schläft es sich nicht schön.“ Victor holte tief Luft, um etwas zu erwidern, ließ es dann aber doch bleiben und wandte sich ab, um einfach kommentarlos voraus zu gehen. „Wo geht´s hin?“ „In mein Büro.“ „Nicht nach Hause?“ „Ich habe nachher noch Unterricht zu geben. Das hier war nur eine Krankheitsvertretung. Meine eigentlichen Studenten kommen erst noch. ... Aber zum Glück kann´s ja nur besser werden. Meine Fluch-Studenten haben mehr auf dem Kasten.“ „Naja, im Büro sieht mich wenigstens keiner, wenn ich schlafe.“ Victor lächelte belustigt. „Tut mir leid, daß ich kein Sofa drinstehen habe. Du kannst dir höchstens drei Besucherstühle zusammenstellen und dich drauflegen.“ „Bist du gar nicht müde, sag mal?“ „Doch, ein bisschen schon. Aber ich bin es gewohnt, ganze Nächte in meinem Studierzimmer zu sitzen und nicht von meinen Büchern loszukommen. Ich hau mich zu Hause aufs Ohr.“ Den Weg zu Victors Vorbereitungszimmer verbrachten sie schweigend, weil Urnue zu müde für geistreiche Unterhaltungen war. Victor schloss die Tür auf, stieß sie auf und ging hinein. Urnue würde sie hinter ihm schon wieder zumachen, wenn er eingetreten war. Der Russe pflanzte sich direkt an seinen PC, der von heute früh noch angeschalten war. Und ihm sprang auch sofort das Briefumschlag-Symbol mit der Zahl 1 auf dem Bildschirm ins Auge. Er hatte eine e-mail bekommen. Erwartungsfrei klickte er sie auf und war dann doch überrascht, als er den Absender las. „Na, Mensch!?“, murmelte er halblaut. „Du hast aber schnell geantwortet, Seiji“ „Seiji Kami von den FABELS? Hast du ihm geschrieben?“ „Ja, heute früh vor der ersten Vorlesung erst.“ Urnue schüttelte nur den Kopf. „Du bist echt besessen von diesem Fall.“ Statt das zu kommentieren, konzentrierte sich Victor auf den Text. Da er wie immer in Englisch war, musste er seine Gedanken etwas zusammen nehmen. „Guten Tag, Victor Ich habe lange nichts mehr von Ihnen gehört. Ich wäre erfreut darüber, wenn Sie mir freundlicherweise mitteilen würden, wo Sie sich zur Zeit aufhalten und was Sie aktuell treiben. Ich habe Sie über meine ganzen anderen Fällen ein wenig aus den Augen verloren. Ich hoffe Sie sind wohlauf und lassen noch ein paar ehemalige Motus-Funktionäre für die Gerichtsbarkeit übrig. Es wirft ein schlechtes Licht auf uns, wenn wir nur noch Leichen einsammeln können, anstatt Verbrecher zu überführen. Ihre Anfrage betreffend, kann ich Ihnen folgendes mitteilen: Der Hinweis ging in der deutschen Polizeistation Düsseldorf, Bezirksdienststelle Oberkassel, in Form eines Briefes ein. Absender war ein Niilo Mäkinen aus Nuorgam, Finnland. Die deutsche Polizei hat den Hinweis aufgrund internationaler Zusammenhänge (Opfer in Schottland, Täter zu diesem Zeitpunkt in Deutschland, Hinweis aus Finnland) an die FABELS abgegeben, in deren Zuständigkeit er immer noch bearbeitet wird. Cord und Third Eye wurden inzwischen tot an der Steilküste einer der Orkney-Inseln aufgefunden, zusammen mit ihrem Opfer, welches enthauptet war. Ich nehme an, Sie haben mir zu diesem Fall noch etwas zu erzählen? Da Sie sowieso danach fragen werden, habe ich mich direkt nach Niilo Mäkinen erkundigt. Er ist von Beruf Wildhüter und ist bis dato nicht straffällig oder anderweitig polizeilich registriert worden. Verbindungen zu Opfer oder Täter sind nicht zu erkennen. In der Annahme, daß Sie mich vorab über Ihre nächsten Schritte informieren werden, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen, Kami-san“ * Victor musste grinsen, als er die e-mail las. Diese formvollendete Balance zwischen förmlicher Höflichkeit, verstecktem Zynismus und wohldosiertem Befehlston, ohne dabei versehentlich die Grenzen des achtungsvollen Umgangstons zu überschreiten, hatte er schon immer an Seiji bewundert. Er schaute auf die Uhr, wieviel Zeit ihm noch blieb, und machte sich direkt an die Antwort. Er war ja mittendrin gewesen. Natürlich würde er Seiji alles erzählen, was er über den Fall wusste. ... Naja ... fast alles. Den Teil, wo Urnue Cord von den Klippen gestoßen hatte, ließ er vielleicht weg. Und natürlich würde er Seiji nicht nach der Adresse dieses Niilo Mäkinen fragen. Damit hätte er die FABELS nur unnötig in Alarmbereitschaft versetzt. Die Adresse bekam er schon selber raus. Nuorgam sagte ihm was. Das war das Nordkapp, der nördlichste Ausläufer am obersten Ende von Finnland. Eines der weltweit nördlichsten, besiedelten Gebiete überhaupt, wenn er sich recht erinnerte. Das war der buchstäbliche Arsch der Welt. Wie kam jemand von dort dazu, sich in Mordfälle von Schottland mit einzumischen? Als es Zeit wurde, zur nächsten Vorlesung zu gehen, lag Urnue schon wieder mit dem Gesicht auf dem Besuchertisch und schlief tief und fest. Victor schüttelte leicht den Kopf, ging zur Tür, schloss von innen ab und kam dann zurück, um den Schlüsselbund gut sichtbar vor Urnues Nase auf den Tisch zu legen. Damit der sich selber befreien konnte, wenn er hier raus musste. Danach nahm er seine Fliegengestalt an und quetschte sich unter der Tür hindurch, um das von innen verriegelte Büro zu verlassen. Durch das Schlüsselloch passte er leider nicht, weil das schon so ein neumodisches Steckschlüssel-System mit Zentralzylinder hatte, und keine alten, stiftförmigen Chubbschlüssel mehr. „Bei deinen Flüchen und Verwünschungen blühst du immer richtig auf“, merkte Urnue an, als er am frühen Nachmittag mit Victor das Gelände der Universität verließ. Der Russe war trotz seiner Übermüdung allerbester Laune. „Ich liebe sie eben.“ „Wieso hast du bei der Motus nicht mit Flüchen gearbeitet?“ „Wobei?“ „Als du Jäger warst“, präzisierte Urnue. „Flüche sind denkbar ungeeignet, wenn man jemanden im Rahmen eines Attentats umbringen will.“ „Ich könnte mir nichts vorstellen, was geeigneter wäre! Geeigneter jedenfalls als eine Kugel im Kopf. Die ist ja wohl viel auffälliger und bietet der Polizei mehr Beweise.“ „Fassen wir nochmal zusammen. Flüche wirken indirekt. Das verfluchte Objekt nimmt selbst keinen Schaden, sondern schadet anderen. Will man jemandem einen Fluch reinwürgen, muss man also irgendwas verfluchen, was zwar ein Fremdkörper ist, was derjenige aber nur schwer loswerden kann“, referierte Victor los. Er erklärte Urnue immer gern irgendwelche Sachen, wenn er Fragen hatte. Dann redete er mit ihm wie mit einem Studenten im Lehrsaal. „Kleidungsstücke kann man problemlos entsorgen. Eine Brille funktioniert schon besser, weil man ohne die teilweise nicht mehr handlungsfähig ist. Die kann man nicht mal eben wegschmeißen. Implantate im Körper gehen immer gut, sowas haben aber die wenigsten. Zahnblomben wären eine Option. Oder die Tattoo-Farbe in der Haut, wenn derjenige tätowiert ist. Wenn es ein Fluch ist, der nur kurz wirken muss, kann man das verfluchte Objekt auch mit dem Essen verabreichen, aber das wird auch verhältnismäßig schnell vom Körper wieder ausgeschieden. ... Was ich damit eigentlich sagen will: Auf die Schnelle einen vernünftigen Träger für einen Fluch zu finden, ist relativ schwer, wenn man jemandem nur auf der Straße begegnet und keinen Zugang zu seiner Wohnung oder seinen privaten Besitztümern hat.“ „Aber sind Flüche nicht so konzipiert, daß sie fortwirken, wenn man einmal mit ihnen in Kontakt gekommen ist? Ich dachte immer, Flüche, die man sich einmal eingehandelt hat, wirken weiter, auch wenn das verfluchte Objekt schon längst nicht mehr in der Nähe ist. Wie eine Infektion mit der man sich angesteckt hat, und die man behält, auch wenn die Ansteckungsquelle schon wieder weg ist.“ „Nein. Das würde ja bedeuten, daß der Fluch vom Trägerobjekt direkt auf den Menschen überspringt. So funktionieren Flüche nicht. Flüche wirken immer indirekt. Das Ding, das verflucht wurde, nimmt selber keinen Schaden, sondern schadet nur anderen“, betete er nochmal seine Standard-Definition herunter. „Wenn eine Person einen Fluch auf sich trägt, dann nimmt sie selber auch keinen Schaden mehr, sondern schadet nur noch anderen. Soll eine Person sowohl Träger des Zaubers sein, als auch selber zu Schaden kommen, dann muss man auf eine Verwünschung zurückgreifen. Dann nützen Flüche nichts mehr. Damit ein Fluch wirkt, muss man zumindest im Besitz des verfluchten Objektes bleiben, besser noch das Objekt am Körper tragen.“ Urnue überlegte. „Aber als Salome und diese beiden Selkie-Zwillinge mit dem Gegenfluch rumexperimentiert haben ... Nagut, der ist ja schiefgegangen“ „Eigentlich nicht. Die haben einen verkorksten Tauschfluch gebastelt, der durchaus funktioniert hat. Nur halt nicht so, wie die drei es gewollt hatten. Und der basierte auf einem Fluchpapier, das die ganze Zeit im Zimmer der beiden rumlag.“ „Aber Salome war ja nicht ständig in dem Zimmer der Selkies.“ „Der hatte eine Übersetzung davon.“ „Das reicht schon, um von dem Fluch erfasst zu werden?