Katherine von Sky- (Die Geschichte einer Mörderin) ================================================================================ Kapitel 4: Molly ---------------- Zwei Jahre gingen ins Land und Katherines Leben blieb schwer. Obwohl sie an ihrem Entschluss festklammerte, niemals wieder jemandem wehzutun um nicht so zu werden wie ihr Vater, wurde ihr diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Zwar ignorierte sie die Hänseleien der Kinsley-Cousins und verhielt sich ruhig, doch es hatte nicht lange gedauert, bis die anderen Kinder ebenfalls damit begonnen hatten, sie als verrückt zu bezeichnen und sich über sie lustig zu machen. Zuerst hielten sie sich noch sehr zurück und gingen ihr aus dem Weg weil sie Angst hatten, ebenfalls von ihr verprügelt zu werden. Als sie dann aber merkten, dass Katherine gar nichts tat und die ganzen Schikanen wortlos über sich ergehen ließ, wurden sie mutiger und begannen sie ebenfalls zu ärgern. Zuerst waren es nur die typischen Hänseleien, die Katherine schon von den Kinsleys gewohnt war, aber es wurde leider schlimmer. Denn sie kam des Öfteren auch mit blauen Flecken im Gesicht oder an anderen sichtbaren Stellen zur Schule und so begannen sie sie auszulachen, dass sie sich verprügeln ließ. Und als sie erfuhren, dass sie von ihrem Vater regelmäßig geschlagen wurde, machten sie sich natürlich darüber lustig, dass ihr Vater sie schlug. Katherines Durchhaltevermögen wurde auf eine sehr harte Probe gestellt. Und ihre Lehrer waren nicht weniger nachsichtig mit ihr. Zwar bemühte sie sich, vernünftig am Unterricht teilzunehmen, aber wann immer sie sich zumindest verbal wehrte, wenn man sie an den Haaren zog oder ihr Insekten in den Schulranzen schüttete, war sie es, die zum Rektor geschickt wurde und dann mit Nachsitzen bestraft wurde. Da sie eine Cohan war, hatte sie schnell den Ruf als Unruhestifterin aus einer verdorbenen Familie weg. Wer sie nicht schikanierte, der hielt sich von ihr fern und hatte Angst vor ihr weil die Gerüchte umgingen, dass sie verrückt sei. Es kostete sie eine große Willensstärke, nicht wieder in ihr altes Verhaltensmuster zurückzufallen. Und wenn sie dann zum Nachsitzen verdonnert wurde, blühte ihr zuhause die Strafe ihres Vaters. Oft verbrachte sie ihre freie Zeit damit, sich von den Verletzungen zu erholen, die sie sich von den Erniedrigungen und Übergriffen ihres Vaters zugezogen hatte. Und wenn sie nicht von Schmerzen gepeinigt im Bett lag, verbrachte sie Zeit mit ihrer kleinen Schwester Tabitha oder verkroch sich auf den Dachboden der Scheune, welcher zu ihrem geheimen Rückzugsort wurde. Meist kauerte sie einfach in der Ecke und weinte. Sie wagte es nicht, sich die Blöße zu geben, vor anderen zu weinen. Ihren Vater hätte es nur weiter provoziert, ihrer Mutter war es egal und in der Schule wäre sie dafür auch noch ausgelacht worden. Und sie wollte auch nicht, dass Tabitha unglücklich wurde. Also hatte sie es sich angewöhnt, niemals vor anderen Leute Schwäche zu zeigen. Also verkniff sie sich ihre Tränen, ganz egal was auch passierte. Und in Momenten, wo sie alleine war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf und weinte so lange, bis ihre Tränen versiegt waren. So gingen die Wochen und Monate ins Land bis Katherine schließlich zehn Jahre alt wurde. Sie wuchs sehr schnell und überragte die Größe ihrer Klassenkameraden bei weitem, was sie zusätzlich zu ihren gelben Augen umso furchteinflößender