My Love Is Your Love von May_Be (- Blind Date -) ================================================================================ Kapitel 3: Es gibt doch noch Wunder -----------------------------------  „Du hast heute aber extrem gute Laune“, merkte Iji in der Mittagspause an. Er saß mit seinem Bruder in der Kantine und war dabei Reisbällchen mit eingelegtem Gemüse zu essen. Die Brüder gingen in dieselbe Klasse und verbrachten somit viel Zeit miteinander. Doch bis auf die Schule und das Lesen teilten sie wenig gemeinsame Interessen. Während Ryoske eher der Einzelgänger war, mischte sich Iji gerne unter das Volk. Doch auch wenn sie so unterschiedlich waren, teilten sie ihre Geheimnisse und Erlebnisse miteinander. Leider hatte das seit einem gewissen Vorfall in der Grundschule ein wenig abgenommen. Nachdem dieses eine Mädchen Ryoskes Liebe damals nicht erwidert hatte, veränderte er sich mit der Zeit und zog sich immer mehr zurück. Manchmal wollte Iji ihn heftig schütteln, damit er endlich mal aus sich rauskam. Ab und zu schleppte Iji seinen Bruder auf diverse Partys. Sie hatten zwar einen gemeinsamen Freundschaftskreis, aber Ryoske stach ein bisschen heraus. Er ging selten aus, nur, wenn sein Bruder ihn überreden konnte. Dennoch wurde er von ihren Freunden akzeptiert und in der Gruppe als vollwertiges Mitglied anerkannt. Ryoske lächelte auf die Aussage seines Bruders hin und aß genüsslich seinen Reis. „Hat das was mit deiner Freundin tun?“ Ryoske hob seinen Blick und nickte. Zur Überraschung seines Bruders. Nun musste auch Iji lächeln. „Sie ist also doch deine Freundin.“ „Nein...“, antwortete Ryoske zögernd, „...noch nicht.“ Iji dachte, sich verhört zu haben. Er zog verblüfft seine Augenbrauen in die Höhe. „Heißt das, du willst sie endlich fragen?“ Ein schüchternes Lächeln stahl sich auf Ryoskes Lippen. Iji spürte, wie die Aufregung ihn packte. Er freute sich aufrichtig für seinen Bruder. „Na dann drück ich dir die Daumen!“ „Danke.“ Gestern hatte er noch gesagt, es sei kompliziert und jetzt hatte er vor sie zu fragen, ob sie nicht seine Freundin sein wollte! Iji würde darauf jedoch nicht eingehen. Wenn er das Thema anschnitt, würde Ryoske am Ende noch seine Meinung ändern und seinen Plan nicht in die Tat umsetzen. Das war seit Langem überfällig, dass Ryoske endlich eine Freundin bekam. „Trefft ihr euch gleich nach der Schule?“ „Ich denke schon. Ich wollte sie später fragen, ob sie Zeit hat.“ Kaum hatte er es ausgesprochen, vibrierte sein Handy. „Eine Sprachnachricht von Hitomi“, klärte Ryoske seinen Bruder auf, als dieser neugierig zu ihm rüberschielte. Leise hörte er sich die Nachricht an. Iji saß nah genug, um jedes einzelne Wort zu verstehen. Hallo, Ryoske! Ich hoffe, du hast heute Zeit! Ich hab dir unglaubliche Neuigkeiten zu berichten!! Treffen wir uns wie immer am selben Ort? Iji ließ seinen Bruder nicht aus den Augen, während er der aufgeregten Stimme des Mädchens lauschte. Sie klang nicht nach einer älteren, verheirateten Frau (– ok, wie klang eigentlich eine verheiratete Frau?), aber auch nicht nach einem sehr jungen Mädchen. Ihm fiel auf, dass sie ihn bereits vertraut beim Vornamen nannte und sie hatten anscheinend einen Ort, an dem sie sich immer trafen. Das schien tatsächlich ernst zu sein. Ryoskes Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien er sehr glücklich zu sein. „Was für ein Zufall, dass sie sich ausgerechnet jetzt meldet. Vielleicht möchte sie dir ja dasselbe sagen wie du ihr.“ Iji zwinkerte und nahm einen Schluck Wasser. Er freute sich aufrichtig für ihn. Endlich mal hatte er ein Mädchen gefunden. „Und stell sie mir gefälligst bald vor, kapiert?!