“, machte Urnue fassungslos. Victor schmunzelte leicht. „Ja, das reicht schon. Die Gesetzmäßigkeiten, nach denen Flüche funktionieren, sind reichlich kompliziert. Darum ist das ja auch ein eigener Studiengang und ist mit hohen Abbrecher- und Durchfaller-Quoten belegt. Flüche sind nicht einfach.“ Urnue nickte und starrte nachdenklich vor sich hin. „Und hätten Verwünschungen für die Jagd besser geklappt?“ „Wohl kaum. Es gibt nur sehr wenige Verwünschungen, die tödlich enden, und die sind allesamt sehr kompliziert und zeitaufwändig.“ „Verstehe.“ „Wieso fragst du das?“, wollte Victor lachend wissen. „Ach, nur so. Du weißt, daß ich ein Problem mit Schusswaffen habe. Ich hab immer noch die Hoffnung, dir diese blöde Knarre mal abgewöhnen zu können.“ „Tot ist tot. Macht es für dich einen Unterschied, wie meine Opfer sterben?“ „Irgendwie schon, ja. Seitdem wir mit Sascha über die Wiedergeburt gesprochen haben. Bei einem Kopfschuss wird das ganze Gehirn vernichtet. Irgendwie mache ich mir Gedanken, ob die Seele dabei nicht Schaden nimmt. Ob sie da unbeschadet wieder in den Kreislauf zurückkehren kann. Das ist ne sehr radikale Todesart. Sie verursacht ne Menge Zerstörung am stofflichen Körper, also wieso nicht auch am Astralkörper? Leute, die so gestorben sind, können vielleicht nicht wiedergeboren werden. Weil da zuviel kaputt gegangen ist.“ „Jetzt wirst du aber echt esoterisch“, seufzte Victor. „Flüche und Verwünschungen sind zwar auch nicht schön, aber trotzdem irgendwie natürlicher. ... Verstehst du, was ich meine?“ „Das ist Unsinn, U. Und selbst wenn du Recht hast, dann ist es sicher kein Verlust, wenn die nicht in den Kreislauf zurückkehren, sondern endgültig weg sind. Wahrscheinlich tue ich denen einen Gefallen damit. Die haben so viel schlechtes Karma gesammelt, was glaubst du als was die wiedergeboren werden? Als Menschen oder Genii bestimmt nicht.“ „Und du bist Gott, um darüber ein Urteil fällen zu dürfen?“ „Urnue, das ist komplette Spekulation“, stöhnte der Gestaltwandler, langsam genervt aber trotzdem bemüht, freundlich zu bleiben. Er hatte seinen Getreuen noch nie ernsthaft angepflaumt oder ihn schlechte Laune spüren lassen. „Wenn es wirklich sowas wie Wiedergeburt gibt, wie dieser Reaper uns einreden will, dann wird ein Kopfschuss das nicht aufhalten. Glaub mir, der hat schon genug Seelen auf die andere Seite gelotst, die mit einem Kopfschuss umgenietet wurden. Wäre da irgendwas Außergewöhnliches dabei gewesen, hätten wir das erfahren.“ Der Wiesel-Genius diskutierte nicht mehr weiter und wich Victors Blick aus. „Saschas Geschwätz über das Jenseits hat dich aus dem Gleichgewicht gebracht, das ist alles. Das tut mir leid. Das habe ich nicht gewollt, als ich dich dort hingeschleppt habe, um mit ihm zu reden. Und ich kann dich verstehen. Ruppert wurde mit einem Kopfschuss getötet. Ich verstehe, daß du dir Sorgen um ihn machst, oder um das, was nach dem Tod von ihm geblieben ist. Ich mache mir auch bis heute Gedanken um Anatolij. Aber es ist einfach Unsinn, okay?“ Kapitel 4: finnische Weihnacht ------------------------------ Urnue lag windschief auf Victors Bett herum, während dieser drüben am Schreibtisch über einem dicken Wälzer von Buch brütete. Die Füße hatte Urnue noch unten auf dem Boden. Er starrte die Decke der Höhle an und ließ seine Schuhabsätze rhythmisch immer im Wechsel auf den Boden knallen. „Mir ist so laaaaangweilig“, stöhnte er irgendwann. „Ich werd hier noch bekloppt. Es sind Semesterferien und du hängst seit 3 Wochen ununterbrochen mit deiner Nase in diesen Büchern!“ „Lies doch auch was“, schlug Victor sanftmütig vor und schaute zu ihm auf. „Deine Bücher sind ja alle auf Alt-Russisch. Da bin ich aus dem Spiel.“ „Ich hab auch englische Bücher.“ „Ja, die kenn ich entweder schon auswändig oder schlafe drüber ein.“ „Schon gut, ich werde dir gelegentlich einen Trainingsraum einrichten. Gibt ja genug Höhlen hier unten“, versprach der Russe und las weiter. „Es geht auf Weihnachten zu. Überall sind Weihnachtsmärkte. Wieso gehen wir nicht mal auf einen?“ „Ich muss lernen.“ „Wieso sind wir nicht längst in Finnland? Es ist fast einen Monat her, daß du erfahren hast, wer Cord und Third Eye an die Polizei verraten hat. Ich hatte geglaubt, du würdest noch am gleichen Tag losfliegen und den Kerl suchen gehen“, nörgelte Urnue ungeduldig weiter. „Will ich auch. Aber dazu muss ich erst mehr lesen. Wenn ich mich schon bis nach Finnland rauf bequeme, dann werde ich dort auch gleich noch eine ehemalig Motus-Jägerin hopp nehmen. Und die ist nicht ganz ohne.“ „War die Motus auch in Finnland aktiv?“, fragte der Wiesel-Genius verwirrt nach und setzte sich interessiert auf. „Nein. Aber die Jägerin hat sich dort hin verkrochen, nachdem die Motus aufgeflogen ist. Sie dachte wohl, es macht sich keiner die Mühe, bis an den entlegensten Rand der Landkarte zu kommen, um sie zu suchen.“ „Und wer ist sie? „Aiko Brown, eine Engländerin mit eigentlich japanischen Wurzeln. Sie ist ein japanisches Kama-Itachi.“ „Ein Sichel-Wiesel“, meinte Urnue erstaunt. „Ich kenne Geschichten über die, hab aber noch nie eins gesehen. Sollen die nicht immer zu dritt unterwegs sein? Es heißt doch, sie greifen im Schneegestöber Menschen an. Das erste Wiesel bringt sein Opfer zu Fall, das zweite ritzt ihm die Haut auf, und das dritte schmiert irgendeine medizinische Paste auf die Wunden. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, was die Paste bewirkt.“ „Alles abergläubiger Nonsense. Sichel-Wiesel tun nichts dergleichen. Sie mögen Schnee und treten gern in Gruppen auf, okay. Und sie sind sehr flink und greifen mit ihren sichelförmigen Klauen Menschen an, ja. Aber eine Arbeitsteilung haben sie dabei nicht. Und mit Salben oder ähnlichem Zeug haben Kama-Itachi auch nichts am Hut. Sie lecken einem nur das Blut von den Wunden. Und ihr Speichel ist ekelhaft zäh und giftig. Wenn man die Klauenangriffe überlebt, stirbt man an Vergiftung. So kam die Legende von der ominösen Paste, die auf die Wunden geschmiert wird, zustande“, erzählte Victor und faltete die Hände auf dem Buch. „Nette Zeitgenossen“, meinte Urnue. „Aber das ist gar nicht das Schlimmste. Die Fähigkeiten von solchen Kama-Itachi sind sehr zwiespältig zu betrachten. Sie sind Illusionisten. Aiko Brown kann dir absolut glaubhaft alle möglichen Sinneswahrnehmungen einreden, die du sehen, hören oder fühlen sollst. Wenn sie dir sagt, daß du dir gerade den Hintern abfrierst, dann läufst du bei 35°C los und ziehst dir einen Wintermantel an. Wenn sie dir sagt, daß du einen Apfel in der Hand hast, dann wirst du ihn tatsächlich sehen und in der Hand spüren und kannst auch reinbeißen und wirst ihn schmecken. Wenn sie dir sagt, dein Kollege wäre vom Erdboden verschluckt, dann wirst du ihn nicht mehr sehen, selbst wenn er direkt vor deiner Nase steht. Was sie nicht kann, ist, dir Befehle zu erteilen, wie du auf deine falsche Sinneswahrnehmung reagieren sollst. Sie kann dir einreden, daß du Hunger hast. Aber sie kann dich nicht dazu bringen, zu essen. Sie kann dir einreden, du hättest ein Buch in der Hand. Aber sie kann dich nicht dazu bringen, es zu lesen. Also dein Willen bleibt frei. Aber trotzdem ist ihre Fähigkeit nicht ganz ungefährlich.“ „Mein Gott, wenn man diese Sinneswahrnehmungen wirklich so intensiv fühlen kann, als wären sie echt ...“, überlegte Urnue. „Wenn man das weiterspinnt, würde das ja bedeuten, daß sie dich buchstäblich totquatschen kann. Sie kann dir einreden, die Straße wäre frei und du gehst drüber und wirst überfahren, weil du die Autos nicht siehst. Oder sie kann dir einreden, du würdest an einem Galgen hängen, und du würdest dann wirklich keine Luft mehr kriegen und ersticken. Du würdest aus purem Prinzip sterben, weil du absolut überzeugt davon bist, daß du stirbst! Sie kann dir einreden, du würdest im Eiswasser schwimmen, und du würdest wirklich erfrieren, einfach weil dein Körper und dein Geist überzeugt davon sind. Oder sie redet dir ein, eine Pistolenkugel würde dir das Gehirn durchsieben. Du würdest auf der Stelle tot umfallen.“ „Ich sehe, du hast das Problem erkannt.“ „Okay, ich versteh so langsam, warum du sie aus dem Verkehr ziehen willst.“ „Wenn das so einfach wäre ... So einen unberechenbaren Gegner hatte ich noch nie. Ich darf meinen eigenen Augen und Ohren nicht trauen. Wenn sie clever ist, erzeugt sie nur eine Illusion ihrer selbst, der ich nachjagen kann, während sie mir in Wirklichkeit in Ruhe in den Rücken fällt. Ich kann nie ganz sicher sein, daß ich wirklich sie jage, oder vielleicht doch nur ein Phantom. Deshalb lese ich gerade so viel. Ich hoffe, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Vielleicht finde ich irgendwas, was mich gegen Illusionen immun macht, wenigstens zeitweise. Oder was mich Illusionen durchschauen lässt. Ansonsten muss ich komplett auf den Vorteil des Überraschungs-Angriffs vertrauen und hoffen, daß sie nicht vorher erfährt, daß ich komme.