aussehen ließ. Ihr dunkelbraunes Haar ließ sie lang wachsen und trug es meistens offen oder als Zopf. Sie war trotz allem ein hübsches Mädchen, doch ihre ungewöhnlich breiten Schultern ließen darauf schließen, dass sie eines Tages zu einer kräftigen Frau heranwachsen würde. Aber sie fühlte sich nicht sonderlich wohl mit der Tatsache, dass sie als Mädchen Kleider tragen musste. Obwohl sie in Kleidern hübsch aussah und sie für gewöhnlich auch gerne welche trug, litt sie sehr oft unter den Schikanen ihres Bruders Nigel. Obwohl dieser erst neun Jahre alt war, war er ständig aggressiv, schlug sich bei jeder Gelegenheit und ließ sich auch nicht von den Drohgebärden des Rektors einschüchtern. Vor allem aber begann er damit, auch seine ältere Schwester immer häufiger zu belästigen. Er zog ihr Kleid oder ihren Rock hoch, um ihre Unterwäsche zu entblößen oder machte sich sogar einen Spaß daraus, ihr sogar diese herunterzuziehen um sie zu erniedrigen. Und er tat es so oft, bis Katherine damit begann, sich Hosen anzuziehen, doch das ließ ihr Vater nicht zu und auch als sie den Versuch wagte, in der Schule Hosen zu tragen, bekam sie ein paar strafende Schläge mit dem Rohrstock. Also trug sie gezwungenermaßen Röcke und Kleider und versuchte ihrem Bruder aus dem Weg zu gehen, was ihr aber nicht immer gelang. Und sie fühlte sich jedes Mal extrem unwohl dabei, wenn Nigel sie entblößte und versuchte, ihr die Unterhose herunterzuziehen. Sie wurde dabei immer wieder unfreiwillig an diese schreckliche Szene im Schlafzimmer erinnert, die sie mit angesehen und die sie nachhaltig verstört hatte. Jedes Mal, wenn ihr Bruder ihr auf diese Weise nah kam, überkam sie die instinktive Furcht, dass ihr das Gleiche passieren würde wie ihrer Mutter. Doch sie wusste nicht, wie sie sich dagegen zur Wehr setzen konnte, ohne gleich zuzuschlagen wie ihr Vater das für gewöhnlich tat. Und sie wollte auch niemanden verletzen. Der einzige Trost in ihrem Leben war die Schülerin Molly Brightside, welche in die Parallelklasse ging und die Katherine auf dem Pausenhof kennen gelernt hatte. Da Katherine niemanden hatte, mit dem sie die Pause verbringen konnte, hatte sie immer alleine abseits am Zaun des Schulgartens gesessen und die anderen beim Spielen beobachtet. Irgendwann war Molly zufällig am Schulgarten vorbeigekommen, weil sie einem Eichhörnchen gefolgt war und hatte dann Katherine getroffen. Molly war ein sehr dünnes Mädchen mit kurz geschnittenen blonden Haaren, Sommersprossen und türkisfarbenen Augen. Obwohl sie ein Kleid trug, hatte ihr Gesicht etwas Jungenhaftes und hätte sie Hosen getragen, hätte man sie problemlos für einen Jungen halten können. Katherine wusste nicht warum, aber irgendwie faszinierte sie das an Molly. Und Molly selbst hatte eine gewisse Sympathie für Katherine entwickelt. Da sie nicht aus Annatown selbst, sondern aus dem Vorort Islesbury kam, verstand sie nicht wirklich die Hänseleien gegen Katherine und wusste auch nichts über den schlechten Ruf der Cohans. Also war sie einfach zu ihr gegangen und hatte sie gefragt, warum sie denn ganz alleine da saß. Katherine, die sehr misstrauisch war, hatte ihr nur geantwortet, dass die anderen nicht mit ihr spielen wollten und hatte eigentlich damit gerechnet, dass Molly wieder gehen würde. Doch überraschenderweise blieb Molly und seitdem trafen sie sich immer in den Pausen und saßen dann zusammen. Oft teilte Molly sogar ihr Pausenbrot mit ihr und