Sommer in Hasetsu von Flokati ================================================================================ Teil 8 - Cup of China (Kür) --------------------------- Ich habe den Wecker überhört. Verschlafen würde ich es nicht nennen, denn ich habe nicht geschlafen. Allerdings frage ich mich, wie ich sonst den Wecker, zwei Anrufe und drei Textnachrichten von Viktor überhören konnte. Ein Blick in den Spiegel verrät mir, dass ich mich nicht nur gerädert fühle, sondern auch so aussehe und dass ich mit Georgis Augenringen von gestern auch ganz ohne Makeup mithalten kann. Himmel, so kann ich doch jetzt nicht zum freien Training erscheinen...! Aber Viktors letzter Nachricht nach zu urteilen ist er schon vorgegangen und ich sollte ihn keine Minute länger warten lassen... Das Frühstück mit ihm habe ich auch verpasst und selbst wenn ich ihn schon zurückgerufen und mich keine Ahnung wie oft dafür entschuldigt habe, weiß ich nicht, wie das passieren konnte. Ich konnte nicht schlafen. Gut, das ist offensichtlich, aber ich erinnere mich nicht mal daran, es versucht zu haben. Ich kann mich aber auch nicht daran erinnern, was ich alternativ gemacht habe, wenn nicht versucht zu haben, zu schlafen. Und trotzdem habe ich den Wecker überhört. Wenn ich das alles zusammen nehme, sollte ich das Dilemma vielleicht mit einer Entführung durch Aliens rechtfertigen. Das erscheint mir plausibler als diese unerklärliche Wahrheit... Da stehe ich nun, kann die Augen kaum offenhalten, sehe aus wie eine Ausgeburt der Finsternis; vor mir die lebende Legende, die ein Gesicht zieht, das dem gleichkommt, als er versucht hat, meine Falle in unserem Go-Match zu ergründen und schon wieder scheitert er daran, meinen gewitzten Plan, einfach nicht gepennt zu haben, zu durchschauen. „Yuuri, hast überhaupt geschlafen?“ „Doch, natürlich, also, ein bisschen!“ Mist, Mist, Mist! Aber nur, weil er diesmal nüchtern ist! „Du gehst zurück und machst einen Mittagsschlaf bis heute Abend.“ „Eh, was?!“ „Keine Widerrede, ich komme mit. Gib' mir deinen Rucksack.“ „Aber Viktor!“ „Du bist viel zu müde. Das macht keinen Sinn. Los, komm'.“ Ich trotte hinter ihm her zurück zum Hotel. Er ist nicht sauer, aber begeistert ist er wahrscheinlich auch nicht. Er fragt nicht nach dem Grund, sondern nimmt es einfach hin. Mit Sicherheit hat Viktor schon an meiner Stimme am Telefon gehört, dass ich völlig übermüdet bin. Genau genommen ist mir schlecht vor lauter Müdigkeit. Und von meinen Gedanken, denn ich habe Viktor gegenüber fürchterliche Schuldgefühle. Das hätte nicht passieren dürfen. Ich kann das freie Training so nicht mitmachen, da hat Viktor schon recht, aber ich kann doch nicht einfach nicht teilnehmen...! Ich bin Erster, wenn ich die Kür später verhaue, weil ich nicht nochmal geübt habe, was dann? Dann steht Viktor doch wieder dumm da... Dann hat er als Trainer versagt und ich will mir das nicht vorstellen... Was sollte ich dann sagen? Er kann überhaupt nichts dafür... Ich will diese Gedanken nicht denken, die sich in meinem Kopf formieren... Ich will überhaupt nicht denken! Nicht denken, einfach nicht denken! Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Unterdrücken. Die Gedanken unterdrücken, denn ich glaube nicht, dass ich heute nochmal so viel Glück wie gestern hätte, dafür hat der Tag schon zu katastrophal angefangen... Aber sie werden mit jedem Schritt immer deutlicher. Wenn ich es verhaue und letzten Endes doch alle Meinungen bestätigt wären, dass Viktor als Läufer aufs Eis gehört, würde er das selbst auch so sehen? ...Würde er dann aufhören, mein...? Ich schlucke. Ich will mir das nicht vorstellen, ich will mich nicht damit auseinander setzen! Ich sollte nicht ins Hotel gehen und schlafen. Ich sollte üben. Ich darf diese Kür nicht verhauen! „Viktor, ich muss nicht schlafen. Ausruhen reicht“, bemerke ich zum etwa zehnten Mal und beobachte, wie er die Vorhänge in meinem Zimmer zuzieht. Er hat nicht locker gelassen. Ich stehe mit Schlafmaske auf dem Kopf und in Boxershorts vor meinem Bett, fertig zum Mittagsschlaf, den ich nicht halten will und beobachte, wie Viktor zu mir zurückkommt. „Wenn du ausruhen kannst, sollte es doch auch kein Problem sein, zu schlafen, oder?“, sagt er und zieht mir die Maske ins Gesicht, dann schubst er mich aufs Bett, die Decke folgt und er legt sich neben mich auf die Seite. „Bis zum Abend Mittagsschlaf.“ Nein, nein, nein, ich habe einfach kein gutes Gefühl dabei, jetzt zu schlafen! „Keine Sorge,“ sagt Viktor in einem zuversichtlichen Ton, „bei Wettkämpfen habe ich auch immer bis kurz vor knapp geschlafen...“ Ich spüre seinen Kopf auf meine Brust fallen. „Moment mal, Viktor, bleib' wa-!“, protestiere ich, aber er ist schon weg. Was ist das denn für eine Logik; meint er wirklich, ich kann schlafen, wenn er halb auf mir liegt und sein Bein mich umklammert?! Sofort schlagen meine Gedanken eine ganz andere Richtung ein. Die Erinnerung an vorgestern Nacht heftet sich vor mein inneres Auge: Er auf meinem Schoß, meine Hände an seinem Hintern. Der Kuss, der nicht einfach nur eine Berührung war... Oh Gott, bitte lass' diese Decke dick genug sein. Ich traue mich kaum zu atmen. Ich muss aufhören über irgendetwas nachzudenken! Wenn ich mich nicht fangen kann, dann könnte das mein letzter Wettkampf mit Viktor gewesen sein und das würde ich nicht ertragen können. Ich weiß nicht mehr, was ich dagegen tun soll...! Die Angst, ihn zu verlieren, breitet sich immer weiter in mir aus... Ich fühle mich so hilflos... Als der Wecker schließlich klingelt und Viktor sich langsam von mir aufrichtet, stelle ich fest, dass ich irgendwann eingeschlafen sein muss und dass alles an mir wieder normal ist, allerdings fühle ich mich kaum besser als zuvor. „Yuuri, ich geh' nach drüben mich umziehen, ja?“, murmelt Viktor und steht ganz vom Bett auf. „In einer halben Stunde in der Halle, dann sind wir zum Aufwärmen rechtzeitig da.“ Dann ist er schnellen Schrittes verschwunden. Etwas irritiert schaue ich unter meiner Schlafmaske hervor und sehe nur noch die Zimmertür hinter ihm ins Schloss fallen. Was war das denn so plötzlich? So eilig hat er es doch normalerweise nie...? Er... lässt mich doch nicht alleine...? Beim Aufwärmen in der Halle muss ich das ernüchternde Fazit ziehen, dass der Mittagsschlaf so gut wie nichts gebracht hat. Das Einzige, was ich merke, ist dass Müdigkeit und schlechte Gedanken ihr Gewicht verlagert haben: Durch das bisschen Schlaf, dass ich bekommen habe, fühle ich mich nicht mehr vollkommen gerädert, aber dafür habe ich kaum noch ein Gefühl in meinem Körper vor lauter Nervosität. Die Kraft reicht nicht mal, um eine Wasserflasche aufzudrehen. Viktor dagegen ist noch munterer als heute Mittag und lächelt, aber es kommt mir vor wie eine Warnung und wieso geht diese blöde Flasche nicht auf?! „Yuuri~,“ Viktor kommt zu mir herüber und fasst mich an die Schultern, „hast du vorhin nicht schlafen können?“ „Doch, doch, hab ich!