“ Urnue überlegte vor sich hin. „Hast du mal drüber nachgedacht, ihre Fähigkeiten mit einem Fluch zu unterdrücken? Dann ist sie auch unschädlich und du musst sie vielleicht gar nicht mehr umbringen.“ Der Gestaltwandler schaute Urnue einen Moment an wie einen Geist. „Die Idee ist nicht schlecht! Danke, U, du bist immer wieder für rettende Einfälle gut!“, meinte er erfreut und schnippste von seinem Sitzplatz hoch wie eine Sprungfeder. „Nenn mich doch nicht immer U.“, maulte Urnue, fand aber kein Gehör mehr. Victor stellte schon euphorisch seine Bücherregale auf den Kopf und suchte nach passender Literatur zum Thema. „Man kann jemanden durchaus so verfluchen, daß seine magische Gabe lahmgelegt wird. Es gibt auch Bann-Magie, die magische Fähigkeiten abstellt. Flüche und Bann-Zauber kann man zwar auch wieder aufheben, daher ist das keine Dauerlösung, aber zumindest hilft mir das weiter, bis ich sie erledigt habe. Sie wäre für den Moment entwaffnet und ich könnte meinen Augen und Ohren wieder Glauben schenken.“ „Ich seh schon, aus dem Weihnachtsmarkt wird wohl nichts.“ Keine Reaktion. „Lass uns doch auf einen finnischen Weihnachtsmarkt gehen, wenn wir dort fertig sind. Der von Helsinki soll schön sein. Finnland ist das Land der Weihnacht.“, bohrte Urnue weiter. Abermals keine Antwort. Victor hatte bereits ein Buch aufgeschlagen und sich gleich im Stehen darin vertieft, ohne erst zum Tisch zurück zu gehen. „Manchmal bist du echt furchtbar.“ „Die Motus hab ich nicht mit Glühwein und Plätzchen besiegt“, klärte Victor ihn humorvoll auf, um zu verdeutlichen, daß er ihm sehr wohl noch zuhörte. „Hast du schonmal bedacht, daß dieser Niilo Mäkinen vielleicht bloß Finnisch redet? Wie willst du mit ihm sprechen, wenn du ihn wirklich finden solltest?“ „Eins nach dem anderen. Jetzt kümmere ich mich erstmal um das Kama-Itachi.“ Zwei Tage später hockten sie tatsächlich in einem Hotel in Kittilä. Diese 6'300-Einwohner-Stadt war einfach das nächstgelegene, was sich zu Nuorgam finden ließ und auch nur ansatzweise sowas wie Gastgewerbe vorhielt. Es lagen 360 Kilometer zwischen hier und Nuorgam und selbst mit dem Auto brauchte man mindestens 4,5 Stunden dort hin. Bei guter Witterung wohlbemerkt. Jetzt war tiefster Winter. Urnue war mächtig angefressen und zweifelte am Sinn dieser Unternehmung und an Victors Verstand, aber er hatte es schon längst aufgegeben, zu meckern. Victor ließ sich nicht umstimmen. Aus Nuorgam war ein Hinweis gekommen, der Cord und Third Eye verraten hatte, und Victor würde ergründen, was es damit auf sich hatte, komme was wolle. Und wenn er dafür 360 Kilometer zu Fuß durch eine Eiswüste marschieren musste, weil die Straßen in den Schneestürmen des finnischen Winters unpassierbar waren, schön, dann würde er das tun. Urnue ärgerte sich inzwischen nur noch über sich selber, daß er´s einfach nicht über´s Herz brachte, Victor alleine loszuschicken. Egal was kam, er würde mitgehen. Er würde Victor in Finnland nicht alleine lassen. Mit groben Bewegungen warf Victor gerade seinen Ledermantel ab, nahm dabei ganz bewusst in Kauf, daß seine im Hosenbund steckende Pistole gut sichtbar wurde, zerrte sich eine dicke Fleece-Weste über und zog dann seinen Mantel wieder darüber. „Meine Fresse, was haben die hier für ein furchtbares, nass-kaltes Klima?“, beschwerte er sich dabei etwas unwillig. „In Sibirien habe ich bei Minus 20 Grad nicht so gefroren wie in diesem finnischen Schmuddelwetter!“ „Wer von uns beiden wollte denn unbedingt hier her?“, maulte Urnue zurück. „Ja-ja. Schon gut.“ „Ich hoffe, es schneit in der Nacht nicht weiter. Sonst haben wir morgen ein echtes Problem, wenn wir nach Nuorgam aufbrechen wollen.“ Victor sah zum Fenster. „Ja“, seufzte er. „Wenigstens müssen wir uns um die Schneewehen auf den Straßen keine Sorgen machen. Wir fliegen ja. Solange wir noch sehen, wo die Straßen überhaupt sind, damit wir den Weg finden ...“ „Es wird trotzdem eine harte Reise, Dragomir. Du bist noch nie bei so einer Kälte und bei Schneegestöber in deiner Greifengestalt geflogen. Du wirst zu tun haben, nicht mitten in der Luft zu einem Eisklumpen zu erstarren. Von den beschwerlichen Luftverhältnissen ganz zu schweigen. Kalte Luft fällt physikalischerweise immer nach unten. Du wirst beim Fliegen keinerlei Aufwinde haben. Das wird echt anstrengend, glaub mir.“ „Ja. Wahrscheinlich würde uns jeder Reiseleiter mit einem Fünkchen Verstand davon abraten.“ Ein Moment Ruhe, als würde er überlegen. „Danke, daß du trotzdem mitkommst“, fügte er dann noch an. „Sag mal, warum genau rennst du im Hotelzimmer eigentlich mit Knarre und Ledermantel rum?“, fasste Urnue schließlich die Beobachtung in Worte, die er schon die ganze Zeit als störend empfand. „Ich geh gleich wieder.“ „Lass mich raten ...“ „Ich werde jagen. Auf mich wartet ein Kama-Itachi.“ „Diese Aiko Brown ist hier in Kittilä?“ „Was glaubst du, warum ich mich sonst in einem 360 Kilometer entfernten Nest einquartieren soll?“ „Du sagtest, das wäre das nächstgelegene, was man findet“, hielt Urnue ihm vor. „Das auch. Aber daran alleine hätte ich es nicht fest gemacht. Wenn ich das gewollt hätte, wäre ich auch gleich non stop bis Nuorgam durchgereist.“ Es wurde langsam Abend. Nicht, daß das einen Unterschied gemacht hätte. Im Winter ging hier in Finnland die Sonne ja nie wirklich auf, es war Dauernacht. Sie hatten in Kittilä einen Weihnachtsmarkt gefunden und Victor hatte dem Betteln seines Getreuen nachgegeben. Sie schlenderten gerade über den hübsch beleuchteten Platz voller verschneiter Holzhütten, zwischen denen überall kleine Lichter wie magisch funkelten. Als hätte jemand eine Ladung Sterne über den Markt gestreut. Urnue wärmte sich die Hände an einem Glühwein, Victor selbst hatte eine Packung gebrannter, noch heißer Mandeln in Arbeit, während sie gemütlich herumspazierten. An jeder Ecke konnte man Rentier-oder Husky-Schlitten anmieten wie Droschken, und sich herumfahren lassen. An den Buden ließ sich von warmer Pelzkleidung über Pfefferkuchen bis Deko-Schnulli alles kaufen. Und die Stille war direkt betörend. Auf anderen Weihnachtsmärkten, die Victor kannte, wurde man aus jeder Ecke mit dröhnender, schauriger Weihnachtsmusik beschallt. Hier fand man nichts dergleichen. Die Leute sprachen auch nicht mehr als unbedingt nötig. Man hörte fast die Schneeflocken fallen, nur hier und da unterbrochen von brennendem Holz, das in einem Kamin knackte, oder dem Klirren eines Rentier-Zaumzeugs. Und die dicke Schneeschicht deckte alle weiteren Geräusche einfach zu. Das hatte etwas unglaublich Andächtiges und Friedliches. Victor war vor lauter Besinnlichkeit beinahe versucht, zu vergessen, warum er eigentlich hier war. Mit einem „Oh!“ schnappte der Gestaltwandler Urnue plötzlich am Arm und zog ihn in eine Gasse zwischen den Buden. „Was ist denn?“, wollte der erschrocken wissen, noch hellauf damit beschäftigt, seinen Rest Glühwein nicht zu verschütten. „Das ist sie. In der Bude da vorn arbeitet Aiko Brown. Wenn wir da einfach vorbeilaufen, erkennt sie mich wahrscheinlich.“ „Denkst du, sie rechnet hier mit dir?“ „Braucht sie nicht. Sie wird mich trotzdem sehen. Ich bin mit meiner Statur und den langen Haaren ja nicht gerade unauffällig“, meinte Victor. „Ich hatte nicht gedacht, daß ich sie ausgerechnet hier finde. Ich wollte ganz wo anders nach ihr suchen.“ „Wirst du sie kalt machen?“, wollte Urnue etwas unglücklich wissen. „Hier, mitten auf dem Weihnachtsmarkt? Natürlich nicht. Wo denkst du hin?“ Er schaute wieder vorsichtig um die Ecke der Holzhütte, hinter der sie sich versteckt hatten, und musterte die Asiatin aus der Ferne. Ja, sie war es. Ganz eindeutig. Sie jobbte also als Verkäuferin in einer Weihnachtsmarkt-Bude. Nun, warum nicht!? Wenn er das von hier aus richtig erkannte, verkaufte sie Edelsteine. „Wir werden sie am besten auf dem Weg nach Hause verfolgen. Da findet sich schon eine Gelegenheit, sie auszuschalten. Hast du eine Ahnung, wie lange der Weihnachtsmarkt abends geöffnet hat?“ „Nein, keine Ahnung. Aber willst du sie wirklich umlegen?“ Mit einem Lächeln erinnerte sich Victor an die e-mail zurück, die Seiji von den FABELS ihm geschrieben hatte. So abgrundtief bestialisch, daß sie wirklich nichts anderes als den Tod verdient hätte, war diese Aiko Brown eigentlich gar nicht. Ach, es war Weihnachten. Tat er Urnue und Seiji den Gefallen. „Mal sehen. Wenn wir sie irgendwie lebend zu fassen kriegen, können wir sie ja auch der Polizei übergeben.“ „Danke“, meinte der und kippte sich den Rest seines Glühweins hinter die Bühne. Dann zeigte er die leere Tasse vielsagend hoch. „Ich geh meinen Tassenpfand abholen und frag dabei gleich mal nach den Öffnungszeiten von diesem Markt. Mal sehen, ob der Budenbetreiber Englisch versteht. Bin gleich zurück.