zeigte nicht die geringsten Feindseligkeiten. Es war Katherine ein Rätsel, wieso Molly sich ausgerechnet zu ihr gesetzt hatte aber sie akzeptierte es als eine nette Geste und nach ein paar Wochen hatte sie sich daran gewöhnt, dass sie nicht mehr alleine abseits saß. An einem besonders heißen Sommertag hatten sie sich in den Schatten eines Baumes gesetzt und beobachteten wie immer die anderen Kinder. Inzwischen war es die dritte Woche, dass sie und Molly zusammen die Pausen verbrachten. Und bisher hatten sie noch nicht viel miteinander geredet. An diesen besonders heißen Tag trug Molly ein kurzärmeliges hellblaues Sommerkleid, welches farblich perfekt zu ihren türkisfarbenen Augen passte. Katherine hingegen trug wie immer einen langen Rock mit Trägern und dazu ein langärmeliges weißes Oberteil. Zwar war es sehr warm, aber sie hatte leider nicht viele Kleidungsstücke und so sah man wenigstens nicht die vielen blauen Flecke und Abschürfungen an ihren Armen. „Möchtest du Kirschen?“ fragte Molly und öffnete ihre Tasche, die sie mit in die Pause genommen hatte. Sie holte eine kleine braune Papiertüte mit frischen Kirschen heraus und reichte sie Katherine. „Meine Mum hat mir welche eingepackt aber ich kann sie nicht alleine aufessen.“ „Danke“, murmelte Katherine und nahm sich gleich eine Hand voll. Gleich als sie die erste aß, musste sie feststellen, dass sie wirklich lecker war. Auf jeden Fall waren sie wesentlich saftiger und süßer als jene, die ihre Mutter manchmal einkaufte. Nachdem sie den Kirschkern ausgespuckt hatte, wandte sie sich an ihre Sitznachbarin und fragte „Warum kommst du eigentlich immer hierher und spielst nicht mit den anderen? Du hast doch sicher mehr Spaß, wenn du mit den anderen spielst.“ „Ja aber dann bist du doch alleine“, wandte Molly ein und nahm sich nun selber eine Kirsche. „Und ich finde es gemein, dass sie dich nicht mitspielen lassen. Da möchte ich auch nicht mit denen spielen. Außerdem fragen die mich immer, ob ich ein Junge oder ein Mädchen bin. Und das nervt.“ Verstehen konnte Katherine diese Frage schon. Immerhin sah Molly nicht so aus wie die anderen Mädchen. Irgendetwas war da an ihr, das sie mehr wie einen Jungen aussehen ließ und sie selbst konnte das nicht genau zuordnen. Vor allem interessierte es sie, ob Molly wohl die Einzige war, die so komisch aussah. „Was ist denn mit deiner Familie? Sehen die auch so aus?“ Zu ihrer Überraschung nickte sie und erklärte „Meine Mum zieht manchmal Hosen an und hat auch sehr kurzes Haar. Und manchmal denken die Leute, meine Mum ist mein Dad.“ „Klingt komisch“, gab Katherine zu und konnte sich das nicht wirklich vorstellen, wie das funktionieren sollte. Doch sie fragte nicht nach, weil sie Molly nicht mit ihrer Neugier nerven wollte. Vor allem nicht, da Molly sowieso gesagt hatte, dass sie solche Fragen nicht mochte. Also versuchte sie ein anderes Thema zu finden, doch sie erkannte schnell, dass sie große Schwierigkeiten hatte, solch ein normales Gespräch mit Molly zu führen. Nicht weil ihr der Wortschatz dafür fehlte, sondern weil sie es einfach nicht gewohnt war, normal mit anderen Menschen zu reden. Es gab ja leider nicht viele Gelegenheiten, sich mit anderen zu unterhalten. Schließlich aber glaubte sie, ein gutes Gesprächsthema gefunden zu haben. „Was machst du eigentlich sonst so?“ „Ich spiele ganz gerne“, antwortete Molly strahlend. „Und ich mag Märchengeschichten. Meine Mum liest mir abends immer welche vor.