Sommer in Hasetsu von Flokati ================================================================================ Teil 4 - Juli 2016 ------------------ Seit dem Tanabata hat sich das Verhältnis von Viktor und mir verändert. Der Unterschied fällt nicht so sehr auf, wenn wir die Zeit mit anderen verbringen, aber sobald wir alleine sind, sind wir „ein bisschen zusammen“. Ich weiß aus meiner Zeit in Amerika, dass wir Japaner mit Körperkontakt vergleichsweise eher zögerlich und sparsam umgehen und ich glaube, ich erfülle auch jedes Klischee in diesem Sinne, aber Viktor bildet eine große Ausnahme. Ich hätte es niemals gedacht, aber so ist es. Dabei weiß ich noch gar nicht, was mich mehr überrascht: Dass es mich nicht im Geringsten stört, wenn er meine Hand berührt, seinen Kopf auf meine Schulter legt (ja, das Kissen im Wohnzimmer hat seinen Job verloren) oder dass Viktor wirklich bei mir sein will. Gerade jetzt liegt er halb über meinem Rücken, weil er sehen will, was ich lese und mein Bett für zwei Leute nebeneinander dann doch eine Spur zu schmal ist. Wenn ich nicht bereits wüsste, dass es viel mehr um die Nähe als ums Mitschauen geht, würde ich ihn wahrscheinlich bitten, nicht mit dem kompletten Oberkörper auf mir zu hängen. Denn lesen kann er in der japanischen Zeitschrift generell nichts und abgesehen davon ist er keine Feder. Als ich schließlich an einem Artikel hängen bleibe und nicht weiter blättere, wird es ihm zu langweilig. Stattdessen beginnt er, sich mit meinen Haaren zu beschäftigen. „Was machst du?“, frage ich amüsiert. Viktor hat sich aufgesetzt und fummelt an ein paar Strähnen an meinem Hinterkopf. Was auch immer er gerade macht, es fühlt sich lustig an. „Asiatische Haare fühlen sich ganz anders an, als sie aussehen.“ „Aha?“, bemerke ich und höre auf zu lesen. Solange er an den Haaren spielt, ist es schwierig, den Kopf stillzuhalten. „Sie sehen weich aus, aber sie sind doch ziemlich störrisch.“ „Überrascht dich das?“ „Hmm, ein bisschen. Benutzt du Gel, wenn du sie zurück machst?“, fragt er und setzt sich auf meinen Rücken. „Ja.“ „Nimm' Wachs. Das geht besser. Man braucht weniger und es hält genau so gut.“ „Bist du Friseur?“, lache ich. „Nein, aber ich eine sehr gute Freundin ist Friseuse. Sie kann das wirklich gut und ich lasse nicht jeden an meine Haare.“ „Das hab‘ ich schon gemerkt“, sage ich und lache nochmal. Seine Haare sind Viktor heilig. Kann ich aber auch verstehen, er hat sehr schöne Haare. Wie fließendes Wasser. „Wenn du länger so sitzen bleibst, bricht mein Kreuz, Viktor“, sage ich schließlich. „Ich rutsche, dann kannst du dich kurz herlegen.“ Sofort entlastet sich mein Rücken, ich klappe das Heft zu und lasse es auf den Boden fallen, dann rücke ich zum Fenster hin, um Viktor wenigstens ein bisschen Platz zu machen. Er legt sich zu mir auf die Seite, sodass wir uns anschauen können. „Soll ich dir die Haare einmal machen?“, fragt er und grinst. „Wenn du willst...