“, lüge ich schnell. Viktors Lächeln wird unheilvoller. „Keine Sprünge während dem Aufwärmen, verstanden?“ „Heeee?“ Was, warum, dann hab ich ja gar nix geübt, bis ich dran bin, das geht doch nicht! Das Lächeln ist beinahe eine Drohung. „Anweisung von deinem Trainer, Yuuri.“ Ich hab's natürlich doch versucht und bin gestürzt. Das wird eine Katastrophe. Ich rutsche immer tiefer in das Loch hinein, dass sich heute morgen aufgetan hat... Ich bin auf dem ersten Platz und kann kaum vernünftig auf dem Eis stehen. Was hat mich gestern Abend nur geritten anzunehmen, es könnte diesmal anders laufen als sonst? Das Einzige, was anders läuft, ist dass Viktor dafür die Konsequenzen tragen muss, wenn ich gleich alles in den Sand setze... Er versucht mich aufzuheitern, aber ich kann seinen Optimismus nicht mehr teilen, dafür regiert die Angst zu stark in mir... Auf den Fernsehbildschirmen sehe ich, dass die erste Kür soeben begonnen hat und Guang-Hong sich auf dem Eis in Bewegung setzt. Eine Weile schaue ich ihm regungslos zu. Bilde ich es mir nur ein, oder läuft er besser als gestern? Meine Wahrnehmung ist schon völlig benebelt. Es könnte wirklich meine Einbildung sein, versuche ich mir einzureden. Könnte. Vielleicht. Aber er springt fehlerfrei! Und das ist ganz sicher keine Einbildung! Oh nein. Nein. Ich kann nicht zuschauen. Es geht nicht! Aus, aus, alles aus! In meinem Kopf herrscht ein einziges Chaos und ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich will gar nicht mehr hier sein! Die Zeit läuft mir davon und es wird nicht besser! Je weiter es voranschreitet, desto mehr blähen sich diese fürchterlichen Gedanken in meinem Kopf auf. Sie erdrücken mich; ich weiß nicht, was ich tun soll! „Yuuri, ganz ruhig“, höre ich Viktors Stimme. „Erinner' dich an die südjapanische Meisterschaft, was hast du da vor deiner Kür gemacht?“ Was, welche südjapanischen Meisterschaften... In Okayama...? Was hab ich gemacht...? „Dehnübungen... auf der Matte, d-draußen, vor der Halle...“, antworte ich, aber ich will nicht raus geschickt werden... Ich war alleine, ohne Viktor. Und ich will nicht ohne Viktor sein. „Dann mach' das. Nimm' deine Matte, mach' genau diese Übungen.“ „O-Ok...“ Yuuri... es ist keine Müdigkeit mehr wie heute morgen, die dich fertig macht. Etwas wühlt dich von innen heraus auf, ich kann es sehen, aber ich verstehe nicht, was es ist. Gut so, bring' Routine in die Sache. Routinen bringen Sicherheit, weil man die Abläufe kennt und gewohnt ist. Alles wie vorher auch, Yuuri. Es hilft nichts, Viktor... Mir ist schlecht, ich krieg' kaum Luft...! Tu' doch was...! Womöglich könnte ich mich täuschen, aber die Übungen scheinen dir nicht zu helfen, Yuuri... Du sagtest, du warst draußen, vor der Halle... ohne Zuschauer. Hm. Die Leute klatschen, ich riskiere einen kurzen Blick auf einen der Fernsehbildschirme. Chris scheint heute wesentlich motivierter zu sein als gestern... Nicht gut! Außerdem sehe ich eine Gruppe Menschen auf uns zukommen. Ein Kamerateam kann ich jetzt auch nicht gebrauchen! „Yuuri! Wir gehen woanders aufwärmen!“ Wo ist hier ein Ort mit wenig Leuten...? Ruhig und ohne Beobachter... Weit können wir nicht gehen und nach draußen erst recht nicht... Vielleicht die Tiefgarage? „Viktor, wohin gehen wir?“ „Da runter. Komm' Yuuri.