“ „Sie liest dir Geschichten vor?“ fragte Katherine halb erstaunt und halb neidisch. Sie konnte sich kein einziges Mal daran erinnern, dass ihre Mutter so etwas jemals für sie getan hatte. Zwar legte sie ihr die Kleider für die Schule raus, machte das Essen und achtete auf Sauberkeit, aber das war auch schon alles, was Katherine an Zuwendung erfuhr. Ansonsten musste sie sich alleine beschäftigen. Wie sehr beneidete sie Molly dafür, dass sie von ihrer Mutter Essen zur Schule mitbekam und abends vor dem Zubettgehen Geschichten vorgelesen bekam. Molly, die nichts von Katherines Neid ahnte, nickte wie selbstverständlich und fragte sogleich „Macht deine Mum das nicht?“ Katherine schüttelte nur traurig den Kopf und aß die restlichen Kirschen, nachdem sie Kerne in einem hohen Bogen wegspuckte. „Meine Mum und mein Dad hassen mich. Sie wollten mich nie haben.“ Nun war es Molly, die erstaunt war und Katherine ratlos und sogar ungläubig ansah. Sie konnte es nicht verstehen. Wie denn auch? Immerhin kam Molly aus einer glücklichen Familie. Und obwohl Katherine die Vorstellung unglücklich machte, dass ihre Pausengefährtin nicht einmal eine Ahnung davon hatte, wie es ihr zuhause erging und wie lieblos ihre eigene Familie war, wollte sie mehr über Mollys Familie wissen. „Und spielt deine Mum auch mit dir zusammen?“ Molly nickte und erzählte ihr mit deutlich hörbarer Begeisterung, wie sie in den Ferien mit ihrer Familie zusammen verreiste und den Urlaub am Eriesee verbracht hatte. Auch ließ sie nicht aus, wie ihre Mutter ihr sogar Socken, Mützen und warme Pullover für den Winter strickte wenn es kalt wurde. Und immer, wenn sie Alpträume hatte, kam dann ihr Vater zu ihr um sie zu trösten und er hatte ihr und ihren Freunden aus der Nachbarschaft sogar ein Baumhaus gebaut. Hier wurde Katherine sehr nachdenklich. War das also eine normale Familie? Inzwischen befand sie sich in einem Alter, wo sie langsam zu verstehen begann, was Verrücktsein bedeutete. Und nun begann sie sich selbst langsam zu fragen, ob Molly einfach nur Glück mit ihrer Familie hatte, oder ob sie tatsächlich mit verrückten Eltern gestraft war. Und wenn sie sich vorstellte, wie schön es sein musste, einen Vater zu haben, der sogar ein Baumhaus für seine Kinder baute, da wünschte sie sich, sie könnte ein Teil von Mollys Familie sein und dieselbe Liebe erfahren. Schließlich kam ihr ein Gedanke: wenn sie eines Tages selber Mutter war, würde sie das Gleiche tun. Sie würde ihren Kindern jeden Abend Geschichten vorlesen, mit ihnen Ausflüge machen und sie immer in den Arm nehmen, wenn sie es wollten. Auf jeden Fall würde sie es wesentlich besser machen als ihre eigenen Eltern. Obwohl sie erst zehn Jahre alt war, wusste sie selbst, dass sie derlei Fürsorglichkeit und Liebe nicht von ihrer Familie erwarten konnte und machte sich deshalb auch keine falschen Hoffnungen. Stattdessen dachte sie lieber darüber nach, was für eine wunderbare Mutter sie später werden würde. Schließlich unterbrach Molly ihre Gedanken mit einer Frage: „Was machen deine Mum und dein Dad eigentlich mit dir?“ „Mum macht nichts“, sagte Katherine und spürte wieder, wie sich ihre Brust zusammenschnürte als sie wieder an ihr trostloses Zuhause denken musste. „Sie sitzt meistens nur da und schaut aus dem Fenster oder ist in der Küche.“ „Sie hilft nicht mal bei den Hausaufgaben?