“   Als Ryoske am späten Nachmittag zum Spielplatz kam, wartete Hitomi bereits auf ihn. Sie saß wie immer auf der Schaukel, ihr Blick undefinierbar nach vorne gerichtet. Ihre Locken berührten sanft ihre Schultern. Die Strähnen auf der rechten Seite hatte sie hinter das Ohr gesteckt. Heute trug sie ein marineblaues Sommerkleid und passende Ballerinas. Bei ihrem Anblick wurde seine Aufregung größer und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine Handflächen schwitzten. Bekam er jetzt etwa Muffensausen? Das sah ihm ähnlich. Ryoske versuchte sich zu beruhigen, atmete tief durch und schüttelte seine verschwitzten Hände. Es war doch nicht so schwer, ihr zu sagen, dass er sie mochte und ob sie nicht seine Freundin sein wollte. Außerdem... vielleicht hatte Iji Recht und sie wollte ihm dasselbe sagen? - Dieser Gedanke wäre gar nicht so absurd, wenn sie nicht von Neuigkeiten gesprochen hätte. Reiß dich zusammen, man! Ryoske holte tief Luft und kam auf sie zu. „Hey, Hitomi.“ Hitomi horchte auf und sprang von der Schaukel, die danach noch leicht hin und her schwang. „Ryoske!“, rief sie strahlend und versuchte seine Hände zu ergreifen, nachdem sie seine Nähe verspürte. Erstaunlicherweise gelang es ihr ohne seine Hilfe. „Ich bin so aufgeregt! Ryoske, du wirst es nicht glauben! Alle haben gedacht, es wäre unmöglich, aber ich hab daran geglaubt!“, plapperte sie aufgeregt drauf. Ihre Freude steckte ihn an, auch wenn er ihren Worten zunächst nicht ganz folgen konnte. „Was ist denn passiert, Hitomi?“ Hitomi drückte vor Aufregung seine Hände und sah zu ihm auf, als könnte sie ihn tatsächlich erblicken. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken und er fühlte sich für einen kurzen Augenblick ihren Blicken ausgeliefert. Doch das war schwachsinnig. Natürlich konnte sie ihn nicht sehen. Das würde sie nie. Er betrachtete ihre milchigen, verschleierten Augen, als könnte er in ihnen eine Regung erkennen. Bedauerlicherweise gab es kein Leuchten darin, was ihrer Stimmung Ausdruck verliehen hätte. „Ich werde sehen können!“, teilte sie ihm verzückt mit. Er hörte deutlich ihre Worte, jedoch drangen sie nicht bis zu seinem Bewusstsein durch. „Sehen?“, fragte er dümmlich und sah skeptisch drein. Das Wort lag ihm schwer auf der Zunge. Sehen. Was meinte sie damit? War das ein Scherz? „Ja! Es ist natürlich mit Risiken verbunden und vielleicht klappt es nicht einmal, aber ich möchte es versuchen. Der Arzt meinte, ich dürfe mir nicht zu viele Hoffnungen machen, weil es nicht bei jedem klappt, aber es ist einen Versuch wert, oder?“ Ryoske fühlte sich wie in einem Traum gefangen. Ihre Worte schienen von irgendwo weit her zukommen und versuchten zu ihm durchzudringen. Sehen. Das war unmöglich. War der Fortschritt in der Medizin schon so weit? Wenn sie sehen könnte, dann... dann... Ryoske fiel aus allen Wolken. Damit hätte er nie im Leben gerechnet. Wenn Hitomi ihr Augenlicht zurück bekam, wäre seine Sorge, dass sie ihn abweisen könnte, weil sie sein Aussehen nicht kannte, überflüssig. Für einen kurzen Augenblick freute er sich aufrichtig für sie. Und für sich. Aber was wenn er ihr nicht gefiel? Was wenn sie sich ihn ganz anders vorgestellt hatte? Wenn sie wieder sehen könnte, würde sie all die anderen Männer sehen und sich eventuell für einen anderen entscheiden. Doch was viel Schlimmer war, er würde kein Wort rausbringen, er würde es eindeutig vermasseln, so wie es seinem Repertoire entsprach. Ryoskes Gedanken überschlugen sich förmlich und machten ihn ganz verrückt, sodass er sogar vergaß, dass er ihr eine Antwort schuldete. „Ryoske?“ Hitomis Stimme drang langsam zu ihm durch und holte ihn aus seinen Gedanken zurück. „Ja... es ist einen Versuch wert, natürlich. Aber... wie ist das möglich?“ „Diese Operation wird erst seit knapp einem Jahr durchgeführt. Sie ist sehr aufwendig und natürlich mit Risiken verbunden. Aber vor allem ist sie sehr teuer. Wenige können sich das leisten und doch gibt es einige, die auf der Warteliste stehen. Meine Eltern haben wie verrückt dafür gespart und mich auf die Warteliste gesetzt.