“ Ich lege meinen Arm um dich, führe dich die Treppen hinunter und du folgst ohne zu protestieren. Normalerweise protestierst du bei allem, dessen Sinn du nicht verstehst. Dass du es jetzt nicht tust, macht mir Sorgen. Was macht dir nur so zu schaffen, Yuuri? Was tun wir hier... Wir laufen von dem Wettkampf weg... Aber es wird ruhiger... Ja. Genau. Beruhigen. Ich muss mich beruhigen. Es sieht nicht mehr nach Wettkampf aus, auch wenn er kein bisschen weiter entfernt ist. Aber Viktor ist bei mir... Ich bekomme wieder Luft. Es wird etwas besser... Ich höre Applaus und Jubel. Wer war gerade dran? „Viktor, wie stehen die Punkte?“ frage ich platt, kaum dass wir das oberste Parkdeck erreicht haben. Die nächste Performance wird sicher gleich beginnen... „Ganz ruhig, Yuuri, atme erst mal durch.“ Ich bin völlig orientierungslos. Ich höre den Wettkampf, aber ich sehe ihn nicht mehr. „Mach' da weiter, wo du vorhin aufgehört hast. Und lass' deine Ohrstöpsel drin.“ Weitermachen. Ich versuche es. Nach vorne schauen. Ich darf nicht davor weglaufen. Die Beine lockern, dann die Arme. Aus der Ferne kann ich leise Musik hören und sie kommt mir bekannt vor. Ist es die von Phichit? Gut so, Yuuri. Hoffentlich hilft das jetzt mehr. Ich muss dich irgendwie festigen, aber die Zeit rennt mir davon und die Ideen gehen mir auch bald aus. Punktestände sollte ich dir vorerst keine mitteilen, aber ich kenne sie ja selbst nicht. Chris ist mit Sicherheit besser gelaufen als der junge Chinese, aber das Publikum feiert deinen thailändischen Freund gerade sehr euphorisch. Jedoch nur die Reaktionen zu hören hilft nicht, die Leistung einzuschätzen, obwohl der Jubel schon sehr laut ist. Ich nehme sogar die Stimme des Kommentators wahr... Dein Freund muss wirklich einen sehr guten Lauf geha– Scheiße! „HÖR' NICHT HIN!“ Ich bin vor Schreck erstarrt. Ich wollte nur kurz hören, ob es wirklich Phichit ist, der läuft... Aber jetzt hat sich nicht nur wieder der Wettkampf überdeutlich in mein Bewusstsein gedrängt, Viktor hat mich auch noch angeschrien. Er ist mir gegenüber noch nie so laut geworden und er sieht so schrecklich ernst aus...! Ich hätte es lassen sollen. Viktor wusste schon, warum ich die Ohrstöpseln drin lassen sollte, aber ich kann den Wettkampf doch nicht vollkommen ausblenden...! Ich muss doch auch bald aufs Eis...! Ich komm' nicht mehr mit, Yuuri. Warum bist du so nervös? Ich könnte es verstehen, wenn du jünger wärst und dich die anderen Läufer deswegen beeindrucken würden... aber so? Wie kann ich dich wieder dazu bringen, weiterzumachen? Ich hab' absolut keine Ahnung. Meiner Angst weicht Resignation. Es hilft nichts mehr. Ich nehme Viktors Hände von meinen Ohren. „Viktor, ich bin bald dran. Wir müssen langsam“, sage ich mit schwacher Stimme, mein Blick auf den Boden gerichtet und ich gehe an Viktor vorbei in Richtung Ausgang. Es sind nur noch Leo und Georgi vor mir dran und wir müssen noch zurücklaufen... Ich muss akzeptieren, es so hinzunehmen, wie es schon immer war. Ich kann noch so gut starten, aber ich schaff' es einfach nicht, es durchzuziehen. Ich sollte mich damit abfinden, auch wenn... eEs schnürt mir die Kehle zu. Ich würde ihn so gerne stolz machen, möchte beweisen, es wert gewesen zu sein... Dass er... „Yuuri.“ Ich bleibe stehen, drehe mich zu Viktor um. Sein Gesicht sieht so finster aus, dass mir das Herz stehen bleibt. „Wenn du diese Kür vermasselst und es nicht aufs Podium schaffst, dann übernehme ich dafür die Verantwortung und trete als dein Trainer zurück.“ …! Yuuri... Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee war, dir das zu sagen, aber es war die letzte, die ich noch hatte, um deinen Ehrgeiz anzustacheln... Auch auf die Gefahr hin, dass es zu viel für dein sensibles Herz gewesen sein könnte... Ich wünschte, ich hätte das nicht tun müssen. Du starrst so entsetzt... Yuuri... Oh nein! „Was soll das... Warum stellst du mir jetzt so ein Ultimatum...?“ Scheiße, das war zu viel! „Ahh, Yuuri... tut mir leid, so meinte ich das-“ „Schon klar. Ich bin's gewohnt, dass ich allein dafür gerade stehen muss, wenn ich die Turniere verhaue. Aber diesmal stehst du neben mir und ich kann's nicht ertragen, wenn du wegen mir einstecken müsstest! Ich hab die ganze Zeit schon gedacht, dass du als Trainer dann keinen Bock mehr auf mich hast!“ „Yuuri, das stimmt doch gar nicht.“ „Stimmt es wohl!“ Gott, was hab' ich getan...? Ich bin mit meinem Latein am Ende. „Ich weiß nicht weiter, wenn jemand vor mir weint...“ Kann ich überhaupt etwas tun? „Willst du einen Kuss?“ „In Gegenteil! Wenn ich schon nicht glaube, dass ich gewinnen kann, dann glaub' du es wenigstens! Du musst nichts tun, sei einfach still und bleib' an meiner Seite!“ Was...? Yuuri... Ich soll es glauben...? Aber... „Yuuri. Ich glaube es doch.“ „Halt den Rand, Viktor...!“ Wir gehen zurück. Viktor hält meine Hand, als wir die Treppen nach oben steigen. Er führt mich zu unseren Sachen, die Mitarbeiter um uns herum werfen uns komische Blicke zu. Ich setzte mich auf einen Stuhl, beobachte, wie Viktor meine Schlittschuhe aus dem Rucksack holt. Er zieht die Handschuhe aus, um die Schnürsenkel zu lösen und weitet den Schaft, dass ich einsteigen kann. Erst links, dann rechts, er bindet mir die Schuhe. Dann geht er um mich herum, streicht mir von hinten einige Haare zurück. Ich schließe die Augen, atme tief ein. Das Gefühl von seinen Händen auf meinen Haaren... Meine Gedanken beruhigen sich, ich erinnere mich daran, als er mir die Haare gemacht hat... Es war so angenehm. Ist das die Magie des guten Gefühls...? Viktor bleibt still; er ist einfach nur bei mir und tupft vorsichtig meine Tränen aus meinem Gesicht, reibt sanft die trockenen Stellen meiner Lippen ein... Für Ausnahmen, die keine mehr sind. Und ich will auch keine Ausnahmen mehr. Ich will, dass er bleibt. Als wir nach draußen gehen, liegt seine Hand auf meiner Schulter und die gleichen, komischen Blicke des Personals verfolgen uns. Es interessiert mich nicht. Der ganze Wettkampf interessiert mich nicht mehr. Je weiter wir uns dem Eis nähern, desto mehr wende ich meinen Blick davon ab. Es ist, als wäre ich irgendwo ganz weit weg. Ich höre nur noch die Musik spielen. Wie ferngesteuert lege ich meine Jacke auf Seite, gebe Viktor schweigend meine Kufenschützer und laufe los in Richtung Aufgang. Als mir Georgi von dort mit einem erhabenen Gesichtsausdruck entgegen kommt, lasse ich meinen Blick gesenkt, um ihm nicht in die Augen zu schauen. Ich weiß, wie die Welt von mir denkt. Es ist mir egal, wenn ich für alle da draußen viel mehr wie die räuberische Dornenhecke erscheine statt der rettende Prinz. Aber ich kann es nicht ertragen, wenn meine Dornen so dicht würden, dass Viktor unter meinen Schwächen und Fehlern leiden muss. Er ist nicht mein Gefangener. Viktor ist freiwillig bei mir. Während ich am Rand entlang zurück zu Viktor gleite, hebe ich mit jedem Schritt den Kopf ein bisschen mehr, um ihm in sein schönes Gesicht schauen zu können. Ich kann sehen, dass es ihm Leid tut und dass ihn ein schlechtes Gewissen plagt. Er zupft einige Taschentücher aus der Makkachinbox und schnäuze ich mir noch ein letztes Mal die Nase; Viktor hält