Sommer in Hasetsu von Flokati ================================================================================ Teil 1 - Mai 2016 ----------------- „Yuuri, findest du nicht, dass Viktor viel alleine ist?“ Eh, wo kommt das denn plötzlich her? Irritiert blicke ich zu Yuko. „Es tut mir Leid, wenn ich dich das so direkt frage. Ich habe gestern zufällig deine Mutter im Supermarkt getroffen und sie hat mich darauf angesprochen“, beginnt meine langjährige Freundin etwas besorgt, während sie mir beim Ausziehen der Schlittschuhe zuschaut. Es ist gerade Trainingspause und Viktor ist zu Lawson am Ende der Straße gegangen, Onigiri für unsere Pause zu kaufen. „Sie macht sich Sorgen um Viktor, weil er doch die Sprache nicht spricht, keine Freunde und keine Familie hier hat. Aber ihr kommt doch gut miteinander aus, oder?“ Ich wundere mich und senke meinen Blick zurück auf die Schnürsenkel. Wie kommt meine Mutter denn darauf? Viktor ist jeden Tag mehrere Stunden mit mir zusammen in der Halle... Wenn das Training beendet ist, sind wir noch in unserem Onsen und wir essen auch oft zusammen zu Abend. „Unternehmt ihr denn auch mal was zusammen? Außer dem Training?“, fragt Yuko weiter. „Was macht ihr am Wochenende?“ Das hat gesessen. Ich fühle mich von Yuko unangenehm überrumpelt und mir ist sofort klar, was Mutter gemeint hat. Die vernichtende Wahrheit ist, wir machen nichts zusammen. Wenn wir mit dem Essen fertig sind, geht Viktor mit Makkachin nach draußen und ich ziehe mich in mein Zimmer zurück. Das Wochenende über sehe ich Viktor nur selten, weil ich die freien Tage nutze, um auszuschlafen und wenn ich wach werde, ist er schon längst unterwegs. Manchmal mit Makkachin, manchmal auch ohne. „Ich will dir keinen Vorwurf machen“, entschuldigt sich Yuko schnell beim Anblick meines regungslosen Gesichts. „Aber er ist wegen dir hier und dadurch schon irgendwie dein Gast, oder? Ihr versteht euch doch gut, wenn ihr hier in der Halle seid, warum nicht auch am Wochenende?“ „Ich weiß doch gar nicht, was ihn interessiert...“, weiche ich aus. „Dann frag ihn doch?“ Es ist mir unangenehm. Also, vielleicht ist unangenehm das falsche Wort, aber es ist so surreal. Ja, Viktor hat mit mir schon darüber gesprochen, dass ich weniger verklemmt sein sollte und beim Training klappt das auch schon sehr gut. Ich weiß auch, dass ich vor ihm keine Angst zu haben brauche, aber allein dass er hier ist, ist mehr als ich auf die Kette bekommen kann. Und was weiß ich, ob er überhaupt Interesse daran hätte, mit mir etwas zu unternehmen? „Also er hat nach dir gefragt“, fügt Yuko hinzu. Auch das hat gesessen. Jetzt bin ich erst recht aus der Fassung. „Er hat nach mir gefragt?“ wiederhole ich verunsichert. „Ja, es ist aber schon etwas her. Du warst noch spät in die Halle gekommen, weil dich irgendwas aufgewühlt hatte. Jedenfalls ist eine Weile später auch Viktor aufgetaucht. Er wollte wissen, ob du hier bist. Angeblich warst du plötzlich verschwunden, aber er kennt dich nicht so gut wie wir und wusste nicht, wo er dich finden kann oder was los ist. Er sah schon etwas besorgt aus.“ „Warum sagst du mir das nicht?“ „Ich wusste nicht, dass es wichtig sein könnte“, antwortet sie ehrlich. „Takeshi und ich konnten ihm die Sorge nehmen, dass er etwas falsch gemacht hat. Es ist nicht so, dass du ihn nicht interessierst, Yuuri. Wegen dir ist er doch überhaupt hier. Manchmal wenn du nicht hinschaust, beobachtet er dich.“ Sie macht eine Pause und setzt sich zu mir auf die Bank. „Weißt du, für uns alle ist es irgendwie unwirklich, dass er hier ist. Jeden Tag, wenn ich euch trainieren sehe, kann ich auch nicht glauben, dass es real ist. Aber wenn wir ihn alle als irreal behandeln, dann existiert er nicht. Während ich in der Vorbereitungsphase Yurio beim Training geholfen habe, hat er viel über Viktor gesprochen. Dass ihm dieses Agape-Gelaber auf den Geist geht und dass Viktor nicht mehr ganz dicht wäre, zu glauben, dass man mit den Gedanken an eine Reisschüssel ein Programm laufen kann. Er hat ganz ohne Vorbehalte von Viktor gesprochen und ich hatte den Eindruck, dass solange Yurio hier war, Viktor etwas gelöster schien. Im Moment wirkt er wieder stiller und wenn er nach dir schaut, auch ein bisschen nachdenklich.“ Yukos Worte treffen mich und ich fühle mich schlecht, das nicht bemerkt zu haben. „Es ist nicht so, dass ich ihm aus dem Weg gehen würde...“ „Das weiß ich doch“, versucht sie mich aufzumuntern. „Du bist ihm nicht egal, Yuuri. Sonst wäre er nicht hier her gekommen und auch nicht hier geblieben.“ „Und was soll ich machen?“, frage ich. Es ist ja jetzt nicht so, dass man alle Tage einen fünffachen Weltmeister bespaßen müsste... „Yuuri~“ Wenn man vom Teufel spricht. Da ist er wieder mit den Onigiri. „Endlich wieder kühl...“ „Ist dir warm?“, fragt Yuko. „Es ist furchtbar warm draußen. Dabei ist es doch erst Ende Mai!“ Yuko und ich schauen uns verwundert an. „Es sind doch nur 23 Grad?“, bemerke ich, aber Yuko stupst mir den Ellbogen in die Seite. Ja, ich versteh ja schon...! „Wie warm wird es in Russland im Sommer?“ „Bestenfalls 20 – im Juli oder August.“ „Oh. Also im Juli und August werden wir über 30 Grad haben.“ Viktor stöhnt. „Ich werde sterben... oder ich zieh in die Eishalle um...“ Yuko stößt mir wieder in die Seite. Was denn? Ich rede doch mit ihm! „Er ist doch gerne in eurem Onsen, oder?“, flüstert sie mir eindringlich zu. „Frag ihn, ob er im Meer schwimmen gehen will. Abkühlung und so.“ „Wir könnten vielleicht schwimmen gehen. Im Meer, zur Abkühlung“, rede ich ihr nach, wobei ich noch nicht weiß, ob das eine gute Idee ist und was ich generell für eine Reaktion erwarte. Zuerst schaut Viktor mich nur an. Er sieht beinahe so aus, als wisse er nicht, ob das gerade ein Witz oder ernst war. „Unser Onsen ist im Sommer generell zu heiß... u-und wir könnten Makkachin mitnehmen...“, stottere ich nervös weiter und schaue zur Seite. „Bei dem dichten Fell ist ihm sicher auch warm...“ Viktor reagiert absolut nicht, bis er plötzlich auf mich zukommt und mich überschwänglich umarmt. „Du rettest mich, Yuuri!“ Ich bin wie erstarrt und Yuko muss lachen. „Die Badesaison fängt nächste Woche an. Das Wasser wird noch etwas frisch sein, aber das geht schon“, sagt sie. „Ich bin dann wieder vorne arbeiten.“ Viktor lässt mich wieder los, und ich werde rot, so sehr leuchten die blauen Augen auf einmal. Ist das jetzt so etwas Besonderes, mit mir schwimmen zu gehen? Naja, Hauptsache, da ist jemand glücklicher als noch gerade eben. Am Wochenende ist es dann soweit. Die Sonne scheint hell und warm und wir haben unsere Sachen für einen Ausflug an den Strand gepackt. Meine Eltern haben uns ihr kleines Auto zur Verfügung gestellt und ich bin heilfroh, dass sie mich vor Viktors unerwarteter Ankunft einige Male mit dem Transporter zum Einkauf bei unserem Großhändler geschickt haben, dass ich wieder an das Autofahren in Japan gewohnt bin. Ein Unfall aufgrund mangelnder Fahrpraxis nach fünf Jahren Auslandsaufenthalt mit dem besten Eiskunstläufer der Welt auf dem Beifahrersitz wäre nämlich nicht empfehlenswert. „Ich wusste nicht, dass du einen Führerschein hast“, sagt Viktor, nachdem er Makkachin auf die Rückbank gelassen und sich neben mich gesetzt hat. Der Sitz sieht auf einmal sehr, sehr klein aus. Fast wie ein Kindersitz, aber das liegt daran, dass Viktor für japanische Verhältnisse einfach sehr groß ist. „Naja, meine Eltern wollten, dass ich ihn mache, damit ich unseren Transporter fahren kann“, erkläre ich. „Das war noch bevor ich nach Detroit gezogen bin. Schnall‘ dich an.“ „Ist das nötig?“ „Ja. Sonst fahr ich nicht los.“ „Aber hier fahren alle doch immer so gesittet und langsam?“ „Schnall‘ dich bitte an.“ „Schon gut...“ Klick. Na bitte, geht doch. Wir fahren los. Ich erinnere mich noch halbwegs an den Weg zum Badestrand hinunter, sofern nicht irgendwo innerhalb der letzten fünf Jahre die Straßenführung geändert worden ist. „Bist du in Detroit Auto gefahren?“ „Nur ein paar Mal. Die Autos in Amerika sind mir zu groß.“ „Du solltest in Russland kein Auto fahren“, lacht Viktor. „Ehrlich, ich bin total fasziniert, dass sich alle an die Regeln und die Geschwindigkeitsbegrenzung halten.“ „Macht ihr das in Russland nicht?“ „Man nimmt es nicht so genau.“ „Fährst du Auto?“ „Nicht oft. Nur wenn Makkachin mal zum Tierarzt muss oder ich ihn bei einen Hundesitter geben muss, weil ich unterwegs bin.“ „Das ist in der Saison wohl ziemlich oft, oder?“ „Während der Saison ist er generell bei jemand anderem. Es wäre zu stressig für ihn, ständig von einer Wohnung in die andere zu wechseln. Dafür ist er schon zu alt.“ „Du wohnst allein?“ „Ja.“ „Dann bist du den Sommer über immer allein in deiner Wohnung?“ „Ich bin kaum zuhause. Auch im Sommer nicht. Training, Termine, irgendwas ist immer.“ „Ist dir langweilig hier?“ Er schaut mich mit großen Augen an. Dann lacht er. „Nein, gar nicht! Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber... Oft werde ich wach und komme mir vor, als wäre das alles gar nicht real. Ich kann aufstehen, wann ich will. Ich kann gehen, wohin ich will. Ich kann essen, was ich will.“ Sein Blick wird melancholischer und ich muss mich anhalten, den Blick auf die Straße zu richten. „Man grüßt mich normal auf der Straße. Ich kann mit Makkachin Zeit verbringen... Ich bin nicht alleine in irgendeinem Hotelzimmer...“ Sein Mund ist noch offen, als wolle er etwas sagen, aber Viktor bricht ab. Ok, das war zu viel. Etwas unwirsch halte ich am Seitenstreifen. „Bist du einsam, Viktor?“, frage ich ihn und könnte mich dafür ohrfeigen, so eine indiskrete Frage zu stellen. Viktor sieht mich völlig überrascht an. Es dauert noch einen Moment, aber dann lächelt er zu mir herüber: „Nein, nicht mehr. Jetzt bist du da, Yuuri. Und Makkachin. Deine Familie.“ Mein Gesicht muss feuerrot leuchten. Zumindest fühlt es sich so an, aber gleichzeitig bin ich ziemlich schockiert darüber, was er für Banalitäten aufgezählt hat und noch bevor ich mich fragen kann warum, verstehe ich es. Er ist berühmt. Er wird fast überall erkannt. Er kann nicht dahin gehen, wo er gerade möchte. Er hat immer einen strengen Termin- und Trainingsplan. Wahrscheinlich auch einen noch strengeren Ernährungsplan. Er sieht seinen Hund nur jedes halbe Jahr. Er ist alleine in seiner Wohnung oder in unpersönlichen Hotelzimmern. Wenn ich mir das vorstelle, dann wird mir irgendwie ganz anders... „Yuuri, fahren wir weiter?“ „Was, äh, ja, natürlich.“ Ungeschickt starte ich den Motor erneut. „Mach dir keine Gedanken, Yuuri“, sagt er zu mir, als wir uns in den Verkehr einreihen. „Es geht mir gut. Ich bin froh, dass ich hier bin.“ Den Rest der Fahrt über schweigen wir. Es sind noch nicht viele Menschen am Strand. Die Wassertemperatur liegt bei knappen 19 Grad und ja, es ist verdammt frisch. Also zumindest für mich. Aber Viktor und Makkachin sind definitiv ein anderes Wärme-Kälte-Verhältnis gewohnt und haben sich direkt in die Fluten gestürzt. Ich habe es gerade bis zu den Knien geschafft und damit ist es auch vorbei. Aber so kann ich ganz ungeniert Viktor und Makkachin zusehen, wie sie durch das Wasser toben. Man sieht, dass die Beiden sich in- und auswendig kennen. Viktor schnappt sich Makkachin ein paar Mal und lässt ihn ins Wasser plumpsen, aber der Hund lässt alles mit sich machen. Er ist total auf Viktor fixiert und hat seinen Spaß. Genauso wie Viktor selbst, der sich über die gemeinsame Zeit mit seinem Hund wirklich zu freut. Es beruhigt mich irgendwie, aber nach einer Weile muss ich seufzen. Hätte ich das mit Vicchan nur auch nochmal erleben können... „Hey, Yuuri!“, ruft mir Viktor zu. „In meiner Tasche ist ein Tennisball, wirfst du mir den eben mal her?“ „J-ja klar!“, antworte ich hastig und schlurfe durch den Sand zurück zu unseren Sachen. Viktor hat eine große, korallenfarbige Tasche dabei, die wie ich gerade feststelle, von Valentino ist. Und ich habe einen gammeligen, zehn Jahre alten Rucksack. Was für ein Taschenduo. Aber es wundert mich nicht mehr, die meisten Dinge, die Viktor besitzt, sind nicht gerade von der preisgünstigen Sorte. Das Erste, was mir davon aufgefallen ist, war sein Kulturbeutel von Louis Vuitton, der einen festen Platz in unserem Badezimmer eingenommen hat. Zuerst dachte ich, der Beutel gehört meiner Schwester und fragte mich schon, wo sie das Geld dafür herhatte, bis mir ein neugieriger Blick hinein den eigentlichen Besitzer verraten hat. Ich hatte einen halben Herzinfarkt an diesem Morgen, zum Einen, weil ich gar nicht damit rechnete, Viktors Sachen in unserem Familienbadezimmer zu finden und zum Anderen, weil ich mir wie ein Schnüffler vorkam. Dabei es war nur logisch. Er hat kein Gästezimmer, sondern das ungenutzte Esszimmer bezogen und irgendwo müssen seine Sachen ja hin. Trotzdem, was für ein Schock...! Diesmal darf ich seine Tasche aber ganz legal öffnen und finde besagten Tennisball eingepackt in einer Plastiktüte. Einen kurzen Moment frage ich mich warum, dann erkenne ich, dass darunter Viktors Wechselkleidung liegt. Das erklärt natürlich den Plastikbeutel. Ok, der Geruch des Tennisballs vielleicht auch. Ich erinnere mich, dass Vicchans Spielzeug irgendwann auch so gestunken hat, kurz bevor meine Mutter es dann entsorgt und ein Neues geholt hat. Ich stopfe die Plastiktüte in den Sand und gehe mit dem Stinkeball zurück zum Wasser. „Viktor! Ich werfe!“ „Okay!“ Mein Wurf ist fast eine Punktlandung, der Ball fällt etwa einen halben Meter vor Viktor ins Wasser. Und Makkachin ist total aufgedreht. Er hat den Ball natürlich sofort erkannt – oder gerochen, je nachdem. Viktor fischt den Ball aus dem Wasser und hält ihn hoch, dass Makkachin ihn sehen kann, aber nicht drankommt. Der Hund wird sichtlich nervös, so sehr freut er sich, mit seinem Herrchen spielen zu können. Die Szene erinnert mich an das Foto, auf dem ich Viktor zum ersten mal mit Makkachin gesehen habe. Viktor hatte genau dasselbe, offene und ehrliche Lachen, das ich heute nicht nur sehen, sondern auch hören kann. Es ist irgendwie ansteckend und ich muss leise mitlachen, wenn ich die Beiden so zusammen sehe. „Hey, Yuuri! Fang!“ Eh, was? Viktor wirft den Ball zu mir zurück und Makkachin hechtet hinterher, bemüht den Ball vor mir zu erreichen, aber vergeblich. Da steht er jetzt vor mir und schaut doof, weil ich seinen Ball in der Hand habe. Ob Makkachin auf denselben Trick reinfällt wie Vicchan? Einen Versuch wäre es wert... Ich zeige Makkachin den Ball in der rechten Hand. Der Hund wedelt mit dem Schwanz und ist total nervös; er will, dass ich werfe. Dann führe ich den Ball hinter meinen Rücken, nehme ihn mit der linken Hand und halte ihn wieder nach oben. Makkachin ist irritiert, weil der Ball plötzlich auf der anderen Seite ist, aber er ist immer noch aufgeregt und will, dass ich endlich werfe. „Was machst du da, Yuuri?“, ruft Viktor und kommt ein paar Schritte auf uns zu. „Wirf her!“ „Warte kurz“, antworte ich und nehme den Ball wieder hinter meinem Rücken in die rechte Hand. Makkachin fängt an zu bellen und sieht aus, als wolle er gleich hochspringen. Ich beuge mich leicht vor, nehme den Ball wieder hinter meinen Rücken, aber klemme ihn in meiner Badehose fest. Dann zeige ich Makkachin beide Hände. Der Ball ist weg. Der Hund versteht die Welt nicht mehr. Er schaut mich belämmert an, fängt an zu suchen, springt nach links und nach rechts, schaut hilflos zu Viktor und alles dreht sich für ihn nur um die Frage, wo sein Ball geblieben ist. Ungerührt davon sage ich: „Tja, Makkachin, der Ball ist weg. Dumm gelaufen. Beschwer‘ dich bei Viktor, er hat ihn mir zu geworfen.“ Der Hund ist völlig von der Rolle und wendet sich ihm. Dann hole ich den Ball wieder hervor und halte ihn hoch, dass Viktor ihn sehen kann, aber Makkachin nicht. Viktor fängt augenblicklich an zu lachen und steigt in das Spiel mit ein: „Ich hab deinen Ball auch nicht, schau.“ Er zeigt Makkachin ebenfalls beide Hände. Kein Ball. Scheiße aber auch. In dem Moment werfe ich Viktor den Ball wieder zu, er saust an Makkachin vorbei und der Hund macht einen Satz als würde er beim Springreiten teilnehmen und landet mit einem Bauchplatscher wieder im Wasser. Bei diesem grandiosen Sprung von Makkachin müssen wir beide aus vollem Hals lachen und ich stelle fest, dass der Unterschied zwischen uns vielleicht gar nicht so groß ist, wie ich dachte. Als wir am Abend schließlich zurück nach Hause aufbrechen, sind wir alle drei schlagskaputt. Makkachin liegt während der Fahrt platt auf der Rückbank und Viktor muss auch kämpfen, nicht einzuschlafen. Ich bin zwar auch müde, aber es geht noch. Ich muss ja auch fahren. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass Viktors Nase und Wangen gerötet sind. Da hat sich wohl jemand einen leichten Sonnenbrand geholt, denke ich schmunzelnd. Zuhause angekommen wartet meine Mutter bereits ungeduldig mit dem Abendessen auf uns. Sie hat seit dem ersten Tag einen Narren an Viktor gefressen und nennt ihn auch nur Vicchan, sodass ich nachvollziehen kann, dass es ihr nahe ging, dass wir außerhalb des Trainings kaum etwas miteinander zu tun hatten. Jetzt aber freut sie sich und strahlt, dass insbesondere Viktor einen so schönen Tag gehabt hat und zum ersten Mal schlägt dieser auch Alkohol zum Abendessen aus, so müde ist er, dass wir alle müssen lachen. Mari räumt etwas irritiert das Bier zurück in den Kühlschrank und Mutter bietet ihm stattdessen kalten Tee an, den Viktor auf Japanisch dankend annimmt. So ein paar Wörter spricht er mittlerweile schon, unter anderem arigatou, itadakimasu, go-chisou-sama deshita(*)... hauptsächlich die Wörter, die beim Essen ständig fallen und auch von unseren Gästen häufig benutzt werden. Vater staunt jedes Mal darüber und Mutter ist absolut verzückt. Einzig Mari ist indifferent wie immer, denn seit Yurio abgereist ist, scheint sie mit mir und Viktor beleidigt zu sein, weil sie den Blondschopf lieber noch etwas länger hier gehabt hätte. Ganz verübeln kann ich es ihr aber nicht. So ein bisschen vermisse ich ihn auch und manchmal warte ich nur darauf, dass er um die Ecke springt und Schimpfwörter durch die Gegend brüllt. Auf seinem Instagram-Account hat er mich gesperrt, sodass ich nicht mitbekomme, wie es ihm in Russland geht, aber immerhin scheint er mit Yuko regelmäßig zu schreiben. Nachdem Mutter den Tisch abgeräumt und Vater wieder nach unten zu seinen Kumpels zum Fußball schauen verschwunden ist, mache auch ich den Fernseher an und suche nach irgendeiner Talkshow, von der man sich berieseln lassen kann. Makkachin liegt unter dem Tisch und pooft vor sich hin. Ich beobachte, wie Viktor sich sein Kissen auf dem Boden zurecht legt und wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis auch er schläft. „Yuuri“, ruft meine Mutter nochmal. „Fragst du Vicchan, ob er Creme für sein Gesicht haben will? Er hat sich ein bisschen verbrannt.“ Ich schaue zu ihm, wie er mit dem Kopf in meine Richtung liegt und tatsächlich schon fast eingeschlafen ist. Einen Moment lang überlege ich, aber kann nicht widerstehen, knie mich vor ihn und poke ihn sachte auf den Kopf. Er schlägt die Augen sofort auf und sieht mich verdattert an. „Warum pokest du mich schon wieder...?“ „Viktor...“, sage ich leise. „Du kannst gleich schlafen, aber du solltest dir das Gesicht noch einreiben, du hast dich verbrannt.“ „Verbrannt...?“ „Deine Nase ist ganz rot und deine Wangen auch“, antworte ich. „Mutter hat Aloe-Creme hier. Du hast sehr helle Haut und bist die viele Sonne nicht gewohnt, deswegen bist du auch so groggy.“ Viktor richtet sich noch einmal auf und Mutter kommt zu uns herüber und gibt ihm ein bisschen Creme auf den Zeigefinger. Irgendwie klappt es mit der Koordination aber nicht mehr so ganz, sodass Mutter ihm zur Hilfe eilt und ich hin- und hergerissen bin, ob ich es niedlich oder übertrieben unbeholfen finden soll, dass ein erwachsener Mann sich von meiner Mutter gerade die Nase einreiben lässt. Wenn ich allerdings sehe, wie sehr Mutter dabei strahlt, kann ich Viktor dafür eigentlich nicht böse sein. Und er ist wirklich müde. Also doch niedlich, beschließe ich und frage mich direkt, ob ich mir das erlauben darf, ihn niedlich zu finden. Er ist mein Trainer! Wobei er heute vielmehr wie ein Freund war... und beim Essen und gerade jetzt eher wie ein Familienmitglied... Argh, was sollen diese Gedanken! Meine Mutter verschwindet zurück in den Flur. Wir sind allein. Mir wird auf einmal ganz merkwürdig und mein Puls hat die doppelte Schlagzahl. „Was schaust du im Fernseh, Yuuri?“ „N-Nichts Besonderes, ich hab noch nicht entschieden...“ „Darf ich mich zu dir setzen?“ Oh nein, nein, nein! Komm' mir nicht zu nahe! denke ich, aber zu spät. Er sitzt neben mir an die Wand gelehnt, die Beine angezogen und das Kissen umarmt vor seinem Oberkörper, aber er hat Abstand gelassen. Sein Kopf liegt etwas schief auf der Seite vor Müdigkeit, aber er lächelt mich an. „Danke, Yuuri. Das war der schönste Tag, den ich seit Langem hatte.“ Dann fallen die blauen Augen wieder zu und er döst ein. Ich schlucke. Für den Bruchteil einer Sekunde könnte Viktor noch etwas anderes gewesen sein. Teil 2 - Juni 2016 ------------------ Hallo Yakov, warum antwortest du nicht? Es geht mir gut, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich weiß, dass du meine Emails liest, also bitte antworte doch. Vor zwei Wochen haben wir angefangen, an der Kür zu arbeiten. Es hat etwas gebraucht, bis die Musik und das Thema entschieden waren, aber die Choreographie ging dafür umso schneller. Trainer zu sein ist noch gewöhnungsbedürftig, aber nur, weil ich kaum die Füße still halten kann und ständig eingreifen möchte. Aber das ist ein gutes Zeichen, oder? Jedenfalls kam es mir immer so vor, wenn wir angefangen haben, ein neues Programm einzustudieren. Du wärst mir auch am Liebsten immer sofort ins Gesicht gesprungen, weil dies nicht und das nicht und überhaupt nicht und am Ende machen wir doch, was ich will, das du willst, was ich will. Weißt du ja ;-) Ansonsten hat die Regenzeit in Japan angefangen und es ist ziemlich schwül und warm. Aber man kann im Meer baden gehen! In St. Petersburg wird das Wasser selten warm genug, aber hier schon. Man darf zwar nicht überall ins Wasser gehen, dabei ist es gar nicht weit bis zum Meer. Ich bin jeden Morgen mit Makkachin dort. Sobald der Regen vorbei ist und es an die 30 Grad geben soll, werden wir wieder öfter zum Badestrand fahren. Wenn ich die Möwen höre, muss ich immer an St. Petersburg denken, aber ich kann das Gefühl nicht benennen. Es ist kein Heimweh, auch wenn es mich nachdenklich stimmt. Wenn ich mich frage, wonach ich Heimweh hätte, dann fallen mir nur du und Jelena ein. Gut, und Brot. Das Essen hier ist zwar unglaublich lecker, aber jeden Tag Reis zu essen ist sehr ungewohnt und im Supermarkt gibt es nur Toastbrot zu kaufen. Einfach nur ein schönes Butterbrot. Das wär's. Ansonsten ist Hasetsu wirklich eine schöne Stadt. Ich habe schon eine ganze Menge Fotos auf meinem Instagram :-) Viktor Unser Ausflug an den Strand bleibt erst einmal eine einmalige Angelegenheit, weil der Monsun eingesetzt hat und alle Aktivitäten im Freien erst einmal nicht machbar sind. Die einzige Ausnahme ist, mit Makkachin Gassi zu gehen, aber da wechseln wir uns alle mittlerweile ab, denn eine unfreiwillige Dusche am Tag reicht jedem von uns und es ist auch nicht wenig Arbeit, den Hund immer wieder trocken zu bekommen. Makkachin ist schließlich kein Zwergpudel so wie Vicchan. Womit wir uns an den Abenden seit dem Strandausflug gerne beschäftigen, ist Makkachin weitere Dinge beizubringen, die ich Vicchan beigebracht hatte. High-Five geben, klatschen oder eine Rolle machen. Da Makkachin jedoch nicht mehr der Jüngste ist, tut er sich etwas schwer, aber es macht ihm Spaß und uns Spaß, selbst wenn die Erfolgsquote zu wünschen übrig lässt. Außerdem haben wir bemerkt, dass Makkachin verrückt nach allem ist, was Bohnenpaste enthält, aber das darf er natürlich nicht fressen. Von dem hohen Zuckergehalt abgesehen, kleben die meisten dieser Süßigkeiten so sehr, dass er leicht ersticken könnte. Also muss immer jemand drauf achten, dass nichts auf den niedrigen Tischen liegen bleibt, sonst ist es schneller weg, als man schauen kann. Damit es aber nicht zu eintönig wird, versuche ich andere Möglichkeiten zu finden, etwas mit Viktor zusammen unternehmen zu können. Um nicht zu viele Fragen stellen zu müssen, bin ich erst einmal das komplette Touristenprogramm von Hasetsu durchgegangen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, ihn mit Museumsbesuchen begeistern zu können. Das Schloss war eine Idee gewesen, aber japanische Schlösser sind im Gegensatz zu europäischen Schlössern von außen spektakulärer als von innen und ein kurzer Blick auf die Liste der Sehenswürdigkeiten in St. Petersburg ließ mich die Idee schnell verwerfen, denn die Stadt besteht wie ich finde nur aus prunkvollen Gebäuden. Der Winterpalast hat Ausmaße, die dem Louvre in Paris gleichkommen; von den ganzen anderen, baulichen Zeugen der Zarenherrschaft einmal abgesehen. Da würde ich wohl noch etwas improvisieren müssen, denn die typischen Beschäftigungen an Regentagen wie zum Beispiel ein Kinobesuch oder Karaoke setzen unweigerlich Japanischkenntnisse voraus, die Viktor aber nicht hat. Karaoke wollen wir dann doch zusammen mit der ganzen Familie an einem Wochenende versuchen. Und wir stellen fest, dass es viel mehr englischsprachige Lieder gibt als wir dachten, sodass Viktor tatsächlich, wenn auch mit eingeschränkter Liedauswahl, mitmachen kann, ohne ständig aussetzen zu müssen. Aber irgendwie hört er lieber zu, statt selbst zu singen. Nicht, weil er es nicht könnte, aber die japanischen Lieder sind einfach spannender anzuhören, sagt er. Nach einer Weile kommt uns aber die Idee, dass er ja internationale Lieder aus Filmen auch auf Russisch singen könnte. Das macht es für uns wiederum spannender, ihm zuzuhören. Die Karaokemaschine ist von dem anderen Text aber durchaus verwirrt, sodass Viktor am Ende kaum Punkte bekommt, obwohl er die Lieder einwandfrei gesungen hat. Andererseits hat Viktor sich selbst auch ein paar neue, ich nenne es mal „Hobbys“, zugelegt, die meiner Ansicht nach den Namen zwar nicht verdient haben, aber er hat Spaß dran, also...: Kitkat. Ja. Kitkat. Die Schokolade. In Russland, beziehungsweise Europa, gibt es das offenbar nur mit Vollmilchschokolade, also die Standardsorte. Hier in Japan aber nicht und Viktor ist völlig fasziniert. Er sammelt jetzt. Immer in doppelter Ausführung, einmal für sich und einmal für jemanden in Russland. Viktor möchte sich noch bedanken, dass man ihm seine ganzen Kostüme geschickt hat und die Idee, das auf diese Art zu tun, finden alle niedlich (diesmal also nicht nur ich...!), eben weil es das in Russland nicht gibt. Es machen auch alle mit, um so viele Sorten wie möglich zusammen zu tragen und das mit Erfolg: Wahrscheinlich haben wir bereits mehr Auswahl als der Kitkat-Store in Fukuoka. Und ich frage mich langsam, warum ich mir solche Sorgen gemacht habe, ihn nicht beschäftigen zu können. Diese ganz normalen Dinge reichen scheinbar vollkommen aus. An einem anderen Tag mit weniger Regen fahren wir zusammen mit der Bahn nach Fukuoka. Zum Einen, weil es dort etwas mehr zu sehen gibt und zum Anderen, weil Viktor einige Dinge einkaufen möchte. Kleidung ist ein Punkt auf seiner Liste, denn er hat so gut wie keine kurzen Sachen dabei. Wahrscheinlich weil man das in Russland nicht so oft braucht, aber bevor er ständig nur in Unterhosen auf unserer Etage herumläuft, müssen ein paar Hosen und Shirts jetzt einfach sein. So gedankenverloren wie er manchmal ist, würde er derart leicht bekleidet womöglich noch vom oberen in den unteren Stock laufen und meine Familie oder unsere Gäste müssen das nun wirklich nicht sehen. Er besitzt in dieser Hinsicht ja auch nicht einen Hauch Schamgefühl, der ihn davon abhalten würde... Hätte ich aber geahnt, wie einkaufen mit ihm abläuft, hätte ich mich mental anders vorbereitet. Oder sagen wir, mir war der Umstand, dass Viktor einfach viel mehr Geld hat als meine ganze Familie zusammen, irgendwie nicht so wirklich bewusst. Da ich in Gedanken ständig am Rätseln bin, wie viel ich ihm für die Trainingsstunden bezahlen muss, denke ich ununterbrochen im Sparmodus, aber auch sonst kann ich bisher nicht behaupten, in die Verlegenheit gekommen zu sein, nicht auf mein Geld achten zu müssen. Offenbar hat Viktor diese finanzielle Grenze überschritten. Dabei hätte ich es mir auch denken können, dass er wahrscheinlich nicht bei UniQlo einkaufen will, wenn die Strandtasche von Valentino, die Sonnenbrille von Gucci und der Kulturbeutel von Louis Vuitton ist. Ich warte also vor den Geschäften auf ihn. Es gibt so viele Gründe, die mich davon abhalten, die Läden mit ihm zu betreten. Zuerst einmal, weil es einfach nicht meine Preisklasse ist und dann, weil ich mir schon wieder wie ein Schnüffler vorkäme, wenn ich mir vorstelle, dabei zu sein, wenn Viktor Kleidung auswählt und, noch viel schlimmer, am Schluss die Summe auf dem Display der Kasse zu sehen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was er für einen Kontostand hat. Als er wieder zu mir zurück kommt, bin ich aber überrascht zu sehen, dass er nur zwei kleine Tüten bei sich hat. „Hast du nichts finden können?