“ Hitomi löste ihre Hände aus den seinen und tastete sich mit ihren Fingern entlang seines Körper nach oben vor, bis sie bei seinem Gesicht angelangte. Sie umschloss es mit ihren warmen Händen, streichelte dann sanft darüber, als würde sie jeden Gesichtszug erforschen. „Ich könnte dann endlich dein Gesicht sehen, Ryoske“, murmelte sie. Ihre Fingerspitzen fühlten sich weich an auf seiner Haut und die Berührung verursachte ein leichtes Kribbeln in seiner Bauchgegend. Ryoskes Herz schlug einen Takt schneller. „Das wäre so schön“, fuhr sie fort, während sie mit ihrem Daumen über seine Lippen streichelte. Ryoskes Atem stockte. Er umschloss ihre Handgelenke und löste somit ihre Hände von seinem Gesicht. Wenn sie ihn auf diese Weise berührte, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Ryoske. Ich weiß nicht, ob es zu viel verlangt ist, aber... könntest du mich zu meiner Operation begleiten? Ich möchte, dass dein Gesicht eins der ersten Dinge ist, die ich sehen werde.“ Ryoske konnte nicht sagen, ob er sich geehrt oder verängstigt fühlen sollte. Sein Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken daran, ihr gegenüber zu treten. Er wäre ihrem Blick vollkommen ausgeliefert. Andererseits konnte er nicht ablehnen. Es schien ihr sehr wichtig zu sein, dass er mit ihr kam, andernfalls hätte sie ihn nicht um diesen Gefallen gebeten. Was sollte er nur tun? „Ich freue mich für dich, Hitomi.“ Ja, das tat er wirklich. Er kannte ihren innigsten Wunsch, endlich wieder sehen zu können. Seit sie sich kennengelernt haben, war er ihr Augenlicht gewesen. Er hatte sie in den Zoo, in den Vergnügungspark und sogar zu dem Tokyo Tower mitgenommen. Seine Schilderungen hatten ihre Vorstellungskraft angekurbelt und sie in die Außenwelt eintauchen lassen, auch wenn sich die Wirklichkeit nur in ihrem Kopf abgespielt hatte. Natürlich war das nicht dasselbe, wie etwas mit seinen eigenen Augen zu sehen und diese Eindrücke in sich aufzunehmen. Und dennoch... Ryoske wollte ihr noch so viel mehr zeigen. Aber sobald sie ihr Augenlicht wiederbekam, brauchte sie ihn dafür nicht mehr. Sein Egoismus erstaunte ihn. Diesen Teil seiner Persönlichkeit kannte er noch gar nicht. Er nagte und zerrte an ihm. „Wann ist die OP?“, fragte er nach. „Nächste Woche! Das geht auf einmal so schnell. Ich kann es immer noch nicht glauben.“ „Ja, ich auch nicht...“, flüsterte er bedrückt, während Hitomi über das ganze Gesicht strahlte. „Also... wirst du mich begleiten?“ In ihrer Stimme schwang so viel Hoffnung mit, dass er ihr diese Bitte nicht abschlagen konnte. „Natürlich. Ich werde da sein.“ Ihr Lächeln machte ihn glücklich, das konnte er nicht leugnen. Aber ein anderes Gefühl bahnte sich an, das er schon vorhin verspürt hatte, als sie ihm von dieser sensationellen Neuigkeit erzählte. Er müsste ihr vor die Augen treten. Bei dem Gedanken daran, ergriff ihn wieder die Nervosität und ihm wurde ganz flau im Magen. Dann wäre es ja so etwas wie ihre erste Begegnung. Er konnte es doch nur vermasseln! Und was war eigentlich mit ihren Eltern? Die würden doch auch da sein! Verdammt. Das war zu viel für ihn... „Ach ja. Was wolltest du mir eigentlich sagen? In deiner Sprachnachricht hast du gesagt, du hättest auch etwas zu erzählen.“ Ryoske hatte das beinahe vergessen. Er hatte ihr ja vorhin auch eine Sprachnachricht geschickt und gemeint, er müsste ihr unbedingt etwas sagen. Etwas wichtiges. „Nicht so wichtig“, meinte er resigniert und führte sie zu der Schaukel. Hitomi setzte sich hin und ließ sich von ihm anstoßen. Sein Mut, den er wiedergefunden hatte, um ihr seine Gefühle zu gestehen, hatte ihn auf einmal verlassen.  Hosted by Animexx e.V. 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