“ „Urnue, wie schnell kannst du rennen?“ „Als Wiesel? Schon ganz schön schnell, wieso?“ „Wenn sie versucht, wegzurennen, würdest du sie wieder einfangen können?“ „Ein Kama-Itachi?“, überlegte Urnue, während sie beide der Asiatin in unverdächtigem Abstand nachliefen und auf eine gute Chance für den Übergriff warteten. Im Moment waren hier einfach überall viel zu viele Passanten. „Schwierig. Die sind verflucht flink, soviel ich weiß. Könntest du sie von der Luft aus verfolgen? Wie schnell bist du in deiner Greifengestalt?“ „Nicht schneller als ein Kama-Itachi am Boden. Und hier unten gibt es auch zu viele Schlupflöcher und Verstecke.“ Sein Getreuer nickte verstehend. „Dann müssen wir sicherstellen, daß sie gar nicht erst wegrennt. Soll ich sie einholen und ihr von vorn den Weg abschneiden?“ „Ja, tu das.“ Mit einem Nicken verwandelte sich Urnue in den Wiesel-Geist, der er abseits seiner menschlichen Form wirklich war, und sprang in langen Sätzen davon, in eine Seitengasse hinein. Victor wusste, daß Urnue so bald nicht wieder auftauchen würde. Er würde sich irgendwo in der Umgebung versteckt halten, bis die Gelegenheit besser war. Bis keine anderen Leute mehr dabei waren und zuschauten. Dazu bedurfte es inzwischen keiner Absprachen mehr. Sie beide hatten schon oft genug zusammen Verbrecher gejagt. Victor selbst blieb der Asiatin direkt auf den Fersen und verfolgte sie bis zum SnowVillage. Dieser Hotel-Komplex war DIE Touristen-Attraktion von Kittilä. Alle Gebäude bestanden komplett aus Eis, die Zimmer und sogar die Möbel darin waren aus Eis und Schnee, und es sollte überall effektvolle Eisskulpturen und Schnitzereien in den Eiswänden geben. Da drin schlief man in Thermo-Schlafsäcken. Der Speisesaal war ein 10 Meter hohes Iglu. Der einzige beheizte Raum war das unterirdische Gemeinschaftsbad. Victor bekam schon Angst, als sein Opfer auf diesen Hotel-Komplex zuhielt, daß sie darin verschwinden würde. Dort hätte er sie niemals unbeobachtet festnageln können. Aber dann drehte sie doch im letzten Moment bei und folgte der Straße noch ein Stück weiter. Zwei Gassen weiter kam Urnue ihnen, wieder in seiner menschlichen Gestalt, frontal entgegen, wenn auch zunächst noch sehr desinteressiert und unauffällig wie ein x-beliebiger Passant. Dennoch wertete Victor das als Signal. Urnue würde Aiko Brown nicht vorbei lassen. An Victor war es nun, den Kampf zu eröffnen. „Aiko!“, rief der Russe ihr nach, um sie dazu zu bringen, stehen zu bleiben und sich umzudrehen ... Kapitel 5: Illusion ------------------- „Aiko!“, rief der Russe ihr nach, um sie dazu zu bringen, stehen zu bleiben und sich umzudrehen. Sie wandte sich mit einem schiefen Grinsen zu ihm um. „Wird auch Zeit, Mann. Ich dachte schon, du versuchst es heute gar nicht mehr“, meinte sie, freundlicherweise auf Russisch, denn sie wusste, daß er ein Russe war. Und in der Motus hatten damals alle Russisch gesprochen. „Sind dir in Russland und Zentraleuropa die Opfer ausgegangen, daß du dich extra bis hier rauf bemühst?“ „Wieso bist du nicht stehen geblieben, wenn du mich schon bemerkt hast?“, gab Victor nicht minder selbstgefällig zurück. Er ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen, daß seine Tarnung längst aufgeflogen war. „Verlangst du, daß ich es dir unnötig leicht mache? Ich dachte, du bist Profi.“ „Du weißt ja noch nichtmal, was ich von dir will.“ „Was sollst du schon von mir wollen, Akomowarov? Du jagst deine ehemaligen Leute. Du wirst mich höchstwahrscheinlich umbringen wollen. Wölltest du was anderes, wärt ihr beide mir nicht eine halbe Stunde lang heimlich nachgelaufen.“ Victor lächelte sympathisch. „Naja, da Weihnachten ist, wäre ich durchaus auch damit zufrieden, wenn ich dich lebend fangen und einfach der Polizei übergeben könnte. Ich habe gerade keine Lust auf Blutvergießen. Aber wenn dir das natürlich lieber ist ...“ „Übrigens, wer ist denn dein goldiger Begleiter überhaupt?“, wollte sie wissen und deutete dabei über die Schulter nach hinten auf Urnue. „Den kenn ich ja noch gar nicht.“ „Er ist der, der mich überzeugt hat, daß du nicht unbedingt sterben musst. Bedank dich bei ihm“, meinte der Gestaltwandler und warf dabei nochmal einen unauffälligen Blick in die Runde, ob sie wirklich alleine waren oder ob hier Passanten herumstrolchten. Eigentlich musste er keine Bedenken haben. Er wusste, daß Urnue das vorher abgeprüft hatte, sonst hätte er den Angriff nicht eröffnet. Victor beschloss, seiner Gegnerin nicht allzu viel Zeit zu lassen, um irgendwelche Aktionen vorzubereiten. Wenn sie ihn wirklich schon die ganze Zeit bemerkt hatte, hatte sie ohnehin schon viel zu viel Zeit gehabt, sich irgendwas zu überlegen. Er zog eine Falkenfeder – so mächtige Bann-Zauber gingen leider nie ohne Hilfsmittel, und organische Dinge eigneten sich dafür am besten – und legte die Hände an den Fingerspitzen zu einem Keil zusammen, die Feder irgendwo zwischen seinen Fingern eingeklemmt, was seinen Neutralisierungs-Bann auslösen sollte. Damit gedachte er ihre Fähigkeit zu unterbinden, Illusionen zu erzeugen. Doch Urnue trat ihm in den Weg und zog vor Aiko Brown einen magischen Schutzschild hoch, um sie zu schützen. Irritiert brach Victor seinen Zauber wieder ab bevor er vollendet war, weil er keine Ahnung hatte, was er davon halten sollte. Urnue half dieser Frau? Das hatte er ja noch nie getan, sich zwischen Victor und seine Zielpersonen zu stellen. „Was soll´n das werden?“, wollte er wissen. Urnue sagte nichts, sondern ließ nur seinen Schutzschild wieder sinken und funkelte Victor mit bösem Blick an. Der Gestaltwandler gab einen verstehenden Laut von sich und schleuderte Urnue einen Angriffszauber entgegen, der ihn von den Füßen riss und sich auf dem Boden noch ein paar Mal überschlagen ließ, bevor er liegenblieb. Dieser Angriff hatte die Wirkung einer Lokomotive, die einen mit Volldampf überfuhr. Aiko Brown zog ein entsetztes Gesicht. „Du greifst deinen eigenen Partner an?“ „Er ist nicht mein Partner“, legte Victor fest. „Nur eine deiner Illusionen.“ „Wenn du dir da mal sicher bist ...!?“ Beide schauten zu, wie Urnue sich langsam und ächzend wieder auf die Beine kämpfte. Er sah reichlich rampuniert aus. Mindestens ein gebrochenes Bein musste er haben, denn er konnte kaum noch stehen. Er spuckte Blut. Und seine gekrümmte Haltung zeugte auch von gebrochenen Rippen oder inneren Verletzungen. „Ganz sicher“, entschied Victor. Dieser Angriff hätte ihn definitiv umgebracht. Nur eine Illusionen konnte sowas überleben. Es bewies lediglich, daß Aiko Brown diesen Zauber nicht gut genug kannte, um seine Wirkung realistisch in eine Illusion umzuwandeln. Dann schickte er Urnue mit dem gleichen Angriff abermals zu Boden. Ungerührt. Diesmal blieb der auch endlich liegen. „Woran glaubst du das zu erkennen?“, wollte Aiko Brown wissen. „Wäre das der echte gewesen, hätte er mir eine Antwort gegeben.“ „Und wo ist dann der echte hin?“ Victor war es leid, weiter mit ihr zu diskutieren. Sie würde ihn nicht verunsichern. Stattdessen wollte er sie endlich ausschalten. Er formte wieder seine Hände zum Keil, mit der Falkenfeder zwischen seinen Fingern und unterband endlich ihre Illusions-Künste. Sie machte eine seltsame Handbewegung, wohl Handzeichen-Magie, die Victor allerdings nicht kannte und daher nicht deuten konnte. Victor spürte, daß sich irgendwas an ihm tat. Er hatte jedoch keine Zeit, sich darum zu kümmern. Und da er es auch nicht als Einschränkung empfand, störte er sich zunächst nicht daran. Er konnte später nachsehen, wenn dieser Kampf zu Ende war. Entschlossen wollte er den nächsten Bann nach seiner Gegnerin schleudern. Aber er musste feststellen, daß sich nichts rührte. Auch ein zweiter Versuch brachte nichts mehr. „Was!?“, machte Victor verwirrt und sah fragend auf seine Handflächen. Okay, was auch immer die Kollegin getan hatte, es blockierte offenbar Victors Fähigkeiten, wurde ihm klar. Das, was er eigentlich mit ihr vorgehabt hatte. Jetzt war er mächtig am Allerwertesten. Sie verwandelte sich in ihre wahre Gestalt zurück, ein Sichel-Wiesel. Sie war groß wie ein Schäferhund, hatte hellbraunes Fell, lange Eckzähne und vorn dreifingrige Pfoten, von denen die mittleren Finger jeweils überdimensional lange, sichelförmige Hornfortsätze waren. Die konnten bei aufrechtem Gang wie Macheten eingesetzt werden und gaben ihrer Spezies den Namen. Sie riss bedrohlich das Maul auf und sprang auf Victor zu, um in den Angriff über zu gehen. „trakhat tebja!