“, frage ich verwundert, auch wenn mich das eigentlich nichts angeht. „Ich lasse es schicken“, erklärt er, als wäre es das Normalste auf der Welt. „Keine Lust, das den ganzen Tag mit mir herumzutragen. Zugegeben, die Kassiererin war etwas verwirrt. Vielleicht war aber ihr Englisch auch nicht so gut. In Russland gehört das dazu, oder sagen wir, viele bieten das an. Ist das in Japan anders?“ „Das weiß ich nicht...“, weiche ich aus. Als ob ich jemals in meinem Leben bei Hugo Boss oder Armani eingekauft hätte, um das wissen zu können. Bis vor einem halben Jahr war ich Student, da saß der Geldbeutel wo ganz anders. „Kannst du schauen, ob ich die Adresse richtig geschrieben habe?“, fragt Viktor, und zieht einen Zettel aus der Hosentasche, den er mir vor die Nase hält. Der Kassenzettel. Ich sehe zu viele Nullen am Ende. Immerhin sind das Yen und keine Dollar, denn sonst würde ich vermutlich rückwärts umfallen. Er hat einen Anzug gekauft, wenn ich das richtig sehe... für was braucht er den denn? Aber gut, das erklärt die Endsumme... „Die Adresse stimmt“, sage ich und schiebe seine Hand mit dem Zettel zurück. Drei Shirts für 21.000 Yen... Das ist der Betrag, den ich meinen Eltern im Monat für Essen und Unterhalt bezahlen muss. „Danke“, sagt er und sieht sichtlich erleichtert aus. „Eure Adressen sind komisch, ich würde niemals was finden, wenn ich nur die Adresse hätte.“ „Das passiert mir auch“, antworte ich beiläufig. Jeans für 33.000 Yen... „Sag' mal, Yuuri,“ beginnt Viktor und ich merke schon an seinem Ton, dass er spontan das Thema gewechselt hat, „in den Geschäften höre ich schon seit heute morgen immer wieder das ein und selbe Lied. Bisher habe ich auf die Musik im Radio nicht so geachtet, weil ich kein Japanisch verstehe, aber dieses ist Englisch.“ „Kann sein, dass das gerade in den Charts ist“, antworte ich, auch wenn ich mich wundere, denn ein englisches Lied in den japanischen Charts ist eher selten. „Gefällt dir das?“ „Ich weiß noch nicht, dazu müsste ich es mal ganz in Ruhe hören.“ „Ich achte mal drauf. Wenn ich weiß, wie es heißt und von wem es ist, sag' ich es dir.“ „Yay! “, freut er sich und streckt die Arme in die Luft. Niedlich, denke ich und muss schmunzeln. Moment, was? Nein, nicht schon wieder... „Yuuri~, lass' uns was essen gehen. Und was trinken, ich hab' Durst.“ „Da vorne sind Getränkeautomaten“, sage ich und deute zur Straßenecke, um mich schnell wieder von meinen Gedanken abzulenken. Zusammen gehen wir zu den Automaten; ich ziehe eine Flasche Pocari, Viktor einen Apfeltee. Das Einzige, was er lesen kann und das nicht eklig klingt, sagt er, während er mein Getränk mit suspektem Blick betrachtet. „Nein, da ist kein Schweiß drin, Viktor“, entgegne ich. Pocari Sweat. Ich weiß schon, warum er denkt, dass das eklig ist. Aber Tea's Tea Apple Tea klingt auch nach einem sehr einfallsreichen Namen für Tee. „Wie schmeckt das?“, will er wissen. „Kann ich probieren?“ „Was, äh, ok?“ „Willst du von meinem? Komm', wir probieren gegenseitig.“ „Na gut...“ Gott sei Dank hat er noch nicht von seinem getrunken, sonst würde ich das wahrscheinlich ablehnen. Wir tauschen die Flaschen, jeder nimmt einen kleinen Schluck vom anderen und: „甘すぎ!“ D: „Тьфу!“ DX Sofort hat wieder jeder seine Flasche und trinkt einen größeren Schluck. „Yuuri! Pfui Teufel, das schmeckt wirklich nach Schweiß, wie kannst du das trinken?!“ „Du hast gut reden, Viktor! Deins ist viel zu süß, das ist wie Wasser mit Zucker!“ Wir schauen uns noch einen Moment lang völlig entsetzt an, dann müssen wir lachen und sagen gleichzeitig: „Solange es dir schmeckt.“ - Und lachen gleich nochmal mehr, weil wir das Gleiche gedacht und gesagt haben. „Essen?“, fragt er schließlich. „Ja. Mosburger?“ „Okay “ Ein paar Tage nach unserer Shoppingtour hat uns Minako-sensei vorgeschlagen, zusammen in ihr Ballettstudio zu kommen und nicht immer nur ich alleine. Viktor schien erst etwas skeptisch, aber mit ein bisschen gut zureden ist er dann doch mitgekommen und hat die Ballettschläppchen angezogen. Es wunderte mich, dass er sich so geziert hat, denn Dehnübungen und Spagat macht er ständig im Onsen (diese Bilder in meinem Kopf...), also dachte ich eigentlich, dass das kein Problem für ihn sei, mit ins Ballettstudio zu kommen. Offenbar ist Ballett aber etwas, was ihm so gar nicht gefällt. Denn statt der üblichen, kindlich enthusiastischen Zustimmung, die ich sonst bekomme, blieb Viktor still und schaute mich so an, als wisse er nicht, wie er mir gerade erklären soll, dass er keine Lust drauf hat. Irritiert davon war ich schon fast beleidigt, denn Minako-sensei hat ihm nichts getan und ich noch viel weniger, aber auf Nachfragen hin erfuhr ich, dass er als Teenager zwar auch Ballett gemacht hat, aber mit seiner Lehrerin ständig im Zwist lag, weil er nicht wollte, wie sie wollte und sie nicht wollte, wie er wollte, sodass man es für das Beste erachtet hatte, es einfach bleiben zu lassen und Viktor alternativ anderes Training in Anspruch genommen hat. Es hat also nichts mit Minako-sensei oder mir zu tun, aber es erstaunte mich zu hören, dass Viktor aufgrund dieser Differenzen seit zehn Jahren keinen Fuß mehr in ein Ballettstudio gesetzt hat. Andererseits belustigte mich die Vorstellung dieses jungen, rebellischen Viktors gleichermaßen und schon wieder war es passiert, dass ich ihn niedlich fand. A-also, ja, jedenfalls kommt Viktor jetzt doch mit zum Training bei Minako-sensei. Den ersten Tag hat er nur zugeschaut. Den zweiten Tag hat er ein paar Dehnübungen an der Ballettstange mitgemacht, die dem ähneln, was ich mir jedes Mal unfreiwillig im Onsen ansehen muss. Minako-sensei meinte bald, dass sie es gerne mal sehen würde, wenn Viktor nicht einfach nur Dehnübungen machen, sondern einmal richtig tanzen würde. Sie mutmaßte, dass er zwar behauptet hätte, zehn Jahre kein Ballett gemacht zu haben, aber das, was sie aus seinen Bewegungen ablesen könnte, eine ganz andere Sprache spräche. Und bei unserem dritten Besuch ist es jetzt soweit, dass Viktor tatsächlich ein bisschen tanzen wird. Es war ein hartes Stück Arbeit ihn dazu zu bewegen, aber unter der Bedingung, dass ich mitmache, versuchen wir heute unter der Anleitung von Minako-sensei eine kurze Passage aus Tschaikowskys Nussknacker, den „Tanz der Zuckerfee“. Allerdings ohne die richtigen Ballettschuhe, aber wir trainieren ja nicht, Balletttänzer zu werden. Zuerst muss ich ran. Wie immer, aber es klappt ganz gut. Viele Pirouetten, schnelle Schritte, das kann ich. Etwas, von dem ich selbst weiß, dass ich es gut kann. Und dann ist Viktor dran. „Kann ich es zuerst einfach so versuchen?“, fragt er Minako-sensei. Sie schaut irritiert zu ihm. „Ja, natürlich.“ „Auch wenn ich nicht das mache, was Yuuri gerade gemacht hat?“ Minako-sensei legt den Kopf auf die Seite. „Mach‘ was du willst. Wer wär‘ ich denn, einem fünffachen Weltmeister vorzuschreiben, was er machen soll?“ „Okay.“ Wenn Minako-sensei gewusst hätte, was kommt, hätte sie vielleicht nicht so gedankenlos zugestimmt, denn Viktor tanzt uns nicht nur eine Passage, sondern den kompletten Tanz der Zuckerfee und zwar auf einem Niveau, dass selbst ihr der Mund offen steht. „Yuuri, das ist der Wahnsinn...!“, jammert sie ungläubig. „Zehn Jahre kein Ballett, aber er tanzt, als hätte er nie etwas anderes gemacht...!“ „Ja...“, Auch ich bin schwer beeindruckt. Minako-sensei wendet sich entschlossen an Viktor: „Viktor, deine Lehrerin, wer war sie und wo hat sie getanzt?“ „Baranovskaya. Bolshoi.” kommt die Antwort zwischen zwei Pirouetten. Minako-sensei entfährt ein stummer Schrei. Ich komm' da eben nicht mit, aber Minako-sensei dreht sich direkt zu mir und fasst mir an die Schultern: „Yuuri...! Lilia Baranovskaya! Die Primadonna des Bolshoi-Balletts, einem der Besten der ganzen Welt! Sie war eine Koryphäe! Jedes Mädchen, das in meinem Alter Ballett angefangen hat, wollte so sein wie sie!“ „Ah. Aber Viktor scheint sie ja nicht zu mögen.“ „Ich hätte damals alles gegeben, um sie einmal treffen zu können...!“ Minako-sensei hört mir gar nicht mehr zu. Sie sieht aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen, bei dem Versuch damit klarzukommen, dass ihr größtes Idol meinem größten Idol Unterricht gegeben hat. Aber trotzdem stimmt es mich nachdenklich. Obwohl Viktor scheinbar eine so gute Lehrerin gehabt hat, waren er und sie überhaupt nicht miteinander ausgekommen, sodass er das Ballett aufgegeben hat und mir wird schlagartig klar, wie viel Glück ich eigentlich habe, dass Minako-sensei mich schon seit Jahren unterstützt und mich zu jeder Tages- und Nachtzeit bei sich trainieren lässt. Und Viktor... „Bist du einsam, Viktor?“ „Jetzt nicht mehr. Jetzt bist du da, Yuuri.“ Ich kann es nicht unterdrücken. Mein Herz schlägt schneller, ich will ihn umarmen. Minako-sensei schlurft aus dem Zimmer, wahrscheinlich um auf den Schock etwas zu trinken. Meine Augen haften an ihr, bis sie den Raum verlassen hat, dann wandern sie zu Viktor, der gerade die Fußgelenke nach dem beendeten Tanz lockert. Soll ich wirklich...? Würde er es zulassen...? Bei Onsen on Ice hat er auch nichts dagegen gehabt... Argh, diese Gedanken!, ermahne ich mich und raufe mir durch die Haare. „Yuuri? Hast du Kopfschmerzen?“, fragt er und kommt zu mir gelaufen. „Was, äh, nein...!“ Dann steht er vor mir. Wie kurz vor dem Wettkampf... Ich zögere. Ach verdammt...! „Wow, was soll das denn?“, fragt er etwas amüsiert. „Sag nichts.“ Ich will nicht über das nachdenken, was ich gerade tue. Oder generell nachdenken. Gerade will ich ihn einfach nur halten. Teil 3 - Tanabata ----------------- „Yuuri?“ „Hm?“ „Überall in der Stadt wird etwas vorbereitet. Gibt es etwas zu feiern?“ Ich seufze und reibe mir mit den nassen Händen über mein Gesicht. Ich habe gehofft, er würde nicht danach fragen, bis es soweit ist. „Tanabata“, antworte ich Viktor, der sich gerade nach den obligatorischen Dehn- und Steckübungen und einem Spagat am Beckenrand auf einen der Steine gesetzt hat. Mit ins Wasser will er momentan nicht, ist ihm zu warm. Aber ich muss ins Wasser, sagt er, damit ich besser entspannen kann und meine Muskeln weich bleiben. „Und was ist das?“ „Man nennt es auch Sternenfest“, erkläre ich, „und in Japan feiert man es immer am 7. Juli.“ „Ah, also morgen. Und was wird gefeiert?“ Viktor sieht mich interessiert an und schlägt die Beine übereinander. Für einen kurzen Moment habe ich schon wieder mehr gesehen, als ich wollte und ich drehe mich beschämt zur Seite. „An Tanabata können sich der Hirte und die Weberin nach einem Jahr der Trennung endlich wiedersehen“, fahre ich fort und richte den Blick nach oben gen Himmel. „Das ganze Jahr über sind sie durch die Milchstraße getrennt, aber an diesem einen Tag können sie sich sehen.“ „Ein Liebespaar?“ Ich höre, dass Viktor vom Stein aufsteht und zum Becken gelaufen kommt. „J-Ja“, antworte ich und werde nervös, denn Viktor steigt gerade doch ins Wasser und kommt zu mir. „Warum sind sie getrennt?“, fragt er weiter. Ich versuche krampfhaft, meinen Blick am Himmel zu halten, doch meine Augen huschen immer wieder in seine Richtung, um zu sehen, ob er noch näher kommt. Hatte er nicht gesagt, ihm sei zu warm? Offenbar nicht, aber mir wird gerade sehr warm...! „I-ihre Liebe hielt sie von ihrer Arbeit für den Himmelskaiser ab, deswegen trennte er sie und gewährte ihnen nur diesen einen Tag im Jahr.“ Viktor hält inne. „Eine blöde Geschichte“, kommentiert er und das Interesse ist dahin. „Und das feiert ihr? Ich finde das grausam.“ „Nein, wieso grausam? Für uns ist das eine schöne Geschichte“, versuche ich meine Kultur zu verteidigen. „Das Tanabata ist ein schönes Fest. Es werden überall Bambuszweige geschmückt und jeder kann einen Zettel mit einem Wunsch daran befestigen. Man hofft, dass der Wunsch dann in Erfüllung geht.“ „Warum?“ Eh, warum? Warum denn nicht? Will er wirklich diskutieren? „Was gefällt dir daran nicht?“, frage ich angesäuert über seine ablehnende Haltung. „Mir gefällt die ganze Idee nicht“, antwortet er. „Ein Fest für zwei Liebende zu feiern, die sich nicht sehen dürfen, weil sie arbeiten sollen, ist an sich schon blöd. Aber wenn es dann soweit ist, wird der Tag mit egoistischen Wünschen überlagert, statt sich für die beiden zu freuen. Ich würde mir wünschen, dass sie zusammenbleiben können.“ Jetzt hat er zu viel gesagt. Er hat es wirklich geschafft, dass ich sauer bin. „Du hast gefragt, das ist die Antwort. Wir Japaner mögen das Sternenfest. Es hat etwas sehr Romantisches an sich und die Menschen kommen dabei zusammen. Jeder freut sich, dass die beiden Liebenden sich an diesem einen Tag wiederfinden. Außerdem ist ihre Liebe besonders, weil sie stark ist. Sie übersteht Jahr für Jahr, auch wenn sie getrennt sind. Das gibt anderen Liebenden Mut.“ Es bleibt einen kurzen Moment still, aber Viktors Blick durchbohrt mich beinahe. „Yuuri. Das sagst du nur so leicht daher, weil du noch nie von jemandem getrennt wurdest, den du an deiner Seite haben wolltest.“ Jetzt verschlägt es mir wirklich die Sprache. Abgesehen davon, dass er gerade das ganze Tanabata schlecht geredet hat, hat er mir nicht schon wieder offen ins Gesicht gesagt, dass ich mit 23 Jahren immer noch keine Beziehung hatte? Nur weil er damit nie Probleme haben wird, heißt das doch nicht, dass man andere ständig daran erinnern muss...! ...Es tut weh. Es zieht fürchterlich in meiner Brust. „Ich gehe“, sage ich knapp und stehe auf. Ich drehe mich auch gar nicht mehr zu ihm um. Mir ist zum Heulen zumute... Ich trockne mich ab, ziehe meine Sachen an und verschwinde so schnell ich kann aus dem Onsen. „Ah, Yuuri? Schon fertig?“ Mari steht mir im Flur gegenüber. „Wo ist Viktor?“ „Noch im Wasser.“ Ich habe keine Lust zu reden. „Ich hab den Yukata bekommen, nach dem du gefragt hast. Er liegt auf deinem Bett.“ „Den brauch' ich nicht mehr.“ Und erst recht nicht darüber. „Waaaas? Ich hab' bei allen Freunden rumgefragt, um diesen einen noch auftreiben zu können!“ „Tut mir Leid“, antworte ich und gehe schnell an ihr vorbei um der Situation zu entgehen. Ich bin danach bis zum Schloss gelaufen. Seit einiger Zeit schon sitze ich dort auf einer der Bänke und denke nach. Meinen Rucksack mit den Schlittschuhen habe ich mitgenommen, aber auf halbem Weg gemerkt, dass die Halle ja Sommerpause hat. Das ist mir noch nie passiert. Die Schlittschuhe mitzunehmen, obwohl die Halle geschlossen hat, aber Viktor hat es geschafft. Was hat er gegen das Tanabata? Und warum muss er mir immer wieder vorhalten, dass ich noch keine Beziehung hatte? Es ist nicht so, als wäre ich noch nie verliebt gewesen! Und was für eine Ahnung hat er schon... Offenbar hat ja nichts gehalten, egal wie viele da schon waren, also kann's ja keine sehr starke Liebe gewesen sein... Und warum werde ich das Gefühl nicht los, gleich heulen zu müssen?! …Ich wollte, dass er sich freut. Wollte seine leuchtenden Augen sehen, wenn ich ihn frage, ob er mit mir und meiner Familie zum Fest gehen will. Ich habe Mari extra um Hilfe gebeten, einen Yukata für ihn zu besorgen... Stattdessen sagt er es ist blöd, dann nennt er es grausam und egoistisch... Der hat doch den Knall nicht gehört...! Als ich spät in der Nacht nach Hause komme, ist keiner mehr wach. Leise und auf Zehenspitzen schleiche ich mich die Treppe nach oben und insbesondere an Viktors Zimmer vorbei, aber das Holz knarzt und Makkachin wird auf mich aufmerksam. Ich höre seine Krallen auf dem Holzboden und wie er an die Schiebetür stupst. Er fängt an zu piensen. Schnell gehe ich weiter und als ich meine Zimmertür erreiche, macht jemand Licht hinter mir an. Viktor ist wach geworden. Ich drehe mich um und sehe den schwachen Schein der Lampen durch die Türschlitze in den Flur fallen. Dann einen Fuß auf dem Holzboden, es folgt der zweite. Schritte. Makkachin pienst lauter, aber ich bin schon in meinem Zimmer verschwunden und habe die Tür geschlossen. Für eine Weile lausche ich, ob Viktor in den Flur geht oder nicht, aber ich höre nichts mehr. Auch Makkachin nicht. Er ist in seinem Zimmer geblieben und nicht rausgekommen. Gut. Ich will nicht noch zu dieser Stunde mit ihm diskutieren. Als ich mich meinem Bett zuwende, sehe ich den Yukata dort liegen. Und dann kann ich es nicht mehr halten, die Tränen kommen doch. Er ist so ein Idiot...! Am nächsten Tag ist Viktor schon unterwegs, als ich gegen Mittag wach werde. Mutter sagt, er sei zum Frühstücken nach unten gekommen und danach mit Makkachin nach draußen gegangen. Wann er wieder käme, habe er nicht erwähnt. Na gut, ist mir sogar recht. Ich gehe zurück in mein Zimmer und setze mich an meinen Laptop. Aber eigentlich weiß ich nicht so wirklich, was ich machen soll. Es fehlt an Elan, ich habe keine Lust auf irgendwas und in meinem Kopf dreht sich schon wieder alles um Viktors blödes Verhalten. Ohne eine wirkliche Absicht zu verfolgen, rufe ich seinen Twitter auf. Nichts. Dann Instagram. Auch nichts. Letztes Update vorgestern, als er ein Foto von Makkachin beim Spielen mit seinem neuen Ball gepostet hat. Ich seufze schwer. Das hätte alles so schön werden können und jetzt? Bloß weil irgendwas nicht seiner Idealvorstellung entspricht, holt er zum Rundumschlag aus... Die Zeit schleicht in den Nachmittag. Ich habe eine Menge dummer Videos geschaut, immer wieder Viktors Twitter aktualisiert (immer noch kein Update) und stelle überraschend fest, dass ich damit schon mehr als zwei Stunden verschwendet und noch nichts Sinnvolles gemacht habe. In etwa drei Stunden wollen wir runter zum Fest gehen. Gibt es irgendwas, dass ich bis dahin machen könnte, ohne noch gefühlt fünfzig Mal auf Aktualisieren zu klicken? Ich könnte ihm ja auch einfach eine Nachricht schicken, denke ich. Ich habe seine Nummer. Hm. Und was soll ich sagen? „Hallo Viktor, wo bist du?“ Klingt ziemlich dumm für eine erste iMessage. „Hallo Viktor, wann kommst du zurück?“ Klingt genauso dumm. Klingt genau genommen so, als würde ich nicht wissen, was ich ohne ihn machen soll. Nach einer weiteren verschwendeten Stunde rappele ich mich dann doch auf. Ich überlege, ob ich joggen gehen oder Mari fragen soll, ob ich im Onsen helfen kann, damit wir heute Abend rechtzeitig schließen können. Ich entscheide mich für Letzteres und sie hat auch gleich eine Aufgabe für mich. Da Vater noch unterwegs ist, soll ich den Badebereich der Herren kontrollieren, den Boden mit Wasser abspritzen und aufräumen. Das ist sicher keine erfüllende Aufgabe, aber Saubermachen muss sein und immerhin hätte ich dann auch etwas zu unserem gemeinsamen Ausgehen beigetragen. Und ich habe etwas zu tun, das mich ablenkt. Als ich fertig bin, wartet Mari vor den Umkleiden auf mich. Sie schaut mich missgestimmt an. Wahrscheinlich nimmt sie mir das mit dem Yukata immer noch übel. „Willst du ihn wirklich nicht fragen?“ „Nein.“ „Was ist los?“ „Gar nichts.“ Sie zieht eine Augenbraue hoch. „Er will nicht, okay?“, entgegne ich genervt. Mari sagt nichts darauf und das ist gut so. Es wäre das Letzte, was ich bräuchte, wenn Mari meinte, mir Ratschläge geben zu müssen... Meine Schwester, der jeder Typ beim ersten oder zweiten Date wegrennt, weil sie immer noch irgendwelchen Musikern, Schauspielern oder Idolen hinterher schmachtet, soll sich gefälligst aus meiner – ich halte inne. Meiner was eigentlich? „Na, meinetwegen. Mach' dich fertig, damit wir los können“, sagt sie und stellt Waschmopp und Eimer in den Wandschrank. Ich räume meinen Mopp ebenfalls dazu, aber meine Gedanken hängen fest. Was ist das, was ich mit Viktor habe, eigentlich? Er ist mein Trainer, aber auch mein Idol und irgendwie... Argh, es ist doch auch egal, was es ist, er will ja nicht! Er sagt, es ist blöd, dabei ist er selbst blöd und weiß gar nicht, was er verpasst... dann soll er es eben verpassen! Ich bin gerade auf dem Weg zurück in mein Zimmer, um mich fertig zu machen, als Viktor plötzlich vor mir steht. Er hat scheinbar auf mich gewartet. „Yuuri?“ „Keine Zeit.“ Ich gehe vorbei. „Yuuri.“ „Wir gehen gleich, ich muss mich fertig machen.“ „Yuuri, ich möchte mit dir reden.“ „Aber ich nicht.“ „Yuuri, bitte.“ „Nein.“ Für einen Moment ist er still, dann: „Ist dir dein Stolz so wichtig, ja?“ Er soll einfach den Rand halten, denke ich, und haue die Schiebetür hinter mir fester zu als nötig gewesen wäre. Das Tanabata ist noch genau so schön wie vor fünf Jahren, aber ich kann mich kein bisschen daran erfreuen. Vielleicht liegt es aber auch daran, weil mich alle anschauen, als ginge die Welt unter. Es ist nicht meine Schuld, dass hier Untergangsstimmung herrscht, okay? Vor allem meine Mutter sieht mich ständig mit diesem mitleidigen Ausdruck an und als es mir zu blöd wird, verabschiede ich mich kurzerhand, um mir etwas zu essen zu kaufen. Dabei habe ich gar keinen wirklichen Hunger, aber es würde ablenken. Unentschlossen laufe ich zwischen den Ständen entlang, bis meine Augen an Takoyaki hängen bleiben und ich mich in Schlange einreihe. Ich schaue zu, wie die Bällchen mit Zahnstochern flink in den Blechen gewendet werden. Das hat Viktor bestimmt noch nicht gesehen. Ob er überhaupt schon mal Takoyaki gegessen hat? Halt, warum denke ich überhaupt schon wieder an ihn?! „Yuuri, bist du ganz allein?“ „Wo ist Viktor?“ „Kaufst du gerade Frustessen?“ Erschrocken drehe ich mich um und sehe Axel, Lutz und Loop mit großen Augen vor mir stehen und Zuckerwatte schlecken. Wie kommen die Drei bitte auf die Idee, dass ich Frustessen kaufe?! „Nein, alles gut“, versuche ich sie mit einem gespielten Lächeln abzuwimmeln. Sie schauen sich unbeirrt an. „Er lügt.“ „Natürlich lügt er.“ „Sie haben sich gestritten.“ „...“ „Viktor ist jetzt bestimmt traurig.“ „Weil Yuuri wieder stur gewesen ist.“ „Dabei hat er sich so bemüht.“ Ok, jetzt reicht es mir. „Woher wisst ihr Drei, dass wir Streit hatten?!“ „Viktor war bei uns.“ „Er hat nach Tanabata gefragt.“ „Und warum dir das so wichtig ist.“ Was...?! Wieso... WAAAS?! Viktor war bei Yuko und den Drillingen und hat nach dem Tanabata gefragt?! Ich verstehe nicht... Warum? Vor lauter Schreck bekomme ich gar nicht mit, dass ich an der Reihe wäre, um zu bestellen, als ich mich der Verkäufer direkt anspricht: „Hey, Junge, was ist, hast du die Probleme mit deiner Freundin jetzt geschnallt oder nicht?“ „Äh, entschuldigen Sie bitte“, haspele ich ihm entgegen und mache einen Schritt aus der Reihe, um die Dame hinter mir vorzulassen. „Junge, ich sag' dir was“, beginnt der Verkäufer erneut und wedelt mit dem Finger vor mir hin und her, „heute ist Tanabata. Das ist der denkbar dümmste Tag im Jahr, um sich mit seiner Freundin zu streiten.“ Er macht eine Pause und sieht mich eindringlich an. Dann beginnt er schief zu grinsen: „Vertrag' dich mit ihr. Bring' die Hübsche her, ich mach' euch ein paar schöne Takoyaki und dann ist alles wieder gut, was sagst du?!“ Die Hübsche? Ach so... er versteht den Namen falsch. Meine „hübsche Freundin“... Ich fühle, dass meine Wangen zu glühen beginnen. Als hätten Viktor und ich eine Beziehung... vielleicht haben wir das in gewisser Weise auch irgendwie... Also nicht so, aber... Wer weiß, ob ich die Chance noch einmal bekäme? Und Viktor... Ich starre auf mein Handy in der Hand. „Jetzt schaut er total dämlich.“ „Warum sagt er nichts?“ „Er sollte sich mit Viktor vertragen!“ Das tue ich doch schon längst... Es ist vielleicht eine ungewöhnliche, erste iMessage, aber etwas sagt mir, dass das die Nachricht ist, auf die er wartet. Ich rufe seine Nummer auf, beginne wie in Zeitlupe mit dem Tippen und jeder weitere Buchstabe lässt mein Herz fester schlagen. Willst du mit mir zum Tanabata gehen? Senden. Mein Blick hängt am Display fest. Zugestellt. Wie lange würde es dauern, bis – oh Gott. Gelesen. Er hat es wirklich gelesen! Sofort erscheint die graue Denkblase und mein Puls schießt nochmal weiter in die Höhe. Er schreibt zurück... Oh bitte, sei nicht sauer... Bitte sei nicht so dumm wie ich und lehne ab! Du wolltest dich entschuldigen... Brrzzz. Dann bin ich nicht mehr zu halten. „Ich hab was zu erledigen, bis später!“, lasse ich die Drillinge wissen und der Verkäufer ruft mir noch hinterher, dass ich jetzt auf jeden Fall mit meiner Freundin vorbei kommen müsste, weil ich ihm das schuldig wäre, aber ich kann nicht anders, als mich auf dem schnellsten Weg zurück nach Hause zu machen. Das ist ja fast wie ein Date, Yuuri. Wo treffen wir uns? Eine dreiviertel Stunde später bin ich wieder zurück auf dem Tanabata und obwohl es immer noch so schön ist wie vor fünf Jahren und 45 Minuten, ist es trotzdem kein Vergleich zu irgendeinem Jahr davor. Weil er da ist, wir uns wieder vertragen und irgendwie ein Date haben. Der dunkelblaue Yukata steht Viktor unglaublich gut und meine Wangen glühen vor Stolz, dass er das auch so empfindet und sich darüber freut, traditionelle, japanische Kleidung zu tragen. Als wir schließlich den Takoyaki-Verkäufer erreichen, klappt diesem nur ein bisschen die Kinnlade runter, dass meine „hübsche Freundin“ ein hübscher Freund ist und als er realisiert, dass dieser Freund Viktor Nikiforov ist und ich eben ich, steht ihm der Mund gleich ein weiteres Mal offen. Vor lauter Schreck lässt er die Takoyaki anbrennen und Viktor hat gleich doppelt Unterhaltung, denn das Zubereiten der Bällchen mit den Zahnstochern findet er wie vermutet „Amazing!