“, antworte ich etwas peinlich berührt, aber ablehnen kann ich das auch nicht. Man bekommt ja nicht alle Tage angeboten, dass ein fünffacher Weltmeister einem die Haare machen will. Aber ein sehr niedlicher, fünffacher Weltmeister, füge ich in Gedanken hinzu, denn seine linke Hand ist schon wieder mit meinen Haaren beschäftigt und ich schaue ihm dabei zu; beobachte sein Gesicht und muss beinah die Luft anhalten. Er ist so schön. Nicht nur äußerlich, sein ganzes Wesen ist schön. Er hat nichts von einem gefeierten Superstar, dem alles zu Kopf gestiegen ist. Gut, er besitzt viele teure Dinge, aber er stellt sie nicht zur Schau. Er schätzt diese simplen Kleinigkeiten so viel mehr... wie jetzt gerade meine Haare. Das ist es, was ihn glücklich macht. Und mich macht es glücklich, zu sehen, dass er glücklich ist. Dann ist es wieder ganz still. „Was war das?“, fragt er amüsiert. „Ausnahme“, antworte ich schnell. Ich sollte mich dazu nicht mehr hinreißen lassen. „Ah“, grinst er zurück. „Darf ich auch Ausnahmen machen?“ „Nein. Ausnahmen sind Ausnahmen.“ „Das ist ungerecht, Yuuri.“ „Viktor, nein. Ich...kann damit nicht gut umgehen... Das weißt du...“, weiche ich seinem Blick aus und versuche ich das Thema zu beenden. „Weil du mich wegstoßen könntest?“ „...Ich weiß nicht“, entgegne ich verunsichert. „Ich brauche noch Zeit...“ „Okay“, erklärt Viktor sanft. „Ich laufe nicht weg.“ Ich atme erleichtert auf. Er hat verstanden, dass das die Grenze ist, die er momentan nicht überschreiten sollte. Allein, dass er es zulässt, was ich tue oder dass ich es überhaupt tue, ist mehr als ich auf die Reihe bekommen kann. ------------------------------------ „Bei Praslova.“ „Dobre.“ „Herr Feltsman, das ist ja eine Überraschung, dass Sie auf meiner privaten Nummer anrufen!“ „Haben Sie etwas von Viktor gehört?“ „Heute noch nicht. Er hat vorgestern mit mir telefoniert.“ „Ist alles in Ordnung bei ihm?“ „Ja. Es geht ihm gut.“ „...Der Japaner behandelt ihn ordentlich?“ „Ja. Er und-“ „Das reicht, ich will gar nicht wissen, was er mit dem Japaner alles macht. Oder der Japaner mit ihm macht, je nachdem.“ Eine Pause. „Ist es ihm wirklich ernst?“ „Viktor? Ich glaube schon. Er ist verliebt. Es hat viel zu lange gedauert, dass das wieder passiert und bei Gott, nach dem letzten Drama wünsche ich ihm nichts mehr, als dass er diesmal mehr Glück hat.“ „Er hat seine Karriere für diesen drittklassigen Japaner weg geworfen.“ „Und ein Leben gewonnen.“ „Er hat hier auch ein Leben gehabt!“ „Herr Feltsman, bitte. Reden Sie doch mit ihm. Er ist traurig, dass Sie ihm nicht antworten. Er vermisst Sie. Wenn Sie ihm zuhören würden, dann wüssten Sie, dass er alles richtig gemacht hat.“ „Das kann ich erst, wenn der Japaner sich bewiesen hat. Sie haben ihn in Sochi nicht gesehen, Frau Praslova. Er war genau so ein tänzelnder Casanova wie dieser Armleuchter von Tanzlehrer. Hat ihm schöne Augen gemacht, ihn flachgelegt und dann sitzen lassen.“ „Viktor hatte in Sochi keinen Sex mit Yuuri, Herr Feltsman.“ „Das behauptet er! Der Japaner hat ihm sein Ding doch schon beim Bankett fast zwischen die Beine gesteckt!“ „Herr Feltsman!“ „Viktor ist zu naiv! Was das angeht, ist er über die 17 noch nicht raus gekommen!“ „Dann würde ich sagen, wird es höchste Zeit, dass er Erfahrungen macht! Es geht ihm gut in Japan!“ „Er kann auch hier in Russland jemanden finden, mit dem er Sex haben kann!“ „Gott im Himmel, es geht doch nicht nur um Sex! Was denken Sie?! Zwischen Viktor und Yuuri entwickelt sich etwas!“ „Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Yuri sagte, der Japaner erinnert sich an absolut nichts von diesem Bankett!“ „Davon hat Viktor nichts erwähnt.