“ [Fick dich!], fluchte er sauer, zerrte die Pistole aus seinem Hosenbund und begann das Magazin leerzuballern. Dabei kippte er die Pistole auf die Seite. Wenn Magie hier nichts mehr brachte, dann musste es eben die Munition tun. Nachdem er sie niedergeschossen hatte, löste sich der falsche Urnue in Luft auf. Ein Glück, dann war Aiko Brown selbst keine Illusion gewesen, sondern er hatte die echte erwischt. Nun, wo sie weg war, verflogen ihre Illusionen. Dennoch ging Victor hin und besprühte die Tote mit Viscum-Lösung. Wäre Aiko so unverschämt gut, ihren eigenen Tod nur vorzutäuschen, und wäre die durchsiebte Leiche nur eine Illusion, dann hätte er es damit erfahren. Gute Gründe dafür hätte es einige gegeben. Die Tatsache, daß Victor nicht weiter nach ihr suchen würde, wenn er sie für tot hielt, war noch der harmloseste davon. Verschiedene Leute hatten hohe Gelder auf Victors Kopf ausgesetzt. Er wollte nicht, daß sie auf die Idee kam, ihm unvorgewarnt in den Rücken zu fallen und seinen Kopf einem dieser Leute zu bringen. Aber die Sorge war unbegründet. Die Leiche war in der Tat echt. Urnue – der echte Urnue – kam ohne Eile herbei spaziert. „So´n Shit. Sie hat mich komplett außer Gefecht gesetzt“, beschwerte Victor sich. Nicht mal mehr seine Gestalt wandeln konnte er noch. „Das ist ein 'Fauler Zauber'. Sie hat deinen Bann auf dich zurückgeworfen. Das hast du neulich an der Uni unterrichtet, weißt du noch? Als du Vertretung geben musstest.“ Er schaute seinen Getreuen fragend an. „Da hast du doch die ganze Zeit geschlafen.“ „Nicht die ganze, nur den Großteil. Warte, ich löse dir den Bann wieder. Du kannst ja gerade nicht mehr“, meinte Urnue und griff nach der Falkenfeder. „Danke. Ein Glück, daß du auch Bann-Magier bist.“ „Du hattest mir versprochen, sie der Polizei lebend zu überstellen“, murrte Urnue unzufrieden, während er arbeitete. „Wie dir sicher aufgefallen ist, war das aus erdenklichen Gründen leider nicht möglich. Sie hat all meine magischen Fähigkeiten unterbunden. Mir blieb nur noch die Knarre.“ „MEINE magischen Fähigkeiten hat sie nicht unterbunden. Ich hätte durchaus noch agieren können.“ „Zu gefährlich für dich. Das wollte ich nicht riskieren. Du weißt, das Sichel-Wiesel giftig sind, wenn sie dich ablecken. Bisher ist noch kein wirksames Gegengift für Kama-Itachi-Speichel gefunden worden.“ „Du gebrauchst dein Schießeisen viel zu schnell und viel zu bedenkenlos! Warum musst du deinen Weg grundsätzlich mit Leichen pflastern? Du kannst nicht ...“ Er brach mitten im Satz ab und merkte auf. „Äh ... Dragomir, siehst du auch was ich sehe?“ Die beiden schauten sich mit großen Augen um, als sich die gesamte Umgebung zu verändern begann. Die Häuser verschwanden und andere kamen zu Tage. Fassungslos stellte Victor fest, wie groß Aiko Browns Illusion wirklich gewesen war. Sie hatte ihnen sogar ein anderes Setting vorgegaukelt, um sie in die Irre zu führen. Jetzt, wo sie tot war, brachen diese Illusionen in sich zusammen. Und das Schlimmste war: fünf oder sechs Leute standen in der Gegend verteilt und schauten sie schockiert an. Fünf oder sechs Leute, die für Victor und Urnue dank der Illusion vorher unsichtbar gewesen waren, die aber sehr wohl die Schießerei hier gesehen hatten und nun Zeugen waren. So viele Zeugen für den Mord an Aiko Brown. Alle hatten es gesehen. „Urnue ... lass mich mal eine Vermutung äußern“, meinte Victor trocken. „Ich bin ganz Ohr.“ „Das hier ist jetzt keine Illusion mehr.“ „Scheiße. Wir sind sowas von geliefert“, hauchte Urnue überrumpelt, dem ebenfalls langsam aufging, wie talentiert und fähig diese Asiatin wirklich gewesen war. „Sieh zu, daß keiner von denen abhaut!“, trug Victor ihm gedankenschnell auf und deutete raumgreifend in die Runde. Urnue zog einen Packen Notizzettel aus seiner Tasche, die er immer umhängen hatte, weil er sonst bei einer Verwandlung in seine wahre Gestalt alles verloren hätte, was er am Körper trug. Er blätterte sie schnell durch. Es waren vorgefertigte Bann-Zettel. „Du wirst die Zeugen doch nicht alle erschießen wollen, oder?“, rückversicherte er sich nebenbei. Als er die Vorlage für einen Bann-Kreis gefunden hatte, zückte er einen Kugelschreiber, ergänzte das Zeichen, das die Größe des Bann-Kreises definierte, und pappte das Stück Papier dann auf den Boden. Sofort wuchsen im Umkreis einiger Meter magische Bann-Mauern aus der Erde. So konnte keiner der Zeugen mehr weg. Panik und Protest wurde unter den eingesperrten Leuten laut, die von der Erkenntnis, im Käfig zu sitzen, plötzlich allesamt wieder aus ihrer Schreckstarre aufwachten. „Nicht schlecht. Du bist echt gut“, lobte Victor erstaunt. „Danke, ich geb mir Mühe. Und was jetzt?“ „Ich verwende meinen Gedächtnis-Löschzauber. Die Leute werden sich nicht daran erinnern uns jemals begegnet zu sein.“ „Und was ist mit der Leiche?“ „Wir haben leider keine Zeit, uns drum zu kümmern. Wir müssen sie liegen lassen.“ „Find ich nicht gut.“ „Ich auch nicht, aber es geht nicht anders. Guck mal kurz weg. Du darfst nicht in das Licht schauen, sonst wirst du von dem Zauber mit erfasst.“ Der Gestaltwandler malte mit dem linken Zeigefinger ein unsichtbares Zeichen auf seine rechte Handfläche, woraufhin diese zu leuchten begann wie eine Taschenlampe. Diese Hand streckte er nach dem ersten Zeugen aus und ließ ihn direkt in das Licht schauen. „Du hast mich und Urnue nicht gesehen. Du hast nicht gesehen, wie Aiko Brown erschossen wurde. Die Leiche lag schon da, als du herkamst.“ Er richtete das Licht auf den zweiten Zeugen. „Du hast mich und Urnue nicht gesehen. Du hast nicht gesehen, wie Aiko Brown erschossen wurde. Die Leiche lag schon da, als du herkamst.“ Urnue schaute ihm skeptisch zu. Wort-Magie war das offenbar nicht, denn die meisten Zeugen standen beileibe zu weit weg, um ihn zu hören. Und die Worte musste man hören, wenn sie auf einen wirken sollten. Der Spruch war wohl nur für Victor selber von Bedeutung, um zu definieren, was genau die Leute vergessen sollten. Kopfschüttelnd machte sich Urnue daran, Aiko Browns Körper wenigstens mit einem allersimpelsten Bann zu belegen, um die Aufmerksamkeit von Hellsehern fern zu halten. Victor arbeitete alle sechs Personen ab, die Urnue hier im Bann-Kreis festgenagelt hatte, wobei er bei jedem sorgsam darauf achtete, daß der auch wirklich ins Licht hinein geschaut hatte. „Weg hier!“, trug er Urnue dann auf, als er fertig war. „Wir haben nur ein paar Sekunden bevor bei den Leuten die bewusste Erinnerung wieder einsetzt und sie uns wieder wahrnehmen. Das ist kontraproduktiv, wenn sie uns vergessen sollen.“ Urnue, selbst gerade erst mit seiner Arbeit fertig geworden, löste seinen riesigen Bann-Kreis auf und rannte. Kapitel 6: nordische Stimmung ----------------------------- Victor zog sich die Bett-Decke bis zu den Ohren und gähnte herzhaft. Er hatte seine Lampe schon ausgeschalten, im Gegensatz zu Urnue drüben auf der anderen Seite des Hotelzimmes. Der lag zwar auch schon in seinem Bett, hatte aber die Hände im Genick verschränkt, starrte zur Zimmerdecke hinauf und dachte gar nicht daran, sein Licht zu löschen. „s'pokojnoj notschi“ [Gute Nacht], meinte Victor in einem Tonfall, der wie eine Aufforderung klang. Urnue schielte ihn aus dem Augenwinkel an, dann schaute er kopfschüttelnd wieder zur Zimmerdecke hinauf. Unzufrieden mit der gesamten Lage, in der sie gerade waren. „Ich versteh nicht, wie du schlafen kannst, mit so vielen Leichen auf dem Gewissen. Ich an deiner Stelle würde kein Auge mehr zu machen.“ Victor seufzte leise. „Du bist immer noch sauer, weil ich es nicht geschafft habe, Aiko Brown lebend zu fangen“, entging ihm nicht. „Du hättest sie mir überlassen können. Ich war noch einsatzfähig. Du vertraust mir einfach nicht.“ „Das hat mit Vertrauen nichts zu tun, Urnue. Ich kannte Aiko. Ich wusste, was sie drauf hat. Du wärst ihr nicht gewachsen gewesen. Ich will dich doch nur schützen.“ Sein Getreuer gab einen verächtlichen Ton von sich. Er glaubte das wohl nicht. „Denkst du, es war klug, was wir heute abgezogen haben? Gedächtnis-Zauber hin oder her, es gab sechs Zeugen! Das hätte mächtig in die Hose gehen können, wenn wir die nicht alle erwischt hätten. Und dann haben wir die Leiche auch noch liegen lassen. Glaubst du, da wird keiner Ermittlungen anstellen, wer sie durchsiebt hat?“ „Natürlich wird es Ermittlungen geben“, gab Victor gelassen zurück. „Und vielleicht kriegen sie sogar raus, daß ich es war. Aber was soll´s. Mir wurden schon genug Morde nachgewiesen. Auf einen mehr oder weniger kommt´s jetzt auch nicht mehr an.“ „Du bist so ein kalt berechnendes, gewissenloses ... ich weiß gleich gar nicht, als was ich dich am besten betiteln soll.“ „Wie wäre es mit 'Vize-Boss der Motus'? Das wäre angemessen“, scherzte Victor. „Dieser Posten hat mich so werden lassen.“ Urnue atmete betont durch. „Ziehst du gar nicht in Betracht, daß wir richtig Probleme kriegen könnten? ... Manchmal frage ich mich echt, ob ich noch mit dir zusammen arbeiten sollte. Ob´s das wert ist. Ich komme immer wieder an die Grenzen meines Gewissens, auch wenn ich nicht sagen will, daß ich das nicht vorher gewusst hätte, als ich mich dir angeschlossen habe.