“ und kann gleich nochmal zuschauen. Dass sich die Fischflocken auf den Takoyaki durch die Hitze noch auf und ab bewegen, fasziniert ihn ebenso. Essen mit Special Effects. Oh Mann, denke ich und muss schmunzeln. Was braucht es, einen fünffachen Weltmeister ins Staunen zu versetzen? Tintenfischbällchen und ein paar Fischflocken. Ich fass' es nicht. Als ich unser Bambusschiffchen mit den Takoyaki entgegen nehme und kurz über die unglaublich lange Schlange staune, weil Viktor und ich hier gerade unser Essen gekauft haben, beugt sich der Verkäufer erneut zu mir und flüstert mir ehrfürchtig zu, dass ich einen verdammt guten Fang gemacht hätte und bloß aufpassen sollte, dass mir niemand Viktor streitig macht, sofern er aus dem kleinen Drama schlussfolgern darf, dass da ein bisschen mehr läuft als nur Training. Ich winke schnell und entschieden ab, aber ich glaube, dass er mir das keine Minute später noch geglaubt hat. Viktor spießt sich seinen ersten Takoyaki nämlich nicht selbst auf einem Zahnstocher auf, sondern lässt sich das Tintenfischbällchen von mir in den Mund geben. Erst durch die irritierten und argwöhnischen Blicke der Leute um uns herum begreife ich, dass Viktor mir gerade aus der Hand gegessen hat. Oder ich ihn gefüttert habe... Eigentlich beides. Dabei stehen wir mitten auf einem öffentlichen Fest...! Oh Mann, wie peinlich, aber dafür ist es schon zu spät...! Stopp, ermahne ich mich entschieden. Viktor kennt das nicht. Ich hab ihm einfach nur gezeigt, wie man Takoyaki isst. Da ist nichts dabei. Und dass er mich so glücklich anlacht ist auch normal für ihn. Himmel, meine Knie sind so weich wie Wackelpudding... Nachdem wir unsere restlichen Takoyaki (jeder für sich) gegessen haben, laufen wir zwischen den Ständen entlang. Allerdings bleibt es auch anderen Besuchern des Tanabata nicht verborgen, dass ich den Schönsten von allen bei mir habe und neugierige Augenpaare folgen uns immer wieder. Gruppen von jungen Frauen kichern, wenn wir vorbeilaufen oder bitten uns um ein gemeinsames Foto. So bewegen wir uns mehr im Stop-and-go-Modus, als gemütlich zu schlendern. Ich mache zudem etwas langsamer, denn Viktor war noch nie auf einem japanischen Fest dieser Art und ich möchte, dass er sich umschauen kann. Es ist schon wieder niedlich zu beobachten, wie sehr er versucht, die Eindrücke mit seinen Augen festzuhalten. Dennoch irritiert es mich, dass das Leuchten, von dem ich mir sicher war, dass er es in den Augen haben würde, nur noch zögerlich zum Vorschein kommt. Generell verhält er sich sehr zurückhaltend, seit wir beim Essen die ganze Zeit über beobachtet wurden. Dabei spüre ich, dass es ihn in den Fingern juckt, das ein oder andere näher zu betrachten oder gar auszuprobieren. „Viktor, wir können auch an einen der Stände gehen, wenn du willst“, versuche ich es. „Ja.“ Das klingt nicht überzeugend. Normalerweise ist er kaum zu bremsen, wenn er eine fixe Idee im Kopf hat und nicht selten bin ich derjenige, der bei diesen Ideen ungefragt mit in der ersten Reihe steht. Aber jetzt gerade macht er den Eindruck, als wisse er nicht, wohin mit sich. Er würde gerne, aber irgendwas hält ihn ab und ich würde zu gerne wissen, was. Wir bleiben wieder stehen, als eine Gruppe von fünf Mädchen uns nach einem Foto fragt. Eine darunter ist sehr groß, und sie sieht Viktor mit einem verträumten Blick an, während die anderen vier auf sie einreden, dass Viktor gar nicht wie ihr Ex-Freund aussehen kann, weil doch schon der junge Kerl am Lotteriestand wie ihr Ex-Freund ausgesehen haben soll. Die Lauteste darunter redet irgendwas davon, dass sie früher einmal die Beste im Eislaufen gewesen sei und deswegen ein Recht auf das erste Foto habe, während ihre Freundin mit den langen, schwarzen Haaren an ihrem Yukata zerrt und ruft, dass sie ja wohl einen Freund habe und sich nicht so vordrängeln soll. Ich stutze. Die hat einen Freund? Der arme Kerl... Viktor macht dennoch ein freundliches Gesicht, obwohl er nichts von dem versteht, was vor ihm passiert und nachdem die Mädchen sich auf ein Gruppenfoto und gar keine Einzelbilder geeinigt haben, ziehen sie auch weiter. Was denken die sich eigentlich, Viktor einfach so unter sich aufteilen zu können, aber im selben Moment glaube ich begriffen zu haben, warum Viktor sich so zurückhält. Er versteht zu wenig von seiner Umgebung, wird zu oft erkannt und ständig beobachtet, als wäre er nur eine von vielen Attraktionen auf diesem Fest. So weit hatte ich gar nicht gedacht und mir wird sofort schwer ums Herz. Das lag nicht in meiner Absicht... „Viktor, wir können auch schon vorgehen und einen guten Platz für das Feuerwerk suchen“, schlage ich ihm vor und hoffe, dass ihn das etwas mehr begeistern kann. „Feuerwerk?“ „Ja, das Tanabata endet immer mit einem Feuerwerk.“ „Es gibt ein Feuerwerk?“, wiederholt Viktor. „Magst du kein Feuerwerk?“, frage ich verwundert zurück. Er senkt den Kopf. „Doch, aber Makkachin ist alleine.“ Die Antwort ist ein Schlag ins Gesicht. Wir haben Makkachin nicht mitgenommen. Das Knallen der Raketen ist für Hunde unerträglich laut und ich erinnere mich noch gut an Vicchans erstes Feuerwerk damals zu Silvester. Vicchan war völlig verschüchtert und verängstigt und Makkachin wird es nicht anders gehen... Viktor hat nicht gewusst, dass es ein Feuerwerk geben würde, also hätte ich daran denken müssen... Ich schaue auf die Uhr. Das Feuerwerk wird in etwas weniger als einer Stunde beginnen. Bis wir nach Hause gegangen, Makkachin geholt und wieder zurück beim Tanabata wären, würde das Feuerwerk schon so gut wie angefangen haben und wir würden keine vernünftigen Plätze mehr bekommen. Schuldbewusst blicke ich in Viktors Gesicht. Ich kann die Antwort daraus ablesen, auch wenn er nichts sagt. Ich verstehe es ja auch, aber ich ärgere mich fürchterlich über mich selbst. Ich war so versessen darauf, ihn hierher zu bringen, dass ich alles andere nicht beachtet habe... Vielleicht hatte er mit den egoistischen Wünschen zum Tanabata doch ein bisschen Recht gehabt... Aber dann weiß ich wenigstens, was zu tun ist. „Dann gehen wir zu Makkachin“, sage ich und greife nach seiner Hand. „Aber einen Gefallen musst du mir zuhause dann noch tun.“ Viktor starrt auf unsere Hände, dann zu mir. „Einen Gefallen...?“ „Ja“, sage ich ein bisschen bestimmter. „Okay.“ „Gut, dann los.“ Wir drehen um und gehen den Weg zurück über das Fest. Die ersten Schritte fühlen sich ungewohnt an und mein Herzschlag hat sich um ein Vielfaches erhöht, weil ich gar nicht weiß, ob es ihn stört, aber er lässt es einfach geschehen. Mein Blick wandert verstohlen zu meiner rechten Hand, in der ich immer noch seine linke halte. Wir halten wirklich Händchen. Ich weiß nicht, warum ich ihn überhaupt an die Hand genommen habe, aber loslassen will ich ihn auch nicht mehr. Wir schlängeln uns durch die Besuchermassen in Richtung der Bushaltestelle. Die Menschen schieben sich dicht gedrängt an uns vorbei und machen es uns schwer, zusammen zu bleiben, sodass wir loslassen müssen, aber irgendwie schaffen wir es, uns an der Haltestelle einzureihen. Wir schweigen und schauen in unterschiedliche Richtungen, während wir auf den Bus warten, aber unsere Hände haben sich im Schutz der Menge wieder gefunden und diesmal war es Viktors Hand, die nach meiner gesucht hat. Mir schlägt das Herz bis zum Hals; ich bin völlig überfordert und ich kann Makkachin gar nicht dankbar genug dafür sein, dass er Angst vor Feuerwerk hat. Der Bus kommt zum Halten und wir steigen ein, aber während der Fahrt trauen wir uns nicht mehr, uns an die Hand zu nehmen, auch wenn uns unsere verlegenen Blicke etwas anderes sagen. Folglich dauert es nur, bis wir ausgestiegen und schnellen Schrittes um die Ecke gebogen sind, dass Viktor nach meiner und ich nach seiner Hand greife und wir beide lachen müssen. Es gibt nicht mal einen Grund dazu, aber es tut gut, es befreit und es schwebt ein unausgesprochenes Einverständnis zwischen uns, dass es einfach richtig ist, Hand in Hand zu gehen. Wir laufen die letzten Meter in Stille nebeneinander her und ich hätte nie geglaubt, dass Schweigen so angenehm sein kann. Zuhause begrüßt uns Makkachin aufgedreht und überglücklich, dass seine beiden Lieblingsmenschen ihn nicht vergessen haben und er wieder Gesellschaft hat. Wir nehmen ihn mit in den Hof und werfen ihm seinem neuen Ball ein paar Mal, während wir auf dem roten Teppich vor der Eingangstür sitzen und uns mit der Tatsache beschäftigen müssen, dass wir alleine sind, aneinander lehnen und unsere Hände immer noch miteinander spielen. So langsam werde ich durch die Stille doch nervös, weil ich keine Ahnung habe, was ich sagen könnte. Ich bin durch den Umstand, dass wir schon für gut eine halbe Stunde dümmlich grinsend Händchen halten, etwas aus dem Konzept gebracht... „Yuuri“, richtet Viktor schließlich das Wort an mich, „was ist eigentlich dieser Gefallen, den ich dir tun soll?“ Stimmt ja, der Gefallen! Ich habe schon fast gar nicht mehr daran gedacht...! „Äh, ja, also... Es ist nichts Großes… Wenn du... Du darfst aber nicht lachen!“, stammele ich vor mich hin. Er lacht, amüsiert von meiner Unsicherheit. „Schon gut, mach' ich nicht.“ „Ok, warte hier“, sage ich, lasse seine Hand los, gehe nach drinnen und komme mit einem Buch, zwei Papierstreifen und einem Stift wieder zurück. Das ist jetzt nicht so, wie es sein sollte, aber da wir nicht mehr beim Fest sind, müssen wir eben etwas improvisieren. „Ich hatte ja gesagt, dass man sich an Tanabata etwas wünschen kann... und man schreibt den Wunsch auf einen Zettel und hängt ihn an einen der Bambuszweige... also...“ „Ich soll einen Wunsch aufschreiben?“ „Also... I-ich hätte gerne, dass du meinen aufschreibst...“, lasse ich ihn wissen. Oh Gott, er hält mich bestimmt für total bescheuert. Er sieht mich für einen Moment auch so an, dann fängt er sich. „Okay“, antwortet Viktor und nimmt einen Zettel sowie den Stift aus meiner Hand. „Was soll ich schreiben?“ „Dass wir zusammen beim Grand Prix Gold gewinnen.“ Es dauert genau eine Sekunde, bis Viktor doch lacht, aber merkwürdigerweise weiß ich, dass er mich nicht auslacht. Er lacht, weil er verstanden hat, warum ich will, dass er es aufschreibt und ja, ich an seiner Stelle würde darüber wahrscheinlich auch lachen, denn eigentlich sollte ich das besser selbst aufschreiben. Aber in meiner Vorstellung ist es einfach wirkungsvoller, wenn er es aufschreibt. „Bitte entschuldige, Yuuri...“, sagt er. „Ich hab nun wirklich mit viel gerechnet, aber nicht damit. Aber wenn dir das wichtig ist, dann schreibe ich es auf. Nur können die Weberin und der Hirte Englisch? Auf Japanisch kann ich das nämlich nicht.“ Jetzt muss ich lachen. „Englisch ist in Ordnung.“ Er kommt manchmal auf Ideen... Ich gebe ihm das Buch als Unterlage und lehne mich etwas zu ihm hinüber, damit ich sehen kann, was er schreibt: Win gold together at GPF „Schreib' noch dazu, dass es mit dir zusammen sein soll“, fordere ich ihn auf. Win gold together at GPF with Victor. „In Ordnung so?“, fragt er und muss schon wieder kämpfen, nicht zu lachen. Ich nicke und nehme Zettel und Stift wieder entgegen. „Und was ist mit dem zweiten Zettel?“ „Also...“, beginne ich. „Der ist für dich. Falls du willst...“ Er sagt nichts. „Wirklich, nur wenn du willst...“, wiederhole ich. „Und du würdest meinen Wunsch aufschreiben?“ „Warum schreibst du ihn nicht selbst auf...?“, frage ich überrumpelt zurück. „Vielleicht aus demselben Grund, warum ich deinen aufschreiben sollte?“ Eh? Was soll ich denn aufschreiben können, dass es für ihn wirkungsvoller wird? Aber Viktor sieht mich unglaublich eindringlich an. Es scheint ihm wirklich wichtig zu sein... „Na gut...“, willige ich zögerlich ein und ziehe die Kappe vom Stift. „Was soll ich schreiben?“ Jetzt lehnt sich Viktor zu mir herüber, um genau zuschauen zu können. Mein Herz schlägt so sehr, es tut schon weh. „An die Liebenden, Yuuri: ,Steht für immer Seite an Seite und lasst euch nie mehr trennen‘.“ Was, ernsthaft? Das ist sein Wunsch? Das hatte er gestern im Onsen schon gesagt...! Hat er das wirklich so gemeint? Gut, also dann... Ich setze den Stift aufs Papier und halte sofort inne. Mein Herz beginnt noch schneller zu schlagen als gerade eben und das Blut schießt mir mit Hochdruck in die Wangen bei den Worten, die sich soeben in meinem Kopf formieren. Wie von selbst schreibe ich das auf, was plötzlich so viel mehr ist, als nur ein Wunsch zum Tanabata: 離れずにそばにいて。 (Stay close and never leave) Mir wird ganz anders. Ich kann kaum einen Gedanken fassen, ich weiß auch nicht, wie es passiert ist und warum gerade ich, aber... Wenn das so wäre... Ich schlucke. Unsicher drehe ich den Kopf. War sein Gesicht vorhin auch schon so nah? Einen Moment halte ich inne, aber kann es schließlich nicht mehr zurückhalten. Ohne noch etwas zu denken umarme ich ihn, vielleicht ein bisschen intimer als sonst. Für einen Moment ist es ganz still. „Yuuri... langsam habe ich wirklich das Gefühl, wir haben ein Date.“ „Ja, kann sein“, nuschele ich und halte ihn weiter fest. „Okay... Ich bin...überrascht.“ „Bild' dir nichts ein! Das war eine Ausnahme“, stelle ich sofort klar. Himmel, ich weiß nicht, was gerade in mich gefahren war... Ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Viktor lacht verlegen und legt seine Arme um meinen Oberkörper. „Aber wir, nun ja... sind dann zusammen...?“ „Ein bisschen“, gestehe ich, weil mehr traue ich mich gar nicht zu sagen. Das Gefühl, dass ich gerade empfinde, kann ich nur schwer beschreiben, aber dieses unausgesprochene Einverständnis zwischen uns kehrt zurück und wir verharren in unserer Umarmung. Makkachin hat sich auf den Boden vor uns gelegt und scheint uns zu bewachen, damit niemand dieses tiefe Einverständnis stören kann. Dann hören wir das Feuerwerk über den Dächern und Makkachin fängt sofort an zu bellen, sodass wir uns nach drinnen in Viktors Zimmer zurückziehen. Wir sitzen auf dem Bett, unser Beschützer liegt zwischen uns und wir streicheln ihn zur Beruhigung, bis es leiser wird. Dabei wandern meine scheuen Blicke immer wieder zu Viktor hinüber. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals zuvor so gesehen zu haben, wie jetzt. Kein Foto kommt an das heran, wie er sich mir gerade zeigt. Die blauen Augen leuchten, er lächelt verlegen, aber vor allem sieht er aus wie Viktor. ...Mein Viktor. Teil 4 - Juli 2016 ------------------ Seit dem Tanabata hat sich das Verhältnis von Viktor und mir verändert. Der Unterschied fällt nicht so sehr auf, wenn wir die Zeit mit anderen verbringen, aber sobald wir alleine sind, sind wir „ein bisschen zusammen“. Ich weiß aus meiner Zeit in Amerika, dass wir Japaner mit Körperkontakt vergleichsweise eher zögerlich und sparsam umgehen und ich glaube, ich erfülle auch jedes Klischee in diesem Sinne, aber Viktor bildet eine große Ausnahme. Ich hätte es niemals gedacht, aber so ist es. Dabei weiß ich noch gar nicht, was mich mehr überrascht: Dass es mich nicht im Geringsten stört, wenn er meine Hand berührt, seinen Kopf auf meine Schulter legt (ja, das Kissen im Wohnzimmer hat seinen Job verloren) oder dass Viktor wirklich bei mir sein will. Gerade jetzt liegt er halb über meinem Rücken, weil er sehen will, was ich lese und mein Bett für zwei Leute nebeneinander dann doch eine Spur zu schmal ist. Wenn ich nicht bereits wüsste, dass es viel mehr um die Nähe als ums Mitschauen geht, würde ich ihn wahrscheinlich bitten, nicht mit dem kompletten Oberkörper auf mir zu hängen. Denn lesen kann er in der japanischen Zeitschrift generell nichts und abgesehen davon ist er keine Feder. Als ich schließlich an einem Artikel hängen bleibe und nicht weiter blättere, wird es ihm zu langweilig. Stattdessen beginnt er, sich mit meinen Haaren zu beschäftigen. „Was machst du?“, frage ich amüsiert. Viktor hat sich aufgesetzt und fummelt an ein paar Strähnen an meinem Hinterkopf. Was auch immer er gerade macht, es fühlt sich lustig an. „Asiatische Haare fühlen sich ganz anders an, als sie aussehen.“ „Aha?“, bemerke ich und höre auf zu lesen. Solange er an den Haaren spielt, ist es schwierig, den Kopf stillzuhalten. „Sie sehen weich aus, aber sie sind doch ziemlich störrisch.“ „Überrascht dich das?“ „Hmm, ein bisschen. Benutzt du Gel, wenn du sie zurück machst?“, fragt er und setzt sich auf meinen Rücken. „Ja.“ „Nimm' Wachs. Das geht besser. Man braucht weniger und es hält genau so gut.“ „Bist du Friseur?“, lache ich. „Nein, aber ich eine sehr gute Freundin ist Friseuse. Sie kann das wirklich gut und ich lasse nicht jeden an meine Haare.“ „Das hab‘ ich schon gemerkt“, sage ich und lache nochmal. Seine Haare sind Viktor heilig. Kann ich aber auch verstehen, er hat sehr schöne Haare. Wie fließendes Wasser. „Wenn du länger so sitzen bleibst, bricht mein Kreuz, Viktor“, sage ich schließlich. „Ich rutsche, dann kannst du dich kurz herlegen.“ Sofort entlastet sich mein Rücken, ich klappe das Heft zu und lasse es auf den Boden fallen, dann rücke ich zum Fenster hin, um Viktor wenigstens ein bisschen Platz zu machen. Er legt sich zu mir auf die Seite, sodass wir uns anschauen können. „Soll ich dir die Haare einmal machen?“, fragt er und grinst. „Wenn du willst...“, antworte ich etwas peinlich berührt, aber ablehnen kann ich das auch nicht. Man bekommt ja nicht alle Tage angeboten, dass ein fünffacher Weltmeister einem die Haare machen will. Aber ein sehr niedlicher, fünffacher Weltmeister, füge ich in Gedanken hinzu, denn seine linke Hand ist schon wieder mit meinen Haaren beschäftigt und ich schaue ihm dabei zu; beobachte sein Gesicht und muss beinah die Luft anhalten. Er ist so schön. Nicht nur äußerlich, sein ganzes Wesen ist schön. Er hat nichts von einem gefeierten Superstar, dem alles zu Kopf gestiegen ist. Gut, er besitzt viele teure Dinge, aber er stellt sie nicht zur Schau. Er schätzt diese simplen Kleinigkeiten so viel mehr... wie jetzt gerade meine Haare. Das ist es, was ihn glücklich macht. Und mich macht es glücklich, zu sehen, dass er glücklich ist. Dann ist es wieder ganz still. „Was war das?“, fragt er amüsiert. „Ausnahme“, antworte ich schnell. Ich sollte mich dazu nicht mehr hinreißen lassen. „Ah“, grinst er zurück. „Darf ich auch Ausnahmen machen?“ „Nein. Ausnahmen sind Ausnahmen.“ „Das ist ungerecht, Yuuri.“ „Viktor, nein. Ich...kann damit nicht gut umgehen... Das weißt du...“, weiche ich seinem Blick aus und versuche ich das Thema zu beenden. „Weil du mich wegstoßen könntest?“ „...Ich weiß nicht“, entgegne ich verunsichert. „Ich brauche noch Zeit...“ „Okay“, erklärt Viktor sanft. „Ich laufe nicht weg.“ Ich atme erleichtert auf. Er hat verstanden, dass das die Grenze ist, die er momentan nicht überschreiten sollte. Allein, dass er es zulässt, was ich tue oder dass ich es überhaupt tue, ist mehr als ich auf die Reihe bekommen kann. ------------------------------------ „Bei Praslova.“ „Dobre.“ „Herr Feltsman, das ist ja eine Überraschung, dass Sie auf meiner privaten Nummer anrufen!“ „Haben Sie etwas von Viktor gehört?“ „Heute noch nicht. Er hat vorgestern mit mir telefoniert.“ „Ist alles in Ordnung bei ihm?“ „Ja. Es geht ihm gut.“ „...Der Japaner behandelt ihn ordentlich?“ „Ja. Er und-“ „Das reicht, ich will gar nicht wissen, was er mit dem Japaner alles macht. Oder der Japaner mit ihm macht, je nachdem.“ Eine Pause. „Ist es ihm wirklich ernst?“ „Viktor? Ich glaube schon. Er ist verliebt. Es hat viel zu lange gedauert, dass das wieder passiert und bei Gott, nach dem letzten Drama wünsche ich ihm nichts mehr, als dass er diesmal mehr Glück hat.“ „Er hat seine Karriere für diesen drittklassigen Japaner weg geworfen.“ „Und ein Leben gewonnen.“ „Er hat hier auch ein Leben gehabt!“ „Herr Feltsman, bitte. Reden Sie doch mit ihm. Er ist traurig, dass Sie ihm nicht antworten. Er vermisst Sie. Wenn Sie ihm zuhören würden, dann wüssten Sie, dass er alles richtig gemacht hat.“ „Das kann ich erst, wenn der Japaner sich bewiesen hat. Sie haben ihn in Sochi nicht gesehen, Frau Praslova. Er war genau so ein tänzelnder Casanova wie dieser Armleuchter von Tanzlehrer. Hat ihm schöne Augen gemacht, ihn flachgelegt und dann sitzen lassen.“ „Viktor hatte in Sochi keinen Sex mit Yuuri, Herr Feltsman.“ „Das behauptet er! Der Japaner hat ihm sein Ding doch schon beim Bankett fast zwischen die Beine gesteckt!“ „Herr Feltsman!“ „Viktor ist zu naiv! Was das angeht, ist er über die 17 noch nicht raus gekommen!“ „Dann würde ich sagen, wird es höchste Zeit, dass er Erfahrungen macht! Es geht ihm gut in Japan!“ „Er kann auch hier in Russland jemanden finden, mit dem er Sex haben kann!“ „Gott im Himmel, es geht doch nicht nur um Sex! Was denken Sie?! Zwischen Viktor und Yuuri entwickelt sich etwas!“ „Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Yuri sagte, der Japaner erinnert sich an absolut nichts von diesem Bankett!“ „Davon hat Viktor nichts erwähnt.“ „Natürlich nicht, warum sollte er?! Er hat in keiner seiner Emails erwähnt, dass der Japaner alles vergessen hat! Er ist zu stolz, es zuzugeben! Solange Viktor nicht die Eier in der Hose hat, die Wahrheit zu sagen, werde ich ihm nicht helfen!“ „Sie schockieren mich. Viktor ist glücklich, ich kann es an seiner Stimme hören! Er fühlt sich gut aufgenommen, das Essen schmeckt ihm, er liebt das Meer und das Badehaus und Makkachin geht es auch gut!“ „Und wie ist sein Verhältnis zu dem Japaner?! Es geht hier doch nicht um Essen, Baden oder den Hund, sondern um diesen besoffenen Schürzenjäger!“ „Das habe ich doch gesagt! Es entwickelt sich!" „Pah, so würd' ich das auch nennen, wenn ich mit dem Rücken zur Wand stünde.“ „Herr Feltsman!“ „Hat er denn irgendwas konkret gesagt? ‚Es entwickelt sich‘, ja, was heißt das denn?“ „Sie hatten ein Date. Ein richtiges.“ „Ein Date in drei Monaten und das, obwohl sie im selben Haus übernachten? Heilige Maria Mutter Gottes, da ist ja Georgi erfolgreicher.“ „Herr Feltsman, wollen Sie, dass es Yuuri mit Viktor ernst ist oder nicht? Also mir ist es lieber, es geht langsamer, aber dafür ehrlich, anstatt dass innerhalb von ein paar Wochen wieder alles aus ist!“ Stille. „Viktor hat seit fast drei Wochen nicht mehr geschrieben! Und sein Account ist auch nicht viel aktueller! Mir ist schlecht vor Sorge um ihn!“ „...Weil er die Zeit mit Yuuri verbringt. Sie hatten das Date am 7. Juli, also vor zwei Wochen. An diesem Tag ist Sternenfest in Japan. Offenbar ist das Fest ein Anlass für Japaner erste Dates zu haben, weil sich in dieser Nacht Weberin und Hirte am Sternenhimmel nach einem Jahr der Trennung endlich wiedersehen. Viktor hat erklärt, dass es ein Fest für Liebende ist und wenn ich seine Erzählung richtig interpretiere, dann haben sie sich geküsst. Es läuft gut, wirklich.“ „Bei Gott, ich bete, dass Sie recht haben.“ ------------------------------------ Ende Juli ist es dann soweit, dass Viktor sein Angebot, mir die Haare zu machen, in die Tat umsetzt. Heute ist das Outfit für meine Kür Yuri on Ice gebracht worden und am Abend muss ich für alle eine Anprobe machen und es vorführen. Minako-sensei, Yuko und die Drillinge staunen aber nicht schlecht, dass es nicht etwa meine Mutter ist, die mich zum Umziehen begleitet, sondern Viktor. Beim Verlassen des Raumes höre ich noch, dass Minako-sensei anfängt darüber zu reden: „Wer hätte geglaubt, dass das mal so wird. Wie Pech und Schwefel, die Zwei.“ „Ja, das ist beim Training in der Eishalle nicht viel anders.“ „Ich freue mich so für meinen Yuuri und Vicchan. Ich hatte so Sorge, dass sie sich nicht wieder vertragen könnten.“ „Wegen dem Tanabata?“ „Yuuri war plötzlich einfach weg.“ „Dabei hat er doch noch nie Frustessen stehen lassen, oder, Mama?“ „Horaaa, seid nicht so vorlaut!“ „Zugegeben, normal ist das nicht mehr. Yuuri hat noch nie jemanden so nah an sich heran gelassen.“ „Es ist Viktor. Yuuri hat ihn schon immer so viel mehr bewundert als ich.“ „Vicchan ist so ein Sonnenschein. Er tut meinem Kind gut, ich bin ihm so dankbar.“ „Viktor tut Yuuri gut?“ „Tut nicht Yuuri Viktor gut?“ „Sie sollen sich endlich verlieben, Mama!“ „Mal halblang! Dafür seid ihr Drei noch etwas zu jung! Und überhaupt; hört ihr wohl auf, die Zwei verkuppeln zu wollen?!“ Unten scheint es ja lustig herzugehen, denke ich, während ich schon in meinem Kostüm auf dem Stuhl in meinem Zimmer sitze. Meine Schreibtischlampe brennt, aber ansonsten haben wir kein Licht angemacht. Viktor kämmt vorsichtig mit seinem Kamm durch meine Haare, von der Stirn in Richtung Hinterkopf und seine linke Hand streicht behutsam darüber, damit es nicht ziept. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber in meiner Vorstellung sieht es genau so aus, wie an dem Abend, als er mir den Vorschlag gemacht hat und ich fühle ein leichtes Ziehen in meinem Bauch. Es ist so angenehm. Die ganze Situation ist angenehm. Hier zu sitzen, zu wissen, dass Viktor bei mir ist, dass er sich um mich kümmert, ganz ruhig, still; der Kamm, der in gleichmäßigen Bewegungen über meine Kopfhaut streicht. Ich könnte stundenlang so sitzen bleiben. „Gefällt dir das?“ „Hm, ja.“ „Das ist gut. Wenn man ein Kostüm zum ersten Mal fertig trägt, ist es wichtig, dass man ein positives Gefühl damit verbindet. Das Kostüm nimmt die Gefühle auf und dann ist es, als würde man jedes Mal ein gutes Gefühl anziehen, wenn man es trägt.“ „Wo hast du das denn her?“, frage ich belustigt. „Hm, das hat meine Schneiderin gesagt“, antwortet er und klingt dabei ein bisschen verträumt. „Zuerst dachte ich, sie sagt das einfach nur so, aber je mehr Kostüme ich getragen habe, desto mehr verstand ich, wie recht sie damit hat. Ein gutes Gefühl gibt Ruhe und Sicherheit. Also ist es mir wichtig, dass du dich jetzt in diesem Moment gut fühlst.“ „Hm.“ Für die nächsten Momente genieße ich einfach nur. Erst als Viktor den Kamm zur Seite legt und nach der Dose mit Wachs greift, erlaube ich mir wieder zu sprechen. Die Augen lasse ich dennoch geschlossen: „Hast du ein Lieblingskostüm?“ „Lass‘ mich überlegen...“, sinniert er, während er sanft etwas von dem Wachs in meinen Haaren verteilt und einzelne Strähnen zurecht zupft. „Ich habe viele meiner Kostüme gern getragen, aber oft aus verschiedenen Gründen. Deinen Eros zum Beispiel mochte ich, weil die Geschichte quasi schon im Kostüm steckt. Yurios Agape ist deswegen besonders gewesen, weil ich mit diesem Kostüm das erste Mal meine Vision von etwas umgesetzt habe, nicht die meiner Trainerin. So. Du bist fertig.“ „Hm.“ Ich stehe nur widerwillig auf. An diese Art von Aufmerksamkeit könnte ich mich gewöhnen. Viktor betrachtet mich und er sieht sehr zufrieden aus. „Fühlst du dich immer noch gut?“ „Ja.“ „Solltest du auch, das Outfit steht dir.“ Ich werde rot, ein solches Kompliment von Viktor zu bekommen. „Nur eine kleine Sache habe ich zu kritisieren“, sagt er. „Deine Lippen. Die sind so trocken und rau, dass ich das von hier aus bei gedämmtem Licht sehen kann. Benutzt du keinen Lippenbalsam?