mir seine Hand hin, um es mir abzunehmen, aber ich lasse es absichtlich daneben fallen. Er fängt es gerade so. Du hast nichts falsch gemacht, Viktor, denke ich und patte seinen Kopf. Deswegen glaub' an mich und ich werde tun was ich kann, um dich zu beschützen, damit du bleiben kannst. Dann fahre ich in die Mitte auf meine Position. Während ich warte, dass die Musik einsetzt, wird es plötzlich ganz still in meinem Kopf. Ich bin auch nicht mehr nervös... Eine ungewohnte Gelassenheit und Ruhe hat von mir Besitz ergriffen. Oder ist es doch nur die Müdigkeit? Wäre möglich. Aber seit ich geweint habe, fühle ich mich merkwürdig befreit... Und Viktors Gesichtsausdruck, als die Tränen kamen, war schon irgendwie lustig... Yuuri, warum lachst du so...? Ich meine, ich will mich nicht beschweren, ich bin froh, dass du nicht mehr weinst. Dass du auf dem Eis stehst und läufst... Sogar sicherer als ich dachte. Die erste Kombination... Ja! Sehr gut! Weiter so, Yuuri. Ich habe nie an dir gezweifelt. Ich bin nicht aufgrund von zu viel Alkohol dein Trainer geworden. Ich weiß, dass du es kannst. Dass du alles hast, was es braucht. Es ist alles in dir drin. Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Deswegen war ich so überrascht, als du mich gebeten hast, deinen Wunsch für das Tanabata aufzuschreiben, aber ich bin bereit alles zu tun, wenn es nur dazu dient, dir mehr Selbstvertrauen zu geben. Gleich der Salchow... „Perfekt, Yuuri!“ Du läufst fantastisch bisher und das, obwohl du völlig geschafft sein müsstest... Ich kann mich kaum von dir abwenden. Ja, genau so. Gleite dahin, faszinierend, elegant, stolz... Du bist so schön. Mein Prinz auf dem Eis...Ich liebe dich. So sehr, dass ich bald nicht mehr weiß, wohin damit. Wir sind uns schon so nah und trotzdem hältst du diese letzte Grenze aufrecht... Warum? Auf was wartest du? Dreifacher Axel. Gestürzt, aber nicht schlimm. Mach weiter, du kannst das. Meine Gedanken sind immer bei dir. Jetzt der dreifache Flip... gut. Geschafft! Solange du mit der Musik läufst, hast du alle auf deiner Seite. Die Ausfälle sind nicht so schlimm bis jetzt, halte einfach durch. Dir muss es furchtbar gehen... Die Dreierkombination...und überrotiert, aber lass' dich nicht unterkriegen. Versuch' es durchzuziehen! Gleich die nächste Kombina- Waaaaas, Yuuri?! Wie kannst du das noch so locker springen?! Das ist ja...! Was machst du denn da, du läufst dich ja wie in einen Rausch...! Wo nimmst du plötzlich diese Energie her?! Yuuri, du bist wahnsinnig! Hör' auf damit...! Das... ...Bitte halt' durch. Bitte halt' einfach durch bis zum Schluss! Werd' nicht müde auf den letzten Sekunden, es ist nur noch ein Sprung! Ich steh' immer an deiner Seite, egal was kommt. Egal, wie das hier ausgeht, egal, wie dieser Sprung ausgeht. Yuuri, bitte– ….!!!!!! Oh Gott. Ich kann nicht hinsehen. Mir springt das Herz fast aus der Brust. Was hast du getan...! Yuuri...! Du bist unglaublich. Einfach unglaublich...! Ich bin sprachlos... Ich zittere am ganzen Körper, meine Beine setzen sich in Bewegung. Ich muss zu dir, so schnell es geht...! Ich kann kaum mehr einen richtigen Gedanken fassen! Yuuri...! Ich renne schon. Wann hast du diese Idee gehabt? Dass du dich das traust! Dass du das Vertrauen zu dir hast! Dass du das durchziehst...! Mein geliebter Prinz. Du strahlst so glücklich. Du hast keine Angst mehr... Und ich auch nicht. „Viktor, hab' ich das gut gemacht?!“ Ja. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)