“ „Was hält dich denn bei mir?“ „Die Dankbarkeit. Ohne dich wäre ich schon längst tot, du hast mir das Leben gerettet. Und du hast mir die Gelegenheit gegeben, Rupperts Tod zu rächen. Und eigentlich glaube ich ja auch an deine Mission, ganz tief in mir drin. Es ist sicher richtig, die ehemaligen Motus-Mitglieder zu jagen. Ich will dir da ja helfen. ... Ich bin nur immer wieder schockiert von deiner Skrupellosigkeit.“ Victor ließ diese Aussage einen Moment setzen und dachte darüber nach. Irgendwann nickte er langsam. „Ich halte dich nicht fest, Urnue, das weißt du. Wenn du eigene Wege gehen willst, werde ich dich nicht aufhalten. Ich würde dir Alles Gute wünschen und mich bei dir bedanken. Du bist mir nichts schuldig. Gar nichts.“ „Ich weiß“, seufzte er. „Aber ich denke, Ruppert hätte es so gewollt, daß wir zusammen die Motus platt machen. Er hat sie auch gehasst. Und er ist ein Opfer von denen geworden. Ich wäre von mir selbst enttäuscht, wenn ich den Schwanz einziehe. Und Ruppert wäre es auch.“ „Hör zu. Ich werde an mir arbeiten, in Zukunft nicht mehr ungefiltert JEDEN über den Haufen zu schießen, sondern auch ab und zu mal für die Polizei einen lebend zu fangen, wenn ich damit leben kann. Einverstanden?“ Urnue wandte den Kopf herum und schaute ihn lange rückversichernd an, als müsse er abschätzen, wie glaubwürdig dieses Versprechen war. Wenn er damit leben konnte! Allein die Einschränkung sagte ja schon genug. Aber dann besann er sich darauf, daß Victor ihm noch nie falsche Versprechungen gemacht hatte und sein Vertrauen auch sonst noch nie enttäuscht hatte. Wenn er sowas sagte, meinte er das ernst. Darum mochte er Victor ja so, fühlte sich so wohl in seiner Gesellschaft und stand so loyal zu ihm. Weil er sich absolut auf Victor verlassen konnte. Selbst wenn er mit dessen Aktionen nicht immer einverstanden war, so konnte er sich doch zumindest darauf verlassen, daß sie berechenbar blieben. „Danke“, erwiderte er schließlich ehrlich. Und wandte den Blick wieder zur Decke hinauf. Einen Moment war Ruhe, während er weiter seinen Gedanken nachhing und immer noch keine Anstalten machte, endlich das Licht aus zu schalten und zu schlafen. „Vermisst du ihn manchmal?“, fragte Urnue irgendwann. „Wen? Ruppert?“ Der Wiesel-Genius nickte mit einem zustimmenden Laut. „Ein wenig schon. Er war zwar kein sehr herzlicher Mensch, aber trotzdem ein guter Freund. Ohne ihn wäre ich nicht so weit gekommen. Vermisst DU ihn?“ „Er war mein Schützling“, gab Urnue zu bedenken. „Natürlich vermisse ich ihn. Paradoxerweise weiß ich bloß nicht, warum. Er hat mich nie so respektvoll behandelt wie du. Er hat mich nicht geachtet. Er hat mir fast alles verboten, was ich mir jemals gewünscht habe. Aber trotzdem ... er war mein Schützling. Und ja, ich vermisse ihn. Das macht wohl die Verbindung zwischen ihm und mir. Ohne einander sind wir einfach nicht vollständig, ein Schutzgeist und sein Schützling.“ „Kann ich schlecht nachvollziehen“, gestand der Gestaltwandler. „Ich war nie gebunden.“ „Was ist mit diesem Anatolij, von dem du mir erzählt hast? Wer war er?“ „Ein Mensch. Einfach nur ein ganz normaler Mensch ohne magische Begabung. Wir kannten uns schon, seit wir Kinder waren. Er hat mich dazu gebracht, zu studieren, und hat mich mietfrei bei sich wohnen lassen, weil ich mir das sonst gar nicht hätte leisten können. ... Ihn vermisse ich übrigens auch“, fügte Victor sentimental an. „Dann kannst du doch nachvollziehen, wie es mir geht.“ „Möglich.“ Urnue drehte wieder den Kopf, um ihn erneut anzusehen, und nahm die Hände aus dem Genick, weil ihm langsam die Arme einschliefen. Stattdessen rollte er sich auf die Seite, in Victors Richtung. „Hör mal, du weißt, daß es niemanden gibt, der mit den Toten reden kann. Du kommst an deinen Anatolij nicht mehr ran, egal wie du´s drehst und wendest. Und an Ruppert auch nicht. Wieso willst du immer noch nach Nuorgam rauf und diesen Niilo Mäkinen suchen? Was erhoffst du dir noch davon?“ „Ich will einfach wissen, woher er von Cord und Third Eye wusste. Dieser Tote auf den Orkney-Inseln war zu gut getarnt, und keiner wusste davon, niemand hätte den jemals finden dürfen, wenn der es nicht zufällig als Nachzehrer auf Sewill abgesehen gehabt hätte. Aber irgendwoher wusste dieser Niilo Mäkinen sowohl von dem Toten, als auch, daß es Cord und Third Eye gewesen sind. Und das ist mir etwas zuviel des Guten. Ich will rauskriegen, woher er das alles wusste.“ „Hast du Theorien?“, hakte Urnue interessiert nach. „Nein. Erstaunlicherweise keine einzige, und sei sie noch so abstrus.“ „Das ist ungewöhnlich für dich“, grinste sein Getreuer. „Ja, irgendwie schon, oder?“ „Vielleicht ist er ein Reaper und hat den Toten auf die andere Seite begleitet.“ „Der wurde nicht auf die andere Seite begleitet. Der war noch im Diesseits. Deshalb ist er ja zum Nachzehrer geworden und konnte Sewill die Lebensenergie absaugen. Ins Jenseits ist er erst gegangen, nachdem ich ihn erledigt hatte. Und das war, nachdem Cord und Third Eye schon lange die Polizei im Nacken hatten. Und Reaper machen sowas auch nicht. Das sehen die nicht als ihre Aufgabe an.“ „Nagut ...“ Urnue überlegte weiter. „Er ist Wildhüter. Vielleicht kann er mit Tieren sprechen. Vielleicht hat eine Möwe oder irgendein Meeres-Tier ihm davon erzählt, das auf den Orkney-Inseln dabei war.“ „Es gibt keine Vögel oder Fische, die von Schottland nach Finnland reisen. Zugvögel ziehen in den Süden, nicht in den Osten. Möwen gehören da auch gar nicht dazu. Und Fische schwimmen auch nicht solche Strecken.“ „Tja, dann ... weiß ich es auch nicht“, gab Urnue nachdenklich zu. „Jetzt schalt endlich das Licht aus und lass uns schlafen, ja?“, bat Victor müde. „Wir haben morgen 360 Kilometer vor uns.“ „Ist gut. ... koroscho s'pat.“ [Schlaf gut.] Etwas verschlafen und wie ein Schluck Wasser hing Victor auf dem Beifahrersitz, mal wieder einen Ellenbogen in den Fensterrahmen und den Kopf in die Handfläche gestützt. Das war seine Lieblingshaltung, wenn er nicht gerade im Stadtverkehr beide Hände brauchte, weil er dauernd durch die Gänge schalten musste. Die Temperaturen waren weit in den Minusbereich gefallen und es wehte ein klirrend kalter Wind, deshalb hatte Urnue sich geweigert, die ganze Strecke bis nach Nuorgam auf dem Rücken eines Greifen zurück zu legen, wo er schutzlos der Witterung ausgesetzt war. Und Victor hatte bei diesem Klima auch nicht fliegen sollen. Urnue hatte darauf bestanden, sein Glück erstmal mit einem Mietwagen zu versuchen, zuversichtlich, daß die Straßen in den Norden noch nicht komplett zu waren. Immerhin gab es ja auch in Finnland sowas wie Winterdienst. Und bis jetzt hatten sie Glück, was das anbelangte. Urnue hatte das Auto angemietet, im Gegensatz zu Victor besaß er nämlich noch einen gültigen Personalausweis, und er fuhr das Auto auch selbst. Auch so eine neue Errungenschaft, die Victor vor Augen hielt, wie sehr Ruppert seinen Genius Intimus unterdrückt und abgewertet hatte. Den Führerschein hatte Urnue erst gemacht, nachdem sein Schützling Ruppert tot war und er sich Victor angeschlossen hatte. Ruppert, als er noch gelebt hatte, hätte ihm das niemals erlaubt. „Kannst du driften?“, wollte Urnue wissen. Victor wandte seinen verträumten Blick von der weißen Schneelandschaft und den Nordlichtern am Himmel ab und schaute müde zu ihm herüber. Im Winter wurde es hier ja nie hell. Langsam begann Victor das anstrengend zu finden. Er wurde dadurch nämlich auch nicht mehr richtig wach. „Nein, das brauche ich für mein Ego nicht. Und nebenbei bemerkt sind mir auch meine Reifen dafür zu schade.“ „Ich hab mal einen gesehen, der hat sein Auto die Auffahrt im Parkhaus seitwärts rauf bugsiert. Die durchdrehenden Reifen haben zwar ne Menge Qualm gemacht, aber das würde ich auch gern mal versuchen.“ „Wenn du dieses Auto hier zu Schrott fährst, wird jemand böse“, gab Victor mit einem Schmunzeln zu bedenken. „Und dann müssen wir nach Nuorgam doch fliegen.“ „Ich glaube auf Glatteis ist es einfacher.“ „Auf Glatteis ist es noch viel gefährlicher. Driften ist für sich genommen schon krass genug. Wenn du die Nerven verlierst und zu zeitig vom Gas runter gehst, kriegen die Reifen wieder Grip und du schießt los wie eine Rakete. Aber auf Glatteis neigt das Auto außerdem noch dazu, sich zu drehen wie ein Kreisel. Da hast du nicht mal mehr Kontrolle darüber, in welche Richtung du abgehst.“ „Morgen ist Weihnachten.“ Victor blinzelte verwirrt. „Und? Glaubst du, deswegen schmiert dir das Auto auf Glatteis nicht trotzdem ab?“ „Hä?“, machte Urnue, seinerseits durcheinander gebracht. „Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?