“ „Das stört doch niemanden“, sage ich etwas peinlich berührt. Dass Viktor darauf achtet... Wortlos geht er zu seinem Kulturbeutel auf meinem Schreibtisch, aus dem er schon den Kamm geholt hat und zieht ein kleines, weißes Döschen hervor, schraubt den Deckel ab und hält es mir hin. „Nimm“, fordert er mich auf. „Wirklich, Viktor, das ist doch nicht wichtig.“ Oh Mann, was hat er bloß...? „Bin ich niemand?“ „Eh?“ „Du hast doch gesagt, es stört niemand. Also bin ich niemand?“ „Natürlich nicht“, entgegne ich. Sagt er das jetzt nur, weil ihm das aufgefallen ist? „Yuuri“, er lässt seine Hand mit dem Döschen sinken und zieht enttäuscht eine Schnute. Dann verstehe ich doch. Wortlos nehme ich mir ein bisschen von dem Balsam und verteile ihn auf meinen Lippen. Für Ausnahmen. Teil 5 - August 2016 -------------------- Hallo Yakov, Meine letzte Mail ist einige Zeit her, ich weiß. Jelena hat mir gesagt, dass du nach mir gefragt hast und es wäre einfacher, wenn du endlich antworten würdest. Ich habe nicht entschieden, beleidigt zu sein. Mir geht es gut. Sehr gut sogar und das ist Yuuris Verdienst, aber nicht nur seiner, sondern der von allen, die hier sind. Yuuris Mutter, Hiroko, ist eine wunderbare Frau; liebevoll, fürsorglich und sie behandelt mich und Makkachin als gehörten wir zur Familie. Sie nennt mich Vicchan, das klingt wie Vitya und es erinnert mich jedes Mal an dich, wenn sie es sagt. Yuuris Vater ist ein lustiger Kerl, der nicht viel Englisch kann, aber ich bin immer willkommen, mich zu ihm und seinen Kumpels zu setzen, wenn sie Fußball oder einen anderen Sport schauen. Yuko und ihr Mann Takeshi sind in der hiesigen Eishalle angestellt und Yuuri eine große Stütze bezüglich des Trainings. Sie tun wirklich alles, damit wir weiter voran kommen. Ohne die Beiden und ihre drei Töchter wäre es in der Eishalle manchmal nur halb so lustig. Und von Minako, Yuuris Ballettlehrerin, könnte sich die Hexe im Bezug auf Menschlichkeit eine Scheibe abschneiden: Sie hat es geschafft, dass ich zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder freiwillig in ein Ballettstudio gegangen bin. Und noch viel schlimmer: Es hat Spaß gemacht. Und Yuuri. Ich weiß, was du über ihn denkst, aber er hat nichts von Michal. Das Bankett, ja, das war, weil er getrunken hat. Japaner vertragen generell nichts. Ich habe mit Yuuris Vater und dessen Kumpels ein paar Mal was getrunken und es ist lachhaft, die haben schon nach zwei oder drei Bier eine rote Birne. Yuuri selbst trinkt nicht. GAR nicht. Er ist nicht der Typ, der sich in den Mittelpunkt drängt. Er geht überaus vorsichtig seinen Mitmenschen um und rennt vor schwierigen Situationen schneller weg als ihm lieb ist, weil er unsicher ist. Er traut sich zu wenig zu, dabei muss er sich kein bisschen verstecken. Seine Familie steht hinter ihm, seine Freunde, die ganze Stadt und sie alle lieben ihn. Du hattest vielleicht Recht, dass ich, als ich aufgebrochen bin, einfach nur nach dem erstbesten Strohhalm gegriffen habe, der sich mir geboten hat. Aber ich hätte auch nicht bleiben können und das weißt du genauso gut wie ich. Ich kann dir nicht einmal sagen, inwiefern ich mir noch Hoffnungen gemacht habe oder auf was. Ich wusste die erste Zeit selbst nicht, was ich wollte. Also beschloss ich, das Schicksal entscheiden zu lassen. Du wirst jetzt denken: Ja klar, Schicksal, wenn ich derjenige bin, der bei diesem Wettkampf über Sieg und Niederlage entschieden hat. Da wird ja wohl kaum Schicksal im Spiel gewesen sein. Aber dann hätte ich Yurio auch gleich zurück nach Russland schicken können. Es war keine leichte Entscheidung, Yakov. Ich habe nichts mehr erwartet, kurz bevor der Wettkampf anstand. Ich habe nicht mal mehr gehofft. Aber etwas in Yuuri hatte sich verändert, von heute auf morgen. Wie und warum kann ich nicht sagen, aber jeder in der Halle hat es auf dem Eis gesehen. Auch Yurio und er ist gegangen, noch bevor Yuuris Programm zu Ende war. Er ist der Beweis, dass mir nicht irgendetwas eingebildet habe. Yuuri und ich haben danach von vorne begonnen. Ein neuer Anfang, ohne Bankett, ohne Alkohol, ohne überstürzten Sex. Das ist alles nicht mehr von Belang. (Ja, ich gebe es zu. Es gab ein Nachspiel in Sochi und wir hätten miteinander geschlafen, wenn Yuuri nicht vom Alkohol dahingerafft worden wäre...) Was sich diesen Sommer über entwickelt hat, ging alles von Yuuri aus. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ans Meer fahren will. Ob ich mit ihm ins Ballettstudio gehe. In die Stadt bummeln. Er hat mich nach einem Date am Tanabata gefragt. Er hat die Wunschkärtchen zu mir gebracht und er war es, der mich geküsst hat. Der mich immer wieder küsst; mich umarmt, mich bei sich liegen lässt und mich akzeptiert, wie keinen anderen in seinem Umfeld. Es hat mit Sicherheit keiner daran geglaubt und du am Allerwenigsten, aber ich habe mich ein zweites Mal verliebt. Nicht in den „tanzenden Casanova“, wie du ihn nennst, sondern in den Yuuri, den ich hier kennengelernt habe. Also wovor hast du Angst, Yakov? Hast du Angst, dass Yuuri mich fallen lässt, wenn ihm der Goldesel zu mühselig wird und er nur noch ein dummes Maultier in mir sieht? Du kannst mich nicht ewig vor allem beschützen. Mit welchen Gefühlen soll ich auf dem Eis die Menschen überraschen und begeistern, wenn ich keine mehr empfinden kann, weil mein Herz vor lauter Eis und Einsamkeit um mich herum erfroren ist? Du und Jelena könnt mir nicht geben, wonach mein Herz sich sehnt. Aber Yuuri kann es. Die Wahrheit allerdings ist, es ist noch nichts weiter passiert... (ó ò) Wir sind irgendwie zusammen, aber ich habe ständig das Gefühl, ich könnte ihn überfordern, wenn ich die Grenze überschreite, die er gesetzt hat. Jedenfalls! Jetzt weißt du, wie der Stand wirklich ist. Du bist doch mit Georgi in Peking? Komm' mit uns zum Essen. Yuuri und ich überlegen, zum Hotpot zu gehen. Dann kannst du dich selbst davon überzeugen, was für ein Mensch er ist. Viktor Es ist Mitte August und Viktor und ich sind alleine zuhause. Unser Onsen hat für eine Woche geschlossen und meine Eltern sind für einige Tage zu meinen Großeltern mütterlicherseits nach Nagasaki auf Honshuu verreist. Meine Schwester hat ebenfalls Urlaub und ist mit Freunden nach Thailand unterwegs. Somit müssen Viktor und ich uns zum ersten Mal alleine arrangieren. Da die Eishalle immer noch Sommerpause hat, hat Viktor beschlossen, dass wir diese eine Woche ebenfalls „Urlaub“ nehmen, also ist auch kein Ballett oder ein alternatives Training angesagt. Zuerst hatten wir noch kurz überlegt, ob wir in die Kansairegion fahren sollen, damit Viktor auch mal was anderes von Japan zu sehen bekommt, aber der Flug oder die Überfahrt mit dem Schiff wären für Makkachin bei den aktuellen Temperaturen zu anstrengend, sodass wir davon abgesehen haben. Der Arme liegt völlig platt in Mutters Küche, weil der Steinboden dort kühler ist als der Holzboden im übrigen Haus und Gassi gehen ist gerade die unliebsamste Beschäftigung überhaupt, aber es muss halt sein. Unsere ersten Tage als Hausherren haben wir, wie so ziemlich jeden Tag im Moment, am Meer verbracht und sind abends bei Naganama Ramen essen gewesen. Der Besitzer Morita kennt Viktor mittlerweile schon sehr gut und er ist immer sofort super drauf, wenn er ihn sieht. Er spricht kein Englisch und Viktor kein Japanisch, aber irgendwie verständigen sie sich. Zu Beginn war mir das unangenehm, aber mit ein bisschen übersetzen meinerseits war es dann doch ganz witzig geworden. Lediglich Moritas Bitte, ob Viktor mal mit seiner Tochter ausgehen will, habe ich bisher nicht übersetzt. Ich kenne seine Tochter von der Highschool und sie spricht genauso wenig Englisch wie ihr Vater und ich habe keine Lust, plötzlich als Dolmetscher bei einem arrangierten Date dabei zu sein, nur weil Viktor ohne etwas verstanden zu haben einfach „Ja“ gesagt hat. Abgesehen davon... hübsch ist sie nicht. Generell ist sie nicht attraktiv, deswegen ist sie immer noch Single. Und Viktor ist mit mir zusammen, wenn auch nur ein bisschen und da rede ich auch noch ein Wörtchen mit. Oder sagen wir, ich lasse die Wörtchen in diesem Fall unter den Tisch fallen. Um uns an den warmen Abenden die Zeit ohne viel Aufwand zu vertreiben, spielen wir seit Neustem Go. Viktor kennt das Spiel in ähnlicher Variante mit vier Steinen in einer Reihe, sodass ich ihm gar nicht viel erklären muss. Und er kann dieses Spiel sehr gut spielen, was mich ehrlich gesagt wundert, denn oft gehen seine Gedanken ja nur von jetzt bis gleich, aber heute... „Viktor, du wirst unachtsam“, bemerke ich und setze den fünften Stein meiner Reihe auf das Brett. „Willst du nicht lieber Tee haben?“ Viktor zieht eine Schnute. Die ersten Runden hat er, wie üblich, gewonnen gehabt. Aber die Flasche Sake ist im Laufe der Zeit um einiges leerer geworden und so langsam leuchten seine Wangen auch ein kleines bisschen rosa. „Das wird langweilig, wenn du dauernd gewinnst“, antwortet er in beleidigtem Ton, aber ich muss schmunzeln. Eigentlich ist das Spiel für mich langweilig, weil er immer gewinnt. Also was heißt hier „dauernd“? Ich habe gerade meine erste Runde überhaupt gewonnen! Mein Blick ruht auf ihm, wie er über den Go-Steinen brütet und versucht zu ergründen, warum genau er nicht gesehen hat, dass ich ihm eine Falle gebaut habe. Man sieht richtig, dass er wegen dem Alkohol und der Hitze einfach nicht drauf kommt. Niedlich. Ich habe aufgegeben, ihn nicht niedlich zu finden zu wollen. Egal wie oft ich mich ermahne, passiert es immer wieder und oft geht es früher oder später mit einer erneuten Ausnahme einher. Seit wir wieder öfter zum Meer gehen und dort mit Makkachin spielen und toben, hat die Häufigkeit von Körperkontakt zwischen uns weiter zugenommen und ich bin mir nicht mehr sicher, ob das überhaupt noch normal ist. Es ist mir nicht unangenehm, aber sollten wir wirklich so eng miteinander sein? Darf ich mir das überhaupt erlauben? Aber wenn ich ehrlich bin, möchte ich es auch nicht mehr missen... Viktor hat sich mürrisch vom Spielbrett abgewandt und ich sammele die Spielsteine auf. Wir sitzen bei ihm im Zimmer auf seinem Bett, das Spielbrett liegt zwischen uns. Normalerweise säßen wir im Hof, aber heute ist es bewölkt und es riecht nach Regen, sodass ich vermute, dass es im Laufe des Abends oder der Nacht ordentlich gewittern wird. „Willst du noch eine Runde spielen?“, frage ich, aber irgendwie sieht es nach einem Nein aus. „Lass' uns die Spielregeln ändern“, schlägt Viktor vor und sieht mir dabei direkt in die Augen. Ich bin irritiert. „Oh, ok...? Und was willst du ändern?“ „Wenn du wieder gewinnst, musst du irgendwas ausziehen.“ „WAS?“ „Und wenn ich gewinne, ziehe ich etwas aus.“ „Viktor, wir spielen keine Stripvariante!“ Himmel, was soll das denn?! „Warum nicht? Ich habe dich schon nackt gesehen und du mich. Jetzt tu' nicht so, als wäre das was Neues. Es ist heiß und das Spiel ist sonst langweilig.“ „Und wenn wir strippen, ist es spannender, oder was?“ „Natürlich.“ Noch bevor ich etwas darauf sagen kann, kracht es ordentlich in den Wolken und der Himmel verdunkelt sich schlagartig. Das ging jetzt schneller als ich dachte, aber noch viel mehr überrascht mich der plötzliche Wandel in Viktors Gesicht. Die Augen sind weit aufgerissen und er starrt in den Raum, ohne sich zu bewegen. „Wir sind am Meer, Nordküste“, erkläre ich ihm. „Die Gewitter vom Tsushimastrom sind immer als erstes bei uns in Hasetsu. Im September werden wir sicher den ein oder anderen Taifun erleben.“ Irgendwie verfehlt meine Erklärung ihren Effekt. Genau genommen sieht Viktor so aus, als hätte er mir nicht mal zugehört. Dann höre ich aufgebrachtes Kratzen und Scharren an der Tür und kaum dass ich aufgestanden bin und die Tür zur Seite geschoben habe, sprintet Makkachin schon an mir vorbei, um sich bei Viktor quer über den Schoß zu legen. Viktor selbst nimmt seinen Pudel sofort in die Arme und drückt ihn an sich wie einen Teddy. Sag' jetzt nicht, die Beiden haben Angst vor Gewittern? Es blitzt und donnert noch einmal lauter. Makkachin heult, Viktor umklammert ihn fester. Sie haben scheinbar wirklich Angst. „Viktor, ich geh' kurz eine Taschenlampe holen. Ich bin gleich wieder da.“ Er reagiert nicht, also denke ich es ist okay, wenn ich kurz weggehe. Licht kann ich jetzt keines anmachen und ich überlege noch einen Moment, ob ich auch einige der Sicherungen im Onsenbereich ausschalten soll. Besser wäre es allemal, also hechte ich erst einmal in mein Zimmer und krame aus meiner Schublade eine Taschenlampe hervor, die ich dort seit meiner Teenagerzeit versteckt habe, um heimlich nachts noch zu lesen. Mit der Anschaffung meines Laptops ist die Taschenlampe allerdings unnötig geworden, aber jetzt würde sie einen guten Dienst tun und ich bin erleichtert, in weiser Voraussicht bei meiner Rückkehr neue Batterien gekauft zu haben. Danach gehe ich schnellen Schrittes mit dem Licht der Lampe nach unten an den Sicherungskasten, lege den Hauptschalter für das Badehaus um und sprinte ebenso flink wieder nach oben. Zurück bei Viktor im Zimmer finde ich ihn und Makkachin an derselben Stelle auf dem Bett wieder, doch Viktor schaut mich entsetzt an. „Yuuri!“ ruft er aufgebracht. „Wo warst du!“ „Die Taschenlampe holen, das hab ich doch gesagt“, entgegne ich und halte sie hoch, damit er sie sehen kann. Dann setze ich mich auf den Bettrand. „Hast du Angst vor Gewittern?“ Viktor dreht sein Gesicht beschämt zur Seite. „Nicht vor dem Gewitter an sich...“, nuschelt er in Makkachins Fell hinein. „Aber?“, hake ich nach. Ich bin gespannt zu erfahren, was es dann ist, wovor er sich fürchtet. „Ich mag es nicht, wenn es dunkel ist...“, murmelt er leise. Bitte was? Er ist 27, also vier Jahre älter als ich, und hat Angst im Dunkeln? Sofort hängt mein Blick an den vier Lampen links und rechts von seinem Bett, über die ich mich schon gewundert hatte, als wir sie aus den Kartons gepackt haben. Meiner Meinung nach hätte es eine Lampe auch getan, aber das könnte die Erklärung für die Vielzahl der Lampen sein... „Soll ich zu dir kommen?“, frage ich. Er nickt. Oh Mann, Viktor... Lebende Legende, aber Angst im Dunkeln. Du bist schon eine einzigartige Mischung... Ich rutsche zu ihm und sofort hat er den Kopf auf meiner Schulter. „Ein Kuss?“, fragt er und schaut mich mit großen Augen hoffnungsvoll an. Überrumpelt blicke ich zurück in sein Gesicht und erkenne trotz der Dunkelheit noch das Rosa vom Alkohol auf seinen Wangen. „So schlimm ist es nicht“, sage ich, aber wende mein Gesicht ab, um meine Irritation zu verbergen. Ausnahmen auf Wunsch sind etwas Neues gerade. Erst wollte er aus unserem Go-Match eine Stripshow machen und jetzt das? Das ist irgendwie unheimlich. „Dir kommt das nur so vor, weil du so viel getrunken hast.“ Er schmiegt sich fester an mich. „Yuuri... Das mit den Ausnahmen ist doch blöd... Küss' mich richtig.“ Viktor, was zur Hölle...?! Ich sitze da wie versteinert. Er will richtig geküsst werden? Meint er das ernst?! Und wenn ja, was heißt richtig? Und überhaupt, wo soll das hinführen??? Er ist betrunken, ich kann doch nicht einfach hingehen und…?! „Yuuri... willst du mich nicht küssen?“ Oh nein, hör' auf mir solche Fragen zu stellen; das sind diese bösen Fragen, auf die jede Antwort falsch ist! „Viktor, du bist betrunken“, versuche ich es, um Zeit zu schinden und mich daran zu erinnern, was Nishigori in solchen Situationen schon alles falsch gemacht hat, wenn Yuko solche Fragen gestellt hat. Aber irgendwie hat Nishigori es bisher nie „nicht falsch“ gemacht, sodass mich das gerade nicht weiterbringt. Wahrscheinlich wäre es kein Problem, ihn länger zu küssen, aber ich käme mir vor, als würde ich ausnutzen, dass er betrunken ist... Diese ganze Situation ist gerade unfassbar falsch! „Bin ich dir nicht attraktiv genug?“ Ach du heilige Sch..., das wird ja immer schlimmer...! Wie kommt er auf die Idee, er sei nicht attraktiv genug?! Er ist der bestaussehende Eiskunstläufer seit Jahren und stellt in Frage, ob er nicht attraktiv genug für mich sein könnte?! Oh, Mist, Mist, Mist, wie komme ich aus der Nummer wieder raus?! Vor lauter Verunsicherung, was ich sagen könnte, beginne vorsichtig, seinen Rücken zu streicheln. Zuerst nur um mich selbst zu beruhigen, aber dann fällt mir ein, dass er immer vollkommen still hält, wenn ich ihm den Rücken im Onsen schrubbe, weil ihm das gefällt. Und da ist ja noch Stoff, versichere ich mir. Und alles ist besser, als von ihm aufgefordert zu werden, zu strippen oder sonst was zu tun...! Es blitzt. Gleich wird es donnern. Es ist in den letzten Minuten auch noch einmal dunkler geworden und der Wind peitscht ordentlich durch die Straßen. RODODODOMSPSCHHH! „Yuuri...!“ Reflexartig drücke ich ihn ein bisschen fester an mich, Makkachin heult auf und kauert sich noch mehr bei Viktor zusammen. „Schhh, ich bin da“, versichere ich ihm noch einmal. Die Zeit schleicht träge dahin. Draußen tobt das Gewitter weiter, aber Viktor beruhigt sich, je länger ich ihm über den Rücken streichle. Ich habe, so unglaublich es klingt, scheinbar genau das Richtige getan, um ihn von diesen schrecklichen Fragen abzuhalten. Er ist durch das Auf- und Abfahren meiner Hand vollkommen abgelenkt und lehnt einfach nur an mir. Ich bin unendlich erleichtert. Aber obwohl Viktor keine weiteren Fragen mehr stellt, beschäftigt mich seine Aufforderung, ihn richtig zu küssen, dennoch. Wie lange will ich mir noch etwas vormachen? Das Tanabata ist über einen Monat her und die Ausnahmen sind weitaus zahlreicher, als ich jemals gedacht habe. Es sieht auch nicht so aus, als würde sich das in nächster Zeit noch einmal ändern. Denn wenn ich ehrlich bin, dann ertrage ich es nicht, mir vorzustellen, Viktor könnte womöglich jemand anderen küssen oder von jemand anderem geküsst werden... „Viktor? Bist du wach?“ „Ja...“ „Bist du wieder nüchtern?“ „Ja...“ Er richtet sich etwas auf. „Was ist denn?“ „Willst du den Kuss noch?“ Viktor schaut mich mit großen Augen an. Ich bin von meiner Frage und Entschlossenheit nicht weniger überrascht als mein Gegenüber. „Den Kuss...? Wie meinst du das, Yuuri?“ „Du bist so ein Dussel“, halte ich ihm vor. „Als ob du unattraktiv sein könntest, wenn dir die ganze Welt zu Füßen liegt. Ehrlich.“ Dann werden seine Wangen wieder rosa, diesmal jedoch nicht vom Alkohol. Ausnahmsweise etwas länger. Teil 6 - September 2016 ----------------------- Mitte September brechen wir nach Okayama zu den südjapanischen Meisterschaften auf. Die letzten Wochen hat es immer gut funktioniert, mir zu einzureden, dass es noch drei Wochen, zwei Wochen, eine Woche, ein paar Tage oder erst übermorgen soweit sein würde. Aber heute sind die Meisterschaften weniger als 48 Stunden entfernt und je mehr es dem Start entgegen geht, desto deutlicher spüre ich, wie die Nervosität ungeladen ihren Lieblingsplatz in meinen Gedanken einnimmt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich seit der Gewittergeschichte die Ausnahmen nicht mehr zähle, dass ich mich gefühlt völlig unvorbereitet der Tatsache stellen muss, dass die es wirklich in die Saison geht. Sie haben sich ungehindert in unseren Alltag geschlichen und auch wenn die Berührungen unserer Lippen weiterhin nur kurz sind, muss ich mir eingestehen, dass es irgendwie normal geworden ist, Viktor zu küssen. Was wiederum nicht heißt, dass ich mich nicht moralisch damit auseinandersetzen müsste, ob es normal sein sollte, dass Trainer und Schüler sich küssen. Viktor scheint diesbezüglich kaum Bedenken zu haben, denn sobald wir alleine sind, schaut er mich früher oder später hoffnungsvoll an, ich weiß, was er will und es passiert. Ich ertappe mich bereits sogar dabei, darauf zu warten, dass er mir mit seinen Blicken zu verstehen gibt, geküsst werden zu wollen, so wie ich ihm durch mein Nachkommen versichere, ihn nicht wegzustoßen. Zu der neuen Situation in unserem Verhältnis kommt hinzu, dass das Interesse an meinem ersten Saisonauftritt plötzlich doppelt so groß ist als das Jahr zuvor, gerade weil Viktor mein Trainer ist. Es gibt mehr Anfragen für einen ersten Bericht zum Saisonbeginn als jemals zuvor in meiner Karriere und die begrenzte Anzahl Zuschauertickets für diese lokale Meisterschaft war innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Am Tag unserer Ankunft in Okayama treffen Viktor und ich also nicht nur Morooka und sein Team in der Lobby unseres Hotels, sondern auch einen Journalisten der Zeitschrift Life als auch der Asahi Shinbun, um unser erstes, gemeinsames Interview zu geben. Wir werden von einer der Angestellten in einen separaten Konferenzraum geführt und es gibt eine offene Fragerunde an uns beide, vorrangig aber an mich, da es um meinen Saisonstart geht. Es ist nicht mein erstes Interview in dem Sinne, aber ich komme mir vor wie ein Frischling. Viktor hingegen plaudert völlig locker und gut gelaunt mit den Reportern und die Antworten kommen so selbstverständlich, dass ich mir sicher bin, dass er das geübt haben muss. Also zumindest ich könnte das nicht, ohne es vorher zu üben, aber dann fällt ich mir ein, dass Viktor schon fast sein ganzes Leben lang Interviews gibt und er im Gegensatz zu mir ein Medienprofi ist. Dennoch sollte er aufhören, dauernd zu wiederholen, dass ich morgen eine neue Personal Best laufen werde! Das weiß doch kein Mensch, was ich morgen auf dem Eis verzapfen werde! Letztes Jahr bei den Nationals war ich auch als Favorit gehandelt worden und es folgte die vernichtende Niederlage... Ja, wir Japaner sind da vielleicht ein bisschen abergläubischer als andere Nationen, aber genau deswegen wäre ich ihm sehr dankbar, wenn er das bleiben lassen würde! Beim Abendessen im Hotelrestaurant entschließe ich mich, Viktor diesen Umstand noch einmal in Erinnerung zu rufen. Allerdings ernte ich dafür nur einen unverständlichen Blick. „Ich soll morgen nicht mehr von einer Personal Best sprechen?“, fragt er mich und tippt ein Stück Tuna-Nigiri in die Sojasoße. Zum Essen haben wir verschiedene Sorten Maki- und Nigirizushi sowie Sashimi bestellt, die wir uns teilen. Viktor trinkt Bier dazu, ich bleibe bei kaltem Tee. „Es weiß doch niemand, was ich morgen für eine Punktzahl bekommen werde“, erkläre ich zum gefühlt hundertsten Mal. „Was war deine Personal Best bisher? 84 Punkte?“ „84,73 Punkte. Das war letztes Jahr beim Vorentscheid in Amerika.“ Auch das habe ich ihm gefühlt schon hundert Mal gesagt. „Damit hätte ich die japanischen Meisterschaften gewinnen sollen, aber ich hatte wegen meiner depressiven Phase zugenommen und war in keinem guten Zustand und habe folglich vollkommen versagt.“ „Aber dann kann's doch eigentlich nur besser werden?“, entgegnet er sorglos und nimmt eins der Avocado-Maki. „Oder?“ „Viktor, bitte.“ „Okay. Nur eine Sache, Yuuri,“ beginnt er und sieht mich dabei ziemlich ernst an. „wenn der eigene Hund stirbt, ist das schlimm und ich kann verstehen, dass man eine gewisse Zeit lang nicht die volle Leistung zeigen kann. Man darf sich nicht zwingen. Dass du dich dem Wettkampf wieder stellst ist gut, aber du musst es auch wollen. Für Goldmedaillen muss man nach vorne schauen, nicht nach hinten. Und du willst doch gewinnen, oder?“ „Natürlich will ich“, erwidere ich beleidigt. Und woher weiß er überhaupt, dass Vicchans Tod der Grund für meine depressive Phase gewesen ist? „Dann hab' ich nichts gesagt“, schließt Viktor und stupst mir mit dem Ende seines Essstäbchens auf die Nase. „Und jetzt fang' endlich an zu essen. Du brauchst die Energie morgen. Ich bin fertig.“ Na gut... Ich schaue auf die Platte in unserer Mitte. Hat er jetzt von allem eins oder zwei übrig gelassen außer von den Avocado-Maki? Die ess' ich am liebsten und Viktor hatte gerade eben noch eins...! „Ärger' dich nicht über die Avocado“, grinst er mich unschuldig an. „Denk' an das Katsudon, das du bekommst, wenn du gewinnst, Yuuri. Wie ich gesagt habe. Nach vorne schauen, nicht nach hinten.“ Dieser Arschkeks! -----[Episode 5]----- Nach der südjapanischen Meisterschaft trennen sich die Wege von mir und Viktor kurzzeitig. Während Viktor direkt zurück nach Hasetsu fliegen wird, geht es für mich weiter nach Tokyo, um dort zuerst bei der Japanese Skating Federation und anschließend bei einer Pressekonferenz im nationalen Fernsehen mein Thema und meine Ziele für diese Saison offiziell bekanntzugeben. Minako-sensei und Nishigori sind schon mit einer früheren Maschine abgeflogen, aber sie werden in Fukuoka auf Viktor warten, sodass sie von dort aus zu dritt nach Hasetsu fahren können. Und ich werde erst zwei Tage später ankommen. „Was macht deine Nase?“, fragt mich Viktor mit besorgtem Blick, als wir die Koffer vom Taxifahrer nach unserer Ankunft am Flughafen gereicht bekommen. „Kein Schwindel mehr?“ „Nein. Ich spüre es noch, aber es ist nicht mehr so stark wie gestern. Es fühlt sich an, als würde mir jemand ein Kissen dauerhaft auf die Nase drücken“, versuche ich das unangenehme Gefühl zu beschreiben. Direkt nach meiner Kür und noch vor der Punktevergabe waren wir gestern wegen meinem Aufprall an der Bande bei den Sanitätern in der Halle gewesen, um meine Nase untersuchen zu lassen. Die zuständige Ärztin vermutete eine Nasenbeinprellung, hat mir aber nahegelegt bei meiner Rückkehr nach Hasetsu in ein Krankenhaus zu fahren und die Nase röntgen zu lassen, um ganz sicher sein zu können, dass nichts gebrochen sei. Auch wenn ich die erste halbe Stunde nach dem Zusammenprall noch relativ fit war, hat mich am Abend starker Schwindel überkommen. Ich lag mit dröhnendem Schädel im Bett und der Druck auf meiner Nase war unglaublich penetrant und eklig, sodass Viktor die meiste Zeit mit bei mir im Zimmer geblieben ist, den Koffer an meiner Stelle gepackt und sich gekümmert hat, so gut er konnte. Heute morgen hat er mir noch vorgeschlagen, seinen Flug umzubuchen und mit mir nach Tokyo zu kommen, aber so schlimm ist es dann Gott sei Dank nicht. Auch wenn ich einen kurzen Moment fast zugestimmt hätte. „Wirklich, ich komme mit.“ „Viktor, es geht mir gut“, versichere ich, während wir am Check-In anstehen. Im Schutz unserer Jacken halten wir Händchen. Viktor hat seine Hand mit in meine Jackentasche gesteckt und die Koffer versperren die Sicht darauf hoffentlich so gut, wie wir uns das vorstellen. Eigentlich hatten wir das bleiben lassen wollen. Die Fotos von Viktors Umarmung vor dem Kurzprogramm und mein enthusiastischer Sprung nach der Kür sind die Fotos des Wochenendes und haben uns heute morgen schon von diversen Zeitungen aus angelacht. Die Artikelüberschriften decken das ganze Spektrum von „Personal Best für Katsuki Yuuri dank neuem Trainer Viktor Nikiforov“ bis hin zu „Katsuki Yuuri: Ist sein Eros ero-sugi?!“ ab und trotzdem schaffen wir es nicht, den Körperkontakt abzubrechen. Wir müssen uns in etwas weniger als zwei Stunden trennen und ich bin schon die ganze Zeit am Überlegen, wo in diesem Flughafen die Möglichkeit bestünde, ihm noch unbemerkt einen Kuss geben zu können, aber außer der Toilette fällt mir absolut kein Ort ein und nein, da würde ich ihn sicher nicht hinführen, denn wenn das einer sieht, wäre die Schlagzeile eine ganz andere. Nachdem wir unsere Koffer abgegeben haben, müssen wir jedoch endgültig jeder für sich bleiben, sodass wir auf eine eher unkonventionelle Lösung umsteigen, um Abhilfe zu schaffen: Wir teilen uns eine Flasche Kirin Afternoon Tea, nippen abwechselnd an der Flasche und warten, bis ich los muss. Mein Flieger startet eine halbe Stunde früher als der von Viktor und wir verabschieden uns noch am Gate. Ich traue mich nicht mal mehr, mich nach ihm umzudrehen, so schwer ist mir ums Herz, ihn zurückzulassen. Aber wie Viktor gesagt hat, ermahne ich mich selbst: Für Goldmedaillen muss man nach vorne schauen. Und übermorgen wäre ich schon wieder bei ihm. -----[Pressekonferenz]----- „Tadaima.