“ „Natürlich nicht, warum sollte er?! Er hat in keiner seiner Emails erwähnt, dass der Japaner alles vergessen hat! Er ist zu stolz, es zuzugeben! Solange Viktor nicht die Eier in der Hose hat, die Wahrheit zu sagen, werde ich ihm nicht helfen!“ „Sie schockieren mich. Viktor ist glücklich, ich kann es an seiner Stimme hören! Er fühlt sich gut aufgenommen, das Essen schmeckt ihm, er liebt das Meer und das Badehaus und Makkachin geht es auch gut!“ „Und wie ist sein Verhältnis zu dem Japaner?! Es geht hier doch nicht um Essen, Baden oder den Hund, sondern um diesen besoffenen Schürzenjäger!“ „Das habe ich doch gesagt! Es entwickelt sich!" „Pah, so würd' ich das auch nennen, wenn ich mit dem Rücken zur Wand stünde.“ „Herr Feltsman!“ „Hat er denn irgendwas konkret gesagt? ‚Es entwickelt sich‘, ja, was heißt das denn?“ „Sie hatten ein Date. Ein richtiges.“ „Ein Date in drei Monaten und das, obwohl sie im selben Haus übernachten? Heilige Maria Mutter Gottes, da ist ja Georgi erfolgreicher.“ „Herr Feltsman, wollen Sie, dass es Yuuri mit Viktor ernst ist oder nicht? Also mir ist es lieber, es geht langsamer, aber dafür ehrlich, anstatt dass innerhalb von ein paar Wochen wieder alles aus ist!“ Stille. „Viktor hat seit fast drei Wochen nicht mehr geschrieben! Und sein Account ist auch nicht viel aktueller! Mir ist schlecht vor Sorge um ihn!“ „...Weil er die Zeit mit Yuuri verbringt. Sie hatten das Date am 7. Juli, also vor zwei Wochen. An diesem Tag ist Sternenfest in Japan. Offenbar ist das Fest ein Anlass für Japaner erste Dates zu haben, weil sich in dieser Nacht Weberin und Hirte am Sternenhimmel nach einem Jahr der Trennung endlich wiedersehen. Viktor hat erklärt, dass es ein Fest für Liebende ist und wenn ich seine Erzählung richtig interpretiere, dann haben sie sich geküsst. Es läuft gut, wirklich.“ „Bei Gott, ich bete, dass Sie recht haben.“ ------------------------------------ Ende Juli ist es dann soweit, dass Viktor sein Angebot, mir die Haare zu machen, in die Tat umsetzt. Heute ist das Outfit für meine Kür Yuri on Ice gebracht worden und am Abend muss ich für alle eine Anprobe machen und es vorführen. Minako-sensei, Yuko und die Drillinge staunen aber nicht schlecht, dass es nicht etwa meine Mutter ist, die mich zum Umziehen begleitet, sondern Viktor. Beim Verlassen des Raumes höre ich noch, dass Minako-sensei anfängt darüber zu reden: „Wer hätte geglaubt, dass das mal so wird. Wie Pech und Schwefel, die Zwei.“ „Ja, das ist beim Training in der Eishalle nicht viel anders.“ „Ich freue mich so für meinen Yuuri und Vicchan. Ich hatte so Sorge, dass sie sich nicht wieder vertragen könnten.“ „Wegen dem Tanabata?“ „Yuuri war plötzlich einfach weg.“ „Dabei hat er doch noch nie Frustessen stehen lassen, oder, Mama?“ „Horaaa, seid nicht so vorlaut!“ „Zugegeben, normal ist das nicht mehr. Yuuri hat noch nie jemanden so nah an sich heran gelassen.“ „Es ist Viktor. Yuuri hat ihn schon immer so viel mehr bewundert als ich.“ „Vicchan ist so ein Sonnenschein. Er tut meinem Kind gut, ich bin ihm so dankbar.“ „Viktor tut Yuuri gut?“ „Tut nicht Yuuri Viktor gut?“ „Sie sollen sich endlich verlieben, Mama!“ „Mal halblang! Dafür seid ihr Drei noch etwas zu jung! Und überhaupt; hört ihr wohl auf, die Zwei verkuppeln zu wollen?!“ Unten scheint es ja lustig herzugehen, denke ich, während ich schon in meinem Kostüm auf dem Stuhl in meinem Zimmer sitze. Meine Schreibtischlampe brennt, aber ansonsten haben wir kein Licht angemacht. Viktor kämmt vorsichtig mit seinem Kamm durch meine Haare, von der Stirn in Richtung Hinterkopf und seine linke Hand streicht behutsam darüber, damit es nicht ziept. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber in meiner Vorstellung sieht es genau so aus, wie an dem Abend, als er mir den Vorschlag gemacht hat und ich fühle ein leichtes Ziehen in meinem Bauch. Es ist so angenehm. Die ganze Situation ist angenehm. Hier zu sitzen, zu wissen, dass Viktor bei mir ist, dass er sich um mich kümmert, ganz ruhig, still; der Kamm, der in gleichmäßigen Bewegungen über meine Kopfhaut streicht. Ich könnte stundenlang so sitzen bleiben. „Gefällt dir das?“ „Hm, ja.“ „Das ist gut. Wenn man ein Kostüm zum ersten Mal fertig trägt, ist es wichtig, dass man ein positives Gefühl damit verbindet. Das Kostüm nimmt die Gefühle auf und dann ist es, als würde man jedes Mal ein gutes Gefühl anziehen, wenn man es trägt.“ „Wo hast du das denn her?“, frage ich belustigt. „Hm, das hat meine Schneiderin gesagt“, antwortet er und klingt dabei ein bisschen verträumt. „Zuerst dachte ich, sie sagt das einfach nur so, aber je mehr Kostüme ich getragen habe, desto mehr verstand ich, wie recht sie damit hat. Ein gutes Gefühl gibt Ruhe und Sicherheit. Also ist es mir wichtig, dass du dich jetzt in diesem Moment gut fühlst.“ „Hm.“ Für die nächsten Momente genieße ich einfach nur. Erst als Viktor den Kamm zur Seite legt und nach der Dose mit Wachs greift, erlaube ich mir wieder zu sprechen. Die Augen lasse ich dennoch geschlossen: „Hast du ein Lieblingskostüm?“ „Lass‘ mich überlegen...“, sinniert er, während er sanft etwas von dem Wachs in meinen Haaren verteilt und einzelne Strähnen zurecht zupft. „Ich habe viele meiner Kostüme gern getragen, aber oft aus verschiedenen Gründen. Deinen Eros zum Beispiel mochte ich, weil die Geschichte quasi schon im Kostüm steckt. Yurios Agape ist deswegen besonders gewesen, weil ich mit diesem Kostüm das erste Mal meine Vision von etwas umgesetzt habe, nicht die meiner Trainerin. So. Du bist fertig.“ „Hm.“ Ich stehe nur widerwillig auf. An diese Art von Aufmerksamkeit könnte ich mich gewöhnen. Viktor betrachtet mich und er sieht sehr zufrieden aus. „Fühlst du dich immer noch gut?“ „Ja.“ „Solltest du auch, das Outfit steht dir.“ Ich werde rot, ein solches Kompliment von Viktor zu bekommen. „Nur eine kleine Sache habe ich zu kritisieren“, sagt er. „Deine Lippen. Die sind so trocken und rau, dass ich das von hier aus bei gedämmtem Licht sehen kann. Benutzt du keinen Lippenbalsam?“ „Das stört doch niemanden“, sage ich etwas peinlich berührt. Dass Viktor darauf achtet... Wortlos geht er zu seinem Kulturbeutel auf meinem Schreibtisch, aus dem er schon den Kamm geholt hat und zieht ein kleines, weißes Döschen hervor, schraubt den Deckel ab und hält es mir hin. „Nimm“, fordert er mich auf. „Wirklich, Viktor, das ist doch nicht wichtig.“ Oh Mann, was hat er bloß...? „Bin ich niemand?“ „Eh?“ „Du hast doch gesagt, es stört niemand. Also bin ich niemand?“ „Natürlich nicht“, entgegne ich. Sagt er das jetzt nur, weil ihm das aufgefallen ist? „Yuuri“, er lässt seine Hand mit dem Döschen sinken und zieht enttäuscht eine Schnute. Dann verstehe ich doch. Wortlos nehme ich mir ein bisschen von dem Balsam und verteile ihn auf meinen Lippen. Für Ausnahmen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)