“ „Gar nichts! Das war ein Themen-Wechsel“, stellte Urnue klar. Victor ließ resignierend den Kopf seitlich gegen die Fensterscheibe fallen. Manchmal machte der Kerl ihn echt fertig. Solche nicht nachvollziehbaren Gedankensprünge brachte der häufiger. Lag wohl an seiner Wiesel-Natur. All seine Bewegungen wirkten grundsätzlich ungewöhnlich schnell und ruckhaft, wenn auch sehr präzise. Manchmal hatte Victor den Eindruck, daß Urnues Verstand genauso sprunghaft arbeitete. „Ich wollte bloß wissen, ob sich´s nicht einrichten lässt, daß wir uns morgen einen schönen Tag machen, auch wenn wir in Finnland festsitzen“, erklärte Urnue weiter. Weiter ausführen musste er das nicht. Er und Victor arbeiteten seit über 2 Jahren gemeinsam. Langsam kannte Victor Urnues Weihnachts-Traditionen und respektierte sie auch. Wobei die Behauptung 'schöner Tag' da durchaus Interpretationsspielraum offen ließ. Victor konnte sich an Weihnachten Schöneres vorstellen. „Ich bin direkt geneigt, mich deiner Aktion dieses Jahr anzuschließen“, meinte er aber dennoch. „Also, ja, sollte sich machen lassen.“ Urnue lächelte begeistert auf. „Danke.“ „Dann sollten wir aber zusehen, daß wir heute nochmal irgendwo einkaufen.“ „Ich hoffe, das wird in Nuorgam was. Das Nest hat ja bloß was um die 250 Einwohner.“ „Ja, und 70 Gästebetten im Feriendorf“, gestand Victor etwas kleinlaut. „Bitte was!?“ Urnue starrte ihn überrascht an. Aber eine nette Überraschung war das nicht, das sah man seinem Gesichtsausdruck an. „Sei mir nicht böse. Ich hab´s selber erst heute früh im Hotel erfahren, daß es da ein Feriendorf gibt. Und ich hätte so oder so vorher nach Kittilä gemusst, um dieses Kama-Itachi zu jagen. ... Guck bitte auf die Straße, wenn du fährst.“ Mürrisch wandte Urnue den Blick wieder nach vorn. „Das ist der Arsch der Welt, wieso gibt es da draußen Feriendörfer? Wer soll da Ferien machen wollen?“ „Der Kerl an der Hotelrezeption sagte, Touristen kommen gern da hin, um Lachs zu angeln. Und es ist ein Grenzübergang nach Norwegen. Aber hey, sie haben eine Kapelle, das ist doch was.“ „Super. Dann ist Weihnachten ja gesichert“, schoss Urnue zurück, immer noch etwas grummelig, obwohl er inzwischen gar nicht mehr wusste, warum eigentlich. Den Umweg über Kittilä hätte er so oder so nicht vermeiden können. Er wusste, daß Victor sich nicht davon hätte abhalten lassen, Aiko Brown zu jagen. Kapitel 7: vergiss-mein-nicht ----------------------------- „Na schön“, meinte Urnue und ließ den Blick schweifen. Dieses Dorf hier sah aus wie ein amerikanisches, verlassenes Westerndorf, nur begraben unter viel Schnee. Ein paar Autos standen herum, zu sehen war niemand. Es gab allem Anschein nach zwei Lebensmittelgeschäfte, eine Wachstation des Grenzschutzes, eine Grundschule, einen Alkohol-Laden und eine Tankstelle mit Reparaturwerkstatt. Das war also Nuorgam. Willkommen in der Eiswüste. Im Prinzip wie Sibirien, nur mit Nordlichtern. Urnue zog sich fröstelnd die dicke Jacke enger zu. „Hast du schon eine Idee, wie du dein ominöses Orakel finden willst, so ganz ohne Adresse? „Fragen!“, schlug Victor vor. „So groß ist das Dorf ja nicht.“ Er überquerte die Straße und hielt auf die Tankstelle zu, die offensichtlich auch als Cafe, Post und provisorische Apotheke diente. Wenn irgendjemand alle Leute im Dorf kannte, dann war es der Betreiber von diesem Schuppen. „Hoffen wir, daß da drin jemand Englisch spricht“, seufzte Urnue, schloss seinen Mietwagen ab und folgte ihm. Drinnen saß ein dicker, gemütlicher Herr mit Schnurrbart hinter seinem Tresen und las die Tageszeitung, da er offensichtlich nichts zu tun hatte. Als die Tür aufging, schaute er aber fröhlich hoch und legte sein Klatschblatt weg. „tervetuloa“, grüßte er. Auf Finnisch natürlich, da er es unmöglich besser wissen konnte. „Hallo. Sprechen Sie Russisch?“, versuchte Victor sein Glück. Der Tankstellenbesitzer glotzte nur fragend zurück. Also nein. „Do you speak English?“ Der Dicke verengte die Augen, als müsse er erst nachdenken. Aber dann fiel ihm doch ein, daß er das verstand. „Ah ... äh ... little bit!“, meinte er und machte das Handzeichen mit ein bisschen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger. Victor lächelte erleichtert. „You English?“, wollte der Mann wissen, in dem kläglichen Versuch, seine Englisch-Künste unter Beweis zu stellen. Victor schüttelte den Kopf. „Russian.“ „Ah. ... You why here?“ Urnue wandte sich ab und ging sich nach einer Toilette umsehen, hauptsächlich um sein Schmunzeln zu verbergen, auch wenn er wirklich mal austreten musste. Der Kerl war echt goldig. Er hatte immer gedacht, Victors Englisch wäre mal schlecht gewesen. Aber dieser Tankstellenbesitzer toppte echt alles. „We are searching for Niilo Mäkinen. Do you know him?“, kämpfte sich Victor weiter durch seinen mühsamen Dialog. Der Dicke zog nur ein fragendes Gesicht. „Niilo Mäkinen?“, versuchte Victor es nochmal. Ob er es vielleicht falsch ausgesprochen hatte und deshalb nicht verstanden wurde? Er überlegte noch ein bisschen weiter. Als Victor es schon aufgeben und sich dankend verabschieden wollte, hatte er aber doch noch einen Geistesblitz. „Niilo, yes!“, fiel ihm ein. Sehr euphorisch. „You ... East, seven meter, ... and left“, stammelte er zusammen und zeigte aus dem Fenster in die bezeichnete Richtung und beschrieb dann mit der Hand einen Bogen. Victor musste sich nun ebenfalls das Lachen verkneifen. Aber immerhin, er wusste jetzt, was er wissen musste. Er ging mal davon aus, daß der Mann nicht wirklich '7 Meter' gemeint hatte, sondern Kilometer, denn sonst wären sie mitten in seinem Schaufenster gelandet. Victor bedankte sich freundlich und bedeutete dann seinem Begleiter, der gerade wieder auftauchte, daß sie wieder verschwinden würden. „Und? Was sagt er?“ „7 Kilometer nach Osten, dann links abbiegen.“ „Das ist aber weit. Ist das Dorf überhaupt so groß?“ „Dieser Niilo Mäkinen ist Wildhüter. Der wird wohl etwas außerhalb leben. Wir sollten tanken, bevor wir weiterfahren.“ Urnue nickte verstehend. „Fährst du? Ich hab keine Lust mehr“, erklärte er. Immerhin hatte er schon den ganzen Weg von Kittilä hier rauf am Steuer gesessen. 6 Stunden mit Pausen. Victor hielt ihm einverstanden die Hand hin, um sich den Zündschlüssel geben zu lassen. Der Russe schaute skeptisch auf das Kilometerzählwerk unter dem Tacho. Eben gerade hatten sie die 10 Kilometer voll gemacht. Er bekam langsam Bedenken, ob er die Abfahrt vielleicht verpasst hatte. Aber da war wirklich absolut nichts gewesen. Nur eine halb verschneite Straße quer durch die Landschaft. Keine Gehöfte in der Ferne, geschweige denn Wege dort hin. Vielleicht hatte der Typ in der Tankstelle aber auch 7 Meilen gemeint. Das wären in der Tat sowas um die 11 Kilometer, wenn Victor den Umrechnungsfaktor gerade richtig im Kopf hatte. Urnue deutete in die Ferne. „Schau mal, Rentiere.“ „Ja, eingezäunt. Die gehören jemandem.“ „Da steht auch ne Hütte.“ „Dann sind wir hier wohl richtig. Der Mann soll ja Wildhüter sein. Mal sehen, ob wir hier irgendwo eine Zufahrt finden“, gab Victor zurück und hielt nach irgendwelchen Anzeichen Ausschau. Als ihm Schlittenspuren auffielen, die von der Straße abzweigten, folgte er einfach denen. Den dazugehörigen Schlitten fanden sie schnell. Der stand nämlich vor dem Haus, war sehr weihnachtlich geschmückt und es waren 9 Rentiere davorgespannt, die gemütlich herumstanden und Heu kauten. Der Besitzer des Schlittens lud gerade säckeweise irgendwelches Zeug auf das große Gefährt. Als Victor sein Auto neben dem Schlitten parkte, lächelte er nur grüßend und machte ungestört weiter. Victor und Urnue stiegen aus dem Auto aus. „Hallo, ihr beiden“, grüßte der Rentier-Hüter gut gelaunt. Victor zog ein sehr dummes Gesicht. In Gedanken ging er reflexartig ein paar Angriffszauber und Schutzschilde durch, um gewappnet zu sein, falls der Kerl ihn – woher auch immer – kannte und ihm nicht wohlgesonnen war. „Sie sprechen Russisch?“ „Bitte, du kannst 'du' zu mir sagen“, meinte er lächelnd und völlig akzentfrei. „Du sprichst Russisch?“, fragte der Gestaltwandler also nochmal. „Ich spreche alle Sprachen. Das ist meine Natur.“ „Was bist du? Gott?“ „Nein“, schmunzelte der blonde Mann. Da er lange Haare und einen Rauschebart hatte, war er altersmäßig unmöglich zu schätzen. „Nur ein kleiner Joulukalanteri.“ Er krallte den nächsten Sack und wuchtete ihn in seinen Schlitten hinein. „Wie ist dein Name?“ „Victor Akomowarov.“ „Hm. Kenn ich nicht. Also warst du wohl kein artiger Junge.“ Nun war es Victor, der grinste. „Nein, wahrlich nicht.“ „Und du?“, wollte der Mann von Urnue wissen. Urnue nannte ihm etwas befremdet, aber ehrlich seinen Namen. In erster Linie nur, weil Victor seinen auch verraten hatte. „Kenn ich auch nicht. Du warst auch kein artiger Junge.“ „Was tun sie hier?“, wollte Urnue daraufhin restlos verwirrt wissen. „Na, Geschenke verladen. Morgen ist doch Weihnachten, nicht? Besser, man fängt früh mit den Vorbereitungen an.