“ fragte Molly erstaunt und bekam ein Kopfschütteln zur Antwort. Zögerlich gestand Katherine „Sie ignoriert mich und meine Geschwister. Und Dad hasst mich, weil ich ein Mädchen bin. Eigentlich wollte er einen Jungen haben, aber weil ich ein Mädchen bin, ist er oft wütend. Und wenn er wütend ist, dann schlägt er mich.“ Doch Molly konnte und wollte das nicht wirklich glauben und so zog Katherine den Ärmel ihres Oberteils hoch und zeigte eine Vielzahl von blauen Flecken, die sich über ihren Unterarm verteilten und schon unterschiedliche Farben angenommen hatten. Nun schwieg ihre Pausengenossin und schien unsicher zu sein, wie sie darauf reagieren sollte. Sie hatte so etwas noch nicht erlebt und konnte es auch nicht verstehen. Dennoch sah man, dass sie großes Mitgefühl für Katherine empfand. Nach einer Weile des unsicheren Schweigens fragte Molly schließlich „Möchtest du nach der Schule zu mir kommen?“ Diese Frage überrumpelte Katherine endgültig und sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Noch nie hatte jemand sie so etwas gefragt und sie war vollkommen überfordert. Natürlich wollte sie gerne zu Molly nach Hause gehen wenn sie dann wenigstens eine Weile vor ihrem jähzornigen Vater sicher war. Aber wie sollte sie sich denn verhalten? Musste sie irgendetwas mitbringen oder beachten, wenn sie Mollys Eltern kennen lernte? All das war so völlig neu für sie, aber das sollte sie trotzdem nicht aufhalten. Und so sagte sie begeistert „Ja gerne!“ Molly lächelte zufrieden und war glücklich mit dieser Zustimmung. Nach der Schule wartete Katherine vor dem Schultor auf Molly und gemeinsam gingen sie zum Schulbus, der sie nach Islesbury fahren sollte. Die zehnjährige Cohan war nervös, denn es war das allererste Mal, dass sie aus ihrem gewohnten Umfeld herauskommen und etwas anderes sehen würde als die üblichen Straßen und Wege, die sie immer entlangging. Noch nie in ihrem Leben war sie zuvor in einem der Vororte von Annatown gewesen und war umso neugieriger, wie Islesbury wohl war. Ungeduldig sah sie aus dem Fenster und sah, wie die Häuser an ihr vorbeizogen. Schließlich erreichten sie die Stadtgrenze und der Bus fuhr auf die Hauptstraße, die quasi Islesbury und Backwater voneinander trennte. Zu ihrer Enttäuschung stellte Katherine fest, dass sie auf der falschen Seite des Busses saß und somit nur die Felder von Backwater sehen konnte und gar nichts von Islesbury sah. Frustriert seufzte sie und starrte eher lustlos auf die weite Landschaft, die aus Weiden und vereinzelten Bäumen bestand. Der Anblick war mehr als langweilig und sie hatte sich alles ein bisschen spektakulärer vorgestellt. Doch dann sah sie etwas, das ihr Blut in den Adern gefrieren ließ. Mitten auf dem Feld stand ein Mädchen, welches ungefähr in ihrem Alter war. Es hatte langes schwarzes Haar, schneeweiße Haut und Augen so rot wie Rubine und sie leuchteten, als würde ein Feuer darin lodern. Sie trug ein schwarzes Kleid mit weißen Punkten und starrte Katherine direkt an. Etwas Unheimliches umgab dieses Mädchen und es war, als wäre sie von einem gewaltigen dunklen Schatten umgeben. Als Katherine realisierte, dass das Mädchen sie anstarrte, überkam sie Angst und sie duckte sich instinktiv. Molly beobachtete sie mit deutlicher Verwirrung und fragte sie „Was machst du da?“ „Das Mädchen da…“, versuchte Katherine zu erklären, wagte aber nicht, wieder aus dem Fenster zu schauen. „Da war ein Mädchen auf dem Feld. Sie hatte schwarze Locken und rote Augen.