“ „Yuuri, o-kaeri!“ Mutter begrüßt mich am Hauseingang bei meiner Rückkehr aus Tokyo. Auch Makkachin wartet auf mich und wedelt freudig mit dem Schwanz. Ich streichle ihm den Kopf und sehe, dass Mari ebenfalls zu uns in den Flur kommt. „Soll ich deinen Koffer nehmen?“ „Danke“, entgegne ich tonlos und erkenne direkt Schuldgefühle und Mitleid in den Gesichtern meiner Mutter. Meine Rückkehr hierher war ganz anders geplant. Viktor hat mich am Flughafen heute Vormittag abholen wollen, aber das konnte er nicht. Weil alle hier zusammen die Pressekonferenz live am Fernseher verfolgt haben, haben meine Eltern anschließend zum netten Beisammensein mit Snacks und Getränken eingeladen und Vater ist auf die geniale Idee gekommen, Viktor Natto zum Essen zu geben. Passt gut zum Bier und ist bestimmt lustig, den Russen ohne Vorwarnung Natto essen zu lassen. Ja. Total lustig. Viktor hat es überhaupt nicht vertragen. Laut Mutters Line-Nachricht heute früh hat er sich am späten Abend daran erbrochen und ich könnte Vater an die Wand klatschen. Auch wenn ich überzeugt bin, dass er nicht damit gerechnet hat, dass das passieren würde, kann man doch nicht jemandem, dessen Magen es nicht gewohnt ist, vergorenes Essen anbieten! Und um der ganzen Aktion noch die Krone aufzusetzen, hat Nishigori mir geschrieben, dass einige der Kumpels meines Vaters sich einen Spaß draus gemacht haben, zu rätseln, ob die Kotzerei wirklich vom Natto käme oder ob ich nicht zufällig Viktor geschwängert habe, wenn ich mich schon so sehr durch Liebe mit ihm verbunden fühlte. Ich bin stinksauer. Ohne Umschweife gehe ich direkt nach oben und Mutter ruft mir noch nach, dass Viktor vielleicht schlafen könnte, aber ich muss ihn sehen. Ich bin gerade die Treppe hinaufgestiegen, als er mir schon aus seinem Zimmer entgegen kommt. Viktor trägt seine langen, grauen Jogginghosen, ein schwarzes Shirt und er hat eine dünne Decke um die Schultern gelegt. Seine Augen wirken angestrengt und müde, aber viel schlimmer finde ich seine Gesichtsfarbe. Er ist kreidebleich. Ich will ihn schon umarmen, als er den Kopf schüttelt. „Nicht umarmen, Yuuri, bitte“, sagt er. Auch seine Stimme klingt angeschlagen. „Kein Druck auf meinen Magen.“ Ich könnte heulen, so sehr tut es mir weh, dass ich nicht da war, Vater von dieser hirnrissigen Idee abzuhalten...! Viktor berührt sachte meine Hand. „Tut mir leid, dass ich dich nicht abholen konnte“, sagt er leise und ich greife nach seiner anderen. „Das waren ein paar Tage, was? Du springst gegen die Bande und mir dreht sich der Magen um.“ „Wie geht es dir?“, frage ich und merke, dass ich sofort ruhiger werde, jetzt da wir wieder zusammen sind und ich ihn halten kann. „Besser. Was ist mit dir?“ Er kommt einen halben Schritt näher. „Die Nase ist ok. Nur noch ab und zu ein leichtes Druckgefühl.“ Ich tue es ihm gleich. Er legt seine Stirn auf meine Haare. „Gut.“ „Viktor, darf ich dich küssen?“ „Jederzeit, Yuuri. Ich hoffe mal, dieses komische Zeug ist nicht ansteckend?“ „Nein“, antworte ich erleichtert und lege vorsichtig meine Lippen auf seine. Endlich... Der letzte Kuss ist viel zu lange her. Die Berührung ist erst zaghaft, dann sanft und ein unglaubliches Gefühl von Zufriedenheit breitet sich in mir bis in die Zehenspitzen aus... Nach einer Weile lösen wir uns wieder und er lächelt mich an. „Du bekommst heute Abend noch Katsudon, Yuuri.“ „Eh?“ „Du hast gewonnen. Oder hast du bereits in Tokyo Katsudon gegessen?“ „Was, äh, nein... natürlich nicht...!“, erwidere ich hastig. Viktor lacht verhalten, aber die blauen Augen beginnen zu leuchten. „Yuuri, hast du etwa dein geliebtes Katsudon vergessen, weil du wegen mir in Sorge warst?“ Ich schlucke und werde sofort rot im Gesicht. Ich hatte es wirklich vergessen. „Yuuri... du bist der beste Schüler, den ich mir wünschen kann.“ In den Tagen nach der Pressekonferenz sehe ich mich wiederkehrend mit dem konfrontiert, was ich während der Pressekonferenz so ungewollt emotional in die Kameras gerufen habe. Ich hatte x-Versionen meiner Rede zuvor in meinem Hotelzimmer aufgeschrieben, alle verworfen und als es dann soweit war, konnte ich mich an nichts mehr erinnern und bin beim Improvisieren übers Ziel hinausgeschossen. Wenn ich mir jetzt vor Augen halte, dass alles in ganz Japan live im Fernsehen übertragen wurde, dann möchte ich im Erdboden versinken... Warum konnte ich auch meine dumme Klappe nicht halten? Aber das ließe sich jetzt nicht mehr ändern, denn natürlich schießen die Nachfragen bezüglich meiner Aussage, dass ich mich mit Viktor durch Liebe verbunden fühle und wie das zu verstehen sei, wie Pilze aus dem Boden. Dabei kann ich nicht mal selbst definieren, was das für eine „Liebe“ sein soll. Viktor und ich sind zusammen, aber nicht im Sinne eines Liebespaares. Wir haben keinen Sex. Ich würde zwar lügen, wenn ich behaupten würde, nicht doch darüber nachzudenken, aber das geht niemanden etwas an! Und der Gedanke, dass wir es wirklich miteinander tun könnten, überfordert mich und das in vielerlei Hinsicht. Es wäre mein erstes Mal. Außerdem habe ich nie in Betracht gezogen, dieses erste Mal mit einem Mann zu verbringen. Der mein Trainer ist. Und fünffacher Weltmeister. Und zufälligerweise auch noch mein größtes Idol seit meiner Jugend. Und wie sollte das überhaupt werden, ich meine, einer von uns müsste dann ja... Oh Gott. Allein schon diese Vorstellung...! Ich muss erst mal meine eigenen Gedanken sortieren, bevor ich mich noch ein weiteres Mal um Kopf und Kragen rede! Die Frage nach unserem Verhältnis ist daher bis jetzt völlig unkommentiert geblieben. Ich will gar nicht darüber reden, solange ich nicht mit mir selbst einig bin. Auch mit Viktor nicht, denn er macht es mit seinem Verhalten in letzter Zeit nicht besser, sondern stachelt dieses Kopfkino nur noch an. Wenn er sich auf meinem Schoß setzt, um sich seinen Gute-Nacht-Kuss abzuholen, gewinne ich immer mehr den Eindruck, dass er jedes Mal ein Stückchen dichter auf mich rückt als den Tag zuvor. Die ersten Abende nach meiner Rückkehr hatte er sich seitlich auf meinen Schoß gesetzt, aber seit vorgestern habe ich seine Beine links und rechts von mir und er verhält sich auch anders. Der Klang seiner Stimme, wenn er mir beim Training sagt, ich soll mehr versuchen, ihn durch meinen eigenen Eros zu verführen, geht mir durch Mark und Bein. Nicht selten muss ich mich fürchterlich beherrschen und meine Gedanken von dem Programminhalt distanzieren, um nicht in einer höchst peinlichen Situation das Training zu beenden. Dabei sollte ich mit den Gedanken beim Grand Prix sein! Der erste Vorentscheid in China rückt näher und das Einzige, was in meinem Kopf herumschwirrt, ist die Frage, ob zwischen uns noch mehr passieren könnte! Ich muss sofort aufhören, darüber nachzudenken... Das Training diese wenigen Tage vor dem Vorentscheid ist wichtiger. Darum geht es. Ich muss mich darauf konzentrieren! „Yuuri.“ „Ja?“ „Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken? Dein Eros gerade hatte das Sexappeal einer Stange ohne Tänzer. Kalt und langweilig.“ Ich muss aufpassen, nicht hinzufallen und kann mich gerade noch so fangen. „Wenn du mit der neuen Vorstellung, mich richtig zu verführen, nicht klar kommst, dann denk wieder an Katsudon, bevor du an gar nichts denkst. Erinner' dich an das, was wir vorher gesagt haben: Heiß und unwiderstehlich. Ein schönes Stück Fleisch mit Eiern auf einem Reisbett.“ „Viktor!“, rufe ich entsetzt und versuche, dieses fürchterliche Kopfkino so schnell es geht aus meinen Gedanken zu verbannen. Was hat mich nur geritten, dass ich diese Katsudon-Sache wirklich weitergemacht habe? Ich meine, so ohne Gute-Nacht-Küsse und theoretischen Sex war das ja ok, aber jetzt ist das nur noch fürchterlich! Ich liege doch nicht wie ein schönes Stück Fleisch in einer Reisschüssel und versuche Viktor Appetit auf meine NEIN, NEIN, NEIN!!! „Yuuri, irgendwie sind deine Gedanken auf der total falschen Bahn gerade. Dabei war das doch deine Idee? Du siehst ja aus, als würdest du vor Peinlichkeit gleich platzen.“ :D „Viktor, halt die Klappe!!!“ „Hahahaha, Yuuri, lass' mir den Spaß doch!“ „Ich komm über die Bande, Viktor, auch mit Schlittschuhen!“ Ich könnte ihn klatschen, so peinlich ist das gerade! Dass das Eis um mich noch nicht geschmolzen ist, ist ein Wunder...! „Yuuri,“ seine Stimme schlägt komplett um und klingt nun viel mehr so, als wolle er mich herausfordern, „hast du keine Lust mehr auf Katsudon?“ „Nein“, entgegne ich entschlossen, aber mein Gesicht muss immer noch feuerrot leuchten. Bevor ich jemals wieder diese fürchterliche Vorstellung in meinen Kopf bekomme, freunde ich mich lieber mit dem Gedanken an, wenn auch nur mit dem Gedanken!, dass ich ihn wirklich verführen kann und er danach nur noch Augen für mich hat. „Gut. Dann bekomme ich jetzt eine Stange mit Tänzer von dir zu sehen, Yuuri?“ „Ja.“ „Wow! Dann los!“ (° v °)/ Nachdem Training sitzen wir zusammen in Vorraum der Eishalle und packen unsere Sachen. Ich habe es irgendwie überstanden. Erstaunlicher Weise lief es sogar besser als gedacht. Als könnte Viktor wirklich Gefallen an dem finden, was ich tue... „Sag' mal, Yuuri,“ beginnt Viktor und reißt mich jäh aus meinen Gedanken, „mein Trainer wird auch in Peking mit einem Teamkollegen sein. Wäre das für dich in Ordnung, wenn ich ihn zum Hotpot einlade?“ „Du kannst ihn gerne einladen, Viktor“, antworte ich. Gut, dass er das Thema wechselt! Phichit und Celestino-sensei werden auch in China sein und ich denke mal, an einem Abend könnten wir, oder zumindest ich, die Beiden auch treffen. „Freust du dich, deinen Trainer wieder zu treffen?“, frage ich ihn, um nach Möglichkeit noch länger bei diesem normalen Thema zu bleiben. „Ja. Ich vermisse den Brummbär“, antwortet mir Viktor und verstaut seine Schlittschuhe im Rucksack. „Er freut sich bestimmt auch“, sage ich, beuge mich hinüber um Viktor noch sein Küsschen als Danke für das Training zu geben, als er sich von mir abwendet. Für den Bruchteil einer Sekunde erhasche ich einen Blick auf den traurigen Ausdruck in seinem Gesicht und noch bevor ich mich darüber wundern kann, warum er so schaut und sich abwendet, macht sich ein unangenehmer Gedanke in mir breit. Abgesehen von Viktors verändertem Verhalten mir gegenüber beim Training habe ich in den letzten Tagen noch etwas anderes bemerkt. Ich habe ihn öfter auf Russisch telefonieren hören, aber die Gespräche sind kurz, falls es überhaupt Gespräche sind, denn es klingt viel mehr danach, als würde er jemandem auf die Mailbox sprechen. Ich hoffe jetzt doch stark, dass die fehlgeschlagenen Anrufe keine Versuche waren, seinen Trainer zu erreichen, denn von Yuko weiß ich, dass Yakov Feltsman gerade nicht sehr gut auf Viktor zu sprechen scheint. Yuko schlussfolgerte das aus Yurios letzter Nachricht, in der der Blondschopf sich furchtbar darüber aufregte, dass die russische Presse ein ungebrochenes Interesse an Viktor zeigen würde und Yurio dabei fast völlig überginge. Alles drehe sich nur darum, wie lange Viktor noch vorhabe, mich zu trainieren und ob man auf ein zeitnahes Comeback hoffen könne und diese Fragen landen immer und immer wieder bei Yakov Feltsman, der davon nicht weniger genervt scheint, als Yurio selbst. „Ich hoffe es“, sagt Viktor und steht mit dem fertig gepackten Rucksack auf. „Bestimmt...“, antworte ich hastig und versuche, den Kloß in meinem Hals nach unten zu schlucken. Es stimmt schon. Viktor wird diese Saison nicht mitlaufen. Wegen mir, weil er mein Trainer ist. Yuko meinte schon bei den Auslosungen, dass seine Fans denken könnten, dass ich ihnen Viktor gestohlen habe und jetzt frage ich mich, ob Yakov Feltsman das ähnlich sehen könnte. Bisher habe ich versucht, diese Tatsache nicht an mich heranzulassen, aber es könnte schon möglich sein... Ich will gar nicht daran denken. Wenn dem so wäre, dann wäre es mein Fehler, dass das Verhältnis zwischen Viktor und seinem Trainer zur Zeit so schwierig ist, dass Viktors Fans sich betrogen fühlen und die russische Presse auf seine Rückkehr wartet. Aber... „Gehen wir nach Hause, Yuuri“, sagt er und reicht mir die Hand. ...ich will ihn nicht mehr hergeben. Teil 7 - Cup of China (Kurzprogramm) ------------------------------------ Morgen fliegen wir nach China. Wir sitzen bei Viktor auf dem Bett und schauen uns mit meinem Laptop einen Film an. Die Kissen haben wir aufeinander gestapelt, sodass wir uns anlehnen können und unsere Beine stecken unter der Bettdecke. Viktor liegt an mich gelehnt und hat seinen Kopf auf meiner Schulter. Der Film ist ein bisschen gruselig und er hat schon vor ein paar Minuten nach meiner linken Hand gegriffen. Viktor hat gesagt, ich solle den Film für unseren Abend vor dem Abflug aussuchen, damit ich nochmal abschalten kann. Er hätte aber vielleicht dazu sagen sollen, dass er keine Horrorfilme ab kann. Und dabei habe ich wegen der Gewittergeschichte schon einen eher harmlosen Film ausgesucht... Aber trotzdem findet er meinen Jogginganzug gerade wesentlich interessanter, denn ich habe nicht mehr das Gefühl, dass er die Handlung verfolgt. Na gut, dann kraule ich ihn ein bisschen, das hilft ja. Meine Hand wandert von seiner Schulter in seinen Nacken und kaum dass ich begonnen habe, mit meinen Fingern leichte Kreise zwischen seine Schulterblätter zu malen, merke ich, dass er entspannt, den Film vergisst und die Augenlider immer schwerer werden. „Soll ich den Film ausmachen?“, frage ich. „Du kannst ruhig schauen...“ „Und du schläfst ein?“, necke ich ihn, während ich langsam die Wirbelsäule auf und ab fahre. „...Nein.“ Ich lache. Nein, überhaupt nicht. Er pennt schon fast. „Viktor, ich muss dich später wieder wecken, wenn du jetzt einschläfst.“ „... Lass‘ uns zusammen schlafen, Yuuri.“ Für eine Sekunde schrecke ich auf. Er hat den Vorschlag nicht mehr gemacht, seit wir unsere Aussprache am Meer hatten. Zusammen mit Viktor in einem Zimmer schlafen... Im selben Bett... Ich halte inne und wundere mich gleichzeitig. Als er es zu Beginn immer wieder vorgeschlagen hat, war ich völlig aufgebracht. Und jetzt frage ich mich ernsthaft, warum eigentlich. Es wäre auch nicht sehr viel anders, wie das was jetzt ist. Wir liegen auf seinem Bett unter der Decke, ich kraule ihn, er kuschelt und hält meine Hand. Nur eine Sache wäre da noch zu klären... „Ok“, sage ich. „Aber du ziehst dir noch was an.“ Sicher ist sicher, denn gerade trägt er nur seine Unterhose und ein T-Shirt. „Yuuri...“ „Keine Widerrede.“ „Wozu?“ „Darum.“ Keiner von uns sagt etwas. Schließlich rappelt sich Viktor auf, nimmt die grüne Hose und Weste wieder vom Sofa und zieht beides über, während ich den Film ausschalte und den Laptop herunterfahre. Etwa eine Stunde später liege ich immer noch wach im Bett, aber Viktor schläft seelenruhig neben mir. Das Licht der Straßenlaternen erhellt den Raum ganz leicht und ich habe meinen Kopf zur Seite gedreht, damit ich ihn beobachten kann. Er liegt nicht wie ich unter, sondern auf der eigentlichen Decke und hat für sich selbst nur einen dünnes Bettlaken genommen. Andernfalls ist ihm das mit Kleidung zu warm, hat er gesagt. Sein Gesicht ist nur etwa zwei Handbreit von meinem entfernt und sein Atem geht ruhig und kitzelt ein bisschen an meiner Nase. Ich seufze. Wann ist es passiert, dass wir so geworden sind? Der Viktor, den ich noch vor zehn Monaten in Sochi erlebt habe, war eine Lichtgestalt, die aus der Ferne gestrahlt hat. Ein Gott auf dem Eis. Aber jetzt wo er so nah ist... Ist er einfach nur Viktor. Ich weiß nicht, mit welchen Gefühlen ich mich übermorgen dem Wettkampf stellen kann. Es fühlt sich an, als hätten wir monatelang nichts gemacht, das der Teilnahme an einem internationalen Wettkampf gerecht werden würde. Und trotzdem weiß ich, dass wir trainiert haben, viel sogar, aber in diesem Moment scheint es ohne Bedeutung. Das Einzige, das von Bedeutung scheint, ist dass ich einen Menschen kennengelernt habe, von dem ich nicht mehr getrennt sein will... CUP OF CHINA, Peking. Wir machen uns gerade fertig zum Hotpot. Das heißt, ich bin fertig und warte nur darauf, dass Viktor aus seinem Zimmer kommt und wir losgehen können, aber eigentlich habe ich keine wirkliche Lust mehr zum Hotpot zu gehen. Seit Viktor gefragt hat, ob er seinen Trainer zum Hotpot einladen könne, habe ich nichts mehr von der Sache gehört und ging davon aus, dass wir uns im Restaurant mit ihm treffen würden. Dem ist aber nicht so. Was ich während meinem Interview noch mit einem Ohr mitbekommen habe, nachdem Viktor Yakov Feltsman angesprochen hatte, war dass Viktor eine ziemlich deutliche Absage kassiert hat. Daraufhin hat Viktor mich geschnappt und wir haben überstürzt die Halle verlassen. Viktor hat sich zwar alle Mühe gegeben, seine Enttäuschung zu verbergen, aber ich konnte sehen, dass er eine Maske aufgesetzt hatte, die verstecken sollte, wie sehr ihn die ablehnende Haltung seines Trainers getroffen hatte. Um nicht noch unnötig Salz in die Wunde zu streuen, habe ich das Thema auf dem Rückweg zum Hotel nicht mehr angesprochen, aber die Vorfreude, zum Hotpot zu gehen, hat einen herben Dämpfer bekommen. Wenn ich nicht wüsste, dass Essen ein Garant für gute Laune bei Viktor ist, hätte ich wahrscheinlich vorschlagen, dass wir uns besser etwas vom Zimmerdienst bringen lassen würden. Dann hätte ich mit ihm vielleicht darüber reden können, aber andererseits würde ich gar nicht wissen, was ich dazu sagen sollte. Meine Befürchtung, dass die gescheiterten Anrufe tatsächlich Versuche waren, Yakov Feltsman zu erreichen, erscheint mir nach dieser Abfuhr mehr als nur wahrscheinlich. Und das hieße, dass ich in gewisser Weise daran schuld bin, dass Viktor so herablassend behandelt worden ist... „Yuuri, hast du lange gewartet?“ „N-nein, nur ein paar Minuten“, antworte ich, als er endlich aus seinem Zimmer kommt. Ich muss schnell an etwas anderes denken! „Gut, dann lass' uns gehen.“ ---[Hotpot]--- Es ist elf Uhr dreißig, ich habe es irgendwie geschafft, Viktor vom Hotpot zurück ins Hotel zu bringen und ich weiß nicht, was gerade passiert. Wie immer wollte er seinen Gute-Nacht-Kuss haben, aber der dauert schon fast eine halbe Minute. Schlimmer noch: Was bisher nur eine kurze Berührung unserer Lippen gewesen ist, hat sich zu einem richtigen Kuss entwickelt; Viktor hat mich umarmt und meine Hände sind irgendwie an seinen Hintern gerutscht – Er sitzt wieder mit den Beinen links und rechts von mir auf meinem Schoß, ich auf seinem Bett und in meiner Jeans wird es unangenehm eng. Gott sei Dank trage ich eine Jeans, denke ich etwas panisch. Nicht auszumalen, wenn das meine Jogginghose wäre! Ich traue mich nicht mal mehr, meine Hände von Viktor zu nehmen, aus Angst er bemerkt, dass sie wirklich auf seinen Pobacken liegen. Aber Himmel, was für ein Hintern. Ich würde lügen, wenn mir das nicht schon vorher aufgefallen wäre, aber nur heimlich mit den Augen zu schauen ist kein Vergleich gegenüber Anfassen... Aber Viktor ist betrunken, ich muss das unterbinden! „Hm, Viktor,“ reiße ich mich los, „leg' dich schlafen. Du hast zu viel getrunken.“ „Yuuri... Schläfst du bei mir?“ Oh nein. Ich hatte schon befürchtet, dass er wieder mit so einer „Falsche-Antwort-Frage“ ankommen würde. Er würde das nicht fragen, wenn er nüchtern wäre. Er weiß, dass das hier nicht geht, wir hatten vorher im Flugzeug darüber gesprochen. Solange wir uns in China auf offiziellem Boden bewegen, wollten wir versuchen, diesmal wirklich so wenig Körperkontakt wie möglich zu haben. Leider aber stimmt die Bilanz mit der Theorie schon wieder nur mäßig überein. Denn bereits im Flugzeug hat es nach dem Start nur eine Decke gebraucht, dass ich ihn doch anlehnen ließ, um schlafen zu können. Davon mal abgesehen, gab es bis zum Hotpot keine unvorhergesehen Zwischenfälle mehr, aber nach nur etwa einer Stunde im Restaurant ging alles den Bach hinunter. Während dem Essen wirkte Viktor weiterhin aufgesetzt gut gelaunt, aber er war abgelenkt und geschmeckt hat es wohl auch, also erfüllte der Hotpot in dieser Hinsicht zumindest seinen Zweck. Weil die meisten Speisen davon nicht ganz meinen Geschmack trafen, dachte ich im Stillen über die Fragen der Reporter von zuvor nach. Eine Antwort bezüglich der Art unseres Verhältnisses und darüber, wie viel Kraft mir meine Liebe geben kann, bin ich Ihnen immer noch schuldig und es verfolgt mich auf Schritt und Tritt, sodass ich mir dringend überlegen sollte, wie ich es erklären wollen würde, wenn ich trotz dieser inbrünstigen Ansage den Wettkampf wieder verhaue. Und dann kam Phichit zufällig dazu. Das an sich wäre noch kein Problem gewesen, aber dass er direkt Celestino-sensei angerufen würde, damit ich meinen ehemaligen Trainer treffen könnte, muss für Viktor, der seinerseits abgewiesen worden war, einem inneren Supergau gleichgekommen sein. Die Maske hielt noch einige Zeit stand, bis ein Satz fiel, den ich nicht wirklich verstanden habe, aber dieser Satz war der Anlass dafür, dass Viktor Celestino-sensei zu einem Trinkspiel aufgefordert hat. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, weil ich weiß, dass Viktor seine Grenzen kennt und eine Weile lang war es auch ganz witzig, sodass ich glaubte, die Situation sei doch nicht so schlimm, wie ich es mir ausmalte. Phichit war durch und durch Cheerleader und wir haben gelacht, bis plötzlich der Punkt erreicht war, an dem mir schlagartig bewusst wurde, dass Viktor sich bereits jenseits seiner Grenze befand, ohne dass es mir aufgefallen war: Als er urplötzlich seine Jacke auszog und das Langarmshirt sofort folgte. Und ab diesem Moment war es vorbei mit der Vereinbarkeit von Theorie und Praxis bezüglich unserer Abmachung auf Körperkontakt zu verzichten, denn nachdem der Rest an Klamotten auch noch durchs Restaurant geflogen ist, hat Viktor dort schon versucht, mich zu küssen, was ich nur mit Mühe und Not verhindern konnte, von seiner Anhänglichkeit auf dem Weg zurück ins Hotel ganz zu schweigen und dem Gute-Nacht-Kuss, der folgte, erst recht. „Wir haben ausgemacht, getrennt zu schlafen, Viktor...“, erinnere ich ihn und drehe meinen Kopf weg, um ihm keine Möglichkeit mehr zu bieten, es weiter zu versuchen. „Ich weiß...“ „Dein Trainer meint es sicher nicht so böse mit dir, wie du es dir vorstellst“, sage ich, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht eher versuche, mir das selbst einzureden. Das ist es schließlich, was uns beide in diese missliche Lage gebracht hat. Viktor muss zu Yakov Feltsman ein wirklich inniges Verhältnis haben, wenn es ihn so sehr trifft, dass sein Trainer nicht mit ihm reden will und ich fühle mich schuldig, der Grund dafür zu sein. Ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich meine, dass Celestino-sensei das in ähnlicher Weise zu Viktor gesagt hat. Vielleicht nicht so deutlich, aber er meinte, dass „Alkohol aus Läufern keine Trainer machen sollte“... Oder aber sie nehmen Viktor als Trainer einfach nicht für voll. Celestino-sensei und Yakov Feltsman sind beide sehr erfahren, Viktor dagegen macht das erst seit ein paar Monaten und noch dazu sehr spontan. Vielleicht dachten sie, dass Viktor nach ein paar Wochen wieder als Läufer zurück in Russland wäre. Aber Viktor ist geblieben und so betrachtet kann ich mir schon vorstellen, dass es für diese beiden gestandenen Trainer so aussieht, als wäre Viktor nur in Urlaub geflogen... „Yuuri...“ Innerlich atme ich auf. Der gefährliche Punkt scheint überwunden, so wie im August während dem Gewitter, als er angetrunken war. Gerade braucht er nur Nähe und das ist in Ordnung so. Wenn es ihm schlecht geht, dann sollte ich für ihn da sein. Als Freund natürlich, nicht als eine Gelegenheit, Dinge zu tun, die man hinterher bereut und dann Alkohol als Entschuldigung vorschieben muss, um keine Gefühle zu verletzten... „Viktor, wir sollten schlafen. Wir treffen uns morgen zum Frühstück, ja?“ „In Hasetsu schlafen wir wieder zusammen?“ „Hm“, sage ich und lasse meine Hände nach oben wandern, um ihn zu umarmen. Für einige Momente verbleiben wir in dieser Position, dann gebe ich ihm den richtigen Gute-Nacht-Kuss und er hat verstanden, dass jetzt Schluss ist. Viktor geht von mir herunter und ich kann endlich aufstehen. Er wünscht mir noch eine Gute Nacht und ich verschwinde in mein Zimmer nebenan. Dort angekommen, muss ich erst einmal tief einatmen und vor allem die Jeans ausziehen. Sofort schlafen werde ich jetzt noch nicht können. Verzeih' das, Viktor. Aber ich muss irgendwas tun. Nur ich kann morgen beweisen, dass dein Training seinen Namen verdient hat. Erst recht, wenn mir überdeutlich bewusst wird, dass ich dich am Liebsten gar nicht mehr hergeben will... Viktor hat sich über Nacht wieder gefangen. Ich habe ihn noch eine ganze Weile lang telefonieren hören und scheinbar ist es jener Person gelungen, ihn soweit wieder aufzubauen, sodass er heute morgen so ist wie immer. Mich würde zwar brennend interessieren, mit wem er telefoniert hat, aber es würde verraten, dass ich wach war statt zu schlafen und auf eine Nachfrage, was ich so spät noch gemacht hätte, habe ich nun wirklich keine Lust. Generell hoffe ich, dass er von seinem Telefonat so abgelenkt war, dass er nichts von mir gehört oder mitbekommen hat. Aus dem ein oder anderen Grund, an dem sein Hintern eine gewisse Mitschuld trägt. Bis zum Wettkampfbeginn am Abend bleibt es im Vergleich zum Vortag nahezu ereignislos. Alles läuft sehr routiniert ab, Viktor gibt den russischen Medien am späten Nachmittag auf Nachfrage ein spontanes Interview und so gehe ich schon mal alleine zur Halle vor. Dort angekommen, treffe ich Morooka, der mich freundlich begrüßt und sich kurz mit mir unterhält. Aber irgendwie hat er ein komisches Grinsen im Gesicht. Als würde er etwas sagen wollen und sich dauernd auf die Zunge beißen, es nicht zu tun. Auch bei dem Kameramann neben Morooka fällt mir das gleiche, schiefe Grinsen auf. Und bei einigen chinesischen Hallenmitarbeitern ebenfalls. Hab ich etwa irgendwo Dreck an mir hängen? „Hi, Yuuri!“ „Phichit-kun.“ „Na, alles klar für später? Ich bin als Erster dran!“ „Ok, ich feuer' dich an“, antworte ich und bedanke mich beim Schicksal, dass ich diesmal nicht den Anfang machen muss. „Du sag' mal, Phichit-kun, hab ich irgendwie Dreck an mir hängen?“ „Hä, wie meinst du das?“ fragt er irritiertem Blick. „Naja, die Leute schauen mich ständig so komisch an.“ Phichit zieht ein Gesicht, als hätte ich ihn gerade bei etwas Verbotenem ertappt. „Das können wir dir verraten.“ Leo de la Iglesia und Guang-Hong kommen gerade um die Ecke und sie sehen nicht erfreut aus. Guang-Hong tippt auf seinem Handy herum und Leo kommt direkt auf mich zu, wendet sich dann aber an Phichit. „Wir hatten gestern alle ausgemacht, keine Fotos zu posten, nicht wahr?