“ „Für wen sind die?“, klinkte sich Victor selbst wieder ins Gespräch ein. „Für die Kinder auf dieser Welt“, grinste der Mann schelmisch, so daß man kaum sagen konnte, ob er scherzte oder das ernst meinte. Victor schüttelte unwillig den Kopf und beschloss das Thema abzuhaken. Er hatte keine Lust mehr, dieses Vorgehen hier verstehen zu wollen. Der Kerl sprach nur in kryptischen Rätseln. Gut, sollte er. „Wir suchen Niilo Mäkinen“, wechselte Victor das Thema. „Aber mit dem sprecht ihr doch gerade.“ Urnue, der weiter über dem Rentier-Schlitten voller Geschenke für Kinder brütete, schlief das Gesicht ein, als er endlich verstand. Wer sprach denn alle Sprachen der Welt? „Mein Gott! Du bist der Weihnachtsmann!? Also ... der echte!?“ Niilo Mäkinen lachte auf. „Das ist zuviel der Ehre. Ich bin nicht DER Weihnachtsmann. Es gibt übrigens sehr viele Weihnachtsmänner. Einer alleine würde das ja gar nicht alles schaffen. Nein, ich bin nur ein Joulukalanteri. Eine 'Weihnachtselfe', würdet ihr es bei euch nennen. Wir helfen den Weihnachtsmännern, das alles zu bewältigen.“ „Ihr liefert wirklich Geschenke aus?“, wollte Urnue fassungslos wissen. „Nur an die Kinder, die sich etwas von uns wünschen, aber der Glauben an die Weihnachtsmänner stirbt mehr und mehr aus. Uns schreiben jedes Jahr weniger Kinder einen Wunschzettel. Den Rest des Jahres bin ich übrigens Rentier-Hüter und biete für Touristen Schlittenfahrten an, weil ich ja auch außerhalb der Weihnachtssaison von irgendwas leben muss. Wenn ihr übermorgen nochmal wiederkommt, lade ich euch auf eine Schlittenfahrt ein.“ Urnue und Victor glotzten ihn nur sprachlos an wie einen Geist und wussten beim besten Willen nichts mehr zu sagen. Das war jetzt echt zuviel. Eine leibhaftige Weihnachtselfe! Echte Weihnachtsmänner! Sie hatten ja gewusst, daß Finnland das Land der Weihnachtsmänner war. Der finnische Weihnachtsmann war eine Berühmtheit. Theoretisch. Keiner von ihnen beiden hatte ernsthaft an diese Legende geglaubt. Niilo lachte, als er diese überrumpelten Gesichter sah. „Ich weiß, warum du da bist, Victor Akomowarov“, ergriff er selber wieder das Wort. „Wegen eines toten Mhorag auf den Orkney-Inseln, umgebracht von einer Banshee und ihrem blutrünstigen, kriminellen Schützling. Und wegen der Polizei, die den beiden auf den Fersen war.“ Victor zwang sich zu einem langsamen Nicken. „Du weißt etwas darüber?“ „Ja. Sehr bedauerliche Sache. Wir haben einen Brief von einem siebenjährigen Mhorag-Mädchen bekommen. Sie vermisst ihren Vater schon seit Jahren. Und sie hat sich zu Weihnachten flehentlich gewünscht, ihn zurück zu bekommen. Egal wie. Und mit 'egal wie' war 'tot oder lebendig' gemeint. Sie wollte Gewissheit.“ „Ihr Vater war das Opfer von den Orkney-Inseln“, vermutete Victor trocken. „Ja. Die Weihnachtsmänner sind leider an die Wünsche gebunden, die man ihnen vorträgt, sofern es irgendwie in ihrer Macht steht. Manchmal wünschte ich, sie wären es nicht. Es kommt nicht immer was Gutes dabei raus. Aber der Polizei einen Hinweis zu geben, was passiert ist, steht durchaus in der Macht eines Weihnachtsmannes, also hat er´s getan. Das Mädchen wird ihren Vater zurück bekommen. Oder wenigstens Gewissheit über sein Schicksal. Armes Ding, die Kleine. Sie hat ihren Vater geliebt und nie vergessen.“ „Und der Weihnachtsmann ... die Weihnachtsmänner wissen was passiert ist?“ „Das liegt in ihrer Natur. Und in unserer. Weihnachtsmänner und Weihnachtselfen wissen von jedem, ob er artig oder unartig war. Nur die artigen Kinder bekommen Geschenke. Aber natürlich können wir auch von Erwachsenen sagen, ob die anständig oder kriminell waren. Nur kriegen die keine Geschenke oder Rutenschläge mehr.“ „Meine Güte“, seufzte Urnue unwohl. „Auf der Welt gibt es so viel Böses. So viele schlimme Gräueltaten. Wie hält man all dieses Wissen aus, ohne wahnsinnig zu werden? Da schnappt man doch über.“ „Naja, wir haben dieses Wissen natürlich nicht permanent im Kopf. Wir sehen nicht alles, was auf der Welt vor sich geht“, lenkte Niilo ein. „Nur wenn wir einen Namen erfahren, dann können wir rauskriegen, was es mit demjenigen auf sich hat. Es ist also sowas ähnliches wie Hellseherei, unterliegt nur anderen Gesetzmäßigkeiten. Man kann es zum Beispiel nicht mit Bann-Magie abhalten. Aber: kein Name, keine Hellsicht. Wer dem Weihnachtsmann keinen Brief mit seinem Namen drin schreibt, über den macht sich der Weihnachtsmann auch nicht schlau.“ Victor fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. „Na schön. Unsere Namen kennt ihr jetzt also auch.“ „Ja, ihr zwei seid ...“ Niilo überlegte kurz, wie er es ausdrücken sollte. „Sonderfälle. Ihr wollt viel Gutes, aber mit Methoden, die nicht schön anzusehen sind. Wünscht euch bloß nie was. Wir würden wirklich nicht wissen, was wir mit euch machen sollten. Ihr hättet beides verdient, Geschenke und den Arsch voll Rutenschläge, und zwar beides nicht zu knapp.“ Victor kicherte belustigt auf. Er hätte nicht erwartet, daß er Geschenke verdient hätte, nach allem, was er getan hatte. „Bitte beachtet uns einfach gar nicht und seht davon ab, uns direkt der Polizei zu übergeben, das ist schon Geschenk genug für uns“, meinte er. Jetzt konnte er den Fall endlich guten Gewissens abschließen. Er wusste, wer Cord und Third Eye an die Staatlichen verraten hatte, und warum. Er wusste, daß derjenige keine generelle Gefahr für ihn und seine Arbeit war. Er musste keine Angst haben, jeden Moment weggesperrt zu werden, weil er genauso an die Bullen verpfiffen wurde wie Cord und seine Banshee. Und er wusste, daß die Toten ihre Ruhe hatten. Alles war gut. Am nächsten Tag spazierten Urnue und Victor in die Kapelle von Nuorgam hinein. Das kleine Gebäude war zwar mit Kerzen festlich erleuchtet, aber es war keiner hier drin. Sie hatten die ganze Kapelle für sich alleine. Dieses verschlafene, unter Schnee begrabene Dörfchen wachte wohl auch am Weihnachtsabend nicht auf. „Wouw. Schön ist es hier drin“, meinte Victor andächtig. „Ja. Aber es ist irgendwie trotzdem nicht das gleiche“, gab Urnue etwas traurig zurück. Normalerweise ging er am Heiligabend traditionell auf den Friedhof und besuchte Rupperts Grab, um ihm schöne Weihnachten zu wünschen. Nur dieses Jahr klappte es halt nicht, weil sie in Finnland festsaßen. Bisher hatte sich Victor da eigentlich auch immer fein rausgehalten. Er war noch nie mitgekommen, wenn Urnue seiner 'Weihnachts-Tradition' nachging. „Wir hätten ja gestern noch zurück gekonnt“, gab Victor zu bedenken. „Nein. Ich will morgen mit dem echten Weihnachtsmann-Schlitten fahren, wie Niilo es uns versprochen hat. Diese Chance bekommen wir nie wieder. So eine Chance hatte überhaupt noch nie irgendjemand“, hielt Urnue dagegen. Natürlich fuhren das ganze Jahr viele Touristen mit diesem Schlitten. Aber normalerweise sagte Niilo Mäkinen ihnen nicht, daß das der Schlitten vom Weihnachtsmann war, und flog mit den Touristen auch nicht über den Himmel. Mit denen blieb er am Boden. Dieses Jahr war eben alles anders. Darum war es dieses Jahr eben eine Kapelle und Victor kam mit. Victor trug einen Strauß Schnittblumen, den er vor den Andachts-Kerzen auf dem Boden niederlegte, und zündete dann selbst eine Kerze an. Urnue stellte seinen Teller Kekse, den er mitgebracht hatte, daneben wie eine Opfergabe. Auch er entzündete eine Kerze. „Ruppert, wie geht es dir?“, wollte er dabei mit Blick in die flackernden Kerzen wissen. Er sprach in normaler Plauderlautstärke, als würde er sich tatsächlich mit jemandem unterhalten. „Heute sind wir mal in Finnland, weißt du? Darum kann ich dich nicht an deinem Grab besuchen kommen. Aber wir denken trotzdem an dich. Ich hoffe, dir geht es gut, wo auch immer du jetzt inzwischen bist. Ich wünsch dir schöne Weihnachten. ... und ich denke, Victor tut das auch. Wir vermissen dich.“ Er warf Victor einen Blick zu und nickte auffordernd. Der Gestaltwandler atmete kurz durch, um das komische Gefühl abzuschütteln. Es war irgendwie sonderbar, Selbstgespräche zu führen und so zu tun als wären die Toten anwesend und würden einem zuhören. „Anatolij ... ähm ... ich hoffe, dir geht´s auch gut“, begann er etwas zögerlich, spürte aber, wie er mit jedem Wort sicherer wurde. Jetzt, wo der seltsame Moment einmal überwunden war, konnte er offener sprechen. „Ich weiß, wir sind damals auf eine merkwürdige Weise auseinander gegangen. Ich habe inzwischen einen Haufen Sachen angestellt, die du nicht toll finden würdest. Aber ich bin sicher, daß du es aus heutiger Sicht verstehen kannst. Es tut mir leid, was dir damals passiert ist. Und es tut mir leid, daß ich dir das nie sagen konnte. Ich hoffe, du verzeihst mir. Wo auch immer du jetzt bist, Anatolij ... ich vergesse dich nicht.“ ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)