“ Molly schaute aus dem Fenster, um selbst nachzusehen, doch sie sagte nur „Da ist kein Mädchen.“ „Aber sie war da!“ beharrte Katherine und traute sich nur sehr langsam, sich wieder aufzusetzen. „Und sie hat mich angesehen.“ „Vielleicht hast du Sally gesehen“, vermutete ihre neu gewonnene Freundin und zuckte mit den Schultern. „Derian und Lyndon sagen, dass der Geist eines toten Mädchens in Backwater lebt und sie schlimmes Unglück bringt, wenn man sie in Backwater sieht. Aber mein Dad sagt, das sind nur Gruselgeschichten. Und Geister gibt es nicht.“ Doch Katherine war sich sicher, dass sie dieses Mädchen gesehen hatte und dieser Blick war noch furchteinflößender gewesen als der ihres Vaters. Es war blanker Hass gewesen als wollte dieses Mädchen sie töten. Als sie wieder aus dem Fenster schaute, stellte sie mit Erleichterung fest, dass dieses rotäugige Mädchen nicht mehr da war. Dennoch lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken, denn sie war sich sicher, dass sie gerade wirklich da gewesen war und sie angesehen hatte. „Es gibt Geister?“ „Mein Dad sagt, es sind nur gruselige Geschichten, die nicht wahr sind“, versicherte Molly unbeeindruckt. „Er sagt, dass die Kinsleys diese ganzen Geschichten erzählen, um den Leuten Angst einzujagen.“ Doch Katherine blieb den Rest der Fahrt über sehr unruhig und konnte dieses unheimliche Mädchen nicht vergessen. Egal was Molly auch sagte, sie war sich sicher, dass sie sie wirklich gesehen hatte. Nach einer knapp zwanzigminütigen Fahrt in dem stickigen Bus hatten sie endlich Islesbury erreicht. Es war eine wunderschöne Stadt mit gepflasterten Straßen, malerischen Häusern und weiten Blumenfeldern. An den Feldwegen reihten sich Kirschbäume und Apfelbäume auf, es gab einen großen Wald und einen kristallklaren Fluss, über den Holzbrücken verliefen. Katherine war sprachlos, denn so eine schöne Stadt hatte sie noch nie gesehen. Egal wo sie hinsah, blühte es in den wunderschönsten Farben. Weinsträucher wuchsen an Gemäuern, der Flieder war in voller Blüte und zahlreiche Schmetterlinge hatten sich dort versammelt. Auf den Wiesen wuchsen Gänseblümchen, Maiglöckchen, Klee, Ringelblumen und Margeriten. Alles wirkte wie aus einem Bilderbuch und Katherine überkam der Wunsch, hier in einem schönen Haus mit einem großen Garten zu leben. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr raus und war so überwältigt von dem Anblick, dass sie gleich als Erste ausstieg, nachdem der Bus gehalten hatte. Molly ergriff ihre Hand und führte sie die Straßen entlang bis zu einem weiß gestrichenen Gebäude mit hohen spitzen Dächern, in dessen Vorgarten kunstvoll geschnittene Buchsbäume wuchsen. „Das hier ist unser Haus“, erklärte sie und stieg mit ihrer Begleiterin die Treppe hoch, woraufhin sie die Klingel an der Tür betätigte. „Mein Dad arbeitet im Blumenladen und meine Mum macht den Garten.“ Die Tür ging auf und eine gertenschlanke Frau erschien in der Tür, von der Katherine erst nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen konnte, ob es jetzt eine Frau oder vielleicht doch ein Mann war. Sie hatte sehr kurz geschnittenes Haar, trug ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine Jeanshose. Das Gesicht war schmal und wirkte nicht weiblich genug, um das Gesicht einer Frau zu sein. Dennoch fand Katherine, das sie wesentlich hübscher war als jenes ergraute Skelett, was ihre eigene Mutter war. Ihre türkisfarbenen Augen sahen die kleine Besucherin erstaunt an und dann wandte sie sich an ihre Tochter. „Molly, du hast Besuch mitgebracht?