“ Moment, bitte was? Was für Fotos von gestern? Er meint doch wohl nicht etwa Fotos vom Hotpot?! „Hier,“ sagt Guang-Hong und zeigt mir sein Handy, „deswegen schauen dich die Leute so komisch an.“ Oh Gott. Ich starre auf das Display. Das ist jetzt nicht euer Ernst...! Ich nehme selbst mein Handy aus der Tasche und rufe Phichits Account auf. Ich glaub' es nicht. „Phichit-kun...!“ „Sorry, Mann, man hat mich dazu genötigt“, antwortet er, aber wirklich leid tut es ihm nicht. Himmel hilf'... Mir steht das blanke Entsetzen im Gesicht. Viktor, halbnackt und betrunken, wie er versucht hat, mich zu küssen... Wenn jetzt alle denken, dass wir so was vor Wettkämpfen machen... Was soll ich sagen, wenn ich das in den Sand setze...?! Und wahahahaaaaas ist das an meinem Hintern?! „Yuuri, warum habt ihr mich nicht eingeladen?“ Aus meinem Augenwinkel heraus erkenne ich Christophe Giacometti. „Chr-Chris...“ Heilige Scheiße, hat er mich erschreckt... „Meine Aufgabe als Rivale“, sagt er und lächelt, als hätte ich etwas überaus Bewundernswertes vollbracht. „Das Training deines Gatten* scheint sich ja bezahlt zu machen.“ Meines Gatten? Er meint damit doch nicht etwa Viktor wegen diesem Foto?! „Hi Chris! Wie geht's?“ Viktor ist zurück von seinem Interview. Chris geht ohne zu antworten einen Schritt auf ihn zu und nimmt seinen Ausweis in die Hand. Er beäugt das Papier sehr genau, auf dem er nicht wie bei sich „Teilnehmer“, sondern „Coach“ lesen kann. „Wenn du nicht dabei bist, fehlt es mir an Motivation“, nörgelt er, ohne die Augen von Viktors Ausweis abzuwenden. Wenn ich nicht wüsste, dass Chris schon viele Jahre mit Viktor befreundet ist, würde ich wahrscheinlich dazwischen gehen. Phichit, Leo und Guang-Hong haben sich in stiller Ehrfurcht vor Viktor zurückgezogen und es wäre mir auch sehr viel lieber, wenn Chris Viktors Ausweis jetzt wieder loslassen würde... So lange braucht man nicht, um den zu lesen. „Ist das bei dir nicht immer zu Beginn der Saison so?“, erwidert Viktor ungerührt. „Viktor, Chris hat recht.“ Der Trainer von Chris, Gérard Lemont, kommt jetzt auch zu uns. „Seit du weg bist, ist er nicht mehr ernsthaft bei der Sache. Komm' zurück aufs Eis.“ „Viktor!“ „Bist du jetzt wirklich Trainer?“ Auch zwei Frauen rufen nach Viktor. Eine davon gehört, wie ich sehe, zum russischen Team und kaum hat Viktor sich umgedreht, beginnen sie auch schon, ihn auf Russisch zu bequatschen und ich spüre, wie es leise in mir brodelt. Ja, wir wissen jetzt alle, dass Viktor für diesen Grand Prix mein Trainer ist; das weiß er auch, das muss man ihm nicht sagen... Viktor hat keine Sprechstunde heute. „Yuuri, Viktor ganz allein für dich haben zu wollen, wiegt schwer“, spricht Chris mich wieder an, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Die ganze Welt wünscht sich, dass er wieder zurückkommt.“ Das merke ich. Jeder lässt uns das seit gestern spüren und es nervt langsam. Es ist ja nicht so, dass ich mir nicht selbst irgendwo wünschen würde, dass er wieder läuft, aber so einfach ist es nun mal nicht. Nicht mehr. Da ist noch ein bisschen etwas anderes, das mich davon abhält, dem so einfach nachzugeben. Und Phichit hat es zu allem Überfluss auch noch für alle sichtbar gemacht. Zunehmend angefressen beobachte ich, wie Phichit von Celestino-sensei gerufen wird und mit einer Menge neuer Fotos auf dem Handy in die Halle verschwindet, gefolgt von Guang-Hong und Leo. Mir war fast entfallen, dass es gleich losgeht und ich sollte auch beginnen, mich warm zu machen. Und vor allem sollte ich nicht mehr über dieses eine Foto nachdenken oder darüber, dass andere meinen, irgendwelche Ansprüche darauf zu haben, was Viktor tut und was nicht. Während ich meine Arme und Schultern dehne, beobachte ich, wie die beiden Frauen immer noch auf Viktor einreden, aber er hört viel mehr zu, als sich an dem Gespräch zu beteiligen. Ich würde zu gerne hingehen und ihnen sagen, dass sie endlich den Rand halten sollen. Sie kichern die ganze Zeit auf eine Art und Weise, wie ich es nur kenne, wenn Frauen lästern. Ich muss kein Hellseher sein, um mir denken zu können, um wen es bei diesen Lästereien geht und warum Viktor einfach nichts dazu sagt. Dann dringt Musik an meine Ohren und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich erkenne das Lied sofort. Phichits Programm hat angefangen: Shall we skate? aus dem Film Der König und der Eisläufer**, durch den Phichit überhaupt erst zum Eiskunstlauf gekommen ist. Er hat früher immer wieder gesagt, dass er dazu einmal laufen will... Er will diese Saison also auch um den Sieg kämpfen. Dieses Stück lag ihm schon immer am Herzen und er wollte es vor großem Publikum zeigen... mit mir zusammen. Ich lasse die Arme sinken und wende mich einem der Bildschirme zu, um ihm zuzuschauen. Zum Anfeuern reicht es noch nicht, doch bereits nach wenigen Sekunden löst sich die Anspannung in mir. Phichit hat eine unglaubliche Ausstrahlung bei diesem Lied. Shall we skate... der Text und die Musik gehen in meinen Körper und ich summe die Melodie im Kopf mit. Ich erinnere mich, wie Phichit während unserer Zeit in Detroit das Lied immer mal wieder unter der Dusche gesungen hat. Leider nicht annähernd so gut wie ich mir das gewünscht hätte, aber er muss es ja nicht singen, sondern nur dazu laufen können und das gelingt ihm gerade so unbeschreiblich gut, wie ich es noch nie zuvor von ihm gesehen habe. Wahnsinn! Er hat die Musik völlig für sich vereinnahmt. Es ist sein Lied geworden. Und das Publikum geht mit, alle klatschen... Ich bin wirklich beeindruckt. Mein Blick sucht nach Viktor, der endlich das Gespräch abgebrochen hat und wieder zu mir kommt. „Tut mir Leid, hast du ohne mich schon angefangen?“ „Ja.“ „Gut. Mach' weiter, wenn du mich brauchst, ich bin da.“ Ich nicke nur und lockere nun meine Beine. In Gedanken bin ich weiter bei Phichits Performance, aber ich sehe ihm nicht mehr zu. Vor meinem inneren Auge baut sich ein anderes Bild auf und ich höre die Leute klatschen, das Programm ist vorbei. Es wird leiser. Ich fange an, den Gang auf und ab zu laufen. Könnte ich gleich auch so faszinierend laufen und das Publikum von Grund auf neu begeistern? Der König und der Eiskunstläufer... Ja. So wie ich es gestern Abend schon gedacht habe... Ich muss etwas ändern. Nun da ich Phichits Vorstellung gesehen habe, habe ich keine Zweifel mehr. Die Leute, die gerne Viktor auf dem Eis sehen wollten, werden sich nie mit meiner Vorstellung zufrieden geben. Und diejenigen, die mich unterstützen, werden nur zufrieden sein, wenn sie einen neuen Yuuri zu sehen bekommen. So oder so soll es mir recht sein, wenn ich von der ganzen Welt als der Mann gehasst werde, der Viktor vom Eis gestohlen hat. Aber wenn ich das gleich das Eis betrete, sollen sie alle sehen, was es heißt, den Schönsten von allen an der Seite zu haben und seine Liebe zu genießen. Nur ich kann das. Ich weiß ganz genau, wie ich sie mitreißen kann. Nur wenige Minuten später müssen Viktor und ich die Halle betreten. Guang-Hong ist mit seinem Programm gerade fertig geworden und ich lege meine Jacke ab, Viktor folgt mir bis an die Bande. Es ist soweit. Ich betrete das Eis, laufe einige Schritte und fahre zu ihm zurück. Ab jetzt sind alle Augen nur auf uns gerichtet, aber für mich zählen nur seine. Viktor lehnt sich zu mir über die Bande; er wirkt vollkommen zuversichtlich und ruhig, nimmt meine Hand und lächelt mich an. „Die Zeit, als du mich als Katsudon verführen solltest, ist vorbei. Jetzt schaffst du das ganz alleine, Yuuri“, beginnt er und seine Stimme hat wieder diesen weichen Klang von völliger Intimität, der mir schon beim Training immer wieder heiß den Rücken hinunter rannte. Sein Finger streicht anzüglich über meinen Handrücken. „Du kannst dir auch sicher vorstellen wie?“ Ja, kann ich. Das verführerische Spiel eines Tänzers, das den Schönsten völlig in seinen Bann zieht und um den Verstand bringt. „Wehe, du wendest deinen Blick auch nur einmal von mir ab.“ Dann stoße ich mich ab und fahre zur Mitte der Eisfläche. Wenn ich den König auf dem Eis verführen kann, dann gelingt mir das mit jedem anderen. Cup of China, Peking. Der Abend nach dem Kurzprogramm. Ich bin Erster! Ich liege vorne! Ich krieg das nicht auf die Reihe. Wie hab ich das gemacht? Meine Wangen tun mir mittlerweile schon weh, so lange grinse ich schon durch die Gegend. Sobald ich im Hotelzimmer bin muss ich direkt zuhause anrufen! Kann ich auch ohne weiteres, denn Viktor ist noch anderweitig unterwegs. Wir waren gerade dabei, die Halle zu verlassen, als ihn sein Teamkollege, dieser Georgi, angesprochen hat und meinte, Viktor solle doch mit ihm, Yakov Feltsman, diesen anderen beiden russischen Läuferinnen und ihrem Trainer zum Abendessen kommen. Russenparty, nannte er es. Damit war zwar direkt klar, dass ich ausgeladen war und Viktor schien mit sich zu hadern, ob er mitgehen soll oder nicht, aber wenn Viktor auf dieser Feier die Chance haben würde, sich mit seinem Trainer aussprechen zu können, dann sollte er hingehen, fand ich. Und im Notfall: Handy. Außerdem hat er versprochen, nicht so viel zu trinken wie gestern. Muss er ja auch nicht, er kann als Trainer jetzt ja stolz sein und muss sich nicht mehr verstecken. Deswegen muss ich es nochmal sagen: Ich bin Erster! Woohoo! -------------------------------------------------------------------------------------------------- „Hey, Georgi, du hast ihn ja wirklich dabei!“ „Den frischgebackenen Trainer.“ „Ich hab doch gesagt, ich bring' ihn her.“ Georgi grinst selbstgefällig und ich seufze. Er wird sich nie ändern und er wird es auch nie lernen. Da jammert er öffentlich dieser Anya auf dem Eis hinterher und weil sie ebenfalls mit ihrem neuen Freund hier ist, muss Mann ja zeigen, was Mann für ein toller Hecht ist. Also versucht er sich durch die beiden Damen aus Moskau zu profilieren. Und macht immer denselben Fehler, die Damen damit beeindrucken zu wollen, dass er mich kennt. Blöd nur, dass ich ein schlechtes Argument bin, ihn gut dastehen zu lassen. Denn sobald ich ihm Spiel bin, interessiert sich kaum noch eine seiner Auserwählten für ihn. Und das wird heute Abend genau so laufen. Sein Glück ist nur, dass ich mich auch für keine seiner Auserwählten interessiere und das ist der einzige Grund, warum diese Taktik bisher erschreckend oft funktioniert hat. Dass Yuuri mich hat einfach so mitgehen lassen, wundert mich ein bisschen, denn ich wäre an Yuuris Stelle vor Eifersucht schon längst geplatzt. Die beiden Eisläuferinnen, Olga und Maria, haben mich schon das ganze Kurzprogramm über zugetextet und sind auch jetzt wieder mit dabei, aber Yuuri scheint das nicht zu stören. Oder aber er vertraut mir einfach (^////^) „Was grinst du so dämlich, Viktor?“ Georgi sieht mir direkt ins Gesicht. Oh, verdammt, ich hab mich gehen lassen...! „Los, setz' dich, wir haben Hunger“, fordert mich Georgi auf. Meine Augen wandern über den reservierten Tisch im Restaurant. Links von Yakov sitzt Gorbatschov, der Trainer der Frauen aus Moskau, neben ihm der Freund von Anya. Anya sitzt ihrem Freund gegenüber, neben ihr Olga. Der nächste Platz ist der einzige, der noch frei ist, denn über dem Stuhl rechts von Yakov hängt bereits Georgis Mantel und ihm gegenüber sitzt Maria. Also sitze ich zwischen den beiden Quasseltanten. Und ob es jetzt gut oder schlecht ist, dass ich Yakov direkt gegenüber sitze, wird sich noch zeigen... „Du bist heute Abend sehr zurückhaltend, Vitya.“ Ich hebe erstaunt den Kopf. Das Essen ist schon seit gut einer halben Stunde abgeräumt worden und bis jetzt hat Yakov kein Wort mit mir gesprochen. Dafür weiß ich eine ganze Menge über Olga und Maria, was mich null interessiert. Olga überlegt mit ziemlicher Sicherheit schon, wie sie mir beim Rausgehen am Unauffälligsten ihre Zimmernummer zustecken kann. Maria fährt eine andere Taktik, denn sie löchert mich mit Fragen, um ihre Chancen besser einzuschätzen, während Georgi verzweifelt versucht, ihre Aufmerksamkeit zurück zu gewinnen. Sonst würde seine Taktik, bei Anya Eindruck zu schinden, ja nicht aufgehen. Da alle Damen aber gerade geschlossen auf Toilette gegangen sind, ist es mit einem Mal sehr viel ruhiger am Tisch geworden. „Findest du?“, frage ich vorsichtig zurück und tippe an mein Glas. „Ja, auch das. Das ist immer noch dein zweites Bier?“, bemerkt Yakov. „Aber das meinte ich nicht.“ „Sondern?“ „Schnapp' deine Jacke, wir gehen kurz nach draußen.“ Vor dem Restaurant laufen wir ein paar Schritte. Ein bisschen mulmig ist mir ja schon, weil ich nicht weiß, was jetzt kommt, nachdem er sich für ein halbes Jahr geweigert hat mit mir zu sprechen. „Du hast das Trainersein tatsächlich ernster genommen als ich dachte.“ „Findest du?“, frage ich erneut, diesmal ungläubig. „Ich hab' mich informiert. Ich weiß nicht, was du gemacht hast und ich will's vielleicht auch gar nicht wissen, aber 84,73 Punkte war seine bisherige Bestleistung. Einen guten Trainer machst du zwar noch lange nicht, aber es ist nicht zu leugnen, dass dein Training was gebracht hat.“ Ich bleibe stehen und bin mir nicht sicher, ob ich mich gerade verhört habe. „Ich hoffe für dich, dass dein Casanova seine Leistung morgen halten kann.“ „Casanova?“, wiederhole ich belustigt und überlege, wie viel Kraft es Yakov wohl gekostet haben muss, zuzugeben, dass ich doch irgendwas richtig gemacht habe. „Immer noch? Ich hab dir doch schon geschrieben, dass Yuuri so nicht ist.“ „Aber sein Kurzprogramm ist nur ganz zufällig ein Casanova, oder was?!“ (ÒwÓ) Wups, vergessen. (° _ °); Yakov schaut mich für einen Moment regungslos an, dann räuspert sich. „In jedem Fall. Georgi wird es euch morgen nicht leicht machen.“ Ich lache verhalten. „Ist recht.“ Dann kommt Yakov einen Schritt auf mich zu. „Es geht dir gut?“ „Ja.“ „Du bist glücklich?“ „Ja.“ „Er liebt dich?“ Meine Augen weichen Yakovs Blick aus und es zieht in meiner Brust. Yakov wartet und sagt nichts, er will offenbar, dass ich etwas antworte, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nicht so ist, aber Yuuri hat es nie wirklich gesagt... „Ich-“ „Vitya“, unterbricht mich Yakov in ernstem Ton. „Du hast mir geschrieben, dass du Angst hast, die Grenze zu überschreiten, die er gesetzt hat. Auch wenn ich nicht weiß, was das für eine Grenze ist, lass' mich dir einen Rat geben: Liebe ist etwas Gegenseitiges. Wenn er dich wirklich liebt, solltest du keine Angst davor haben müssen.“ Er macht eine Pause und beobachtet mich. Dann wendet er sich zum Gehen. „Und Vitya. Wenn ich noch einmal vier Wochen lang nichts von dir höre, dann zieh' ich dir bei deiner Rückkehr nach Russland die Ohren lang! Haben wir uns verstanden?!“ Einen kurzen Moment bin ich sprachlos, aber dann muss ich lachen. Wir haben uns verstanden, Yakov. Teil 8 - Cup of China (Kür) --------------------------- Ich habe den Wecker überhört. Verschlafen würde ich es nicht nennen, denn ich habe nicht geschlafen. Allerdings frage ich mich, wie ich sonst den Wecker, zwei Anrufe und drei Textnachrichten von Viktor überhören konnte. Ein Blick in den Spiegel verrät mir, dass ich mich nicht nur gerädert fühle, sondern auch so aussehe und dass ich mit Georgis Augenringen von gestern auch ganz ohne Makeup mithalten kann. Himmel, so kann ich doch jetzt nicht zum freien Training erscheinen...! Aber Viktors letzter Nachricht nach zu urteilen ist er schon vorgegangen und ich sollte ihn keine Minute länger warten lassen... Das Frühstück mit ihm habe ich auch verpasst und selbst wenn ich ihn schon zurückgerufen und mich keine Ahnung wie oft dafür entschuldigt habe, weiß ich nicht, wie das passieren konnte. Ich konnte nicht schlafen. Gut, das ist offensichtlich, aber ich erinnere mich nicht mal daran, es versucht zu haben. Ich kann mich aber auch nicht daran erinnern, was ich alternativ gemacht habe, wenn nicht versucht zu haben, zu schlafen. Und trotzdem habe ich den Wecker überhört. Wenn ich das alles zusammen nehme, sollte ich das Dilemma vielleicht mit einer Entführung durch Aliens rechtfertigen. Das erscheint mir plausibler als diese unerklärliche Wahrheit... Da stehe ich nun, kann die Augen kaum offenhalten, sehe aus wie eine Ausgeburt der Finsternis; vor mir die lebende Legende, die ein Gesicht zieht, das dem gleichkommt, als er versucht hat, meine Falle in unserem Go-Match zu ergründen und schon wieder scheitert er daran, meinen gewitzten Plan, einfach nicht gepennt zu haben, zu durchschauen. „Yuuri, hast überhaupt geschlafen?“ „Doch, natürlich, also, ein bisschen!“ Mist, Mist, Mist! Aber nur, weil er diesmal nüchtern ist! „Du gehst zurück und machst einen Mittagsschlaf bis heute Abend.“ „Eh, was?!“ „Keine Widerrede, ich komme mit. Gib' mir deinen Rucksack.“ „Aber Viktor!“ „Du bist viel zu müde. Das macht keinen Sinn. Los, komm'.“ Ich trotte hinter ihm her zurück zum Hotel. Er ist nicht sauer, aber begeistert ist er wahrscheinlich auch nicht. Er fragt nicht nach dem Grund, sondern nimmt es einfach hin. Mit Sicherheit hat Viktor schon an meiner Stimme am Telefon gehört, dass ich völlig übermüdet bin. Genau genommen ist mir schlecht vor lauter Müdigkeit. Und von meinen Gedanken, denn ich habe Viktor gegenüber fürchterliche Schuldgefühle. Das hätte nicht passieren dürfen. Ich kann das freie Training so nicht mitmachen, da hat Viktor schon recht, aber ich kann doch nicht einfach nicht teilnehmen...! Ich bin Erster, wenn ich die Kür später verhaue, weil ich nicht nochmal geübt habe, was dann? Dann steht Viktor doch wieder dumm da... Dann hat er als Trainer versagt und ich will mir das nicht vorstellen... Was sollte ich dann sagen? Er kann überhaupt nichts dafür... Ich will diese Gedanken nicht denken, die sich in meinem Kopf formieren... Ich will überhaupt nicht denken! Nicht denken, einfach nicht denken! Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Unterdrücken. Die Gedanken unterdrücken, denn ich glaube nicht, dass ich heute nochmal so viel Glück wie gestern hätte, dafür hat der Tag schon zu katastrophal angefangen... Aber sie werden mit jedem Schritt immer deutlicher. Wenn ich es verhaue und letzten Endes doch alle Meinungen bestätigt wären, dass Viktor als Läufer aufs Eis gehört, würde er das selbst auch so sehen? ...Würde er dann aufhören, mein...? Ich schlucke. Ich will mir das nicht vorstellen, ich will mich nicht damit auseinander setzen! Ich sollte nicht ins Hotel gehen und schlafen. Ich sollte üben. Ich darf diese Kür nicht verhauen! „Viktor, ich muss nicht schlafen. Ausruhen reicht“, bemerke ich zum etwa zehnten Mal und beobachte, wie er die Vorhänge in meinem Zimmer zuzieht. Er hat nicht locker gelassen. Ich stehe mit Schlafmaske auf dem Kopf und in Boxershorts vor meinem Bett, fertig zum Mittagsschlaf, den ich nicht halten will und beobachte, wie Viktor zu mir zurückkommt. „Wenn du ausruhen kannst, sollte es doch auch kein Problem sein, zu schlafen, oder?“, sagt er und zieht mir die Maske ins Gesicht, dann schubst er mich aufs Bett, die Decke folgt und er legt sich neben mich auf die Seite. „Bis zum Abend Mittagsschlaf.“ Nein, nein, nein, ich habe einfach kein gutes Gefühl dabei, jetzt zu schlafen! „Keine Sorge,“ sagt Viktor in einem zuversichtlichen Ton, „bei Wettkämpfen habe ich auch immer bis kurz vor knapp geschlafen...“ Ich spüre seinen Kopf auf meine Brust fallen. „Moment mal, Viktor, bleib' wa-!“, protestiere ich, aber er ist schon weg. Was ist das denn für eine Logik; meint er wirklich, ich kann schlafen, wenn er halb auf mir liegt und sein Bein mich umklammert?! Sofort schlagen meine Gedanken eine ganz andere Richtung ein. Die Erinnerung an vorgestern Nacht heftet sich vor mein inneres Auge: Er auf meinem Schoß, meine Hände an seinem Hintern. Der Kuss, der nicht einfach nur eine Berührung war... Oh Gott, bitte lass' diese Decke dick genug sein. Ich traue mich kaum zu atmen. Ich muss aufhören über irgendetwas nachzudenken! Wenn ich mich nicht fangen kann, dann könnte das mein letzter Wettkampf mit Viktor gewesen sein und das würde ich nicht ertragen können. Ich weiß nicht mehr, was ich dagegen tun soll...! Die Angst, ihn zu verlieren, breitet sich immer weiter in mir aus... Ich fühle mich so hilflos... Als der Wecker schließlich klingelt und Viktor sich langsam von mir aufrichtet, stelle ich fest, dass ich irgendwann eingeschlafen sein muss und dass alles an mir wieder normal ist, allerdings fühle ich mich kaum besser als zuvor. „Yuuri, ich geh' nach drüben mich umziehen, ja?“, murmelt Viktor und steht ganz vom Bett auf. „In einer halben Stunde in der Halle, dann sind wir zum Aufwärmen rechtzeitig da.“ Dann ist er schnellen Schrittes verschwunden. Etwas irritiert schaue ich unter meiner Schlafmaske hervor und sehe nur noch die Zimmertür hinter ihm ins Schloss fallen. Was war das denn so plötzlich? So eilig hat er es doch normalerweise nie...? Er... lässt mich doch nicht alleine...? Beim Aufwärmen in der Halle muss ich das ernüchternde Fazit ziehen, dass der Mittagsschlaf so gut wie nichts gebracht hat. Das Einzige, was ich merke, ist dass Müdigkeit und schlechte Gedanken ihr Gewicht verlagert haben: Durch das bisschen Schlaf, dass ich bekommen habe, fühle ich mich nicht mehr vollkommen gerädert, aber dafür habe ich kaum noch ein Gefühl in meinem Körper vor lauter Nervosität. Die Kraft reicht nicht mal, um eine Wasserflasche aufzudrehen. Viktor dagegen ist noch munterer als heute Mittag und lächelt, aber es kommt mir vor wie eine Warnung und wieso geht diese blöde Flasche nicht auf?! „Yuuri~,“ Viktor kommt zu mir herüber und fasst mich an die Schultern, „hast du vorhin nicht schlafen können?“ „Doch, doch, hab ich!“, lüge ich schnell. Viktors Lächeln wird unheilvoller. „Keine Sprünge während dem Aufwärmen, verstanden?“ „Heeee?“ Was, warum, dann hab ich ja gar nix geübt, bis ich dran bin, das geht doch nicht! Das Lächeln ist beinahe eine Drohung. „Anweisung von deinem Trainer, Yuuri.“ Ich hab's natürlich doch versucht und bin gestürzt. Das wird eine Katastrophe. Ich rutsche immer tiefer in das Loch hinein, dass sich heute morgen aufgetan hat... Ich bin auf dem ersten Platz und kann kaum vernünftig auf dem Eis stehen. Was hat mich gestern Abend nur geritten anzunehmen, es könnte diesmal anders laufen als sonst? Das Einzige, was anders läuft, ist dass Viktor dafür die Konsequenzen tragen muss, wenn ich gleich alles in den Sand setze... Er versucht mich aufzuheitern, aber ich kann seinen Optimismus nicht mehr teilen, dafür regiert die Angst zu stark in mir... Auf den Fernsehbildschirmen sehe ich, dass die erste Kür soeben begonnen hat und Guang-Hong sich auf dem Eis in Bewegung setzt. Eine Weile schaue ich ihm regungslos zu. Bilde ich es mir nur ein, oder läuft er besser als gestern? Meine Wahrnehmung ist schon völlig benebelt. Es könnte wirklich meine Einbildung sein, versuche ich mir einzureden. Könnte. Vielleicht. Aber er springt fehlerfrei! Und das ist ganz sicher keine Einbildung! Oh nein. Nein. Ich kann nicht zuschauen. Es geht nicht! Aus, aus, alles aus! In meinem Kopf herrscht ein einziges Chaos und ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich will gar nicht mehr hier sein! Die Zeit läuft mir davon und es wird nicht besser! Je weiter es voranschreitet, desto mehr blähen sich diese fürchterlichen Gedanken in meinem Kopf auf. Sie erdrücken mich; ich weiß nicht, was ich tun soll! „Yuuri, ganz ruhig“, höre ich Viktors Stimme. „Erinner' dich an die südjapanische Meisterschaft, was hast du da vor deiner Kür gemacht?“ Was, welche südjapanischen Meisterschaften... In Okayama...? Was hab ich gemacht...? „Dehnübungen... auf der Matte, d-draußen, vor der Halle...“, antworte ich, aber ich will nicht raus geschickt werden... Ich war alleine, ohne Viktor. Und ich will nicht ohne Viktor sein. „Dann mach' das. Nimm' deine Matte, mach' genau diese Übungen.“ „O-Ok...“ Yuuri... es ist keine Müdigkeit mehr wie heute morgen, die dich fertig macht. Etwas wühlt dich von innen heraus auf, ich kann es sehen, aber ich verstehe nicht, was es ist. Gut so, bring' Routine in die Sache. Routinen bringen Sicherheit, weil man die Abläufe kennt und gewohnt ist. Alles wie vorher auch, Yuuri. Es hilft nichts, Viktor... Mir ist schlecht, ich krieg' kaum Luft...! Tu' doch was...! Womöglich könnte ich mich täuschen, aber die Übungen scheinen dir nicht zu helfen, Yuuri... Du sagtest, du warst draußen, vor der Halle... ohne Zuschauer. Hm. Die Leute klatschen, ich riskiere einen kurzen Blick auf einen der Fernsehbildschirme. Chris scheint heute wesentlich motivierter zu sein als gestern... Nicht gut! Außerdem sehe ich eine Gruppe Menschen auf uns zukommen. Ein Kamerateam kann ich jetzt auch nicht gebrauchen! „Yuuri! Wir gehen woanders aufwärmen!“ Wo ist hier ein Ort mit wenig Leuten...? Ruhig und ohne Beobachter... Weit können wir nicht gehen und nach draußen erst recht nicht... Vielleicht die Tiefgarage? „Viktor, wohin gehen wir?“ „Da runter. Komm' Yuuri.“ Ich lege meinen Arm um dich, führe dich die Treppen hinunter und du folgst ohne zu protestieren. Normalerweise protestierst du bei allem, dessen Sinn du nicht verstehst. Dass du es jetzt nicht tust, macht mir Sorgen. Was macht dir nur so zu schaffen, Yuuri? Was tun wir hier... Wir laufen von dem Wettkampf weg... Aber es wird ruhiger... Ja. Genau. Beruhigen. Ich muss mich beruhigen. Es sieht nicht mehr nach Wettkampf aus, auch wenn er kein bisschen weiter entfernt ist. Aber Viktor ist bei mir... Ich bekomme wieder Luft. Es wird etwas besser... Ich höre Applaus und Jubel. Wer war gerade dran? „Viktor, wie stehen die Punkte?“ frage ich platt, kaum dass wir das oberste Parkdeck erreicht haben. Die nächste Performance wird sicher gleich beginnen... „Ganz ruhig, Yuuri, atme erst mal durch.“ Ich bin völlig orientierungslos. Ich höre den Wettkampf, aber ich sehe ihn nicht mehr. „Mach' da weiter, wo du vorhin aufgehört hast. Und lass' deine Ohrstöpsel drin.“ Weitermachen. Ich versuche es. Nach vorne schauen. Ich darf nicht davor weglaufen. Die Beine lockern, dann die Arme. Aus der Ferne kann ich leise Musik hören und sie kommt mir bekannt vor. Ist es die von Phichit? Gut so, Yuuri. Hoffentlich hilft das jetzt mehr. Ich muss dich irgendwie festigen, aber die Zeit rennt mir davon und die Ideen gehen mir auch bald aus. Punktestände sollte ich dir vorerst keine mitteilen, aber ich kenne sie ja selbst nicht. Chris ist mit Sicherheit besser gelaufen als der junge Chinese, aber das Publikum feiert deinen thailändischen Freund gerade sehr euphorisch. Jedoch nur die Reaktionen zu hören hilft nicht, die Leistung einzuschätzen, obwohl der Jubel schon sehr laut ist. Ich nehme sogar die Stimme des Kommentators wahr... Dein Freund muss wirklich einen sehr guten Lauf geha– Scheiße! „HÖR' NICHT HIN!