“ Die Angesprochene nickte und antwortete „Das ist Katherine. Sie geht in eine andere Klasse aber wir sind oft in den Pausen zusammen. Darf sie hier bleiben?“ Etwas zögerlich erklärte sich Mrs. Brightside einverstanden und trat zur Seite, um die beiden Kinder hereinzulassen. Sie half ihrer Tochter, die Schultasche vom Rücken zu nehmen, doch Katherine entging nicht, dass Mollys Mutter sie mit einem merkwürdigen Blick von der Seite ansah. Es lag ein sehr seltsamer Ausdruck in ihrem Blick und Katherine glaubte, es läge vielleicht daran, weil sie sich nicht vorgestellt hatte. Also korrigierte sie ihren Fehler und sagte eilig „Guten Tag, Mrs. Brightside. Ich bin Katherine Cohan. Freut mich, Sie kennen zu lernen.“ Aber der seltsame Ausdruck wich nicht aus Mrs. Brightsides Gesicht. Stattdessen sah sie, wie die Mutter kurz erstarrte, als hätte sie sich vor irgendetwas erschrocken. Für einen Augenblick glaubte Katherine sogar etwas wie Angst in ihrem Blick zu sehen. Aber die Zehnjährige verstand es nicht und kümmerte sich deshalb auch nicht weiter darum. Während Mollys Mutter wortlos im Flur stehen blieb und Katherine weiterhin mit diesem merkwürdigen Blick ansah, führte Molly selbst ihren Gast durch das schön dekorierte Haus hinaus in den Garten. Dort gab es ein großes Beet, in welchem Gemüse und auch allerhand verschiedene Blumen wuchsen. Staunend ging Katherine zum Beet und betrachtete all die wunderschönen Blumen die dort wuchsen. „Die sehen so schön aus!“ Doch Molly, für die all diese Dinge alltäglich waren, sah nichts Besonderes darin und teilte Katherines Begeisterung nicht wirklich. Aber sie freute sich trotzdem, dass es ihr so gut gefiel. Katherine selbst ging beim Anblick dieser schönen Blütenpracht gänzlich auf und wünschte sich, sie könnte hier wohnen oder sie hätte auch so einen bezaubernden Garten. Sie fühlte sich so glücklich wie noch nie zuvor in ihrem Leben und konnte immer noch kaum glauben, dass sie eine richtige Freundin gefunden hatte. Gemeinsam spielten sie eine Weile miteinander, bis die Hitze langsam zu viel für sie wurde. Also gingen sie ins Haus und bekamen beide ein Glas kalte Limonade von Mollys Mutter. Diese hatte immer noch einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, den Katherine nicht deuten konnte und als sie wieder nach dieser Abkühlung nach draußen gehen wollten, ging Mrs. Brightside dazwischen und hielt ihre Tochter an der Schulter fest. „Schatz, bleib mal kurz hier.“ Sofort blieb Katherine auch stehen um auf Molly zu warten, doch da wies die androgyne Frau sie an „Du kannst schon mal wieder in den Garten gehen, Katherine. Molly kommt gleich nach.“ Immer noch dachte sich Katherine nichts Besonderes dabei und ging wieder zurück in den Garten und setzte sich auf einen der Terrassenstühle. Sie wartete eine ganze Weile und betrachtete die Schmetterlinge, die zwischen den Blumen umherflogen. Es vergingen ein paar Minuten und sie begann sich zu fragen, ob sie bald wieder hierher zu Besuch kommen konnte. Immerhin war es hier wesentlich besser als bei ihr zuhause und sie glaubte auch nicht, dass sich Molly bei ihr zuhause wohl fühlen würde. Nein, sie fürchtete fast, dass ihr Vater und ihr Bruder Molly vergraulen würden und sie wollte ihre Freundin nicht verlieren. Also blieb nichts anderes übrig, dass sie nach der Schule entweder hierher kommen oder sich irgendwo anders zum Spielen verabreden würden. Endlich kam Molly nach draußen, doch sie lächelte nicht mehr und schien sehr bedrückt zu sein. Ihr Blick war vollkommen verschlossen und sie wirkte sogar ein wenig blass. Katherine registrierte es zunächst gar nicht und fragte sie sofort „Wollen wir noch ein wenig spielen?