“ Ich bin vor Schreck erstarrt. Ich wollte nur kurz hören, ob es wirklich Phichit ist, der läuft... Aber jetzt hat sich nicht nur wieder der Wettkampf überdeutlich in mein Bewusstsein gedrängt, Viktor hat mich auch noch angeschrien. Er ist mir gegenüber noch nie so laut geworden und er sieht so schrecklich ernst aus...! Ich hätte es lassen sollen. Viktor wusste schon, warum ich die Ohrstöpseln drin lassen sollte, aber ich kann den Wettkampf doch nicht vollkommen ausblenden...! Ich muss doch auch bald aufs Eis...! Ich komm' nicht mehr mit, Yuuri. Warum bist du so nervös? Ich könnte es verstehen, wenn du jünger wärst und dich die anderen Läufer deswegen beeindrucken würden... aber so? Wie kann ich dich wieder dazu bringen, weiterzumachen? Ich hab' absolut keine Ahnung. Meiner Angst weicht Resignation. Es hilft nichts mehr. Ich nehme Viktors Hände von meinen Ohren. „Viktor, ich bin bald dran. Wir müssen langsam“, sage ich mit schwacher Stimme, mein Blick auf den Boden gerichtet und ich gehe an Viktor vorbei in Richtung Ausgang. Es sind nur noch Leo und Georgi vor mir dran und wir müssen noch zurücklaufen... Ich muss akzeptieren, es so hinzunehmen, wie es schon immer war. Ich kann noch so gut starten, aber ich schaff' es einfach nicht, es durchzuziehen. Ich sollte mich damit abfinden, auch wenn... eEs schnürt mir die Kehle zu. Ich würde ihn so gerne stolz machen, möchte beweisen, es wert gewesen zu sein... Dass er... „Yuuri.“ Ich bleibe stehen, drehe mich zu Viktor um. Sein Gesicht sieht so finster aus, dass mir das Herz stehen bleibt. „Wenn du diese Kür vermasselst und es nicht aufs Podium schaffst, dann übernehme ich dafür die Verantwortung und trete als dein Trainer zurück.“ …! Yuuri... Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee war, dir das zu sagen, aber es war die letzte, die ich noch hatte, um deinen Ehrgeiz anzustacheln... Auch auf die Gefahr hin, dass es zu viel für dein sensibles Herz gewesen sein könnte... Ich wünschte, ich hätte das nicht tun müssen. Du starrst so entsetzt... Yuuri... Oh nein! „Was soll das... Warum stellst du mir jetzt so ein Ultimatum...?“ Scheiße, das war zu viel! „Ahh, Yuuri... tut mir leid, so meinte ich das-“ „Schon klar. Ich bin's gewohnt, dass ich allein dafür gerade stehen muss, wenn ich die Turniere verhaue. Aber diesmal stehst du neben mir und ich kann's nicht ertragen, wenn du wegen mir einstecken müsstest! Ich hab die ganze Zeit schon gedacht, dass du als Trainer dann keinen Bock mehr auf mich hast!“ „Yuuri, das stimmt doch gar nicht.“ „Stimmt es wohl!“ Gott, was hab' ich getan...? Ich bin mit meinem Latein am Ende. „Ich weiß nicht weiter, wenn jemand vor mir weint...“ Kann ich überhaupt etwas tun? „Willst du einen Kuss?“ „In Gegenteil! Wenn ich schon nicht glaube, dass ich gewinnen kann, dann glaub' du es wenigstens! Du musst nichts tun, sei einfach still und bleib' an meiner Seite!“ Was...? Yuuri... Ich soll es glauben...? Aber... „Yuuri. Ich glaube es doch.“ „Halt den Rand, Viktor...!“ Wir gehen zurück. Viktor hält meine Hand, als wir die Treppen nach oben steigen. Er führt mich zu unseren Sachen, die Mitarbeiter um uns herum werfen uns komische Blicke zu. Ich setzte mich auf einen Stuhl, beobachte, wie Viktor meine Schlittschuhe aus dem Rucksack holt. Er zieht die Handschuhe aus, um die Schnürsenkel zu lösen und weitet den Schaft, dass ich einsteigen kann. Erst links, dann rechts, er bindet mir die Schuhe. Dann geht er um mich herum, streicht mir von hinten einige Haare zurück. Ich schließe die Augen, atme tief ein. Das Gefühl von seinen Händen auf meinen Haaren... Meine Gedanken beruhigen sich, ich erinnere mich daran, als er mir die Haare gemacht hat... Es war so angenehm. Ist das die Magie des guten Gefühls...? Viktor bleibt still; er ist einfach nur bei mir und tupft vorsichtig meine Tränen aus meinem Gesicht, reibt sanft die trockenen Stellen meiner Lippen ein... Für Ausnahmen, die keine mehr sind. Und ich will auch keine Ausnahmen mehr. Ich will, dass er bleibt. Als wir nach draußen gehen, liegt seine Hand auf meiner Schulter und die gleichen, komischen Blicke des Personals verfolgen uns. Es interessiert mich nicht. Der ganze Wettkampf interessiert mich nicht mehr. Je weiter wir uns dem Eis nähern, desto mehr wende ich meinen Blick davon ab. Es ist, als wäre ich irgendwo ganz weit weg. Ich höre nur noch die Musik spielen. Wie ferngesteuert lege ich meine Jacke auf Seite, gebe Viktor schweigend meine Kufenschützer und laufe los in Richtung Aufgang. Als mir Georgi von dort mit einem erhabenen Gesichtsausdruck entgegen kommt, lasse ich meinen Blick gesenkt, um ihm nicht in die Augen zu schauen. Ich weiß, wie die Welt von mir denkt. Es ist mir egal, wenn ich für alle da draußen viel mehr wie die räuberische Dornenhecke erscheine statt der rettende Prinz. Aber ich kann es nicht ertragen, wenn meine Dornen so dicht würden, dass Viktor unter meinen Schwächen und Fehlern leiden muss. Er ist nicht mein Gefangener. Viktor ist freiwillig bei mir. Während ich am Rand entlang zurück zu Viktor gleite, hebe ich mit jedem Schritt den Kopf ein bisschen mehr, um ihm in sein schönes Gesicht schauen zu können. Ich kann sehen, dass es ihm Leid tut und dass ihn ein schlechtes Gewissen plagt. Er zupft einige Taschentücher aus der Makkachinbox und schnäuze ich mir noch ein letztes Mal die Nase; Viktor hält mir seine Hand hin, um es mir abzunehmen, aber ich lasse es absichtlich daneben fallen. Er fängt es gerade so. Du hast nichts falsch gemacht, Viktor, denke ich und patte seinen Kopf. Deswegen glaub' an mich und ich werde tun was ich kann, um dich zu beschützen, damit du bleiben kannst. Dann fahre ich in die Mitte auf meine Position. Während ich warte, dass die Musik einsetzt, wird es plötzlich ganz still in meinem Kopf. Ich bin auch nicht mehr nervös... Eine ungewohnte Gelassenheit und Ruhe hat von mir Besitz ergriffen. Oder ist es doch nur die Müdigkeit? Wäre möglich. Aber seit ich geweint habe, fühle ich mich merkwürdig befreit... Und Viktors Gesichtsausdruck, als die Tränen kamen, war schon irgendwie lustig... Yuuri, warum lachst du so...? Ich meine, ich will mich nicht beschweren, ich bin froh, dass du nicht mehr weinst. Dass du auf dem Eis stehst und läufst... Sogar sicherer als ich dachte. Die erste Kombination... Ja! Sehr gut! Weiter so, Yuuri. Ich habe nie an dir gezweifelt. Ich bin nicht aufgrund von zu viel Alkohol dein Trainer geworden. Ich weiß, dass du es kannst. Dass du alles hast, was es braucht. Es ist alles in dir drin. Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Deswegen war ich so überrascht, als du mich gebeten hast, deinen Wunsch für das Tanabata aufzuschreiben, aber ich bin bereit alles zu tun, wenn es nur dazu dient, dir mehr Selbstvertrauen zu geben. Gleich der Salchow... „Perfekt, Yuuri!“ Du läufst fantastisch bisher und das, obwohl du völlig geschafft sein müsstest... Ich kann mich kaum von dir abwenden. Ja, genau so. Gleite dahin, faszinierend, elegant, stolz... Du bist so schön. Mein Prinz auf dem Eis...Ich liebe dich. So sehr, dass ich bald nicht mehr weiß, wohin damit. Wir sind uns schon so nah und trotzdem hältst du diese letzte Grenze aufrecht... Warum? Auf was wartest du? Dreifacher Axel. Gestürzt, aber nicht schlimm. Mach weiter, du kannst das. Meine Gedanken sind immer bei dir. Jetzt der dreifache Flip... gut. Geschafft! Solange du mit der Musik läufst, hast du alle auf deiner Seite. Die Ausfälle sind nicht so schlimm bis jetzt, halte einfach durch. Dir muss es furchtbar gehen... Die Dreierkombination...und überrotiert, aber lass' dich nicht unterkriegen. Versuch' es durchzuziehen! Gleich die nächste Kombina- Waaaaas, Yuuri?! Wie kannst du das noch so locker springen?! Das ist ja...! Was machst du denn da, du läufst dich ja wie in einen Rausch...! Wo nimmst du plötzlich diese Energie her?! Yuuri, du bist wahnsinnig! Hör' auf damit...! Das... ...Bitte halt' durch. Bitte halt' einfach durch bis zum Schluss! Werd' nicht müde auf den letzten Sekunden, es ist nur noch ein Sprung! Ich steh' immer an deiner Seite, egal was kommt. Egal, wie das hier ausgeht, egal, wie dieser Sprung ausgeht. Yuuri, bitte– ….!!!!!! Oh Gott. Ich kann nicht hinsehen. Mir springt das Herz fast aus der Brust. Was hast du getan...! Yuuri...! Du bist unglaublich. Einfach unglaublich...! Ich bin sprachlos... Ich zittere am ganzen Körper, meine Beine setzen sich in Bewegung. Ich muss zu dir, so schnell es geht...! Ich kann kaum mehr einen richtigen Gedanken fassen! Yuuri...! Ich renne schon. Wann hast du diese Idee gehabt? Dass du dich das traust! Dass du das Vertrauen zu dir hast! Dass du das durchziehst...! Mein geliebter Prinz. Du strahlst so glücklich. Du hast keine Angst mehr... Und ich auch nicht. „Viktor, hab' ich das gut gemacht?!“ Ja. Teil 9 - Leben und Liebe ------------------------ „Viktor, Schatz, endlich! Wie geht es dir?!” „Es geht uns gut“, antworte ich und stelle mir Jelenas Gesicht vor, ihr Lachen, ihre Freude, während ich durch die Glasscheiben vor mir auf die Startbahnen des Pekinger Flughafen blicke und die Flugzeuge beobachte. „Uns? Dann ist es offiziell?“, flüstert sie ehrfürchtig ins Telefon. „Ja.“ Für einen Moment sagt sie gar nichts. Dann: „Bist du glücklich?“ „Ja, so sehr wie noch nie zuvor in meinem Leben.“ Auch wenn ich es nicht sehen kann weiß ich, dass ihr die Tränen in die Augen steigen und sie nach ihrem Taschentuch kramt. „Jelena?“ Sie schnäuzt. „Ja?“ „Danke für alles.“ „Wofür bedankst du dich? Ich hab doch gar nichts gemacht!“, plappert sie aufgeregt. „Viktor, Schatz, du solltest stolz auf dich sein! Du hast für deine Liebe gekämpft und bist belohnt worden!“ Ich fühle meine Wangen glühen und kann für einen Moment gar nichts sagen. „...Jelena?“ „Ja?“ „Ich kann das nicht gut erklären, was ich fühle, aber... Yuuri hat mich gerettet.“ „Natürlich hat er das! Er liebt dich!“ „Glaubst du das?“ Sie lacht kurz. „Sich den Anweisungen seines Trainers widersetzen und einen so bedeutungsvollen Sprung zum Ende der Kür raushauen? Das klingt nach dir, Schatz. Oder nach jemandem, dem du sehr, sehr wichtig bist.“ Ich muss kurz lachen und mein Blick huscht zu dem hinüber, der dafür verantwortlich ist, das es für mich wieder eine Liebe gibt. Yuuri sitzt auf einer der Sitzbänke und passt auf unser Handgepäck auf, aber vielmehr versucht er, nicht einzuschlafen und ich schaue zu, wie seine Augenlider langsam wieder schwer werden und auch der Kopf erneut in Richtung Schulter nickt. Was ich für ihn empfinde, ist mit der Verliebtheit, die ich früher empfunden habe, nicht mehr gleichzusetzen. Es greift viel tiefer. Diesmal ist es wirklich Liebe. „Viktor. Schluss mit dem Telefonat, ich muss dich nicht sehen, um zu wissen, dass dein Blick sehnsüchtig an deinem Liebsten hängt. Los, geh' zu ihm und genieß' dein Leben.“ Ich greife das Handy fester. Sie ist einfach die beste Frau der Welt. -------------------------------------------- „Hee, Glückwunsch, Yuuri!“ Nishigoris Arm fällt einen Tick zu kraftvoll auf meine Schulter. „Eh, wofür? Du hast mir schon gratuliert, Nishigori“, entgegne ich verwundert und versuche, den Schmerz zu ignorieren. Ich bin gerade mit Makkachin vom Hof wieder nach drinnen gekommen und offenbar hat er im Flur auf mich gewartet. „Für die Medaille, ja. Aber die war sicher nicht das Beste, was du aus China mitgebracht hast, oder?“ „Wovon redest du?“, frage ich und überlege, wie ich seinen Arm am schnellsten von mir bekommen kann. Nishigori hat bereits einiges an Alkohol auf der spontan organisierten Feier bei meinen Eltern getrunken, um meinen Erfolg beim Vorentscheid zu feiern, und hängt fast mit seinem kompletten Gewicht auf mir. „Na, von dem Kuss, den Viktor dir gegeben hat!“, poltert er und klopft mir noch einmal nicht weniger schmerzvoll auf die Schulter. „Ich hab gedacht, ich seh' nicht recht! Das muss 'ne Überraschung gewesen sein! Damit bist du der Erste, den er je öffentlich geküsst hat! Haben meine Kinder direkt recherchiert...!“ „Ja, das kam ganz schön überraschend...“, erwähne ich beiläufig. „Und? Geht da noch mehr? Seid ihr-“ „Er ist mein Trainer“, schneide ich ihm entschieden das Wort ab, als wir den Gästeraum wieder betreten. Unweigerlich wandert mein Blick durch den Raum zu Viktor, der von den Drillingen angehalten wird, ein Spiel mit ihnen zu spielen. Makkachin trottet direkt zu ihm, sodass Viktor sich kurz zu seinem Hund umdreht. Als er aufschaut, treffen sich unsere Blicke. „Woho, nicht so bissig, Yuuri“, weicht Nishigori zurück. „Man könnt ja grad meinen, ich nehm' dir was weg. Er ist dein Trainer, das haben wir schon verstanden.“ Gut. Und dabei bleibt es. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn diese Feier bald zu Ende wäre, denn ich kann in Viktors Augen sehen, dass er nur den einen Gedanken hat, so schnell wie möglich wieder mit mir alleine zu sein. Und weiß Gott, ich will nichts anderes. Gegen Mitternacht sind wir endlich in Viktors Zimmer. Sich gegenseitig auszuziehen ist vielleicht gängige Praxis bei anderen Paaren und sicherlich schöner und sinnlicher, wenn man Zeit hat, aber gerade haben wir keine Zeit und entledigen uns wie die Male davor selbst unserer Kleidung. Nur eine Sache darf Viktor sich nicht mehr selbst ausziehen: Diese unscheinbare, schwarze Unterhose, die so unschuldig durchs Restaurant geflogen ist, ziehe nur noch ich von seinem hübschen Hintern. Darunter liegt jetzt mein Revier. Meine Finger fahren unter den Bund und von den Hüften weiter nach hinten um seine Backen zu kneten, ihn festzuhalten und den Stoff Stück für Stück ein bisschen tiefer zu streifen... Warum haben wir das nicht schon früher angefangen? Ich knie vor ihm, küsse seinen Bauch und er hält sich an meinen Haaren fest, bis die Unterhose auf den Boden fällt. Dann steigt er langsam heraus und mit dieser letzten Trophäe in der Hand erhebe ich mich, um den zu betrachten, der mir Lust beigebracht hat. Viktor steht nackt und mit sehnsüchtigen Blick vor mir, sein Zeige- und Mittelfinger spielen schon an seinen Lippen; er senkt seinen Blick und seine andere Hand wandert meinen Bauch hinab. Sie findet ihr Ziel und er schließt die Augen, seufzt meinen Namen und ich weiß genau, was er von mir haben will. Achtlos werfe ich die Unterhose auf den Boden und trete einen Schritt näher; Viktor macht einen Schritt rückwärts, lockt mich ihm zu folgen, bis er ans Bett stößt, sich setzt und zur Mitte rutscht, bis er liegen kann und mir seine Arme entgegenstreckt. Ich kann mich an diesem Anblick nicht satt sehen. Er ist der Schönste von allen und er will nur noch mich... Am folgenden Morgen weiß wahrscheinlich jeder in meiner Familie Bescheid. Der Holzboden hat so geknarrt und wir konnten einfach keine Position finden, in der es weniger Geräusche gemacht hätte. Ich bete einfach inständig, dass alle schon geschlafen haben. Bei dem Grinsen im Gesicht meiner Mutter bin ich mir da aber nicht sicher, ob mein Wunschdenken mit der Realität übereinstimmt, aber ich kann ja versuchen mir einzureden, dass es von meiner Platzierung im Wettkampf kommt. Aber auch ohne Mutters Grinsen fühlt sich heute morgen alles ganz anders an. Bisher habe ich selten mitbekommen, wie ein Morgen bei Viktor abläuft, denn wenn er für gewöhnlich aufgestanden ist, schlief ich meistens noch im Zimmer nebenan. Gerade aber frühstücken wir zusammen, etwas das in der Vergangenheit nicht oft passiert ist und nach einer Weile fällt mir auf, dass ich Viktor beim Essen genau beobachte. Was er isst, wie er es isst, in welcher Reihenfolge er es isst... Aber eigentlich dasselbe wie ich: Reis mit Sesam, Krautsalat, Fisch und dazu Misosuppe mit Wakame und Tofu. Die Misosuppe hat scheinbar ihren festen Platz in seinem Speiseplan bekommen, seit Mutter ihm geraten hat, mehr Algen zu essen, weil seine Haut auf das andere Klima in Japan entzündlich reagiert hatte. Und offenbar hilft es, denn seitdem hat er keine Probleme mehr. Dennoch ich wundere mich. Warum denke ich überhaupt an so komischen Sachen? Als wäre Misosuppe zum Frühstück etwas Außergewöhnliches oder irgendwie erwähnenswert. Nach zwei weiteren Stäbchen voll Reis verstehe ich. Es ist nicht die Misosuppe, die das Außergewöhnliche an dem Gedanken ist, sondern die Tatsache, dass Viktors Haut irgendwie nicht mehr nur seine Privatsache ist. Dass es mich in gewisser Weise auch etwas angeht, weil ich diese Haut anfassen darf. Und mir fallen plötzlich noch mehr Dinge auf, die ich ganz anders wahrnehme. Als ich im Badezimmer stehe, um mir die Zähne zu putzen, wandert mein Blick zu Viktors Kulturbeutel und ich bin überrascht festzustellen, dass einige Dinge nicht weggeräumt wurden, sondern aufgereiht neben meinen Sachen stehen. Seine Zahnbürste und seine Zahncreme, beides in einem Glas. Sein Deo. Sein Parfum. Gerade sein Parfum habe ich schon so oft gerochen, aber nie gefragt, welches er benutzt. Mir war nur klar, dass es kein Herrenduft sein kann und mit der Annahme lag ich auch nicht falsch: Black Opium von Yves Saint Laurent. Trotzdem, denke ich, weder Zahnbürste oder Zahncreme, Deo oder Parfum sind herausragend speziell oder besonders. Genau genommen sind sie erschreckend normal. Und dennoch fängt es an, überall zu kribbeln und mein Herz schlägt schneller, je länger ich die Zahnbürste betrachte. Dabei gibt keinen konkreten Grund dazu...! Nur den, dass diese kleinen Dinge mir auf subtile Weise still und leise erzählen, dass die Veränderung in unserer Beziehung real ist und wir ein Paar sind. Bevor ich aber weiter über die Faszination einer Zahnbürste nachdenken kann, steht Viktor in der Tür. „Kann ich nochmal kurz an meine Tasche?“ „K-klar“, antworte ich und gehe einen Schritt zur Seite. „Sag' mal, Yuuri,“ beginnt er, während er in der Tasche kramt, „wie wolltest du den Tag heute verbringen?“ Hm, wozu die Frage? Ich warte und beobachte, wie Viktor die kleine Dose mit Lippenbalsam aus dem Beutel holt. „Also, ich hatte dir ja gesagt, dass du heute frei hast, um dich zu erholen...“ „Ja, und was ist damit?“ „Hast du was Bestimmtes vor?“ Ich schaue ihn für ein paar Sekunden verwirrt an. Dann verstehe ich. Er weiß nicht, wie er fragen soll, ob wir etwas zusammen machen können, weil er denkt, ich hätte vor dem Cup of China vielleicht alleine irgendetwas anderes geplant. Oh Mann, Viktor. Als ob wir die letzten Tage überhaupt irgendwas getrennt gemacht hätten außer auf Toilette zu gehen. „Nein“, antworte ich ihm ehrlich, dann spüle ich den Mund aus und einen Moment lang überlege ich, ob mir etwas einfällt, was wir zusammen unternehmen können. Mein Blick findet erneut die Zahnbürste. „Also, es gäbe da schon etwas, das ich gerne machen würde...“ „Okay?“, sagt er, während er sich Lippen einreibt. „Ich möchte meinen Viktor besser kennenlernen... Wäre das ok?“ Er sieht mich für einen Moment lang mit großen Augen an, dann lacht er. „Der Viktor, nach dem du fragst, ist ein ziemlicher Dummkopf. Aber seit deiner Kür ein ziemlich glücklicher Dummkopf.“ Darauf muss ich schief grinsen. „Ich hab von dir gelernt.“ Viktor lacht noch einmal und hält das Döschen vor mir hoch. „Du auch?“ „Nicht nötig“, sage ich und schließe die letzten Zentimeter zwischen uns. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl zu wissen, dass das keine Ausnahme mehr sein muss. Wir haben uns in meinem Zimmer verkrochen. Mit den Kissen von Viktors Sofa im Rücken sitzen wir gegen das Fenster gelehnt auf meinem Bett, die Decke über unsere Beine gelegt. Unsere Handys liegen auf lautlos gestellt auf meinem Schreibtisch, dass uns niemand stören kann, sofern derjenige nicht das Privileg besitzt, an die Tür klopfen zu können. Ich möchte so viele Dinge wissen. Dinge, die ich mich bisher nie getraut habe, zu fragen und mir schießen tausend Möglichkeiten durch den Kopf, aber eine dümmer als die nächste. Die normalen Steckbriefdaten weiß ich natürlich schon lange aus verschiedenen Interviews und Berichten, wie zum Beispiel seinen Geburtstag (25.12.1988) und Geburtsort (St. Petersburg), seine Lieblingsfarbe (Royalblau), sein Lieblingsessen (so ziemlich alles, wobei mir eine Stimme flüstert, dass Katsudon sehr weit oben mit dabei ist), sein Lieblingstier (logischerweise Hund, merkwürdigerweise aber auch Schafe)... Eben die Dinge, über die Fans sich freuen, wenn sie sie wissen. Aber das hat ihn ja nicht zum fünffachen Weltmeister gemacht, sondern das, was er auf dem Eis performt hat. Das Genie hinter den Programmen, das ihm zusammen mit seinem abnormalen Talent den Beinamen „Lebende Legende“ eingebracht hat. Als er mit Odette im Jahr 2000 auftrat, war ihm zum ersten Mal internationale Aufmerksamkeit zuteil geworden, man könnte sagen, es war sein Durchbruch gewesen. Mit Lestat hat er sich abgesehen von seinem Rockstar-Image auch die höchste Punktzahl bei den Juniors, die bis heute nicht überboten wurde, erlaufen und als er nur zwei Jahre später mit Fighter auf dem Eis stand, gelang ihm der vierfache Flip, der bis heute noch sein Aushängeschild ist. Da ich aber vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen kann, frage ich völlig unabsichtlich nach etwas ganz anderem, das gerade für einen kurzen Moment wieder in mein Blickfeld getreten ist: Viktor hat seinen Pullover ausgezogen, um sich an meine Brust zu lehnen und bis zum Kinn mit der Decke einzumummeln. An seinem rechten Oberarm hat er vier gleichmäßige, feine Narben, die mir im Onsen schon ab und zu aufgefallen sind. Sie liegen zu weit auseinander und sind zu dünn, um annehmen zu können, dass sie von Makkachins Pfote oder einem anderen Tier stammen könnten, aber auch generell habe ich eine solche Anordnung noch nie irgendwo gesehen und kaum dass ich gefragt habe, fängt er auch schon an zu lachen. „So was willst du wissen?“, gluckst er. Im Schutz der Laken fahre ich mit meinem rechter Zeigefinger behutsam seinen Arm auf und ab, als könnte ich die Narben ertasten. „Das sind Überbleibsel einer misslungenen Flucht vor Hausaufgaben.“ Ich schaue ihn überrascht an. Mit so einer Antwort habe ich jetzt nun nicht gerechnet. „Ich wollte nach draußen spielen“, erklärt Viktor und beginnt dabei, seinerseits mit dem Finger Muster auf meinen Oberschenkel zu malen. „Aber meine Mutter wollte, dass ich zuerst die Hausaufgaben mache. Ich bin in den Garten gerannt, sie hinter mir her und ich dachte, ich passe noch durch den Spalt der beiden Hecken. Durchgepasst habe ich, allerdings habe ich auf rechter Seite auch die halbe Hecke mitgenommen. Es war eine Rosenhecke. Und damit war die Flucht schneller beendet als mir lieb war.“ Ich staune nicht schlecht. Aber irgendwie amüsiert es mich, mir vor meinem inneren Auge vorstellen, wie der junge Viktor, zukünftiger Weltmeister im Eiskunstlauf, vor Schulaufgaben davon rennt. „Hast du öfter solche Sachen gemacht?“, will ich wissen. „Frag' lieber, wann ich so was nicht gemacht habe“, grinst Viktor und setzt sich wieder auf. „Und du? Du hast doch sicher auch mal was Blödes gemacht?“ „Hm, ich war eigentlich immer derjenige, der alles Blöde mitmachen musste, aber selbst habe ich eher selten was angestellt“, überlege ich und Viktor schaut mich erwartungsvoll an. „Als ich noch klein war, hat Mari den Blödsinn mit mir gemacht. Sie hat mich mal ins Spülbecken gesetzt und den Stuhl weggeschoben. Mir gesagt, dass das Kanji für Frauen das für Männer ist und umgekehrt und ich plötzlich bei den Frauen in der Umkleide stand. So Sachen eben. Was unter Geschwistern eben normal ist. Du hast keine Geschwister, oder?“ „Nein. Aber alleine war ich trotzdem nie.“ „Du hattest sicher viele Freunde.“ „Ja“, lacht er. „Fuchur, Finn und Sindbad. Und natürlich Sansibar, die Hübsche. Und die kleine Alice.“ Moment, was? Was zur Hölle sind das bitte für Namen? Heißen Kinder in Russland wirklich so?! „Yuuri... was schaust du gerade so irritiert?“, lacht er mir bei meinem heillos verwirrten Gesicht entgegen und ich fühle mich ertappt. „Ich rede von Schafen. Nicht von Menschen.“ Ach so. Stimmt, die mag er ja auch. Moment, was, wie? Schafe?! „Fuchur war der ältester Bock. Finn und Sindbad sind immer wieder ausgerissen und ich war jedes Mal mittendrin statt nur dabei. Sansibar war unser einziges dunkles Schaf, aber das Hübscheste. Eine wahre Lady. Und Alice -“ „Viktor, stopp!“, gehe ich dazwischen. „Schafe? Du redest von Schafen? Wie kommst du an Schafe?!“ „Die haben uns gehört.“ „Wo hattet ihr Platz für Schafe in der Stadt?!“ Viktor lacht erneut. „Nicht in St. Petersburg, Yuuri. Meine Familie wohnt da nicht. Nur ich wohne da.“ Ich komme gerade echt nicht mehr mit. „Ich dachte, du bist in St. Petersburg geboren?“ „Das ja. Aber gewohnt haben wir da nicht“, erklärt er und lehnt sich wieder an. „Erst als ich mit dem Eiskunstlauf angefangen habe, bin ich nach St. Petersburg gezogen.“ „Dann redest du gerade von deiner Kindheit?“ „Ja“, sagt er und gibt mir ein Küsschen. Jetzt bin ich sprachlos. Seit ich angefangen habe, mich für Viktor zu interessieren, hat er meines Wissens nach nie öffentlich über seine Zeit vor dem Eiskunstlauf gesprochen. Und gerade sitzt er bei mir auf meinem Bett und erzählt davon. Einfach so, ohne dass ich wirklich danach gefragt habe. Dass er vor Hausaufgaben geflüchtet ist und von Schafen, die seiner Familie gehört haben... Ich starre peinlich berührt zu ihm hinüber, er schaut mich mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht an. Wenn er mir solche streng gehüteten Dinge einfach so erzählt...dann... Soll ich wirklich? Für einen Weile überlege ich. „Viktor?“ „Ja?“ „Ich würde dir gerne etwas zeigen“, sage ich schließlich. „Aber du darfst nicht lachen!“ „Das letzte Mal als du das gesagt hast, musste ich doch lachen, Yuuri.“ „Dann lach' mich einfach nicht aus, ok?“ „Okay, ich versuch's.“ „Lässt du mich kurz aufstehen?“ Viktor setzt sich wieder auf, ich schlage die Decke zurück und steige vom Bett. Ich weiß nicht, was mich gerade dazu bringt, das zu tun, aber irgendwie fühlt es sich so an, als wäre es der richtige Moment dafür. Viktor beobachtet neugierig, wie ich zu meinem Schrank gehe und von dort einen Karton hervorziehe und ihn vor Viktor aufs Bett hebe. „Schau' rein“, fordere ich ihn auf. „Da sitzt aber nicht irgendwas drin, das mich erschreckt, oder?“, fragt er mit skeptischem Blick, als er sich über den Karton beugt. Das kommt ganz darauf an, denke ich und lächele etwas beschämt, aber wahrscheinlich wirkt der Horrorfilm von vor dem Cup of China noch nach. „Nein,“ entwarne ich und er hebt langsam den Deckel an. Mein Puls schnellt in die Höhe, aber es gibt kein Zurück mehr: Der Karton ist offen und Viktor schaut sich selbst an. Es ist das gleiche Foto, dass er auch in seinem Zimmer stehen hat: 2012 beim Kürprogramm der Weltmeisterschaft in Kopenhagen, als er den ersten seiner fünf Titel in Folge gewonnen hat. „Du hast das Bild auch?“ Ich muss aufpassen, nicht zu schreien. Meint er das ernst? Auch? Das ist alles, was ihm dazu einfällt? Das Bild haben wahrscheinlich alle seine Fans! Es ist das Bild, das für seine Autogrammkarten von 2012-2014 verwendet wurde. 2014 gab es wegen den Olympischen Winterspielen ein neues Motiv und die aktuelle Version seit Weltmeistertitel Nummer 5 ist ohne Foto, dafür aber mit dem Design seines Outfits zu Stammi Vicino, das er auch als Handyhülle hat. Aber plötzlich hängen meine Gedanken in einem Vakuum fest. Ich hoffe doch stark, dass Viktors spontane Abreise nach Hasetsu nicht der Grund ist, warum es derzeit kein Foto auf den neuen Karten gibt und man auf das Kostümdesign zurückgegriffen hat... Ich kneife die Augen zusammen, verdränge die Möglichkeit und wende mich wieder Viktor zu, der das Bild gerade aus dem Karton genommen hat und wieder sich selbst ansieht, diesmal ein Portrait. Es ist das Cover einer Zeitschrift mit einem Sonderartikel, nachdem Viktor den vierfachen Rittberger gemeistert hatte und seither in seinem Repertoire über alle derzeit möglichen Vierfachsprünge verfügt. Das Foto vom Cover war als Beigabe enthalten und die Zeitschrift dazu muss irgendwo noch weiter unten im Karton sein. „Das hattest du aufgehängt?!“, ruft er entsetzt und deutet auf die Reste der Tesafilmstreifen an den Ecken. „Yuuri! Das Foto ist fürchterlich!“ „Warum?“, frage ich platt. „Ich seh' doof aus auf Frontalbildern!“, beschwert er sich und ich fange an zu lachen. Als ob er aus irgendeinem Winkel doof aussehen könnte. „Schau' weiter“, wiederhole ich. Viktor schlägt das Bild um und sieht das nächste. Er blättert zum Nächsten. Und noch eins weiter. Es kommt die erste Zeitschrift. Dann lässt er alles zurückfallen und starrt auf den Karton. „Yuuri... sind das alles...?“ „Ja.“ Es entsteht eine Pause zwischen uns. Sie ist nicht unangenehm und das Gesicht, das Viktor zieht, weil er gerade begriffen hat, dass das ein Karton voller Viktor ist, der vor ihm steht, ist zu niedlich, aber irgendwie sieht er gleichzeitig auch hilflos irritiert darüber aus. „Ich hätte dir das vielleicht schon früher zeigen sollen...“, beginne ich unsicher. „Yuuri, darf ich das anschauen?“, fragt er und deutet auf den Karton, als hätte er ihn jetzt erst richtig bemerkt. „Viktor, das sind alles Artikel über dich. Da wird nichts dabei sein, was ein Geheimnis wäre, oder?“ „Aber das ist das, was dir wichtig war...!“, ereifert er sich aufgebracht. „Was dich bewegt hat...! Was dich,“ seine Stimme wird leiser, „begeistert hat...und...“ er bricht ab, senkt den Kopf und streckt beide Arme nach mir aus. „Yuuri...?“ Ich weiß nicht, was gerade mit ihm los ist, aber ich krabbele zurück auf meinen Platz neben ihm und sofort hat er mich umarmt und drückt mich an sich. „Danke, Yuuri.“ Teil 10 - History Maker ----------------------- Wir haben wirklich den ganzen Karton zusammen durchgeschaut. Wenn ich mir überlege, dass ich anfangs regelrecht Panik davor hatte, dass er herausfinden könnte, dass ich eine nicht unwesentliche Sammlung über ihn habe, dann muss ich jetzt gestehen, dass diese Angst völlig unbegründet war. Wir saßen auf dem Bett, die ganzen Zeitschriften, Ausschnitte und Poster um uns herum verstreut und ich kann es nicht genau beschreiben, aber Viktor sah aus, als würde er sich zum ersten Mal selbst sehen. Er kniete über den Bildern, hat manche mit seinen Fingern berührt, darüber gestrichen, andere verträumt angesehen und seine Augen haben dabei gestrahlt... Beinahe wie jemand, der etwas gefunden hat, von dem er glaubte, es verloren zu haben. Ich habe nur still beobachtet, zugehört, wenn er etwas zu sagen hatte oder ihm die Inhalte der Zeitschriftenartikel erklärt und nachdem das letzte Bild in die Hand genommen und betrachtet war, hat er sich wieder mit der Decke bei mir angekuschelt, mich still im Arm gehalten und meine Nähe genossen. Später am Abend machen wir uns fertig, um noch eine Runde mit Makkachin zu gehen, aber zu meiner Überraschung sehe ich, dass Viktor seine Schlittschuhe dabei hat. „Soll ich meine auch mitnehmen?“, frage ich, wenn auch etwas verwundert. Eigentlich hat er gesagt, es gäbe kein Training heute. „Nein, du hast heute frei und erholst dich“, antwortet er. „Aber ich möchte laufen, wenn es für dich in Ordnung ist.“ „Ja, sicher. Ich kann Yuko schreiben, dass wir noch vorbeikommen“, sage ich, aber mein Herz schlägt plötzlich wie wild. Er möchte laufen? Ich meine, er ist mit mir auf dem Eis, wenn wir trainieren, aber außer den Trainingsroutinen oder den Inhalten meiner Programme läuft er kaum etwas anderes. Er hat auch nie den Wunsch geäußert, selbst laufen zu wollen. Es ging immer nur um mich bisher. Es ist irgendwie verdrehte Welt. Ich sitze auf dem Fahrrad mit dem Rucksack auf, Viktor joggt neben mir her und Makkachin rennt freudig voraus. Auch Yuko ist nicht minder erstaunt, als sie uns ankommen sieht. Sie lässt es dennoch unkommentiert und auch ich sage nichts dazu, obwohl mir tausend Gedanken durch den Kopf schießen. Während Viktor einige Dehnübungen macht, die eindeutig darauf schließen lassen, dass er nicht nur einfach im Kreis fahren will, stupst Yuko mich an. „Was ist los? Ich meine, also...?“ „Ich weiß nicht. Er sagte, er wolle laufen.“ Ich kann an ihrem Gesicht sehen, dass sie ähnliche Fragen beschäftigen. Aber vielleicht überreagieren wir auch. Viktor ist amtierender Weltmeister, es sollte also nicht so überraschend sein, wenn er laufen möchte. Als er mit dem Aufwärmen fertig ist, kommt er zu uns und gibt mir sein Handy. „Kannst du das anschließen und mir ein bestimmtes Lied laufen lassen?“ „Ich gehe ein Kabel holen, einen Moment“, bietet Yuko an und verschwindet sogleich. Ich nehme ihm das Handy ab. „Du musst es noch entsperren“, fordere ich ihn auf. „1312.“ „Eh?“ „Der Code. 1312. Ich hab die Handschuhe schon an.“ Waaaas??? Hat er mir gerade eben gesagt, wie ich sein Handy entsperren kann?! Oh Gott... A-aber ich bin sein Freund...! Also gut. 1312. Entsperrt. Das Hintergrundbild ist eins von Makkachin. Und das Interface ist überraschenderweise auf Englisch. Ich dachte, es wäre Russisch, aber vielleicht erinnere ich mich falsch. „Ok, welches Lied willst du haben?“ „Geh auf Musik. Dann Playlists. Dann Hasetsu“, dirigiert mich Viktor durch sein Handy. Bei besagter Playlist halte ich inne. Er hat dort nicht viele Lieder gespeichert, unter anderem die Stücke Eros und Agape, aber ich bin erstaunt, auch Stammi Vicino in der Liste zu lesen, ein anderes Stück, das Duetto heißt, und dann etwas, das so gar nicht zum Rest passt und auch davon hat er zwei Versionen. „Das da“, sagt er und deutet auf eine der Versionen jenen Liedes, das diese eine, große Ausnahme darstellt. In seine Augen sehe ich wieder das gleiche, starke Strahlen wie beim Durchschauen der Bilder zuvor. „Du hast das den ganzen Sommer über gehört?“, frage ich erstaunt. „Hm, jedenfalls oft“, gesteht er. „Ich weiß nicht warum, aber es hat mich nicht losgelassen. Aber seit heute verstehe ich, warum.“ „Ok...“ „Ich möchte dir auch etwas zeigen, Yuuri“, sagt er und nimmt meine Hand. „Das wird Premiere, dass das jemand außer meinem Trainer sieht.“ Ich muss schon wieder schlucken. Etwas, dass noch keiner außer seinem Trainer gesehen hat? Und er will es mir zeigen? Hilfe...! „Also, es ist eigentlich nichts Besonderes“, beginnt Viktor, nachdem Yuko gerade wieder mit einem Kabel zurück zu uns gekommen ist. „Aber als wir die Bilder zusammen angeschaut haben, habe ich mich daran erinnert. Kennst du den Zauber, der Schneeflocken tanzen lässt?“ Ich schüttele den Kopf. „Wenn es schneit, fallen viele Flocken gleichzeitig vom Himmel. Jede für sich ist schön und zusammen ergeben sie eine wundervolle Landschaft aus Schnee und Eis. Aber ganz Besonders ist die eine Schneeflocke, die sich auf deine Hand verirrt, denn sie kommt allein, aber für dich überstrahlt ihr Zauber den der anderen. Lässt man diesen Zauber in sein Herz, dann kann diese Eine alle anderen tanzen lassen. Jemand, der mir sehr wichtig war, hat das einmal zu mir gesagt.“ Viktor macht eine Pause, dann grinst er mich an. „Yuuri, ich kann Schneeflocken tanzen lassen. Sieh' mir zu.“ Er küsst meine Hand und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Yuko versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie scheitert. Ihr Gesicht ist leuchtend rot und sie ist in eine Schockstarre verfallen. Dann lässt Viktor mich los, ich nehme der erstarrten Yuko das Kabel ab und schließe das Handy selbst an den Laptop an. Viktor betritt das Eis und noch bevor ich auf Play drücke, habe auch ich irgendwie verstanden. Dieses Lied. Der Zauber der einen Schneeflocke, die unverhofft zu einem kommt. Ein Stern, der Geschichten erzählt und von allen geliebt wird. Ja, er kann sie tanzen lassen wie kein anderer. Er ist die Wertvollste von allen und hat sich bei mir fallen lassen. Viktor Nikiforov. Lebende Legende. HISTORY MAKER. ~ENDE~ Leckerli: Phichits Siegesfeier ------------------------------ Oder: „Wer hat eigentlich Georgi eingeladen?“ „Yuuri! Ich dachte schon ihr kommt gar nicht mehr!“ „Tut mir Leid, Phichit... Ich hatte mich kurz hingelegt und muss eingeschlafen sein.“ „Ja, und bis ich dich mit dem Handy wach geklingelt hatte, war’s dann eben so spät, wie’s jetzt ist.“ „Verstehe... Ja, du hast schon immer geschlafen wie ein Stein, Yuuri! Los, kommt!“ Phichit hat’s geschluckt. Ich kann es nicht fassen, dass Viktors trivialer Erklärungsversuch wirklich funktioniert hat. Aber gut, er hat ja auch den Berichterstattern glaubwürdig machen können, dass dieser Kuss auf dem Eis rein gar nichts mit Liebe, sondern nur mit Lob zu tun hatte. Auf der anderen Seite war das bevor wir miteinander... Oh Gott. Miteinander geschlafen haben...! Ich kann das einfach nicht glauben... Ich bin seit etwas mehr als einer Stunde aus dem Club der ewigen Jungfrauen ausgetreten und das mit niemand anderem als Viktor Nikiforov an der Hand. „Wir machen einen drauf, Trainer-freie Party heute!“, lässt mich Phichit freudestrahlend wissen, als wir zum Tisch gehen. Ich schaue ihn überrumpelt an. Von Trainer-frei stand nichts in seiner Nachricht...! „Muss ich wieder gehen?“, fragt mich Viktor mit ähnlich irritiertem Gesicht. „Ach was, nein! Natürlich nicht!“, antwortet Phichit hastig, als hätte er gerade erst bemerkt, dass Viktor ja mein Trainer ist. Dann schaut er etwas betreten drein. „Und tut mir Leid wegen dem Foto“, fügt er an. „Um jetzt wieder Neue zu machen?“, entgegne ich mit einem warnenden Blick. „Nein, auf keinen Fall!“ verteidigt sich Phichit. „Setzt euch! Yuuri, was wollt ihr trinken?“ „Ich nehm‘ kalten Tee. Du, Viktor?“ „Ich schließ mich dir an.“ „Hä, wir wollen feiern und ihr wollt Tee?“ Phichit schaut uns entgeistert an. „Ich trinke generell nicht, Phichit-kun. Das weißt du“, antworte ich mit hochgezogener Augenbraue. „Und ich werde mir nicht nochmal die Kante geben“, erklärt Viktor. „Wir haben auch nur 'ne Cola“, springen uns Guang-Hong und Leo zur Hilfe. „Und ich Sprite“, sagt Chris und schwenkt sein Glas. „Ist doch alles bestens. Jeder trinkt das, was er möchte.“ Nachdem die Getränke bestellt und wir alle um einen Tisch mit Drehscheibe versammelt sitzen, kämpfen wir uns durch die chinesische Speisekarte. Guang-Hong steht ständig bei jemand anderem um zu übersetzen, aber bei dem ganzen Durcheinander hat einfach jeder nach ein paar Sekunden schon wieder vergessen, was er eigentlich wollte und was es war, sodass das Spiel von vorne losgeht. Immerhin sind bei der Karte Bilder dabei, sodass man nicht ganz verloren ist und ein bisschen zurecht finden kann ich mich dank der Kanji ja auch. Viktor und ich schauen zusammen in eine Karte und nach einer Weile zeigt er mit dem Finger auf eins der Zeichen. „Yuuri, das ist mit Schwein, oder?“ „Hm, ja.“ „Das Rind?“ „Ja...“ „Huhn?“ „Hast du dir die Zeichen vom Japanischen gemerkt?“, frage ich. „Mochiron sa“, erwidert er und ich werde rot. Dass er sich schon so viel gemerkt hat, ist mir gerade irgendwie peinlich. Ich habe es auf Russisch gerade mal zu „Danke“, „Ja“ und „Nein“ gebracht. Und er liest schon die halbe Speisekarte auf Chinesisch, weil er sich das Japanische gemerkt hat und die Zeichen verwandt sind. „Sprichst du schon Japanisch, Viktor?“, fragt Chris interessiert. „Un peu. Es reicht, um nicht zu verhungern“, antwortet Viktor und zwinkert. „Das, was man immer als Erstes lernt. Wie man was zu essen bekommt und wie man flucht. Kannst du auch fluchen?“, grinst Chris zurück. „Hm, ich bin nicht sicher“, sagt er und wendet sich an mich. Er will jetzt nicht allen ernstes Schimpfwörter von mir bestätigt haben?! Wo hat er die überhaupt her?! „Was heißt shinpai?“ Eh, was? Ich antworte: „Sorgen...?“ „Und makeru?“ „Verlieren...?“ „Shippai?“ „Versagen...“ „Fuan?“ „Viktor!“, unterbreche ich ihn mit hochrotem Kopf, während Chris sich schon beherrschen muss, nicht laut loszulachen. „Wo hast du diese Wörter her?!“ „Von dir. Du brabbelst das immer beim Training vor dich hin, vor allem, wenn du stürzt. Ich dachte, du fluchst.“ (^ _ ^) „Hör' auf damit, das ist peinlich!“ Oh Gott, führe ich etwa so viele Selbstgespräche mit mir, wenn wir beim Training sind?! Himmel, ich muss besser aufpassen, was er aufschnappt... „Yuuri, das konnte ich doch nicht wissen...“, beschwert er sich und zieht eine Schnute. „Dann hör' auf...“ „Tut mir Leid. я люблю тебя.“ Hä, was? Chris lehnt sich zu Viktor und flüstert ihm zu: „Also falls du ihm gerade Schweinereien zuraunst, du bist nicht der einzige Russe hier. Wollt‘s nur gesagt haben.“ Viktor schreckt auf, sein Blick findet Georgi, der geduckt zwischen Leo und Phichit sitzt und sehr konzentriert auf seinem Handy herumtippt. Entsetzt dreht Viktor sich zu Chris. „Wer hat denn Georgi eingeladen?!“ „War nicht geplant, Viktor. Er hat im Vorbeigehen mitbekommen, dass wir alle zusammen Feiern gehen wollen und gefragt, ob er mitkann. Hat wohl 'nen Korb von irgendeiner Maria gekriegt, da konnte der kleine Thailänder nicht mehr Nein sagen...“ „Verstehe…“, antwortet Viktor und sein Blick wird ernster. „Ich glaube, ich muss etwas richtig stellen. Georgi!“ „Was?“ Georgis Blick ist zum Fürchten. „Du, ich. Wir haben was zu klären.“ „Das glaube ich auch“, giftet er Viktor an. Viktor steht auf, Georgi ebenfalls. Ich bin gerade ziemlich verwirrt. Was müssen die Beiden denn klären? Hat es etwas mit dieser Russenparty zu tun? Ich sehe ihnen nach, bis sie um die Ecke verschwunden sind. Chris lehnt sich zu mir herüber. „Was denkst du gerade, Yuuri?“ „Viktor war gestern Abend mit Georgi und den anderen Russen feiern...“, beginne ich zögerlich, weil ich noch nicht weiß, wie ich es erklären soll, was mir durch den Kopf geht. Es klingt fürchterlich danach, als hätte Viktor etwas mit diesem Korb zu tun und mir wird direkt bewusst, dass ich von Viktor den ganzen Abend lang nichts gehört habe. Ich war so in meiner Euphorie gefangen, dass ich nicht mehr wirklich etwas mitbekommen habe. Erst heute morgen hatte ich seine Nachrichten bemerkt, unter anderem die von kurz nach Mitternacht, um mir mitzuteilen, dass er wieder auf seinem Zimmer sei. „Dann ist die Sache klar“, schlussfolgert Chris gelassen. „Georgi hat Viktor auf die Russenparty eingeladen?“ „Eh, ja...?“, antworte ich und bin nur noch verwirrter. Kommt dieses Szenario denn öfter vor, dass Chris es sogar erraten kann? Ich hatte mir überhaupt nichts dabei gedacht. Ich wollte, dass Viktor eine Chance bekommt, sich mit seinem Trainer auszusprechen... Und jetzt wird mir schlecht bei dem Gedanken daran, wieso er der Grund für einen Korb von dieser Maria gewesen sein sollte. „Yuuri.“ Chris lächelt mich an. „Keine Sorge. Georgi denkt immer, er hat Vorteile, wenn Viktor dabei ist. Aber du darfst nie vergessen: Alle interessieren sich für Viktor, aber Viktor interessiert sich nicht für alle. Er sucht sich sehr genau aus, wen er an sich ranlässt. Das solltest du vielleicht am Besten wissen?“ Mir schießt unvorbereitet das Blut mit Hochdruck in den Kopf. Oh ja. Und wie ich das weiß...! Chris zwinkert mir zu. „Dein Silber war heute Gold wert. Also freu' dich. Da schau, dein Gatte ist schon zurück.“ Viktor und Georgi kommen wieder zu uns an den Tisch und der Unterschied in Georgis Ausdruck ist gewaltig. Was auch immer Viktor ihm gesagt hat, es hat wohl seinen Job getan. Georgi wirkt sogar fast optimistisch. Viktor setzt sich wieder zwischen Chris und mich und greift unter dem Tisch direkt nach meiner Hand, als hätte er geahnt, dass mich die Situation verunsichert hat. „Sei unbesorgt“, flüstert er mir zu. „勇利が一番好きなんだ.“ Sofort schießt mir das Blut ein weiteres Mal ins Gesicht. Ich bin um ein Vielfaches erleichtert und diesmal hat es auch wirklich niemand außer mir verstanden, aber dass er das einfach so in einem Restaurant zu mir sagt...! Just in diesem Moment wird unser Tee wird gebracht und die ersten Gerichte folgen, die auf der Drehscheibe in der Mitte des Tischs platziert werden. Es kann endlich losgehen. Gut so. Dann ist jeder mit essen beschäftigt und schaut nicht ständig zu uns. Ich hab' nämlich auch ganz schön Hunger mittlerweile...! ---------------------- „Yuuri hat ganz schön zugeschlagen, ob sich das morgen bei der Exhibition rächt?“ „Ah, ich glaube, dein Freund bekommt noch ein paar extra Trainingsstunden heute Abend.“ „...Wie meinst du das, Chris?“ „Du hast sie doch gesehen. Wie sie diese Aubergine mit Bohnenpaste geteilt haben, da hat doch keiner mehr auf sein eigenen Teller geguckt. Dass Yuuri vorher noch gepustet hat, ich hau‘ mich weg.“ „Dann denkst du, der Kuss war echt?!“ „Ich wette. Viktor küsst nicht einfach so irgendjemanden. Aber ob Yuuri weiß, was er damit losgetreten hat?“ „Ah, das heißt jetzt...?“ „Viktor vom Eis zu stehlen, ist eine Sache. Aber Viktor von der ganzen Welt zu stehlen, gleicht einem Hochverrat. In Russland wird man ihm dafür keinen roten Teppich ausrollen.“ „Verstehe...“ „Aber?“ „Naja, es kann sein, dass jeder bei einem Jahrhundertläufer wie Viktor denkt, dass er nur das Beste verdient hat und dass Yuuri diesem Bild kaum gerecht werden kann. Aber wenn Yuuri sein Herz gewonnen hat, dann hat er doch mehr erreicht, als alle anderen zusammen, oder?“ „Dein naiver Idealismus hat etwas Bewundernswertes... So selbstlos sind die Menschen leider nicht. Dein Freund wird den Kampf seines Lebens nicht um irgendeine Goldmedaille führen. Er hat die Welt herausgefordert, um dem Einen würdig zu werden, der ihr König ist.“ „Waahh, Chris, bei dem Gedanken bekomm‘ ich Gänsehaut...!“ „Nicht nur du. Diese Saison wird die Spannendste seit Langem.“ Bonus: Erdbeeren kaufen Es ist der Morgen nach der dritten Nacht in Peking und ich habe schon wieder nicht richtig geschlafen. Abgesehen davon, dass es nicht einfach ist, zu zweit in einem Einzelbett zu schlafen, hat sich auch unser Vorsatz, in Peking mit so wenig Körperkontakt wie möglich auszukommen, endgültig in Luft aufgelöst. Es war, als hätten wir versucht alles nachzuholen, was wir schon so lange hatten tun wollen, aber nicht getan haben. Es befindet sich kein einziges Taschentuch mehr in der Makkachinbox und wir liegen völlig erschöpft vor Liebe in meinem Bett. Immerhin haben wir es auf dem Rückweg vom Restaurant noch in einen chinesischen Konbini geschafft und ich habe die erste Packung Kondome meines Lebens mit dem Vorsatz, sie auch zu benutzen gekauft, während Viktor vor dem Geschäft auf mich gewartet hat. Vor lauter Aufregung habe ich allerdings weder richtig hingeschaut, noch die Beschriftung beachtet und war irgendwie der Meinung, die fröhliche kleine Erdbeere auf der Packung sei nur Tarnung. War sie nicht. Viktor hat sich nicht mehr eingekriegt und ich befürchte, dass mir das noch wochenlang nachhängen wird. Herzlichen Glückwunsch, Yuuri. Zu Silber, Gold und fröhlichen Erdbeeren. Epilog: Sommer in Hasetsu - Epilog ---------------------------------- Das Lied ist vorbei und Viktor liegt mitten auf der Eisfläche. Er hat geschnauft vor Anstrengung, sich vom Bauch auf den Rücken gerollt, gelacht, aber jetzt ist es still. Sein Arm liegt über seinem Gesicht und von hieraus kann ich nicht erkennen, welcher Ausdruck sich darin befindet. Aber wenn er nicht gleich aufsteht, dann werde ich ihn dazu auffordern müssen, denn er hat keine Jacke an und wird sich den Tod holen, wenn er geschwitzt da liegen bleibt. Andererseits hoffe ich, dass er von alleine aufsteht, denn womöglich bekomme ich keinen Ton aus mir heraus. Ich fühle mich generell nicht in der Lage, etwas sagen zu können. Er wollte die „Schneeflocken tanzen lassen“, wie er es nannte, aber ich selbst habe keine Worte für das, was er auf dem Eis gemacht hat. Es folgte keiner Logik und war spontan, aber trotzdem habe ich das Gefühl gehabt, dass Viktor in ein paar Minuten durch sein ganzes Leben gelaufen ist. Er steht nicht auf. Ich weiß nicht, ob mein Ruf nur halb so laut sein wird, wie ich es mir erhoffe, aber es muss sein: „Viktor!“ „Yuuri“, antwortet er ohne sich zu rühren. „Komm‘ zu mir.“ „Viktor, ich hab‘ die Schlittschuhe zuhause gelassen“, entgegne ich vorwurfsvoll, aber ich bin erleichtert, dass er reagiert und dass ich doch noch eine Stimme habe. „Soll ich dir eben welche holen, Yuuri?“, fragt Yuko. Ich seufze. „Ja, bitte.“ Während ich warte, beobachte ich, wie Viktor sich aufsetzt, dass er nicht mehr weiter auf dem Rücken auf dem blanken Eis liegt. Yuko kommt zurück und gibt mir die geliehen Schlittschuhe. Es ist ungewohnt, andere Schuhe als meine eigenen zu tragen und ich hoffe mal, Viktor hat keine weitere, fixe Idee mehr, die mich einschließt. Dann gleite ich zu ihm und kurz bevor ich ihn erreiche, hält er mir seine Hand entgegen. Ich greife sie, ziehe ihn hoch und er steht auf. Sogleich werde ich von ihm ohne Vorwarnung umarmt. „Viktor, wir sind nicht allein hier...“, flüstere ich eindringlich. „Willst du es geheim halten?“ fragt er schwermütig. „Ich will mich nicht verstecken. Nicht, wenn ich es nicht muss. Bisher hat mir nur das Eis erlaubt, meine Gefühle nach außen zu kehren, aber auf dem Eis war ich immer alleine...“ Er drückt mich fester an sich und ich kann nicht anders, als ihn jetzt auch zu umarmen. „Jetzt bist du bei mir, Yuuri“, spricht er weiter. „Ich weiß, dass wir in der Öffentlichkeit weiterhin Trainer und Schüler bleiben sollten, aber hier, wo dein Zuhause ist, können wir nicht einfach wir selbst sein?“ Meine Augen wandern zu Yuko. Sie hat sich umgedreht, um uns unsere Privatsphäre zu lassen. Wahrscheinlich ahnt sie es schon... Womöglich war der Kuss von Viktor nach meiner Kür nur die letzte Bestätigung, auf die alle hier gewartet haben, weil es schon viel offensichtlicher war, als es uns vorkam. Nishigori hat uns direkt „altes Ehepaar“ genannt. Mari hat den Yukata fürs Tanabata besorgt und die Nase gerümpft, als ich so stur geblieben bin. Die Kumpel meines Vaters haben vermutet, dass Viktor und ich bereits in Okayama miteinander geschlafen haben. Minako-sensei hat in Peking, obwohl sie vor Ort war, nur telefonisch Kontakt zu mir gehalten. Und Mutter... Sie hat Viktor immer als ein Familienmitglied behandelt und mir wird erst jetzt klar, auf welche Art und Weise. Als wäre er – ich schlucke – ihr Schwiegersohn. „I-in Ordnung“, willige ich ein. „Zuhause und hier in der Halle.“ Viktor richtet sich auf. „Wir sagen es ihnen?“ „Ja.“ Meine Stimme klingt sicherer als ich mich bei dem Gedanken fühle, meiner Familie offiziell mitzuteilen, dass Viktor und ich uns lieben. Aber die Erste, die es jetzt erfahren sollte, wäre Yuko und irgendetwas sagt mir, dass das richtig ist. Sie war es, die mir bei Stammi vicino zugesehen hat und die mich im Mai ermutigt hat, mit Viktor ans Meer zu fahren. Zusammen fahren wir zurück zur Bande. „Yuko?“ „Ja!“, ruft sie erschrocken und dreht sich um. Ihr Gesicht ist immer noch leuchtend rot. „Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber... vielleicht ahnst du es auch schon, also...“ Sie schlägt die Hände vor den Mund, traut sich kaum zu blinzeln oder zu atmen. „Viktor und ich... wir, nun...“ Bevor ich den Satz beenden kann, hat Yuko wie damals ihre Hände vor ihr Gesicht gehoben, dann platzt es aus ihr heraus: „Yuuri, endlich, der Wahnsinn!!!“ Sie trommelt auf die Bande und schreit fast: „Wir haben nach deiner Kür so gefeiert, das glaubst du nicht! Aber dann kam das Interview und Viktor hat alles klein geredet, uns ist die Luft weg geblieben! Wir waren uns so sicher!“ Ich bin gerade völlig überrumpelt von ihrem Gefühlsausbruch. Viktor schaut betreten zu mir und wir greifen unsere Hände fester. „Wir saßen alle auf glühenden Kohlen, die ganze Zeit! Wir haben gestern Abend so gehofft, dass ihr was dazu sagt, aber dann hast auch du felsenfest behauptet, es sei nichts! Wir waren so schockiert...!“ Yuko muss erst einmal wieder Luft holen. Sie hat Tränen in die Augen bekommen und scheint plötzlich keine Kraft mehr zu haben, denn ihre Lautstärke ist mit einem Mal verschwunden: „Ich weiß jetzt nicht mehr, was ich sagen soll... Es ist einfach Wahnsinn... Deine erste Liebe, Yuuri, und es ist Viktor... Ich freu' mich so für euch.“ Ich glaube, ich möchte im Erdboden versinken. Scheinbar wissen es wirklich schon alle... War es so offensichtlich, dass wir uns verliebt haben? Dabei haben wir so aufgepasst...! „Woher..?“, setze ich an und hebe scheu meinen Blick, doch Yuko hat sich Viktor zugewandt und ihre Augen funkeln ihn an. „Aber Viktor, wie hat Yuuri es geschafft, dich um den Finger zu wickeln?!“ Hä, wie, was?! „Du bist der Sexiest Man Alive, hast Millionen Fans weltweit und suchst dir unseren Yuuri aus, als er planlos und mit Speckschwarte hier rumgelungert hat!“ Moooooment mal, denke ich entsetzt. So faul war ich nicht! Gut, mit der Speckschwarte hat sie recht, aber die ist seit April wieder einem flachen Bauch gewichen! Viktor legt den Kopf unbeeindruckt auf die Seite: „Wenn ich ehrlich bin, hab' ich nichts gegen Yuuris Hüftspeck, aber wenn er gewinnen will, darf er den nun mal nicht haben.“ Eh, bitte was? „Und planlos war ich auch, sonst hätte ich in Russland bleiben und weitermachen können wie bisher.“ Häää? „Und was nutzen mir Millionen Fans, wenn ich nur einen Prinzen gesucht habe?“ Häääääääääää? „Ich bin eigentlich nur halb so cool, wie ich rüber komme.“ Viktor, was zur...?! Er greift sich an den Hinterkopf, grinst uns mit diesem dümmlichen Grinsen an und hält weiter meine Hand. Nach ein paar Sekunden wird sein Gesicht doch wieder ernster und in seine Stimme mischt sich plötzlich tiefe Melancholie. „Yuuri wollte, dass ich einfach nur ich selbst für ihn bin. Etwas, das noch nie jemand zuvor zu mir verlangt hat und etwas, das ich in den letzten Jahren verlernt hatte“, sagt er. „Aber nicht nur, dass Yuuri mich angehalten hat, wieder ich selbst zu sein, er hat mich genau so angenommen. Mit allen Fehlern, die ich habe.“ Mir steht der Mund offen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Dann wendet er sich an mich: „Es klingt vielleicht dumm, aber als du mich angeschrien hast, ich würde nicht mehr dein Trainer sein wollen, ist mir fast das Herz stehen geblieben...“ Und mir bleibt mein Herz auch gleich stehen! „Ich hatte selbst Angst, dass du mich nicht mehr als Trainer haben wollen würdest... Eben weil manche Dinge nicht so gelaufen sind, wie sie sollten. Und trotzdem hast du weiter für mich gekä-“ „Viktor, was soll der Blödsinn?!“, unterbreche ich ihn aufgeregt. „Ja, natürlich sind manche Dinge nicht so gelaufen wie sie sollten, aber wen interessiert das jetzt noch?“ Ich mache eine kurze Pause, sehe ihm in die blauen Augen. „Du bist so ein Dussel... Du bist für mich der Beste, weil ich dich liebe“, schließe ich, umarme ihn, halte ihn und es ist mir völlig egal, dass Yuko immer noch bei uns steht und zusieht. Gerade ist nur er wichtig. Nach einer Weile spricht uns Yuko doch noch einmal mit einem verträumten Blick an: „Woher wir es wussten, Yuuri? Wir mussten euch nur zusehen. Eure Blicke, eure Gesten, euer Verhalten... Die Art, wie ihr euch ohne Worte verstanden habt.“ Sie macht eine Pause. „Und auf dem Eis war es am Deutlichsten. Es war, als wäre alles für euch Liebe, solange ihr nur zusammen sein könnt.“ ~EPILOG ENDE~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)