“ Doch Molly antwortete nicht darauf. Sie sah Katherine noch nicht einmal an und wirkte ein wenig nervös. „Nein danke. Ich fühle mich nicht gut. Mir ist schlecht.“ Katherine, die keinen Grund sah, ihr zu nicht zu glauben, war besorgt und nickte verständnisvoll. Natürlich war sie ein wenig enttäuscht, aber sie wollte Molly auch nicht weiter drängen. Vielleicht setzte ihr die Hitze ja ein wenig zu. Sie hatte ja schon von Kindern gehört, die einen Hitzeschlag erlitten und dann krank wurden. Und sofort überkam sie die Sorge, dass auch Molly vielleicht einen solchen erlitten haben könnte. „Okay. Dann gehe ich wohl besser nach Hause. Aber… ich weiß nicht genau, wie ich wieder nach Hause komme.“ Hieraufhin tauchte plötzlich Mrs. Brightside an der Terrassentür auf und schaute Katherine mit einem Blick an, der nun beinahe kalt und misstrauisch wirkte. „Ich fahre dich eben nach Hause, Katherine.“ „D-danke“, murmelte die Zehnjährige nun ein klein wenig eingeschüchtert und hatte das Gefühl, als wäre irgendetwas Merkwürdiges passiert und sie hätte irgendetwas verpasst. Sie verabschiedete sich von Molly und folgte Mrs. Brightside durch das Haus zurück zur Eingangstür hinaus auf die Straße. Dort wartete sie, bis die junge Mutter den Wagen aus der Garage gefahren hatte und stieg ein. Die ganze Fahrt über sagten sie beide nichts und immer noch lag etwas sehr Merkwürdiges in der Luft. Ein ungutes Gefühl überkam die Zehnjährige, konnte aber nicht erklären, was es denn war. Als sie am Abend wieder zuhause war, herrschte zum Glück Ruhe, denn ihr Vater war gar nicht zuhause, sondern in der Kneipe um sich zu betrinken. Sie bedankte sich bei Mrs. Brightside für die Heimfahrt, ging hinein ins Farmhaus und dann die Treppe rauf, begrüßte ihre nun fünfjährige Schwester Tabitha und erzählte ihr von ihrem schönen Nachmittag, bevor sie ins Bett ging. Am nächsten Morgen in der Schule wartete sie wie immer am Zaun des Schulgartens und hoffte darauf, dass es ihrer Freundin wieder besser ging. Doch zu ihrer Enttäuschung kam Molly nicht. Auch in den darauf folgenden Tagen verbrachte sie die Pausen wieder alleine und begann sich Sorgen zu machen. Also ging sie schließlich während einer Pause direkt als Erste aus dem Klassenzimmer und ging rüber zum Raum wo die Parallelklasse unterrichtet wurde. Sie wollte sehen, ob Molly wirklich fehlte und den Lehrer fragen, ob sie vielleicht krank war. Doch als die Tür des anderen Klassenzimmers aufging und die Kinder sich hinaus auf den Flur drängelten, konnte Katherine Molly erkennen, die mit gesenktem Kopf nach draußen ging. „Molly! Hey Molly!“ rief die groß gewachsene Cohan und winkte ihr zu. Und tatsächlich hob das androgyne Mädchen den Kopf und sah sie in ihre Richtung. Doch anstatt zu ihr zu gehen, wandte sie den Blick wortlos wieder ab und ging einfach weiter. In diesem Moment realisierte Katherine, dass Molly gar nicht krank gewesen war, sondern aus ganz anderen Gründen nicht mehr die Pausen mit ihr verbringen wollte. Irgendetwas war passiert, dass ihre sonst so treue Freundin ihr nun aus dem Weg ging und sie ignorierte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)